9 Artair
Sein Name war Artair. Sein Reittier bezeichnete er als Cosgrach, aber Nadja war sich nicht sicher, ob es der Name des Tieres oder der Spezies war. Sie wagte nicht, ihn danach zu fragen, denn mit jedem Satz, den einer von ihnen sagte, wurde ihre Unkenntnis dieser Welt deutlicher. Immerhin gab es keine sprachlichen Hindernisse, das hatte Anne schon erklärt – im Reich des Priesterkönigs verstand jeder jeden durch einen immerwährenden Sprachzauber.
Während Artair die Leichen durchsuchte, erklärte Robert, sie seien Reisende aus dem Norden und nicht mit den Bräuchen dieser Gegend vertraut. Der Ritter nickte nur, als er das hörte. Ihn schienen die Waffen und Rüstungsstücke der Toten mehr zu interessieren. Dem einen nahm er die Armschienen ab, dem anderen die Handschuhe. Nadja sah nicht hin, als Artair den Morgenstern aus dem Helm zog. Sie hatte jemanden getötet. Es war alles so schnell gegangen, keine Zeit zum Nachdenken, nur Handeln. Leben und Tod, und sie hatte darüber entschieden. Es war ein furchtbares Gefühl.
Artair wog den blutigen Morgenstern in der Hand, dann hielt er ihn Nadja entgegen. »Du bist gut damit umgegangen. Willst du ihn behalten?«
Stumm schüttelte sie den Kopf.
Der Ritter hob die Augenbrauen und warf die Waffe in den Bach. »Dann soll der Rost ihn kriegen.«
»Wer waren die beiden?«, fragte Nadja. »Warum haben sie uns angegriffen?«
»Sie waren Flammenritter.« Artair wandte seine Aufmerksamkeit den Satteltaschen des übrig gebliebenen Pferdes zu. Lächelnd zog er einen blauen Wappenrock heraus und breitete ihn aus. Eine gelbe Flamme war darauf eingestickt. »Wie man sieht. Und feige waren sie, sonst hätten sie sich zu erkennen gegeben.«
Er warf den Wappenrock ins Gras und spuckte aus. Nadja sah Anne an, doch die Muse hob die Schultern.
Artair drehte sich zu ihnen um. Mit vor der Brust verschränkten Armen musterte er sie. Seine Rüstung war verstaubt und grau.
»Ihr habt keine Ahnung, wovon ich rede, oder?«, fragte er. Hinter ihm begann das Pferd zu grasen. Der Cosgrach beobachtete seinen Herrn wachsam. »Ihr könnt es ruhig sagen. Ich bin kein Flammenritter. Ich bringe nicht jeden um, der mich anlügt.«
Robert setzte zu einer Antwort an, aber Nadja kam ihm zuvor. »Irgendjemand hat meinen neugeborenen Sohn entführt. Wir sind ihm aus einem ...« Sie zögerte. »... anderen Land bis hierher gefolgt. Es liegt weiter weg als alles, was du kennst.«
Seine blauen Augen richteten sich auf sie.
Unter ihrem kühlen, abschätzenden Blick fühlte sie sich unwohl.
»Ein Kind zu stehlen ist eine schlimme Sache«, sagte Artair schließlich. »Wer ist dafür verantwortlich?«
»Ich weiß es nicht«, log Nadja. Sie hatte keine Ahnung, welche Stellung Catan in dieser Welt einnahm und wie der Ritter zu ihm stand. »Aber ich weiß, wohin er ihn bringen wird.«
Sie zeigte auf den schneebedeckten Gipfel des Olymp. »Der Palast ist sein Ziel.«
Artair stieß die Luft aus. »Geh zurück in dein Land, Mädchen, und nimm deine Freunde mit. Du bist jung. Du kannst noch viele Kinder gebären.«
Ihr Entsetzen musste deutlich zu erkennen sein, denn er senkte den Kopf und fuhr sich mit einem Handschuh über die Haarstoppeln. Dann sah er wieder auf. »Dort wirst du deinen Sohn nicht finden, nur Leid und Tod. Das ist die Wahrheit. Mach mit diesem Wissen, was du willst.«
»Wissen?«, fragte Anne. Sie rieb sich den Magen, wo der Tritt sie getroffen hatte. »Das ist eine Warnung, mehr nicht.«
»Eine sehr unpräzise Warnung«, fügte Robert hinzu.
Der Ritter schüttelte den Kopf. Sein Cosgrach trabte heran, als spüre er, was sein Herr wollte. Artair schwang sich in den Sattel. Er war kein kleiner Mann, trotzdem überragte ihn das Tier um mehr als einen Kopf. »Nehmt den Toten wenigstens die Waffen ab. Es herrscht Krieg. Jeder kann ein Feind sein.« Er setzte seinen Helm auf und öffnete das Visier. »Möge der Schmied mit euch sein.«
Artair wendete sein Reittier, ohne eine Erwiderung abzuwarten. Langsam trottete es auf die Ebene hinaus.
»Was sollte das denn?«, fragte Robert, sobald er außer Hörweite war.
Nadja war sich nicht sicher, worauf er das bezog. Die ganze Unterhaltung hatte für sie nur wenig Sinn ergeben. »Weißt du, was Artair meinte?«, fragte sie Anne.
Die Muse schüttelte den Kopf – wieder einmal. »In meiner Erinnerung ist der Palast ein Ort des Friedens und der Wunder. So hat ihn der Mann, der sich später Johannes nannte, erdacht. Es gab dort nichts Böses und erst recht nichts Todbringendes.«
»Gibt es vielleicht noch einen zweiten Palast?«, fragte Robert. Nadja hörte, dass es ein Witz sein sollte, aber weder sie noch Anne lachten.
Robert räusperte sich. »Ich denke, wir igno...«
Er unterbrach sich. »Artair kommt zurück.«
Nadja drehte den Kopf. Der Ritter hatte tatsächlich umgedreht und näherte sich ihnen wieder. Das Visier seines Helms war immer noch geöffnet. Er zügelte den Cosgrach vor ihnen und legte die Hände auf den Sattelknauf. »Ihr werdet meinen Rat nicht beherzigen, richtig?«, fragte er.
»Nein«, antwortete Anne. »Er war lächerlich.«
Robert verzog das Gesicht, aber der Ritter wirkte nicht beleidigt. Nadja hatte ihn anfangs für einen Menschen gehalten, aber seine fast unnatürlich blauen Augen und sein zurückgenommenes Verhalten passten eher zu einem Halbelfen oder Elfen.
»Dann kommt«, sagte Artair. »Ich bringe euch in die Stadt. Vielleicht könnt ihr euch dort einer Karawane in den Süden anschließen. Wenn ihr schon sterben müsst, soll es wenigstens mit dem Ziel vor Augen geschehen, nicht mitten in dieser Einöde.«
»Danke.« Robert nickte, dann runzelte er die Stirn. »Glaube ich.«
Anne bückte sich und hob die Schwertgürtel auf. Einen behielt sie, den anderen streckte sie fragend Robert und Nadja entgegen. »Ihr müsst euch bewaffnen«, sagte sie.
Nadja wusste, dass sie recht hatte, doch alles in ihr sträubte sich dagegen, eine der Waffen zu nehmen. Der Gedanke, dass sie jemanden getötet hatte, ließ sie nicht los.
Robert schien zu verstehen, was in ihr vorging, denn er nahm Anne den Gürtel aus der Hand. »Ich nehme ihn«, sagte er, »und einen der Dolche.«
Er nickte Nadja zu. »Falls du es dir anders überlegst.«
Sie ließen die Hügel hinter sich. Artair ritt auf dem Cosgrach neben ihnen her. Er hatte die Vorräte und Rüstungsteile, die er den Flammenrittern abgenommen hatte, in einen Sack gesteckt und am Sattel festgebunden.
»Ihr könnt sie in Las’wogg verkaufen«, hatte er erklärt. »Rüstungen und Waffen sind begehrt. Jeder will sie tragen, aber nur wenige können sie herstellen.«
Anne und Robert unterhielten sich leise, Nadja ging schweigend neben ihnen her. Es war warm. Nach einer Weile zog sie ihre Jacke aus, dann sah sie zurück. Die Hügel waren bereits im Staub, der vom Wind aufgewirbelt wurde, verschwunden. Er legte sich auf alles, auf Kleidung, Haut und Haare. Nadja spürte sein Kratzen sogar unter den Lidern, wenn sie die Augen schloss. Sie riss ein Stück Innenfutter aus ihrer Jacke und band es sich vor Mund und Nase.
Artair brachte den Cosgrach neben Nadja. Sie sah zu ihm hinauf. Er trug den Helm nicht mehr. Staub färbte seine Haut grau.
»War es dein Erster?«, fragte Artair leise.
Nadja wusste, was er meinte. »Ja.«
Er nickte. »Mach dir keine Sorgen. Es wird nicht leichter.«
Das sollte es auch nicht werden. Nadja drängte die Gefühle nach unten. Nicht darüber nachdenken, auf Distanz gehen. Das durfte nie wieder geschehen, niemals wieder so weit kommen. Bleib auf Distanz. Bleib auf Distanz.
Artair wich nicht von ihrer Seite. Der Cosgrach roch ebenso süßlich wie scharf. Staub und Schweiß verklebten den sichtbaren Teil seiner Flanken.
»War es hier schon immer so?«, fragte Nadja nach einem Moment.
»Nein.« Artairs Geste schien die gesamte Ebene einzuschließen. »Früher war hier alles grün, grüner noch als heutzutage in den Hügeln. Es gab Elefanten, Dromedare, Tiger, Büffel und Löwen. Sie lebten zusammen wie im Paradies. Die Bäche und die Bäume, auf denen jede Frucht wuchs, die man sich vorstellen kann, versorgten sie.«
Sein Blick verlor sich in der Ferne. »Aber sie sind längst weg. Sie brachten sich gegenseitig um, als das Wasser versiegte und die Bäume verdorrten. Nur wir sind geblieben. Manchmal frage ich mich, weshalb.«
Mit einem Blinzeln kehrte er zurück in die Gegenwart. »Aber die Frage ist sinnlos. Die ganze Welt liegt in Trümmern, nicht nur diese Ebene. Der Schmied hat uns den Rücken zugekehrt und alles dem Teufel überlassen. Ihn müssen wir besiegen, um die Gunst des Schmieds zurückzugewinnen.«
»Ist der Schmied euer Gott?« Nadja hatte die Frage noch nicht ganz ausgesprochen, da zügelte Artair bereits seinen Cosgrach.
»Blasphemie«, stieß er hervor. Mit der rechten Hand tastete er nach dem Dolch in seinem Gürtel. »Wie kannst du es wagen, seinen Namen zu missbrauchen?«
Nadja wich zurück.
»Was ist los?«, rief Robert auf der anderen Seite des Reittiers.
»Sie hat ...«, begann Artair, dann unterbrach er sich und ließ den Dolch los. Er sah Nadja an. »Kommt ihr wirklich aus einem Land, das so weit entfernt liegt, dass die Macht des Schmieds es nicht erreicht?« Es schien, als richte er die Worte an sich selbst. »Kann es einen solchen Ort überhaupt geben?«
»Es tut mir leid, wenn ich dich beleidigt habe«, sagte Nadja. »Das war nicht meine Absicht.«
Artair nickte. »Ich glaube dir, aber ein anderer hätte dafür vielleicht deinen Kopf gefordert.« Er sah Robert und Anne an, die links von ihm stehen geblieben waren. »Ihr müsst vorsichtiger sein. Ich bin ein weit gereister Mann und weiß, dass es vieles gibt, was wir nicht verstehen, aber die meisten von uns haben die Ebene nie verlassen. Sie können sich nicht vorstellen, dass es einen Ort geben könnte, an dem der Schmied unbekannt ist«
Er stieß halb lachend, halb seufzend die Luft aus. »Selbst mir fällt der Gedanke schwer. Aber ihr wirkt auf mich nicht, als hätten Dämonen euren Geist verwirrt, und es brächte euch keinen Vorteil, mich anzulügen. Also muss es wohl stimmen.«
»Das heißt«, hakte Robert nach, »dass wir das Wort G... das G-Wort nicht benutzen dürfen?«
»Niemals«, sagte Artair.
»Aber die beiden anderen Ritter haben es verwendet«, warf Anne ein.
»Natürlich. Sie waren Flammenritter, Fanatiker, die glauben, der Schmied spräche direkt zu ihnen und nicht durch die Priester. Sie maßen sich an, ihn bei seinem wahren Namen zu nennen.« Artair schüttelte den Kopf. »Sie morden und plündern, brennen Städte nieder und vergewaltigen Frauen – und das alles mit seinem Namen auf den Lippen.«
»Führt ihr Krieg gegen sie?«, fragte Robert.
»Etwas anderes bleibt uns nicht übrig.« Er trat dem Cosgrach leicht in die Flanken. Das Tier schnaubte und trottete los. »Kommt! Las’wogg liegt ganz in der Nähe.«
Nadja wartete, bis Artair vorbeigeritten war, dann schloss sie zu Anne und Robert auf. »Wollen wir wirklich in eine Stadt, in der ein falsches Wort mit dem Tod bestraft werden kann?«, fragte sie.
Robert schüttelte Staub aus seinen Haaren. »Wo sollten wir sonst hin? Wir brauchen etwas zu essen und am besten Pferde oder ...« Mit dem Kopf deutete er nach vorn zu dem Cosgrach. »... so etwas. Wir wissen ja nicht, was uns auf dem Weg zum Berg erwartet, ob wir uns einer Karawane anschließen können oder nicht. Artair kennt sich aus. Er kann uns helfen. Außerdem hat er noch nicht versucht, uns umzubringen, was bei den Begegnungen, die wir in den letzten Tagen hatten, keine Selbstverständlichkeit ist.«
»Aber warum will er uns nicht umbringen?« Anne runzelte die Stirn. Die Bewegung hinterließ dünne weiße Streifen auf ihrer Haut.
»Sein Gott wurde beleidigt. Das Recht wäre auf seiner Seite.«
»Vielleicht weil er ein netter Kerl ist.«
Nadja sah Robert zweifelnd an. Er hob die Schultern. »Kann doch sein.«
»Du hast seinen Gesichtsausdruck nicht gesehen, als ich ihn nach seinem Gott fragte«, sagte sie. »Für einen Moment war er so wütend, dass ich dachte, er würde mich angreifen.«
»Er ist ein Elf.« Anne tat ihre Bemerkung mit einer Handbewegung ab. »Wut kommt schnell, aber verfliegt auch ebenso schnell wieder.«
Hält sie mich für blöd?, fragte sich Nadja, schluckte jedoch jede Entgegnung hinunter.
»Wir werden vorsichtig sein, okay?« Nicht zum ersten Mal versuchte Robert zu schlichten. Er tat Nadja beinahe leid. Mit ihr und Anne unterwegs zu sein musste einem Albtraum gleichkommen, aber einem, den er sich zur Hälfte selbst ausgesucht hatte.
Nadja versuchte nicht an das zu denken, was aus ihrem alten Freund und Kollegen geworden war. Niemand konnte mehr etwas daran ändern.
»Du hast mir das ... Leben gerettet«, sagte Robert und riss sie damit aus ihren Gedanken. »Danke.«
Nadja fiel sein kurzes Zögern vor dem Wort Leben auf. Er wusste nicht, was er war oder was noch aus ihm wurde.
Sie nickte. »Du bist mein Freund.« Und das war den Preis wert, den sie bezahlt hatte.
»Bin ich das?« Robert sah Anne kurz an. Nadja fragte sich, was der Blick zu bedeuten hatte.
Sie stolperte, als ihr Fuß an etwas hängen blieb. Es war ein Knochen, weiß gewaschen von Wind und Sand. Ein Pfeilschaft lag daneben, dessen Spitze fehlte.
Nadja sah auf. Sand und Staub wehten in breiten Fahnen über die Ebene. Sie sah Artair auf seinem Cosgrach einige Schritte vor ihr. Er ritt an einem gewaltigen Katapult vorbei, das zerbrochen im Sand steckte. Die breiten Holzräder waren unter ihm eingeknickt, zersplittertes Holz ragte in den Himmel. Es sah aus wie das Skelett eines Ungeheuers.
Nach ein paar Schritten schälten sich Türme und Mauern aus dem Staub. Artair drehte sich im Sattel um. »Bleibt hinter mir«, sagte er. »Lasst mich reden.«
Er ritt auf ein hölzernes, geschlossenes Tor zu, das rund vier Meter hoch war und doppelt so breit wirkte. Auf den Mauerzinnen darüber standen Männer in Rüstungen, die mit Armbrüsten bewaffnet waren. Rechts und links von ihnen erhoben sich Wachtürme aus Holz und Stein. Die Mauern waren beschädigt. An einigen Stellen waren Zinnen abgebrochen und Steine aufgeplatzt. Nadja nahm an, dass die Stadt belagert worden war.
Die Soldaten legten ihre Armbrüste an. »Wer da?«, rief einer der beiden.
Artair klopfte sich den Staub vom Wappenrock. »Der Mann, der euren Sold bezahlt«, rief er zurück.
Hastig ließen die beiden Männer die Armbrüste sinken. Einer von ihnen winkte jemandem hinter dem Tor zu, der andere verneigte sich. »Verzeiht, Artair.«
»Ich dachte, hier wäre jeder reich«, murmelte Robert, während sich eine Torhälfte langsam öffnete.
»Du weißt nicht, in welcher Währung der Sold bezahlt wird«, sagte Anne. Sie folgte Artair als Erste durch das Tor und in den Gang, der sich dahinter befand.
Die Männer auf den Mauern sahen sie, Robert und Nadja an. Die meisten Soldaten hatten sich Tücher vor Mund und Nase gebunden. Man konnte nicht erkennen, ob sie neugierig, misstrauisch oder vielleicht sogar feindselig waren. Nadjas Mund wurde trocken, als sich das Tor hinter ihr wieder schloss. Sie drehte sich um und sah, wie vier Männer schwere Riegel vorschoben.
Artair stieg von seinem Cosgrach und streckte sich. Ein Soldat führte das Reittier davon. Nadja bemerkte die Schießscharten zu beiden Seiten des Gangs und die vergitterten Löcher in der Decke. Über einem sah sie einen Kessel stehen. Der Gang stellte wohl die letzte Falle für Angreifer da, denen es gelungen war, das Tor zu öffnen.
»Wir mussten es erst darauf ankommen lassen«, erklärte Artair, der Nadjas Blick bemerkt haben musste. »Wie ihr seht, erfüllt die Anlage ihren Zweck.«
Mit langen Schritten ging er durch den Gang auf ein zweites, offen stehendes Tor zu. Die Soldaten, die er passierte, verneigten sich tief. Sie alle trugen das Abbild des Hammers, entweder stilisiert in ihrer Brustpanzerung oder auf Schilden und Wappenröcken.
»Er ist ein mächtiger Mann«, sagte Anne leise, als sie sich Artair anschlossen.
Sie hatte recht. Nadja sah es an der Art, mit der er sich bewegte, und an den Reaktionen der Leute, die ihm begegneten. Sobald sie den Gang verließen und eine belebte Gasse betraten, versuchte fast jeder, der ihm entgegenkam, irgendwie seine Aufmerksamkeit zu erregen. Die Händler, deren Karren die Häuserwände säumten, priesen ihm lautstark ihre Waren an, Frauen winkten ihm aus den Fenstern zu, während alte Männer, die im Schatten saßen und ein kompliziert aussehendes Spiel mit Würfeln und Holzstäben spielten, ihm Ratschläge zuriefen. Artair lächelte oder sagte gelegentlich ein warmes Wort, meistens nickte er den Rufern jedoch nur zu.
Die Gassen, durch die sie gingen, waren voller Elfen und Halbelfen. Zwischen den menschlich aussehenden entdeckte Nadja immer wieder Tier- und Pflanzenwesen, meist in heller, weit geschnittener Kleidung. Rechts und links des Weges ragten Häuser auf, die aus Sandstein und Holz bestanden. Kein einziges sah neu aus. Alles wirkte alt, von dem Kopfsteinpflaster, in das die Räder der Handelskarren tiefe Fugen gegraben hatten, bis hin zu den Holzbalken, welche die Vordächer kleiner Stände stützten und vom Sand so glatt geschliffen worden waren, dass Nadja glaubte, ihre Fingerspitzen glitten über Glas.
»Wie alt ist Las’wogg?«, fragte sie Artair, nachdem sie den geschäftigen Teil der Stadt hinter sich gelassen hatten und es in den Gassen ruhiger wurde.
»Niemand weiß es. Bevor der Schmied uns verließ, gab es keine Zeit. Wir waren unsterblich. Wir säten nicht, wir ernteten nicht, es gab keine Jahreszeiten. Warum also hätten wir uns um die Jahre kümmern sollen, die vergingen?«
»Aber das hat sich geändert?«
Artair hob die Schultern. »So, wie alles sich geändert hat. Wenn ein Leben endlich wird, möchte man die Zeit zählen, die vergangen ist, und die schätzen, die man noch hat. Ich weiß nicht genau, warum.« Er räusperte sich. »Wie dem auch sei, laut der Aussagen unserer Priester, möge der Schmied ihnen Weisheit und Kraft geben, leben wir im Jahr zehn der Vertreibung.«
»Vertreibung?«, fragte Anne.
»Aus dem Paradies.« Robert gab die Antwort. Er wirkte traurig. Zum ersten Mal, seit sie in diesem Land angekommen waren, schien ihn etwas wirklich zu berühren.
Artair nickte.
Sie ließen die Gassen hinter sich und betraten einen weiten, großzügig angelegten Platz. In der Mitte stand ein Springbrunnen, groß wie ein Haus. Er bestand aus Steinfiguren, die im Reigen um einen Hammer tanzten, aus dem früher einmal wohl Wasser geflossen war. Doch jetzt war das Becken voller Sand. Die Figuren standen bis zu den Knien darin.
Häuser säumten den Platz. Ihre Fenster waren zugemauert, Soldaten standen vor den Türen. Artair ging an ihnen vorbei und nickte knapp, als sie sich verbeugten. »Hier warten die Gefangenen auf ihre Verurteilung«, sagte er, als würde er Nadjas Frage erahnen. »Ketzer, Besessene, Mörder, Spione. Flammenritter, die zu feige waren, in ihr Schwert zu fallen, als sie besiegt wurden. Früher einmal lebten hier die Händler der Stadt. Sie verkauften ihre Waren auf dem Platz, aber als die Vertreibung begann, verlegten sie ihre Stände in die Gassen. Niemand lebt gern im Schatten des Todes.«
Nadja verstand im ersten Moment nicht, was er meinte, dann folgte sie seinem Blick zur anderen Seite des Platzes – und erstarrte. Mehr als ein Dutzend Galgen standen nebeneinander an einer Mauer. Leichen schwangen im Wind langsam hin und her. Ihre Köpfe waren unter Säcken verborgen. Abgebrannte Scheiterhaufen umgaben sie. Über ihnen hingen Käfige aus Eisen, in denen verkohlte, von der Hitze des Feuers zusammengekrümmte Tote lagen. Eine Frau stand an einem Pranger. Ihr kahl geschorener Kopf war gesenkt. Sie rührte sich nicht, obwohl Krähenvögel um sie flatterten. Nadja wusste nicht, ob sie noch lebte.
Sie zuckte zusammen, als Robert ihren Arm berührte. Seine Hand war kühl. »Sind wir sicher, dass wir auf der richtigen Seite stehen?«, fragte er leise.
Nadja ging nicht darauf ein. Der Anblick der Leichen verstörte und erschreckte sie. Ein Soldat ging gerade unter ihnen hindurch, unbeteiligt, einen langen Speer auf die Schulter gestützt. Er schien das grausige Bild nicht einmal wahrzunehmen.
»Kommt«, sagte Artair in die Stille hinein. »Ich zeige euch eure Unterkunft.«
Nadja wäre am liebsten davongelaufen. Die Häuser mit ihren zugemauerten Fenstern und den hohen Mauern, die Galgen, Scheiterhaufen und Käfige – alles erdrückte sie. Sogar die Luft war stickig, doch Nadja zwang sich weiterzugehen. Der Gedanke an Talamh half ihr dabei.
Artair führte sie um eine Ecke des Platzes und blieb stehen. »Hier lebe ich«, sagte er.
Sie befanden sich vor einem Schloss. Vier Stockwerke hoch ragte es vor ihnen empor. Kleine Türme, Erker und Spitzen, die zu Kirchtürmen zu gehören schienen, verzierten die Fassade. Edelsteine blitzten und glitzerten in ihnen, Fensterrahmen erstrahlten golden in der Sonne. Eine breite Marmortreppe führte zu einer edelsteinbesetzten, offen stehenden Tür. Erst auf den zweiten Blick sah Nadja, dass ein Teil des Daches eingestürzt und die Fassade voller tiefer Risse war.
Soldaten verneigten sich, als sie Artair sahen. Einer von ihnen, ein dicklicher, junger Elf, lief ihm entgegen. »Priester Dubhagan erwartet Euch im Audienzzimmer, Statthalter«, sagte er nach einer zweiten, linkischen Verbeugung. »Er ...«
»... möchte wissen, was Ihr Euch dabei gedacht habt«, unterbrach ihn eine Stimme. Ein Mann stand im Eingang. Seine schwarzen, verdreckten Roben wehten im Wind. Er war dürr und hatte eine ledrige, faltige Haut. Verfilztes, graublondes Haar hing ihm ins Gesicht und ging nahtlos in einen ebenso verfilzten Bart über. Als er näher kam, bemerkte Nadja, dass er stank.
»Meine Gedanken gehen nur mich und den Schmied etwas an, Priester.« Artair klang steif. Er wollte an Dubhagan vorbeigehen, doch der gab die Tür nicht frei.
»Wer ist da bei Euch?«, fragte er. Seine grünen Augen musterten Nadja.
»Pilger aus dem Norden. Ich habe sie eingeladen, sich ein paar Tage bei uns auszuruhen.« Artair machte einen weiteren Schritt auf die Tür zu. Er war größer als der Priester und wirkte in seiner Rüstung bedrohlich. »Gibt es sonst noch etwas?«
»Aus dem Norden, ja?« Dubhagans Blick glitt zu Robert und Anne, dann wieder zurück zu Nadja. Zögernd gab er den Weg frei. »Und Ihr fandet sie, als Ihr allein durch die Ebene rittet, obwohl Eure Untertanen Euch angefleht hatten, das zu unterlassen. Und obwohl der Schmied es nicht schätzt, wenn seine Werkzeuge sich unnötig in Gefahr begeben.«
»So ist es.« Artair ging an ihm vorbei. Nadja hielt den Atem an, als sie ihm folgte. Sie ging an dem Priester vorbei in eine Halle hinein, von der Treppen und Gänge in andere Bereiche des Schlosses führten.
»Wäret Ihr von niederer Geburt, würde ich glauben, die Flammenritter hätten Euch verhext und zur Unvorsicht gezwungen«, rief Dubhagan ihnen hinterher. »Ich würde einen Exorzisten kommen lassen.«
»Aber ich bin nicht von niederer Geburt«, antwortete Artair, ohne sich umzudrehen. Nadja hörte einen Hauch von Unsicherheit in seiner Stimme.
Sie bogen in einen Gang ab, der von Öllampen erhellt wurde. Die Wände bestanden aus dunklem Holz. Es gab keine Fenster. Artair öffnete eine Tür und blieb im Rahmen stehen. Der Raum hinter ihm wurde von einem breiten Bett beherrscht. Teppiche bedeckten Fußboden und Wände.
»Redet nicht mit Dubhagan«, sagte der Statthalter. »Wenn er euch etwas fragt, antwortet ausweichend oder am besten gar nicht.«
»Wer ist er?«
»Der Hohepriester von Las’wogg.« Artair fuhr sich mit der Hand über die Bartstoppeln in seinem Gesicht. »Er und die anderen Priester geben sich ganz dem Schmied hin. Sie nehmen nur das, was er ihnen zukommen lässt. Sie essen, wenn ihnen ein Apfel vor die Füße fällt, trinken, wenn ein Bach auf ihrem Weg liegt, waschen sich, wenn es regnet, und so weiter.« Er verzog das Gesicht. »Leider regnet es nur noch selten.«
Nadja lächelte unwillkürlich.
»Um ehrlich zu sein, haben wir früher über die Priester gelacht«, fuhr Artair fort. »Sie sagten, sie seien die Einzigen, zu denen der Schmied persönlich spreche, und dass wir unsere Völlerei und unseren Reichtum eines Tages bereuen würden. Seit der Vertreibung lacht niemand mehr. Denn der Schmied, der alle anderen verlassen hat, spricht noch zu ihnen. Was sie sagen, ist der Wille des Schmieds.«
»Glaubst du das?«, fragte Robert.
Artair antwortete nicht, sondern trat zurück in den Gang. »Das ist der Gästetrakt. Die Zimmer sind alle gleich. Nehmt euch so viele, wie ihr möchtet. Ich werde jemanden zu euch schicken, sobald das Essen fertig ist.«
»Danke für deine Hilfe«, sagte Nadja. »Wir stehen in deiner Schuld.«
»Ja, das tut ihr.« Artair lächelte, aber es klang nicht wie ein Witz.
»Er will etwas von uns«, sagte Anne, als der Statthalter sie allein gelassen hatte.
Ich weiß, dachte Nadja, aber was?
Sie aßen gemeinsam in einem großen Saal im ersten Stock. Artair ließ sich entschuldigen, und die Diener, die an den Wänden standen, redeten kaum mit ihnen, beobachteten sie aber neugierig. Das Essen war einfach: Brot, Gemüse, ein wenig zähes Fleisch. Nadja aß ohne große Lust, während Anne in ihrem Essen stocherte. Robert behauptete, er würde fasten, und auch das schien niemanden zu stören.
Als es dunkel wurde, zogen sie sich in ihre Zimmer zurück. Anne und Robert teilten sich eins, Nadja entschied sich für ein anderes, das genau gegenüberlag. Das Bett war breit und weich; es lagen so viele Kissen darauf, dass sie kaum Platz fand. Durch ein kleines Fenster in der mit Teppichen verhängten Wand konnte Nadja auf einen Innenhof und einige Ställe blicken. Sie war froh, dass das Fenster nicht zum Marktplatz hinausging.
In dieser Nacht träumte sie von Talamh. Er lag auf einer Decke im Gras und sah sie aus großen Augen an. Nadja wollte nach ihm greifen, aber etwas hielt sie zurück. Sie konnte nicht zu ihm, egal, wie sehr sie sich anstrengte.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Talamh, ohne die Lippen zu bewegen. »Mir wird nichts passieren.«
Nadja öffnete die Augen. Es war hell. Sie glaubte, die Sätze immer noch zu hören. Sie hallten durch ihre Gedanken, wärmten sie und gaben ihr Kraft.
Unter ihrem Fenster wieherte ein Cosgrach, und Sonnenstrahlen warfen ein Muster auf den dunklen Fußboden. Nadja setzte sich auf. Es ging ihr besser.
Sie wusch sich in einer Schüssel mit Wasser und einer Seife, die nach Feigen roch. Dann klopfte jemand an ihre Tür. »Statthalter Artair erwartet Euch zum Morgenmahl«, sagte eine Stimme.
»Danke.« Nadja trocknete sich das Gesicht ab. Wenig später hörte sie ein Klopfen an der gegenüberliegenden Tür und die gleiche, noch dumpfer klingende Stimme.
Nadja fuhr sich mit den Händen durch die Haare, zog ihre Jacke über und verließ das Zimmer. Robert und Anne standen bereits im Gang. Beide sahen nicht so aus, als hätten sie viel geschlafen.
»Morgen«, sagte Robert, sobald er die Journalistin bemerkt hatte. »Du siehst ja gut gelaunt aus.«
»Ich habe von Talamh geträumt. Es geht ihm gut.« Ihr entging der Blick nicht, den Anne ihr zuwarf. »Es war nicht nur ein Traum. Ich habe seine Stimme gehört. Ihr wisst, dass er zu so etwas in der Lage ist.«
»Das stimmt, und es freut mich sehr, das zu hören«, sagte Robert, bevor die Muse etwas anderes antworten konnte.
Sie trafen Artair in dem großen Saal, in dem sie auch das Abendessen zu sich genommen hatten. Er saß am Kopfende des Tisches und aß kaltes Huhn von einer Holzplatte. Mit einem Messer zeigte er auf die Stühle rechts und links von ihm. Robert setzte sich, Anne schob sich rasch an Nadja vorbei und glitt auf den Stuhl neben ihm. Nadja schüttelte den Kopf und setzte sich auf die andere Seite des Statthalters.
»Ich hoffe, der Schmied hat über eure Nachtruhe gewacht«, sagte Artair kauend. Es klang wie eine traditionelle Begrüßung.
»Das hat er«, sagte Nadja. Diener stellten Holzplatten auf den Tisch und Krüge mit einer dampfenden, bräunlichen Flüssigkeit. Sie zögerte, bevor sie danach griff.
»Kennt man bei euch etwa keinen Honigtee?«, fragte Artair.
Gleichzeitig schüttelten sie den Kopf.
»Was für ein seltsames Land.«
Er lehnte sich zurück. An diesem Morgen trug er keine Rüstung, nur ein helles Hemd und eine braune Lederhose. Er war barfuß und hatte dunkle Ringe unter den Augen.
Der Geruch des Huhns ließ Nadjas Magen knurren. Zum ersten Mal, seit sie Island verlassen hatten, war sie wirklich hungrig.
»Isst du nicht?«, fragte Artair mit einem Blick auf Robert.
Der stellte den Krug ab, aus dem er gerade getrunken hatte – oder zumindest so getan hatte, als würde er trinken, dachte Nadja. »Nein. Ich faste noch bis zum Abend. Das machen wir gelegentlich da, wo wir herkommen.«
Artair nickte. »Verstehe.«
Er begann mit dem Messer zu spielen, das auf dem Holzbrett vor ihm lag, und wirkte ebenso nachdenklich wie ungeduldig. Als Nadja den letzten abgenagten Knochen zurücklegte, nickte er den Dienern zu, als habe er nur auf diesen Moment gewartet. »Räumt ab und schließt die Tür hinter euch.«
»Ja, Statthalter«, sagte der älteste der Diener. Zu dritt schoben sie die Bretter zusammen, nahmen die Messer vom Tisch und verließen den Saal. Nur die Krüge ließen sie stehen.
Artair sah sich um, dann stand er auf und schloss eines der Fenster, durch die man über die Dächer der Stadt bis zu den Mauern sehen konnte, die sie umgaben. Es war ein windstiller Morgen. Staubfahnen bewegten sich träge durch die Luft.
»Ich habe die ganze Nacht gebetet«, sagte Artair. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust. »Als ich gestern Las’wogg verließ, war ich auf dem Weg in den Tod. Ich suchte nach Flammenrittern, um mich ihnen im Kampf zu stellen und zu sterben. Ich dachte, selbst der Tod müsse besser sein als das.«
Er deutete mit dem Kopf nach draußen, als sei der Anblick der Stadt und der Ebene Erklärung genug. »Doch dann kamt ihr. Fremde auf der Suche nach einem Kind, auf der Suche nach Hilfe. Ich fragte mich, weshalb euch der Schmied geschickt haben könnte. Also betete ich um eine Antwort. Und heute Morgen bekam ich sie.«
»Oh, oh«, hörte Nadja Robert leise sagen.
Artair lächelte. »Ihr seid ein Zeichen. Der Schmied hat mir euch gesandt, da er erkannte, dass ich seine Prüfungen nicht länger ertragen konnte. Es ist Zeit für die letzte große Aufgabe.«
»Und die wäre?«, fragte Anne. Ihr Misstrauen war nicht zu überhören, aber Artair ging nicht darauf ein. Seine Worte klangen wie die eines Wahnsinnigen, dennoch wirkte er ruhig.
»Ihr werdet«, fuhr er fort, »zum Mittagsgebet mit mir zusammen vor die Betenden treten. Ihr werdet erklären, dass der Schmied euch geschickt hat, um mir etwas mitzuteilen.«
»Was?« Annes Stimme klang schärfer.
»Dass wir die Stadt aufgeben und den Teufel von seinem Berg vertreiben müssen. Wir haben keine ...«
Ein lang gezogener klagender Laut, der selbst durch die geschlossenen Fenster noch zu hören war, unterbrach ihn. Im ersten Moment dachte Nadja, es handele sich um den Schrei eines verwundeten Cosgrachs, doch dann erkannte sie, dass es sich um ein Horn handelte. Ein zweites kam hinzu, ebenso klagend und laut.
Artair fuhr herum und riss das Fenster auf. In der Ferne wehte eine Staubwolke heran.
»Verlasst sofort den Palast«, sagte der Statthalter und drehte sich wieder zu ihnen um.
Robert war bereits aufgestanden, zögerte nun jedoch. »Warum?«
»Weil der Palast ein beliebtes Ziel ist.« Mit langen Schritten ging Artair auf die Tür zu und riss sie auf. »Alles raus!«, brüllte er in den Gang hinein. »Die Flammenritter greifen an!«