11 He toa taumata rau

Maata Waka Nene fasste nicht, was die unbekannte junge Frau mit blumigen Worten erzählte. Konnte es wahr sein: Sollte wirklich eine Bande randalierender Jugendlicher durch die Gegend streifen? Officer Nuhaka Spencer würde sich bedanken, wenn ihr Neffe Tearoa Rangi Tuku morgen wie jeden Montag nach Waitara in sein Versicherungsbüro fuhr und einen der beiden jungen Leute in der kleinen Police Station ablud.

Besonders unvorstellbar war das Ganze eigentlich, weil es darauf hindeutete, dass sie und Whetu ihre Arbeit nicht richtig gemacht hatten. Sie wechselte einen Blick mit ihrer Schwägerin, die von der Südinsel stammte und selbst eine anerkannte Schamanin ihres Stammes war.

Der Ngati-Mutunga-Stamm, dem sie im Gegensatz zu ihrem Gatten Tamati angehörte, hatte ebenfalls schon immer in dieser Gegend gelebt. In Maatas Verwandtschaft und in ihrer Ahnenreihe fanden sich eine Menge hochgestellter Maori-Adliger oder ariki, etwa der Politiker Te Rangi Hiroa, und auch tohungas oder Schamanen. Die Gegend um das Grab Te Rangi Hiroas in Urenui war eine besondere Gegend, und es oblag den in die Geheimnisse eingeweihten Maata und Whetu, sie vor allem Bösen zu schützen, damit Dinge wie ein solcher Überfall nicht passieren konnten. Umso verwunderlicher war die Geschichte dieser beiden – Lebenswege voll von Brutalität ohnegleichen, die Whetus Zauber und Maatas Bannzeichen eigentlich hätten abhalten müssen.

Maata war hin und her gerissen, doch Tamati schien es wichtig, jede Einzelheit von den beiden fremdartig wirkenden jungen Leuten zu erfahren. Sie betrachtete die junge Frau. Ein Haarschnitt, wie er in Neuseeland bestenfalls in Auckland zu bekommen war. Sehr modisch, sehr extravagant, sofern Maata den Zeitschriften vertrauen wollte, die Mahine, ihre Enkelin und Jimmy Raungas ältere Schwester, manchmal aus Inglewood mitbrachte. Darin waren junge Damen abgebildet, die eine ähnliche Haartracht aufwiesen.

Mahine schien so etwas für dumm und überflüssig zu halten, und dafür war Maata dankbar. Es schauderte ihr, wenn sie sich vorstellte, dass ihre Enkelin eines Tages mit blondierten, kurz geschnittenen und nach allen Richtungen abstehenden Haaren erschien. Der zierlichen und schlanken jungen Frau vor ihr stand es allerdings sehr gut.

Der junge Mann an Rians Seite war offenbar der Stillere von beiden. Es kam Maata seltsam vor, dass nicht er das Wort ergriffen hatte, sondern wie selbstverständlich seiner Begleiterin den Vortritt ließ. Außerdem sah er Rian trotz der etwas anderen Haartracht – seine Haare waren nicht so platinblond wie ihre, sondern eher goldblond – unglaublich ähnlich. Sie waren eindeutig Geschwister, diese Angabe stimmte, aber vielleicht waren sie sogar Zwillinge. Eine innige Verbundenheit zwischen ihnen war zu spüren. Vielleicht machten es die Haare, welche die Augen der beiden jungen Leute so unglaublich violett leuchten ließen, dass man unwillkürlich glaubte, sie trügen neumodische, farbige Kontaktlinsen. Dem jungen Mann – David hieß er, erinnerte sie sich – fielen die offenbar schon seit Langem nicht mehr geordneten Haare derart wirr auf seine knochigen Schultern, dass Maata ihm am liebsten einen Kamm besorgt hätte.

Vom Aussehen her erinnerte er Maata an einen Rockstar, dessen Bild einst im Zimmer ihres verstorbenen Sohnes gehangen hatte. Er hatte zwei verschiedene Augen gehabt und wie nicht ganz von dieser Welt gewirkt. Ja, es schien durchaus wahrscheinlich, dass die beiden jungen Leute aus Europa kamen; da waren solche Moden sicher nichts Besonderes.

Aber dies war nun einmal Pukearuhe.

Es fehlte noch, dass Jimmy Raunga sich daran ein Beispiel nahm. Bürsten und Kämme waren für ihren Enkel aus Prinzip ein Gräuel, aber wenn diese jungen Gäste so merkwürdige Moden einführten, waren wohl in den nächsten Wochen von Raunga noch mehr Widerworte als sonst zu erwarten. Schon allein, wie er Rian stumm anschmachtete, verhieß Probleme.

Maata seufzte innerlich. Es hatte dem Jungen nicht gutgetan, die Eltern so früh zu verlieren. Sie und Tamati waren einfach zu alt gewesen, um noch Kinder zu erziehen. Besonders einen Jungen in den Flegeljahren.

Sie kam nicht dazu, ihren Gedanken weiter nachzuhängen, denn Rian Bonet hatte ihren Bericht beendet. Tamati nickte angemessen, dankte ihr und schickte Mahine mit den beiden nach oben.

»Ich hoffe, ihr nehmt unsere Gastfreundschaft an«, sagte er, während er sich würdevoll erhob. »Zum Abendessen werden wir uns wiedersehen. Meine Enkelin Mahine wird euch unser Gästezimmer zeigen und sich um eure Verletzungen kümmern; sie ist Krankenschwester. Morgen könnt ihr mit meinem Neffen Tearoa zur Police Station nach Waitara fahren. Er wird euch zu Officer Spencer bringen. Der kann alles Weitere veranlassen. Doch bitte seid heute unsere Gäste. E iti noa ana, na te aroha. – Auch wenn unser Geschenk klein ist, es wird mit dem Herzen gegeben.«

Rian und David waren offenbar zu verwirrt und zu müde, um das Angebot abzulehnen oder eine Alternative vorzuschlagen. Sie stützten einander, während Mahine sie vorsichtig nach oben zu den Schlafzimmern brachte.

Tamati nickte knapp, klatschte in die Hände, und die Gemeinde zerstreute sich.

Einzig Maata, Whetu und Teramati blieben zurück. Nun setzte sich auch Maata mit an den Tisch. Die vier Dorfältesten sahen sich an. Eine Weile sagte keiner ein Wort.

»Was denkst du, Teramati? Haben wir Glück?«, fragte Tamati Waka Nene schließlich. Er sprach Maori, zur Sicherheit. Jeder von ihnen hatte zwar Wert darauf gelegt, dass auch die jüngeren Generationen die Sprache beherrschten – Jimmy Raunga lernte sie sogar in der Schule –, aber die beiden Fremden mussten nicht alles verstehen, was an diesem Küchentisch gesagt wurde.

Der ariki von Pukearuhe sah gedankenverloren aus dem Fenster hinter der Küchenzeile und antwortete nicht sofort.

»Bist du sicher, dass es die beiden sind, von denen die Sage spricht?«, fragte er dann und sah seinem jüngeren Bruder direkt ins Gesicht. Tamati Waka Nene runzelte die Stirn.

Kein gutes Zeichen, dachte Maata und versuchte, die Wogen schnell zu glätten. »Ich bin jedenfalls der Ansicht, dass Whetu und ich unseren heiligen Aufgaben gerecht geworden sind. Die Schutzzauber und Bannsprüche sind noch wirksam, das spüre ich!«

Whetu nickte bestätigend.

Tamati sah von Teramati zu seiner Frau. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich sofort und wurde viel weicher. »Ich würde nie annehmen, dass du deine Pflichten vernachlässigen könntest, Maata. Du und Whetu, ihr versteht eure Sache viel zu gut, meine Liebe.« Er wandte sich wieder seinem Bruder zu. »Du bist der ariki. Du solltest dich in den Zeichen der Götter mindestens so gut auskennen wie ich, denn wir stammen beide vom Waka Nene ab. Diese jungen Leute sind göttlicher Abstammung.«

»Göttlich? Bei ihrem Aussehen?« Whetu verzog das Gesicht. »Ich kenne mich auch ein wenig mit dem Andersweltlichen aus, Schwager! Die zwei sind nicht göttlich. Ihr Aussehen hat mit Ranginui und Papatuanuku, von denen wir alle kommen, nichts zu tun.«

»He toa taumata rau – Mut findet man an vielen Stellen«, sagte Tamati ungerührt. »Ich rede nicht von ihrer Haar- oder Hautfarbe. Seid ihr drei blind? Die besondere Aura, die sie umgibt, zeichnet sie als Angehörige der Anderswelt aus. Ich weiß nicht genau, ob sie auch Zugang nach Puauta haben, aber eines steht fest: Keiner von uns verfügt über einen solchen Zugang.«

Verblüfft sah Maata ihren Gatten an. Er klang so sicher. Sie dachte an das Gespräch und daran, was die junge Frau erzählt hatte. Vielleicht hatte sie ja etwas überhört, weil sie sich zu viele Gedanken über die Frisur der jungen Leute gemacht und sich gefragt hatte, ob die Schutzzauber wirksam waren? Dennoch hatte Tamati recht, ganz schlüssig war die Geschichte nicht – auch abgesehen davon, dass sie so nicht hätte passieren dürfen. Und dann diese Blicke, die zwischen Rian und ihrem Bruder gewechselt worden waren ... Alles wies darauf hin, dass die Fremden ihnen nicht die Wahrheit präsentiert hatten.

»Ich glaube, Tamati hat recht«, sagte sie schließlich. »Wir sollten davon ausgehen, dass die beiden wirklich aus einer anderen Welt stammen als der, die dank der Trennung von Ranginui und Papatuanuku durch ihre Kinder entstand.«

Whetu schien nicht überzeugt, doch je länger Maata darüber nachdachte, desto mehr stimmte sie ihrem Mann zu. Er musste richtigliegen – und es wäre auch das erste Mal gewesen, dass er sich in diesen Dingen irrte. Ihre Gäste verbargen etwas.

»Tamati«, setzte Teramati an. »Angenommen, dem ist so: Können wir den beiden wirklich diese heikle Angelegenheit anvertrauen? Sie scheinen so jung zu sein, und keiner von unseren Ahnen hat das je geschafft.«

Auf Tamatis Gesicht breitete sich ein wissendes Lächeln aus. »Ich bin ganz sicher, Bruder, dass es diese beiden sind, von denen die Prophezeiung sprach. Und den Grund wird Whetu dir sagen, denn es ist der Grund, der sie daran zweifeln lässt.«

Seine Schwägerin funkelte ihn zornig an. »Teramati, du weißt, ich zweifle in der Regel nicht an dem, was dein Bruder sieht. Er ist einer der begabtesten Schamanen, die ich je kennenlernen durfte! Aber diese beiden Fremden haben eine seltsame Aura. Sie ist nicht menschlich, und sie wird schwächer. Falls es wirklich so ist, wie Tamati sagt – und eigentlich zweifle ich auch nicht daran, dass es sich so verhält –, ist ihre Aura nichts wert.«

Mit einem Mal lachte Tamati dröhnend. »Genau das wird uns nützen. Seht ihr nicht, dass diese Wesen einst unsterblich waren? Sie sind es nicht mehr, wie Whetu zutreffend festgestellt hat. Und das ist der Köder, den wir zu unserem Zweck verwenden werden. Sie sind durch das hierher geraten, was die pakeha Zufall nennen. Aber ich wette mit euch, es ist etwas Magisches gewesen. Etwas, das der anderen Welt angehört. Nur diese beiden können Puauta betreten. Und nur diese beiden haben die Kraft, Hine-nui-te po zu besiegen.«