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Am Dienstag nach Ostern erschien Knobel um 8.30 Uhr im Büro, wo er von Frau Klabunde aufgeregt erwartet wurde.
»Sie hätten nur Ihr Handy eingeschaltet lassen müssen«, begann er, »dann müsste ich jetzt nicht so gespannt auf das sein, was Sie mir erzählen werden und Sie nicht danach fiebern, endlich das loszuwerden, was Sie mir am liebsten sofort erzählt hätten.«
»Herr Knobel!«
Frau Klabunde errötete und lächelte verlegen. »Es ist diffizil und gleichzeitig so banal«, flötete sie, und Knobel staunte über ihre Wortwahl.
»Um 9 Uhr ist Sozietätsbesprechung. Und Sie werden als Sieger hervorgehen, das weiß ich schon jetzt! Und nun setzen Sie sich hin und hören nur zu!«
Knobel nahm folgsam im kleinen Zimmer seiner Sekretärin Platz, dankte für den gereichten Kaffee, und als er knapp 10 Minuten später aufstand, um in sein Büro zu gehen, blieb er einen Moment stehen, fast, als wollte er eine Ansprache halten, wandte sich zu seiner Sekretärin um und sagte in einem Ton, den Frau Klabunde als feierlichen Schwur empfand:
»Ich werde Ihnen das nie vergessen, Frau Klabunde, niemals!«
Und bei diesen Worten schossen ihr Tränen in die Augen.
8.45 Uhr. Knobel saß in seinem Büro, als Löffke die Klinke zu Zimmer 102 mit dem Ellenbogen aufdrückte. Seine Hände umschlossen fest die Tragegriffe eines großen Silbertabletts, das üppig mit Fleischwaren gefüllt war und dessen appetitlich aufgeschichtete rot-rosige Leckereien in ihrer Farbe Löffkes dicken Backen ähnelten. Löffke trat herein und die Tür mit dem rechten Fuß hinter sich zu.
»Kollege Knobel«, begann er und sein Gesicht verzog sich zu einem breiten Grinsen.
»Woher die Ehre, als erster mit Schnitzeln, Mettwürsten, Leberkäse und Schinken beehrt zu werden?«, giftete Knobel. »Gewöhnlich dienen Sie sich zuerst doch Dr. Hübenthal an.«
»Heute beginne ich bei Ihnen«, erwiderte Löffke und stellte das Tablett vorsichtig auf Knobels Schreibtisch. »Fleischspezialitäten aus gutem Hause. Eine kleine Stärkung vor unserer Sozietätsbesprechung! Was möchten Sie, lieber Herr Knobel?«
»Mit Ihnen ernsthafte Worte reden, wenn ich überhaupt noch mit Ihnen rede.«
Löffke hörte schäumende Wut heraus, zugleich eine ungewohnte Härte in Knobels Stimme. Er verharrte einen Augenblick irritiert, dann nahm er eine Mettwurst vom Tablett.
»Schon mal in die Umsatzauswertungen geschaut?«, fragte Löffke.
»Nein.«
»Sollten Sie aber!«
Löffke umrundete Knobels Schreibtisch und griff auf die Computertastatur, wechselte in das Menü Finanzbuchhaltung, gab das nur den Anwälten bekannte Codewort ein und klickte dann auf Umsätze, Untermenü Einzelauswertungen.
»Wir haben gerade mal Ostern hinter uns und ich habe fast die doppelten Umsätze als Sie. Da, schauen Sie auf die Zahlen! Ich bin jetzt schon über 400.000.« Löffke ging wieder zu seinem Tablett zurück. »Wissen Sie, ich werde in der Halbjahresbilanz über 500.000 haben! Nach unserer guten alten deutschen Währung schon Millionär! Da kommt keiner von den anderen ran. Auch nicht Hübenthal. Und Sie selbst hängen ja bei schlappen 180.000. Sie kriegen mich nicht ein, lieber Knobel! Sie schaffen einfach nicht meine Umsätze. Heute nicht, morgen nicht, nie! Haben Sie auch bisher nicht geschafft. Irgendwann, Knobel, werde ich erfahren, warum Hübenthal Sie zum Kanzleivize gemacht hat und nicht mich. Aber ich werde mich nicht mit der Nummer Drei zufrieden geben, das wissen Sie. Ich will nach vorne, und ich komme nach vorne. Sie wissen das, Kollege Knobel! Nicht doch ein Mettwürstchen? Sie sind einfach köstlich.«
Löffkes Zunge leckte seine fettigen Lippen ab, die sich dann einer weiteren Mettwurst widmeten.
»Ich bin Umsatzkönig, Knobel, und ich werde es bleiben. Das ist doch das, was zählt! Und darum kommt Hübenthal auf Dauer nicht um mich herum. Ich bin Umsatzkönig mit feinsten Mandaten. Und glauben Sie mir, ich sehe das sportlich! Ich jage Mandate! Ganz sportlich! Fette Brocken! Und immer neue dazu! Der Umsatzkönig ist das Wichtige, nicht der Postkönig, den Sie mir in letzter Zeit streitig machen. Aber ich habe ja entdeckt, wie Sie das machen: Sie bitten in allen Akten schriftlich um schriftliche Sachstandsmitteilungen, um nochmalige Zusendung von Schriftstücken und so weiter. Sie produzieren künstlich Posteingänge, Knobel. Sie sind ein Betrüger! Ich bin Ihnen auf der Spur! Ich weiß, was Sie machen und wie Sie es machen. Sie sind für solche krummen Touren nicht talentiert, glauben Sie mir!«
»Vielleicht nehme ich doch ein Mettwürsten«, überlegte Knobel.
»Mettwürstchen oder ein saftiges Stück Schinken? Vielleicht dazu ein Spreewaldgürkchen?« Löffke blickte verzückt auf das Tablett.
»Für unsere verdiente Nummer Zwei ein besonders schönes Würstchen«, befand er schließlich.
»Was halten Sie von Betül Atalay?«, fragte Knobel.
»Wer ist Betül Atalay?«
»Eine von unseren vier Auszubildenden. Frau Atalay beendet in Kürze ihre Ausbildung.«
»Ach, der schwarzhaarige Traum aus der Türkei, der sich in der Umgebung des Empfangs beim Postausgang verdient macht. Meinen Sie die?«
»Genau die«, nickte Knobel.
»Was ist mit ihr?«
»Ich meine, wir sollten gleich in der Sozietätsbesprechung den Vorschlag machen, Frau Atalay nach dem Ende der Ausbildung zu übernehmen. Sie leistet hervorragende Arbeit.«
»Ich kenne das Mäuschen kaum«, erwiderte Löffke. »Sie doch auch nicht, Herr Knobel, oder beschäftigen Sie sich nicht nur mit Studentinnen, sondern auch mit unseren hübschen Auszubildenden?«
»Sie nimmt die Interessen unserer Kanzlei in vorbildlicher Weise wahr«, sagte Knobel ruhig.
»Das heißt?«
»Sie bringt den Mandanten oder Gegnern Briefe persönlich nach Hause, wenn sie in ihrer direkten Umgebung wohnen.«
»Das erwarten wir von jedem, der bei uns arbeitet«, antwortete Löffke. »Jeder soll auf die Kosten achten, egal, in welcher Funktion.« Löffke verdrehte gelangweilt die Augen. »Unser Credo. Schon immer.«
»Neulich erst hat sie meinem Schwiegervater einen Brief in die Dahmsfeldstraße gebracht«, fuhr Knobel fort.
»Und das, obwohl die Adresse gar nicht lesbar war! Derjenige, der den Brief in unseren Postraum gebracht hat, hatte ihn versehentlich falsch in den Briefumschlag gesteckt, nämlich so, dass das Adressfeld nicht im Umschlagfenster war. Im Umschlagfenster war nur weißes Papier sichtbar. Also hat Frau Atalay den Umschlag geöffnet und ihn richtig eingetütet. Und bei der Gelegenheit, die Neugier sei ihr verziehen, den Brief gelesen, der einen ziemlich eigenartigen PS-Zusatz hatte. Das war schon merkwürdig! Denn weder ist es Frau Klabundes Eigenart, nach so vielen Jahren Berufserfahrung Briefe falsch in den Umschlag zu stecken noch Briefe mit PS-Zusatz zu versehen. Aber, und Sie sehen, wie treu Frau Atalay ist, sie dachte, es sei schon alles sicherlich in Ordnung, denn schließlich war es ja ein Umschlag, den Sie, Herr Löffke, in den offenen Postausgangskorb geworfen hatten und der noch als letzter Brief oben in dem Korb auflag, als ihn Frau Atalay frankieren wollte.«
Löffkes Gesicht war fahl geworden, die Zähne kauten lustlos auf der Mettwurst.
»Ja, das war doof!«, sagte er tonlos.
»Es war nicht böse gemeint! Ein Joke, Herr Kollege, ehrlich! Vielleicht ein dummer Joke! Aber Sie müssen das sportlich sehen! Es war doch lustig! Ihre ganzen Sachen hier im Büro! Sie taten allen leid, und doch war es irgendwie lustig! Ehrlich! Mein Gott, Knobel, jeder braucht auch seinen Spaß!«
»Der Spaß ist Verletzung des Briefgeheimnisses, Urkundenfälschung und anderes mehr, insbesondere aber eine Beleidigung meiner Person, und auch die meiner Frau und meines Schwiegervaters«, fasste Knobel zusammen.
»Und Sie schnüffeln in meinen Akten, ich weiß es.«
»Es gibt nicht Ihre und nicht meine Akten. Wir arbeiten zusammen. Wir sind Partner. Denken Sie an unseren Sozietätsvertrag. Da steht es in der Präambel: Die Sozietät beruht auf der wechselseitigen Wertschätzung der Sozien. Und was die Akten angeht: Sie dürfen gern auch in den Akten lesen, die ich bearbeite. Vier Augen sehen immer mehr als zwei.«
»Hübenthal wird Sie rausschmeißen!«, prophezeite Knobel.
Löffke war blass und ernst geworden, seine Lippen pressten schmal aufeinander, ohne eine Zigarette dazwischen.
»Hübenthal gehts genauso um die Umsätze wie mir«, meinte er schließlich. »Er ist scharf auf Geld. Wie ich. Da bin ich ehrlich. Er wird nicht auf sein Paradepferd verzichten. Das mit dem Brief war doof, wie gesagt. Aber dagegen stehen über 400.000 Euro Umsatz schon nach Ostern. Und ich bin kein falscher Postkönig, ich bin der echte Postkönig! Das sind die Dinge, die zählen! Die auch bei Hübenthal zählen! Und ich führe eine Ehe ohne Skandale, Herr Knobel. Ich habe keine Schlammschlacht mit meinen Schwiegereltern.«
»Sie haben Mettwürstchen«, warf Knobel ein.
»Ich habe Familiensinn«, zischte Löffke.
»Und Verantwortungs-und Pflichtgefühl. Ich wahre die Form. Ich habe kein Verhältnis mit einer Studentin. Mein Gott, wovon reden wir eigentlich hier?«
»Dreierlei«, antwortete Knobel ruhig. »Erstens: Frau Atalay wird nach Ende der Ausbildung als Rechtsanwaltsgehilfin in unsere Kanzlei übernommen. Zweitens: Sie werden in einem persönlichen Gespräch mit meinem Schwiegervater und mit meiner Frau sich für den Zusatz in dem Brief entschuldigen. Persönlich. Vor Ort in der Dahmsfeldstraße. Drittens: Sie werden Ihre Promotion zurückziehen.«
Löffkes Augen flackerten.
»Sie sind nicht bei Sinnen!«, rief er.
»Sie werden nicht Dr. Postkönig und nicht Dr. Umsatzkönig!«, beharrte Knobel, »sonst gibt es in der Sozietätsbesprechung gleich nur ein Thema und zwei präsente Zeugen: Frau Klabunde und Frau Atalay.«
Löffke schnaubte und nahm sein Tablett.
»Gut, gut, Knobel, dieser Punkt geht an Sie! Weil ich so blöd war, mich einen Moment zu etwas habe hinreißen lassen, was ich jetzt bereue! Aber glauben Sie mir: Ich bin ein Langstreckenläufer! Sie wissen das, und Sie wissen auch, warum: Im Gegensatz zu Ihnen habe ich Struktur. Ich bin immer auf gleicher Linie. Ich dümple nicht zwischen oben und unten, rechts und links, nicht zwischen Dahmsfeldstraße und Varziner Straße, wenn Sie verstehen, was ich meine. 400.000 Euro! Das ist nicht nur eine Zahl! Das ist ein Leben! Sie ignorieren diese Gesellschaft, Knobel, und das ist Ihr Problem! Nein, Ihr Problem ist ein anderes: Sie ignorieren die Gesellschaft nicht richtig. Sie leben teilweise in ihr und teilweise außerhalb. Sie sind nicht klar, Sie sind nicht glatt.«