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Als sich Knobel wieder vom Fenster abwandte, war Hubert Löffke in sein Büro getreten, im rechten Mundwinkel die unvermeidliche Zigarette. Er hatte es aufgegeben, seinen Kollegen aus Büro 104 darum zu bitten, in seinem Büro nicht zu rauchen. Löffke ignorierte diese Bitten wie er keine Gelegenheit ausließ, Knobel seine Abneigung spüren zu lassen.

»Jeden Tag beginnt ein neues Match«, bemerkte Löffke seither häufiger gegenüber Knobel, was nichts anderes bedeutete, dass Knobel sich seiner Position in der Kanzlei nicht sicher sein sollte und auch nicht sicher sein konnte. Löffke würde nicht nur weiterhin in Knobels Büro rauchen, sondern gegen ihn intrigieren, bei Sekretärinnen und Anwälten Gerüchte streuen, die manchmal zu kleinen Geschwüren wuchern und manchmal im Keim ersticken würden. Knobel genoss in der Kanzlei hohes Ansehen. Deshalb mied Löffke den offenen Angriff, der zum Scheitern verurteilt sein musste. Aber er stichelte bei allen sich bietenden Gelegenheiten, stets bereit, sich wieder zurückzuziehen, wenn seine Anfeindungen nicht auf fruchtbaren Boden fielen. Der dicke Löffke war ein zäher Gegner, so alt wie Knobel, ausdauernd und nachtragend genug, um immer wieder seine Angriffe aufs Neue zu beginnen, von einer eigenartigen Lust getrieben, die ihn davor bewahrte, sich in der Rivalität mit Knobel zu verzehren. Löffke genoss die Reibung. Das machte ihn gefährlich. Knobel wusste, dass er Löffkes Provokationen nur ein Ende setzen konnte, wenn er seinem Widersacher offen entgegentrat. Doch ihm war ebenso bewusst, dass Löffke bisher keine Gelegenheit geboten hatte, ihn in der Kanzlei zu isolieren. Dr. Hübenthal schätzte Löffkes Erfolge in den von ihm betreuten Arbeitsrechtsmandaten, in denen sein grobschlächtiges Auftreten, seine Bauernschläue und sein manchmal kumpelhaftes Gebaren von Vorteil waren und die Kanzleiumsätze nachhaltig steigerten. Löffke erwarb die Gunst der anderen Anwälte und Sekretärinnen mit demonstrierter Hilfsbereitschaft, wenn er kleine Gefälligkeiten wirksam zelebrierte und sich mit gespielter Demut dem großen Ganzen, dem Unternehmen, der Kanzlei unterordnete, deren Erfolg er dienend mehren wollte. Noch mehr als dies bestachen die reichlich belegten Schlachtplatten, die er gelegentlich aus der Fleischerei seiner Schwiegereltern mitbrachte und deren schmackhafte Delikatessen er großzügig in der Kanzlei verteilte. Auch Knobel bedachte er mit gebratenen Steaks, Schinken oder Mettwürsten, und wenn Löffke die drei Etagen des Kanzleigebäudes an der Prinz-Friedrich-Karl-Straße mit dem üppig gefüllten Silbertablett durchschritt, zuerst Dr. Hübenthal in Büro 101 aufsuchte, um dem Senior den ersten Zugriff vorzubehalten, dann die anderen Sozien im Erdgeschoss, schließlich die angestellten Anwälte in den 200er und 300er Zimmern in den oberen Etagen und zwischendurch die Sekretärinnen bediente, damit sie sich nicht gegenüber den Anwälten zurückgesetzt fühlten, führte ihn sein letzter Gang zu Stephan Knobel, wobei er sich stets artig dafür entschuldigte, dass die Auswahl nun so klein geworden sei. Löffkes wulstiges Gesicht glänzte verschwitzt nach der körperlichen Anstrengung, die ihm der Marsch durch die drei Etagen der Kanzlei abverlangt hatte und Knobel fand, dass Löffke treffender einen Fleischerkittel als eine Anwaltsrobe tragen sollte, weshalb er zu Hause, wenn er von Löffke erzählte, nur von der Fleischwurst redete, aber er wusste auch, dass Löffke selbst diese Häme gezielt provoziert hatte und nur darauf wartete, dass er eines Tages in der Kanzlei abfällig über Löffkes Fleischgaben frotzelte. Knobel hütete sich vor solchen Schwächen.

 

Der Rauch von Löffkes Zigarette waberte ins Büro.

»Entschuldigung! Ich vergesse immer wieder, dass Sie schon lange Nichtraucher sind.«

Löffkes Augen suchten Knobels Schreibtisch ab.

»Schon Umsätze gemacht?«

Er deutete grinsend auf die 200 Euro, die dort noch lagen.

»Aber nicht ›schwarz‹ einnehmen«, lachte er scherzhaft.

»Ich dachte schon, Sie hätten kein Interesse mehr an unseren Postbesprechungen!«, fuhr er fort.

Die Postbesprechungen. Löffke hatte kurz nach Knobels Aufstieg dieses Ritual erfunden, wonach sich allmorgendlich um neun alle Anwälte im Büro des Seniors einfanden und unter dessen Vorsitz am schweren eichenen Besprechungstisch saßen, während vor dem Senior gestapelt alle Posteingänge des Tages lagen, die nun den einzelnen Sachbearbeitern zugeordnet wurden. Am Ende befand sich vor jedem Anwalt ein kleinerer oder größerer Stapel Posteingänge, und einer Anregung Löffkes folgend wurde allmorgendlich der Postkönig auserkoren, der stets derjenige war, der die meisten Eingänge auf sich vereinigen konnte. Selbstverständlich gewann Löffke meistens diesen Wettbewerb, und seine Nachfrage nach Knobels Verbleib bei der heutigen Postbesprechung ließ nur den Schluss zu, dass sein Widersacher wiederum den Sieg davongetragen hatte. Also bediente Knobel mit keinem Wort dessen Lieblingsthema. Unverrichteter Dinge wandte sich Löffke wieder der Tür zu, drehte sich im Türrahmen noch mal um und erfand einen ungelenken Reim:

»104 kämpft wie ein Stier, 102 bleibt von Arbeit frei!«, worauf er herzhaft lachte, nochmals den Rauch wolken ließ und dann die Tür von außen zuwarf.

 

Knobel blieb fröstelnd zurück. Unkonzentriert diktierte er eine Einwohnermeldeamtsanfrage nach dem Verbleib von Sebastian Pakulla, zuletzt wohnhaft Oesterholzstraße 16. Frau Klabunde bat er, die neue Akte Pakulla, Beratung anzulegen und die 200 Euro als Vorschuss in dieser Akte zu verbuchen.