13 Auferstehung

Unerträgliche Hitze riss Robert zurück ins Bewusstsein. Flammen tanzten vor seinen Augen. Er hing in der Luft, glaubte einen Moment, noch immer zu fallen. Erst dann bemerkte er, dass Hände ihn an Armen und Beinen festhielten. Ohne nachzudenken, trat er zu.

Ein Schrei erklang, dann wurde er losgelassen und fiel in den Sand.

»Er lebt!«, rief eine Stimme.

»Beim Hammer des Schmieds, er lebt!« Das war Artair.

Robert setzte sich auf. Hämmernde Kopfschmerzen ließen seine Umgebung verschwimmen. Als sich sein Blick wieder klärte, hockte der Statthalter vor ihm. Er lächelte.

»Willst du immer noch behaupten, der Schmied habe dich mir nicht geschickt?«, fragte er.

»Ich ...«, begann Robert, aber Artair stand bereits auf. Hinter ihm prasselte ein Feuer. Leichen lagen darin und wurden rasch von ihm verzehrt. Robert schluckte, als ihm klar wurde, wie knapp er dem Tod entgangen war.

»Kommt alle her!«, rief Artair. Wie ein Jäger, der eine Trophäe erbeutet hatte, ging er um Robert herum. »Kommt und seht das Wunder.«

Von überall kamen Elfen herangelaufen. Sie befanden sich immer noch auf der mit Leichen bedeckten Ebene. An manchen Stellen hatte Blut den Sand rot gefärbt. Die Angreifer waren verschwunden; nur die Toten, einige brennende Katapulte und die Trümmer des Rammbocks erinnerten an sie.

Die Elfen bildeten einen Kreis um Robert. Viele schoben Schubkarren mit blutigen Waffen und Rüstungsteilen vor sich her. Dubhagan stand zwischen ihnen, die Arme vor der Brust verschränkt. Die anderen Elfen hielten Abstand von ihm. Robert sah einige weitere Priester, die ebenso verdreckt und hager wirkten. Brighde hockte vor den Elfen und stützte sich auf ihren Bogen. Ihr Katzengesicht war ausdruckslos.

Artair stieß eine Schubkarre mit dem Fuß um und sprang hinauf. Er hob die Arme, und das Murmeln der Menge verstummte.

»Seht ihr diesen Mann?«, rief der Statthalter. »Seht ihr ihn?«

Einige nickten. Robert widerstand der Versuchung zu winken und blieb im Sand sitzen, die Arme auf die Knie gestützt.

Artair zeigte auf Dubhagan, befahl ihm mit einer Geste, in den Kreis zu treten. Zögernd kam der Priester der Aufforderung nach.

»Dubhagan, habt Ihr nicht selbst das Herz dieses Mannes abgehört?«

»Das habe ich, Statthalter.«

»Schlug es?« Artair war sichtlich aufgeregt. Es war der Moment, auf den er gewartet und vor dem Robert sich gefürchtet hatte.

»Nein«, sagte Dubhagan. Seine Augen zuckten. Er war dabei, eine Schlacht zu verlieren, und wusste es.

»Dann war der Mann also tot?«

»So schien es.« Der Priester presste die Worte heraus.

»So schien es?« Artair breitete die Arme aus. » Ist es bei den Priestern üblich, Elfen ins Feuer zu werfen, die tot sein könnten?« Einige lachten. »Ich kenne Euch, Priester. Ihr seid ein gewissenhafter Mann. Wenn Ihr einen Mann für tot erklärt, dann ist er es auch. Normalerweise.«

Artair machte eine Pause, dann zeigte er auf Robert. »Dieser Mann war tot, und doch sitzt er hier, lebendig, auferstanden vor unseren eigenen Augen.«

Die Menge starrte Robert an. In ihren Blicken wechselten sich Neugier und Misstrauen ab. Artair hatte ihnen noch nicht gesagt, was sie von ihm zu halten hatten, also waren sie vorsichtig.

»Wie würdet Ihr das nennen, Priester?« Die Stimme des Statthalters hallte über die Ebene. Er hatte sich umgezogen, seit Robert ihn zuletzt sah. Sein Waffenrock leuchtete weiß, der helle Umhang wehte im Wind.

Dubhagan trat von einem Fuß auf den anderen. »Ich weiß es nicht«, antwortete er leise.

Artair legte eine Hand an sein Ohr. Er genoss die Situation sichtlich. »Ich habe Euch nicht ganz verstanden. Sicher kennt ein weiser Mann wie Ihr, der sein Leben dem Schmied gewidmet hat, die Antwort auf meine Frage.«

Der Priester schwieg. Seine Lippen waren zusammengepresst, verschwanden fast hinter seinem Bart.

Artair lächelte. »Er ist zu ergriffen, um es auszusprechen, aber ich werde es euch sagen. Man nennt es ein Wunder!«

Das letzte Wort schrie er so laut, dass einige Pferde erschrocken wieherten. »Ein Wunder!«, wiederholte er. »Der Schmied hat uns diesen Mann geschickt, damit wir mit seiner Hilfe den Feind zerschmettern!«

Elfen begannen zu klatschen. Einige berührten mit dem Daumen ihre Stirn oder knieten nieder. Brighde gehörte zu den wenigen, die eher verwirrt als begeistert wirkten.

»Kommt zum Palast!«, rief Artair. »Dort werde ich euch alles offenbaren, und wir werden feiern. Meine Weinkeller sind die euren!«

Nun jubelten alle Elfen, sogar einige Priester. Nur Dubhagan stand reglos in der Mitte des Kreises. Artair sprang von der Schubkarre. »Du wirst das Wunder anerkennen«, sagte er so leise zu dem Priester, dass Robert ihn kaum verstehen konnte. »Und du wirst allem zustimmen, was ich offenbare. Wenn nicht, wird der Schmied einen anderen Hohepriester für diese Stadt bestimmen.«

Dubhagan schwieg, aber sein Blick flackerte hell wie das Feuer. Artair ließ ihn stehen und streckte Robert seine Hand entgegen. Der ergriff sie und ließ sich auf die Beine ziehen.

»Es wäre leichter gewesen, wenn du etwas gesagt hättest«, flüsterte Artair.

Robert hob die Schultern. »Du hast nur für ein Wunder bezahlt. Sprechende Wunder kosten extra.«

»Was?« Der Statthalter runzelte die Stirn.

»Nichts. Vergiss es.«

Die Menge ließ sie nicht aus ihrer Mitte, umgab sie wie ein Kokon, als sie sich mit langsamen Schritten dem Tor näherten. Einige Elfen versuchten Roberts Hand zu schütteln, aber er tat so, als bemerke er sie nicht.

»Also haben wir gewonnen?«, fragte er.

Artair neigte den Kopf. Seine Euphorie verschwand. »Gewonnen? Das würde bedeuten, dass wir jetzt mehr haben als vorher, aber wir haben weniger. Gebäude wurden zerstört und Soldaten getötet. So ist es jedes Mal. Wir halten die Stadt, verlieren sie jedoch Stück für Stück.«

Sie gingen durch den Gang hinter dem Tor in die Stadt hinein. Soldaten liefen voraus und verbreiteten die Nachricht des Wunders. Elfen strömten in den Gassen zusammen. Eine Frau hielt ein Kleinkind hoch, damit es Robert sehen konnte.

Er verzog das Gesicht. »Und du denkst, dass ich das ändern kann?«

»Ja.« Mehr sagte Artair nicht.

Als sie den Marktplatz erreichten, holten Priester gerade die Leichen von den Galgen und aus den Käfigen. Die Frau, die im Pranger gestanden hatte, war bereits verschwunden. Robert nahm an, dass man den Feiernden den Anblick ersparen wollte. Auf der Treppe zum Palast blieb er kurz stehen und drehte sich um. Ein Teil von ihm hoffte, und ein anderer Teil fürchtete, Anne und Nadja zwischen den Elfen zu sehen, aber sie schienen nicht dort zu sein. Vielleicht war ihnen tatsächlich die Flucht gelungen.

»Was ist mit deinen Begleiterinnen?«, fragte Artair. Diener zogen die Eingangstüren vor ihm auf. »Sind sie wenigstens meinem Befehl gefolgt und haben sich in Sicherheit gebracht?«

»Ich denke schon. Wir wurden getrennt, als ein Felsbrocken einschlug.«

»Dann hoffe ich, dass es ihnen gutgeht.«

Die Diener schlossen die Tür hinter ihnen. Artair begleitete Robert zu seinem Zimmer und blieb davor stehen. »Frische Kleidung liegt auf dem Bett. Komm zum Eingang, wenn du fertig bist. Die Stadt möchte erfahren, was das Wunder bedeutet.«

Er drehte sich um. Robert legte die Hand auf den Türgriff, zögerte aber. Eine Frage ließ ihn nicht los. »Artair«, sagte er.

Der Statthalter sah zurück.

»Glaubst du wirklich, dass ich ein Wunder bin?«

Artair schwieg. Robert dachte, er würde nicht mehr antworten, und öffnete bereits die Tür, als er es doch noch tat.

»Ich glaube«, sagte Artair, »dass es ein Wunder ist, dass ich euch dreien zu diesem Zeitpunkt und an diesem Ort begegnet bin. Ob du ein Wunder bist, kann ich nicht sagen, und um ehrlich zu sein, ist es mir egal.« Damit wandte er sich ab.

Robert sah ihm nach, dann betrat er das Zimmer und schloss die Tür. Er glaubte einen Stich im Magen zu spüren, als er den Geruch von Sandelholz wahrnahm, der immer noch in der Luft hing. Annes Jacke hing über einem Stuhl; das Schwert, das Artair ihr gegeben hatte, lehnte an einer Wand.

Ich bin allein, dachte Robert. Mühsam schlug er die Sorgen und Ängste zurück, die seinen Geist plötzlich überfielen. Er wusste nicht, was geschehen war und wo sich Anne und Nadja aufhielten. Solange sich das nicht änderte, musste er an sich selbst denken. Alles andere war Zeitverschwendung.

Ich argumentiere ja schon wie ein Elf. Robert schüttelte den Kopf und ging zu dem breiten Bett. Bedienstete hatten die Spuren der Nacht beseitigt. Die Kissen, die er und Anne zerfetzt hatten, waren ausgetauscht worden, die zerwühlten Decken hatte man geglättet. Er lächelte beim Gedanken an das, was dazu geführt hatte.

Ein helles Leinenhemd lag auf dem Bett, eine dunkle Lederhose und ein Umhang, der so glatt war, dass er zwischen Roberts Fingern durchrutschte. Stiefel standen davor auf dem Teppich. Er zog die zerrissene, blutige Jacke aus und betrachtete die Wunden, die von den Klauen gerissen worden waren, im Spiegel. Sie schlossen sich bereits und juckten nur noch ein wenig. Die Kopfschmerzen ließen ebenfalls nach.

Ist schon klasse, ein Vampir zu sein, dachte er und schwor sich im nächsten Moment, diesen Satz niemals gegenüber Nadja zu erwähnen.

Er zog Hemd und Hose an, ignorierte aber den Umhang. Zu sehr Freddie Mercury, entschied er. Die Stiefel waren nicht groß genug, also ließ er sie ebenfalls stehen. Dann verließ er das Zimmer. Der Geruch nach Sandelholz folgte ihm bis in den Flur.

In der Eingangshalle wartete Artair bereits auf ihn. »Wirst du zu ihnen sprechen?«, fragte der Statthalter.

»Kommt darauf an.«

Artair atmete tief durch. »Auf was kommt es an?«

»Ob du mir einen Gefallen erweist, wenn ich das tue.« Robert sah durch die breiten Türen nach draußen. Der Platz war voller Elfen. »Versprich mir, dass ich danach die Stadt verlassen darf.«

»Ich soll mein Wunder aufgeben?«

»Sag ihnen, ich sei zurück in den Himmel gefahren, oder was weiß ich.«

Artair zögerte einen Moment, dann streckte er die Hand aus. »Also gut, du hast mein Wort.«

Robert ergriff sie. Vergeblich suchte er nach der Lüge in den Augen des Statthalters.

Er meint es tatsächlich ernst, dachte er.

Auf Artairs Nicken hin zogen die beiden Diener, die draußen standen und auf das Kommando warteten, die Türen auf. Elfen begannen zu jubeln und mit Schwertern auf ihre Schilde zu schlagen. Die Neuigkeiten schienen sich herumgesprochen zu haben.

Neben Artair trat Robert auf die oberste Stufe der Treppe. Bedienstete entrollten Banner von langen Fahnenstangen und richteten sie auf. Sie flatterten hoch über ihren Köpfen im Wind. Ein stilisierter Hammer inmitten eines schwarz-weißen Musters war darauf zu sehen.

Artair zog sein Schwert und streckte es in die Luft. »Für den Schmied!«, brüllte er.

Der Jubel nahm zu. Elfen schrien ihm ihre Antwort entgegen, bis er schließlich das Schwert einsteckte und die Arme vor der Brust verschränkte. Die Rufe ließen nach. Es wurde ruhig auf dem Platz.

»Euer Sieg erfüllt mich mit Stolz«, begann Artair. Robert blendete seine Worte aus. Er fühlte sich unwohl im Angesicht der Menge. Die Elfen sahen ihn voller Hoffnung und Aufregung an. Der Applaus, mit dem sie auf jeden Satz von Artair reagierten, wirkte ungeduldig; sie warteten auf die große Enthüllung.

Der Statthalter lobte seine Krieger ein letztes Mal, danach legte er Robert die Hand auf die Schulter. »Nun zu diesem Mann.«

»Ein Wunder!«, schrie jemand etwas verfrüht.

»Ja, ein Wunder.« Artair berührte seine Stirn mit dem Daumen. Die Menge ahmte die Bewegung nach. »Ich fand ihn in der Wüste oder besser gesagt, er fand mich.«

Mit keinem Wort ging er auf Nadja und Anne ein. Er konnte sie nicht vorführen wie Robert. »Ich war ein Verlorener, haderte mit dem Schicksal, das der Schmied mir und euch auferlegt hat. Ich schäme mich nicht zu gestehen, dass ich bereit war, mein Leben zu beenden.«

Ein Raunen ging durch die Elfen. Einige sahen ihn entsetzt an. »Dann allerdings stand er vor mir, ein Fremder aus einem fernen Land, ein Bote des Schmieds. Er enthüllte mir seinen Willen, und ich brachte ihn hierher, so, wie er es wünschte. Aber im Innersten meiner Seele zweifelte ich an seinen Worten. Ich war schwach und feige.«

Widerspruch regte sich, Elfen schüttelten den Kopf. Robert sah schwarz verhüllte Gestalten am Rande der Menge auftauchen, Priester. Dubhagan führte sie auf den Platz. Sie trugen einen großen Sack zwischen sich.

Das gibt Ärger, dachte er. Artair schien sie nicht zu bemerken.

»Doch, das war ich«, fuhr er fort. Er klang wie einer dieser Fernsehprediger, bei denen Robert immer den Sender wechselte. »Ich war so schwach, dass der Schmied beschloss, seinen Boten zu opfern und ins Leben zurückzuholen. Er gab uns ein Wunder, nur um mich, seinen feigen, dummen Diener, von der Wahrheit zu überzeugen.«

Er zog die Augenbrauen zusammen, als auch er die Priester sah, die sich in einer stummen Prozession der Treppe näherten.

»Wie lautet die Wahrheit?«

»Was verlangt der Schmied von uns?«

Die Elfen riefen durcheinander. Robert fühlte die Spannung, die über dem Platz lag. Artair nahm die Hand von seiner Schulter und trat zurück. »Sag es ihnen«, flüsterte er.

Alle Blicke richteten sich auf Robert. Er setzte dazu an, sich am Kopf zu kratzen, ließ die Arme wieder sinken und steckte die Hände schließlich in die Hosentaschen. Wieso überließ Artair es ihm, den Elfen von seiner großen Vision zu erzählen? Damit hatte er nicht gerechnet. Hatte der Statthalter Angst, die Elfen würden sie nicht annehmen, wenn sie von ihm kam und nicht von einem Boten ihres Gottes?

»Äh ...«, sagte Robert.

»Verrate uns den Wunsch des Schmieds!«

»Sag es uns!«

Die Rufe wurden lauter. Robert räusperte sich. »Der Schmied«, rief er, »verlangt von euch, die Stadt aufzugeben und den Teufel von seinem Berg zu vertreiben.«

Schweigen antwortete ihm. Die Elfen starrten ihn an. Robert fragte sich, ob er Artair vielleicht falsch verstanden hatte.

Nein, gab er sich selbst zur Antwort. Ich habe ihn richtig verstanden. Er hat befürchtet, dass sie so reagieren würden. Deshalb sollte ich es aussprechen.

»Ihr reagiert so, wie ich es tat«, rief Artair. Er nahm seinen Platz neben Robert wieder ein. »Auch ich schreckte bei dem Gedanken an die Gefahren und die Reise, an all das, was wir hinter uns lassen müssen, zurück. Hätte der Schmied uns nicht ein Wunder geschickt, ich weiß nicht, ob ich die Kraft aufgebracht hätte, euch davon zu erzählen.«

Arschloch, dachte Robert. Ich habe ihnen davon erzählt, nicht du.

Die Priester hatten die Treppe erreicht und blieben stehen. Ein Krieger, der sein Pferd am Zügel führte, machte ihnen Platz. Der Sack, den sie zwischen sich trugen, schien schwer zu sein. Sechs Elfen hielten ihn fest.

Artair warf einen kurzen, irritierten Blick auf sie, dann fuhr er fort: »Aber er gab uns dieses Wunder, das erste seit der Vertreibung. Ihr solltet keine Angst fühlen, sondern Stolz über diese große Ehre.«

Robert spürte, wie die Stimmung umzuschlagen begann. Einige Elfen applaudierten, andere neigten unsicher den Kopf.

»Das ist keine Ehre, sondern eine Lüge!« Dubhagans Stimme donnerte über den Platz. Er stieg einige Stufen empor und blieb dann zur Seite gedreht stehen, sodass er Robert und die Menge gleichzeitig im Blick hatte.

Artair legte eine Hand auf seinen Schwertgriff. »Eure Worte sind Blasphemie, Priester.«

»Nur wenn es ein Wunder gab, sind sie das.«

Es wurde still auf dem Platz. Die Menge folgte der Auseinandersetzung mit sichtlicher Faszination.

»Aber ...« Artair schüttelte den Kopf. »Ihr selbst habt den Mann für tot erklärt.«

»Und dazu stehe ich auch.« Dubhagan nickte den Priestern zu. Sie trugen den Sack die Stufen herauf.

Das geht schief. Die Erkenntnis stand plötzlich in Roberts Geist. Er sah sich um. Tausende standen auf dem Platz. Einige waren bewaffnet, andere hatten Reittiere dabei. Wenn er fliehen musste, dann ...

Dubhagans nächste Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. »Der Mann, der hier steht, ist tot.«

»Ihr habt den Verstand verloren!«, brüllte Artair ihn an. Die Überlegenheit, die er ausgestrahlt hatte, fiel von ihm ab, enthüllte Unsicherheit und Angst. »Natürlich lebt er. Das ist doch kein Wiedergänger.«

»Nein, das ist er nicht.«

Robert hätte Dubhagan nur zu gern das arrogante Lächeln aus dem Gesicht geschlagen. Der Priester winkte die anderen schwarz gekleideten Männer heran. Sie stellten den Sack zwischen sich auf und zogen die Kordel, mit der er zugebunden war, auseinander. Nun erkannte er, was sich darin befand, noch bevor der grobe Stoff zu Boden rutschte und die Leiche des Soldaten enthüllte, den Anne ausgesaugt hatte. Sein Kopf rollte haltlos über die Schultern. Das Gesicht war weiß wie Artairs Wappenrock, und die Bisse, die seine Kehle aufgerissen hatten, waren bis in die ersten Reihen deutlich zu erkennen.

Dubhagan streckte eine knochige Hand aus und zeigte auf Robert. »Er ist ein Vampir!«, schrie er.

Die Menge zog kollektiv die Luft ein.

»Was?« Artair schien nicht zu wissen, was er sagen sollte.

Robert ließ ihm keine Zeit, darüber nachzudenken. Mit einem gewaltigen Satz sprang er von der Treppe. Er riss zwei Priester um, dazu die Leiche, die zusammen mit ihnen über die Stufen rollte. Noch einmal stieß er sich ab. Ein Elf, der nahe der Treppe auf einem Pferd saß, hob abwehrend die Hand, doch der Aufprall hebelte ihn aus dem Sattel. Robert gelang es, sich stattdessen mit einer Hand am Knauf festzuhalten.

Das Pferd wieherte und trat aus. Es traf einen Krieger, der stöhnend zu Boden ging.

Robert zog sich in den Sattel und griff nach den Zügeln. Mit einem Schrei trieb er das Pferd an und galoppierte auf eine der engen Gassen zu. Elfen sprangen aus dem Weg. Die Hufe donnerten über das Kopfsteinpflaster. Bevor Robert in die Gasse eintauchte, warf er einen letzten Blick zurück. Artair stand auf der Treppe. Seine Schultern hingen nach unten, sein Rücken war gekrümmt, als habe jemand eine große Last auf ihn gelegt. In seinem Gesicht stand eine solche Enttäuschung, dass Robert die Lippen zusammenpresste. Er sah noch, wie Dubhagan vor die Elfen trat, dann nahmen ihm Häuserwände die Sicht auf den Platz.

Man würde ihm folgen, das wusste er. Die Schmach, die er Artair zugefügt hatte, war zu groß.

Eines nach dem anderen. Zuerst einmal musste er aus der Stadt hinaus. Die Gasse war schmal, aber da sich die meisten Elfen auf dem Platz aufhielten, war kaum jemand zu sehen. Ein Mann, der einen Korb voll Heu auf dem Rücken trug, wich ihm fluchend aus, und zwei Mädchen sprangen zur Seite, als er an ihnen vorbeigaloppierte. Irgendwo begann ein Kind zu schreien.

Robert dachte an Anne und Nadja. Er hoffte, dass sie sich nicht mehr in der Stadt aufhielten. Die Elfen würden sich an ihnen ebenso rächen wie an ihm.

Die Gassen schienen nicht enden zu wollen. Robert befürchtete schon, einen falschen Weg gewählt zu haben, als das Tor endlich vor ihm auftauchte. Erleichtert sah er, dass es immer noch offen stand. Einige Elfen schoben Karren mit Rüstungsteilen und den Metallüberresten der Belagerungswaffen in die Stadt. Auf den Mauern standen nur wenige Schützen. Sie stützten sich auf ihre Bögen, unterhielten sich und tranken Wein aus Schläuchen, die auf ihren Schultern lagen. Die Schlacht war vorbei, so schnell würde der Feind nicht zurückkehren. Nur Brighde wirkte aufmerksam. Sie hockte auf dem Wehrgang über dem Tor und sah hinaus auf die Ebene. Ihr Bogen lehnte neben ihr an einer Zinne.

»Schließt das Tor!«, schrie plötzlich jemand. Brighde sprang auf. Robert drehte den Kopf und sah einen dicken Elfen mit einer Haut wie Baumrinde auf einem Cosgrach herangaloppieren. »Schließt es!«

»Nein!«, rief Robert Brighde zu. »Ich bin in Artairs Auftrag unterwegs. Dubhagan will mich aufhalten!«

Er hatte gesehen, wie die Elfe mit dem Katzengesicht den Statthalter ansah. Sie war in ihn verliebt, da war er sich sicher.

Wie er gehofft hatte, zögerte sie. Noch einmal trieb er das Pferd an. Es sprang über einen Karren hinweg und galoppierte in den Gang. Obwohl Brighde keinen Befehl gegeben hatte, begannen zwei Elfen damit, das Tor zu schließen. Langsam schwang es zu.

»Aus dem Weg!«, schrie Robert sie an. Nur wenige Meter trennten ihn noch von der Ebene. Er sah die Staubfahnen vor sich, blinzelte in die untergehende Sonne. Die Torhälften schienen sich immer schneller zu schließen, der Durchgang wurde schmaler.

Das schaffe ich nicht, dachte er, konnte allerdings auch nicht mehr umdrehen. Das Pferd schoss vorwärts wie ein Pfeil, den man von der Sehne gelassen hatte.

Und dann war er hindurch. Seine Knie streiften Holz, er hörte wütende Schreie, spürte den Sand, den die Hufe seines Pferdes aufwirbelten. Er lachte erleichtert und drehte den Kopf. Der Cosgrach folgte ihm nicht, war zu breit für den Durchgang, der sich schon fast geschlossen hatte. Ihn zu öffnen würde die Elfen ein paar Minuten kosten.

Brighde stand über dem Tor. Sie hielt ihren Bogen in der ausgestreckten linken Hand, einen Pfeil in der rechten. Mit einer fließenden Bewegung spannte sie an. Robert drehte sich zurück, presste den Kopf gegen den Hals des Pferdes und versuchte, ein möglichst geringes Ziel abzugeben.

Vor sich sah er Dünen, auf denen verdorrte braune Sträucher wuchsen. Darauf konzentrierte er sich, nicht auf das, was sich hinter ihm abspielte und er nicht beeinflussen konnte.

Etwas zupfte an seinem Ärmel. Er sah zur Seite. Der Stoff an seinem linken Oberarm war aufgerissen. Den Pfeil, der ihn so knapp verfehlte, hatte er nicht einmal bemerkt.

Die Hufe des Pferdes gruben sich tief in den Sand, als es sich die Düne hinaufquälte. Ein Pfeil blieb in einem Strauch neben ihm hängen, die maximale Reichweite des Bogens war fast erreicht. Ein dritter flog trudelnd vorbei, dann überwand das Pferd die Kuppe der Düne und lief auf der anderen Seite weiter.

Robert atmete auf. Brighde hatte dreimal vorbeigeschossen. Trotz der großen Entfernung schien das nicht zu dem zu passen, was er in der Schlacht gesehen hatte. Vielleicht war es Absicht gewesen, vielleicht glaubte sie immer noch an das Wunder.

Das Pferd trabte durch den Sand. Robert lenkte es nach Süden, dem Berg entgegen, der seit dem ersten Anblick nicht näher gekommen zu sein schien. Er machte sich Sorgen um Anne und Nadja, wusste jedoch auch, dass es nichts brachte, nach ihnen zu suchen. Es gab nur einen Anhaltspunkt: ihr gemeinsames Ziel. Also machte er sich dorthin auf, den Blick nach vorn gerichtet, die Aufmerksamkeit nach hinten. Früher oder später würden seine Verfolger auftauchen, aber bis es so weit war, machte er sich keine Gedanken über sie.

Eines nach dem anderen.