28 Verluste

Brighde war tot.

Der Panther spürte den Tod seiner Schwester. Er saß auf dem schmalen Bett in seinem Quartier hoch oben im Palast. Der Junge lag in der Schublade einer Kommode. Catan hatte sie mit ein paar Decken ausgekleidet. Eine Wiege hatte er im Palast nicht gefunden.

»Meine Schwester ist tot«, sagte der Panther. Es laut auszusprechen war merkwürdig. Er wartete darauf, etwas zu fühlen, vielleicht eine Leere, einen Stich, Bedauern, irgendetwas. Doch da war nichts. Der Satz hatte keine Bedeutung für ihn.

Zu viel Zeit ist vergangen, dachte er. Ihre Leben hatten sich in unterschiedliche Richtungen entwickelt, sogar noch vor der Vertreibung. Sie beide hatten Johannes im Palast gedient, aber schon damals hatte er gewusst, dass ihr dieser Dienst allein nicht lange reichen würde. Sie hatte die Nähe des Königs gesucht, seine Macht hatte sie angezogen und gereizt wie das Licht einer Kerze eine Motte. Sie wäre darin verbrannt, das musste Johannes erkannt haben, denn bevor sie erwachsen wurde, schickte er sie weg, zurück in das Dorf am Großen See; dorthin, wo sie beide geboren worden waren.

Er fragte sich nun, ob sie dort einen anderen, mächtigen Mann gefunden hatte, einen Hohepriester oder Heerführer vielleicht. Es hätte ihn nicht gewundert.

Ich hoffe, dachte er, dass ihr Tod nicht die Konsequenz ihrer Schwäche war. Sie hätte etwas Besseres verdient.

Der Junge öffnete die Augen. Er hatte geschlafen und geträumt. Catan hatte ihm zugesehen und dabei ruhig auf dem Bett gesessen, die Arme auf die Beine gelegt, die Hände ausgestreckt.

»Ich hoffe, es war ein guter Traum«, sagte er an den Säugling gewandt. »Es war wohl dein letzter.«

Er hob die Augenbrauen, als er einen Stich im Magen spürte. Von Anfang an war ihm klar gewesen, dass sich das Schicksal des Jungen am Fuße des Olymp erfüllen würde. Er hatte ihn durch Wüsten und Steppen getragen, über Hügel und Flüsse, hatte ihn mit seinem Leben beschützt, um den Wunsch seines Königs zu erfüllen.

Und nun war es so weit.

Draußen vor dem Turm, in dem sich sein Quartier befand, ballten sich Wolken zusammen. Blitze zuckten über den nächtlichen Himmel, Donner rollte über das Land.

Catan spürte den fragenden Blick des Jungen.

»Der König wünscht es so«, sagte er. »Und wir erfüllen seine Wünsche. Das ist unsere Bestimmung und unsere Pflicht. Deine und meine.«

Es schien dem Säugling zu gefallen, wenn er mit ihm sprach. Nachdem er im Palast eingetroffen war, hatte Catan versucht, ihn anderen anzuvertrauen, aber bei niemandem war der Junge ruhig geblieben. Nur wenn der Panther ihn in seinen Arm nahm, hörte er auf zu schreien.

»Du denkst, dass ich es nicht tun werde, richtig?«, sagte Catan leise. Er stand auf, nahm den Jungen aus der Schublade und begann ihn in der Armbeuge zu wiegen. Kleine Fäuste griffen nach seinem Fell und zogen daran.

»Du denkst, dass du deinem Schicksal entgehen wirst, weil ich dich mag, weil ich dich beschütze und weil ich gern erfahren würde, was für ein Elf darauf wartet, in dir heranzuwachsen.«

Die Aura des Jungen schien einen Moment lang heller zu leuchten. Catan fragte sich, ob das eine Reaktion auf seine Worte war oder vielleicht nur auf die Blitze am Horizont.

»Ich möchte dir eine Geschichte erzählen«, fuhr er fort, »über einen Menschen, der sich nichts sehnlicher wünschte, als eine Welt ohne Leid zu erschaffen. Sein Name war Johannes. Er war mein König.«

Catan sah ihn vor sich, als er den Namen aussprach: das rundliche Gesicht, die schütteren blonden Haare, die einfache Kleidung, für die er sich stets entschied. »Über tausend Jahre beherrschte er dieses Land, begleitet von einem mächtigen Elfenvampir. Gemeinsam hätten die beiden die Menschenwelt erobern und die Reiche der Anderswelt vernichten können, aber Johannes dachte nie darüber nach. Und weißt du, warum?«

Er machte eine Pause. Der Junge sah ihn aus seinen seltsam wissenden Augen an.

»Weil er sich geschworen hatte, seinen Untertanen ein gütiger und gerechter Herrscher zu sein, und diesem Schwur ein Leben lang gehorchte. Und der Vampir gehorchte seinem König, so, wie es sein soll.«

Catan erinnerte sich an den Tag der Vertreibung, als er, Sinenomen und Johannes auf dem Balkon des Palasts gestanden und hilflos auf den ausgetrockneten See gestarrt hatten.

»Was wird jetzt aus meinem Volk?«, hatte Johannes gefragt. Falten hatten sein Gesicht durchzogen. Der Wind war durch sein Haar gestrichen und hatte eine Strähne davongeweht. Der König hatte gewusst, dass er sterben würde, genau wie Sinenomen und Catan es damals wussten.

»Ich werde für dein Volk sorgen«, hatte Sinenomen geantwortet, »und das Reich in deinem Sinne weiterführen.«

Catan fragte sich immer noch, ob Johannes klar gewesen war, dass er belogen wurde. Nur wenige Tage später war er gestorben, ein Greis, gezeichnet von der Zeit, der er so lange davongelaufen war.

»Sein Volk glaubt, der Gott, den sie Schmied nennen, habe den König zu ihnen geschickt«, sagte Catan. »Den Tag der Vertreibung erklären sie sich damit, dass der Teufel auf den Olymp gelangt ist und nun ihre Geschicke anstelle des Königs lenkt.«

Er trat ans Fenster, sah hinaus in das tosende Unwetter. Der Junge in seinem Arm musterte ihn stumm und fragend.

»Sie haben recht«, fuhr er nach einem Moment fort. »Der Teufel lenkt ihre Geschicke, aber er sitzt nicht auf dem Berg, sondern in diesem Palast. Ich hasse es, ihm zu dienen.«

Nie zuvor hatte er sich den wahren Grund für seine Abwesenheit eingestanden. Er hatte die Elfen in der Unterwelt der Menschenstadt ebenso gebraucht wie sie ihn. Sie hatte er innerlich vorgeschoben, wenn sein Gewissen ihn mahnte und ihn daran erinnerte, dass seine Suche längst nicht abgeschlossen war. Eine Weile hatte er sich selbst betrügen können, doch jeder Betrug flog irgendwann einmal auf.

»Ich war kein Johannes«, sagte er. »Ich war kein gerechter, gütiger König, der alles für seine Untertanen tat. Das erkannte ich, als ich dich sah und mich an meine Aufgabe erinnerte. Ich bin ein Diener, kein Herr.«

Die Edelsteine, die er von Sinenomen bekommen hatte, würde er den Elfen unter der Erde zukommen lassen. Ihn selbst zog nichts mehr dorthin. Er hatte seine Bestimmung gefunden, ein Diener seines Königs, ein Gründer einer neuen Dynastie.

Sein Blick glitt zu dem Paket, das staubbedeckt unter seinem Bett lag. Er würde es Anne schenken und mit ihr über die Wünsche ihres Vaters sprechen – nach dem Ritual, sobald er sich das Blut von den Händen gewaschen hatte.

Er sah aus dem Fenster. Das Unwetter zog sich über dem Palast zusammen. Seine Nackenhaare stellten sich auf, als er die Magie spürte, die sich über ihm in der Turmspitze sammelte.

Die Zeit war gekommen.

»Ich hasse es, ihm zu dienen«, wiederholte er, »aber er ist mein König, und mein Gehorsam ist alles, was ich habe. Es tut mir leid, Talamh.«

Er ging zur Tür.

In seinen Armen begann der Säugling zu weinen.