Abschied
Null-Linien beherrschten die Kontrolltafeln der vierten horizontal aufgebahrten Kammer. Von all seinen medizinischen Messinstrumenten befreit, lag ein männlicher Leichnam auf der Kryomedstation. Den Unterleib mit blauem Tuch bedeckt, hatte sich die Haut am restlichen Körper unverkennbar verfärbt. Seine Augen geschlossen, seine Hände seitlich am Rumpf und den letzten Atem längst ausgehaucht, gab es keinen Zweifel mehr am Exitus des alten Mannes, auf dessen Spuren alle wandelten. Admiral James Cartright Senior hatte die lange Reise mit seinem Leben bezahlt. Wie viele würden ihm noch folgen? Und doch, war es diesmal etwas anders.
„Hey, Dad. Wir sind bald zu Hause. Wir können die Erde schon fast sehen. Ganz klein, aber sie ist noch da.“
Steven stand regungslos vor der Kammer und betrachtete das ruhende Gesicht seines Vaters. Die Haare waren dünn und trocken, sein silbergrauer Bart glänzte wie zu besten Lebzeiten. Der stets gehütete Bart, der seinen Mund umschloss, war trotz der langen Reise sorgfältig geschnitten. Er schien makellos zu sein, als hätte er sich erst kürzlich ein letztes Mal rasiert. Keine Rückstände von Kryoflüssigkeit, denn sie verdunstete unter normalen Umständen binnen Minuten. Doch normal war nichts mehr an Bord. Wie Barrow es vorhergesagt hatte, kühlte das Schiff rapide ab.
Tränen bahnten sich ihren Weg, als Steven zögernd seinen Daumen auf das Hauptbedienfeld presste und eine grünleuchtende Taste betätigte. Signalspitzen blitzten ein letztes Mal auf, dann erloschen die Bildschirme. Die Scanner der Kryostation A4 verstummten.
Nur das verstörend surrende Piepen der anderen Kryostationen und entferntes Flüstern drangen noch in sein Gehör. Erst als er aufsah, verstummten die leisen Stimmen. Alle schwiegen und beteiligten sich an der Trauer. Das gedämmte Licht ließ nur schemenhaft erahnen, wer gerade anwesend war. Susannah, Bone, Caren und zwei Marines, wie es ihm erschien.
„Lasst uns bitte allein!“, flüsterte Susannah leise, dann verschwanden die meisten. Nur Bone blieb noch einen Moment.
Mit geröteten Augen trat Susannah ebenso ergriffen an die Station heran, selbst kaum noch in der Lage, eine Träne des Trostes zu spenden. Sie legte ihre Hand tröstend auf die Seine.
„Du hast es gewusst oder?“, fragte Steven leise.
Susannah nickte und rührte sich nicht.
„Es tut mir so leid. Ich konnte nichts für ihn tun.“
„Du hättest es mir sagen müssen!“
„Ich konnte es nicht. Ich habe es ihm versprochen, dir nichts davon zu erzählen.“
„Herrgott, er war mein Vater!“, wurde er energischer. „Du hättest es mir sagen müssen!“
„Versteh doch bitte! Ich konnte es nicht!“
Er zog seine Hand weg.
„Ja, ich verstehe schon. Ärztliche Schweigepflicht.“
„Nein, es war weit mehr als das. Hätte ich es dir gesagt, hättest du die Mission abgebrochen. Seine Mission. Du weißt, wie viel sie ihm bedeutet hatte! Er wollte dabei sein, um jeden Preis!“
„Wir haben ... ich habe total versagt. Nichts anderes ist geschehen.“
„Das darfst du nicht mal denken. Du hast nicht versagt. Er war immer so stolz auf dich.“
„Ich konnte mich nicht mal richtig von ihm verabschieden.“
„Es tut mir so unendlich leid! Ich habe ihn auch geliebt, fast wie meinen eigenen Vater. Und du weißt, ich hatte nie einen.“
Susannah sah hinab, nahm wieder seine linke Hand und versuchte sie zu streicheln, doch Steven zog sie abermals langsam zurück und ging um die Station auf die andere Seite.
„Wie schlimm stand es um ihn?“, fragte er, ohne seinen Blick von seinem Vater abzuwenden. „Erzähl schon! Was wusstest du alles?“ Steven sah sie vorwurfvoll an. „Du schuldest es mir!“
„Also gut. Als er zu mir kam, war es schon zu spät. Er hatte unheilbaren Darmkrebs. Endstadium. Sehr weit fortgeschritten. Die Metastasen waren überall, in allen Organen. Auch sein Magen war betroffen.“
Susannah konnte den Schmerz fühlen. Schon seine Mutter und sein Onkel teilten dieses Schicksal.
„Krebs. Schon wieder. Deshalb habe ich ihn nie richtig essen sehen. Ich hatte ihn so oft zum Essen eingeladen und er hatte immer abgelehnt. Jetzt weiß ich, warum. Und du wusstest es.“
„Was hätte ich denn tun sollen? Er hat mich darum gebeten. Es war nicht leicht, es für mich zu behalten.“
„Glaubst du, er hat sehr gelitten?“
„Die Medikamente, die ich ihm gab, konnten es nur lindern und ihm seine Schmerzen nehmen, es jedoch nicht mehr aufhalten.“
„Wie lange wusstest du davon?“
„Circa ein Jahr. Letzten September kam er zu mir. Er hatte die Diagnose bereits von London erhalten. Zu diesem Zeitpunkt hätten nur noch mehrere große Operationen und Organverpflanzungen sein Leben retten können. Ohne Garantie auf Erfolg. Er wollte es nicht.“
„Und Bone? Wusste er es?“
„Nein, nur ich.“
Susannah schritt langsam um die Kryokammer zu Steven hin, versuchte ihn tröstend zu berühren.
„Wegen der Mission“, nickte Steven voll anschwellender Wut. „Alles nur wegen dieser verdammten Mission.“
„Ich glaube nicht, dass er etwas mitbekommen hat. Er war noch nicht bei Bewusstsein. Die Weckprozedur war zu anstrengend für seinen Körper. Er hat nichts davon gespürt.“
„Gut, das ist gut“, atmete Steven schwer.
„Sein Kreislauf war zu geschwächt. Er ist friedlich eingeschlafen.“
„Es reicht! Erspare mir Einzelheiten!“
„Ich hoffe, du verzeihst mir und kannst den Wunsch deines Vaters verstehen. Es war sein Wille!“
„Ja, das ist so typisch. Sein Wille war Gesetz.“
Entschlossen rieb sich Steven die Augen trocken und bedeckte seinen Vater mit dem blauen Tuch.
„Machs gut, Dad.“
„Hey, ich bin immer für dich da!“
Steven nickte verschlossen und kehrte Susannah den Rücken zu. Er hielt kurz inne und ging langsam zur Tür.
„Warte, da ist noch etwas! Er wollte, dass ich dir das hier gebe.“
Seine Schritte stoppten abrupt, dann drehte er sich langsam um. Susannah hielt eine flache, grüne Metallbox in den Händen. Darauf lag ein verschlossener brauner Briefumschlag. Wortlos nahm er die Box und die letzten Worte seines Vaters entgegen. Die eigensinnige Handschrift war unverkennbar, schließlich kannte er sie besser als jeder andere. Vielleicht war er auch der Einzige, der sie überhaupt entziffern konnte.
„Ich warte draußen und pass auf, dass dich niemand stört.“
„Nein, bleib! Bleib bitte bei mir!“, bat Steven und hielt sie bei der Hand. Susannah nickte nur, dann nahmen beide Platz. Zaghaft betrachtete er den Brief, die blanke Box und einen Hinweis, auf dem stand: „Bitte zuerst den Brief lesen!“ Behutsam öffnete er den Umschlag. Flüchtig überflogen seine Augen die ersten Zeilen seines Vaters. Es war fast, als könnte er seine Stimme hören.
„Mein Junge, mein Sohn. Ich habe lange darüber nachgedacht, wie Du es erfahren sollst. Dieser Weg fällt mir sehr schwer und ich hoffe, Du verzeihst es mir, dass ich dieses Geheimnis bis zum Schluss bewahrt habe. Ich bin nie besonders wortgewandt gewesen, war nie ein guter Redner und weiß nicht, was ich dir nun schreiben soll. Ich wäre Dir auch gern ein besserer Vater gewesen. Wenn ich eines Tages noch den Mut aufbringen sollte, wirst Du diesen Brief nie erhalten. Dann reden wir zusammen wie Vater und Sohn, wie wir es schon so oft hätten tun sollen. Wenn mich das Schicksal jedoch schon früher einholt, sei nachgiebig mit Sue. Die Bürde, die ich ihr aufgelegt habe, ist schwer genug. Sie ist ein Schatz, eine Perle, mein kleines Mädchen. Halte sie fest, denn sie liebt Dich sehr! Mache nicht den gleichen Fehler, wie ich bei deiner Mutter. Gott weiß, dass ich viele Fehler begangen habe und ich wünschte, ich könnte so manchen ungeschehen machen. Erst in den letzten Wochen ist mir bewusst geworden, wie viel mir noch geblieben ist. Wir stehen vor der Verwirklichung eines Traumes, der Lösung aller Fragen, doch zu welchem Preis. Diese Mission stand mein Leben lang im Mittelpunkt, ohne dass ich begriffen habe, wie mir die Menschen, die ich liebte, aus meinen Händen glitten. Ich habe beinahe alles verloren, was mir lieb und teuer war. Du, Sue und William. Ihr seid die einzigen Menschen, die ich noch habe. Ihr seid meine Familie. Vielleicht verstehst Du jetzt meine Entscheidung, meinen Entschluss bei der Mission dabei zu sein. Was wäre mir geblieben, wenn Ihr fort gewesen wäret. Nichts als ein leeres Haus. Und Du weißt, wie gut ich mit Zahlen umgehen kann. Ich benötige keinen Computer, um zu wissen, dass ich Eure Rückkehr nie erlebt hätte. Was sollte ich also tun? Die Mission abbrechen? Oder hätte ich unsere Backupcrew entsenden sollen? Unser aller Leben wäre verwirkt, Jahrzehnte vergeudet. Du kennst mich. Du weißt, wie besessen ich von Capri bin, wie abhängig. Vielleicht habe ich längst die Kontrolle verloren. Aber ich weiß, dass Du es schaffen wirst, die Oberhand zu behalten. Du bist stärker als ich. Du bist mein Sohn. Hoffentlich kannst Du mir alles, was ich falsch gemacht habe, irgendwann verzeihen. Meine Schwäche als Vater, der Verlust und Kummer Deiner Mutter, die Kindheit auf den vielen Stützpunkten, die vielen Geheimnisse. Damit soll nun Schluss sein. Du sollst alles wissen, was ich weiß! Möglicherweise wirst Du dann eines Tages verstehen, warum ich so besessen war. Doch bevor Du die Box öffnest und ich das letzte große Geheimnis lüfte, möchte ich etwas nachholen, was ich Dir verwehrt habe. Einen vernünftigen Abschied kann ich Dir leider nicht mehr bieten. Wie gern würde ich Dich in diesen Moment in meinen Armen halten. Ich hoffe, Du weißt, dass ich Dich immer geliebt habe. Auch wenn Du nie an Gott geglaubt hast, werden wir uns im nächsten Leben wiedersehen. Halt die Ohren steif! Es gibt keinen Vater, der stolzer auf seinen Sohn wäre, als ich es bin. Gott, ich wünschte, ich hätte Dir das alles schon viel früher sagen können. Verzeih mir! Mach’s gut, mein Junge. Dein Vater.“
„O Dad.“ Steven rang um Luft. Dicht an sein Gesicht gepresst, nahm er den von Tränen benetzten zerknitterten Brief wieder zurück und faltete ihn sorgsam zusammen.
„Alles in Ordnung?“, rieb Susannah mitfühlend seinen Rücken.
„Ja, mir geht’s gut. Danke, dass du geblieben bist.“
Nachdem Steven den Brief wieder vorsichtig geschlossen hatte, nahm er nun die grüne Box, stellte sie vor sich auf den Tisch und öffnete langsam den Deckel.
Obenauf lag ein mit einem Gummi gebundener Stapel kleiner Fotos. Zu seiner Verwunderung waren es Originale, entwickelt auf echtem Papier. Nostalgisch, typisch Dad. Richtig gelagert hatten Fotos auf Papier einen entscheidenden Vorteil. Sie hielten praktisch ewig, während digitale Fotos selbst auf Plasmafolien höchstens 80 Jahre Lebensdauer aufwiesen und sich eines Tages fehlerhafte Phasen einschlichen. Kein Datenträger konnte es je mit echtem Papier aufnehmen.
Gleich das oberste Bild schien ihm sehr vertraut. Es sah gebraucht aus, hatte einen dunklen Abdruck vom Holzrahmen und schmückte mehrere Jahre den Schreibtisch seines Vaters auf der Freedom-Station. Es war das Foto seiner Mutter, aufgenommen auf dem Marinestützpunkt in Neapel im Sommer 2076, vier Monate vor ihrem Tod. Es war eines der letzten Bilder von ihr. Vielleicht sogar das letzte, auf dem sie lächelte.
„Sie war wunderschön“, sagte Susannah gerührt.
„Ja, das war sie.“
Behutsam zog er das Gummi vom Stapel und sah sich zusammen mit Susannah auch die anderen Bilder an. Ein befreiendes, warmes Gefühl der Freude und Erinnerung an gute alte Zeiten vermochte den Kummer der Gegenwart für kurze Zeit zu vertreiben.
Die meisten Bilder gehörten zum persönlichen Familienbesitz. Einige von seiner Mutter, ein seltenes spätes Bild mit ihr und Dad zusammen beim Grillen. Bilder aus Plymouth, von der Flugausbildung, der Akademie in Genf sowie einige Abzüge von Bones und Stevens gemeinsamer Kindheit. Zwei Jungen, die gern Fußball spielten.
„Bist du das, mit William? Wie alt warst du da?“, wollte Susannah mit einem Lächeln wissen, als wäre aller Kummer vergessen.
„Da muss ich ungefähr 13 oder 14 gewesen sein.“
„Du siehst so süß aus. Und Bone auch. Ein schönes Bild.“
„Das ist lange her. Wir waren wie Brüder.“
„Das seid ihr doch immer noch“, lächelte sie ihm zu.
Je weiter sie durch die sortierten Fotos blätterten, umso weiter reichten die Bilder in die Vergangenheit seiner Eltern zurück, glücklichere Zeiten, über Stevens Geburt und noch davor. Das letzte Bild des Stapels war auf das Jahr 2032 datiert und hatte trotz des hohen Alters nicht im Geringsten an Farbbrillanz verloren. Vielleicht war es das älteste noch existierende Bild der Cartrights überhaupt, ein stolzes Familienfoto einer anderen Generation, vor jenem Tag, der die Welt für immer veränderte und die Geschichte dieser Familie für immer prägen sollte. Das Bild zeigte seinen Vater James, damals erst neun Jahre alt, dessen jüngeren Bruder Daniel sowie seine Großeltern George und Marion, die ein Jahr später Opfer der Katastrophe wurden. Zusammen standen sie vor dem restaurierten Original der legendären H.M.S. Victory in Portsmouth, Südengland. Es war ein majestätisches Linienschiff mit gelbschwarzem Rumpfanstrich und reihenweise Decks voller Kanonen.
„Dein Vater hatte schon immer eine maritime Ader für große Schiffe“, staunte Susannah voller Bewunderung.
„Ich bin nie dort gewesen, aber er hat mir oft von diesem Tag erzählt. Du kennst doch noch das alte Modell von der Akademie in seinem Büro.“
„Ja, was ist damit? Ahh, verstehe. Das ist das gleiche Schiff.“
Steven nickte und behielt seinen Vater im Auge, als schliefe er nur.
„Ja, nur ein bisschen kleiner. Er bekam es als Kind während der letzten Forschungsexpedition von seinen Eltern geschenkt. Sechs Tage bevor es passierte … Es war mehr als nur Spielzeug für ihn. Damals mochte er noch die See und Schiffe. Die Victory war seine größte Erinnerung und das erste große Modell, das er je baute. Er war wie besessen von diesem Schiff. Fast 15 Jahre hat er daran gebaut, es immer weiter verbessert. Ich glaube, die Erinnerungen daran haben ihn fast in den Wahnsinn getrieben. Ich durfte es nie berühren. Kurz danach hat alles angefangen.“
„Verstehe!“
Einen Moment betrachtete er das alte Bild. Jeder auf dem Foto war tot. Selbst seinen Onkel Daniel, der die Katastrophe als Sechsjähriger an Bord der Vici überlebte, hatte Steven nie kennengelernt. Schon mit 13 Jahren starb er an Leukämie.
„Steven? Gibst du mir das Bild mal?“, unterbrach Susannah die Stille.
„Weiß du, diese Krankheit … der Krebs ist wie ein Fluch. Sie lastet über unserer Familie. Erst mein Onkel, dann Mum, nun Dad. Niemand bleibt verschont. Warum hat noch niemand ein Heilmittel gefunden?“
Susannah legte die Fotos beiseite und überlegte.
„Ich weiß es nicht.“
„Ich schon!“, nahm er ihre Hand, küsste sie und strich über ihr altes Tattoo hinweg. Drei Ringe, ein Baum. Er wusste, wenn die Konzerne es gewollt hätten, gäbe es diese Krankheit nicht mehr. Aber sie wollten es nie. Wieder sah er zu seinem Vater, als er die kalte Box auf seinen Beinen spürte.
„Was ist? Alles in Ordnung?“, fragte Susannah besorgt.
„Es geht mir gut.“ Er begann die Box zu durchsuchen. „Was haben wir denn da?“
Steven kramte ein Gruppenfoto hervor.
„Kommt mir vor, als wäre es erst vor ein paar Tagen gemacht worden“, erinnerte sich auch Susannah wehmütig.
Unter dem Bild stand das eingravierte Datum. Aufgenommen auf der Columbia-Station am 23. Mai 2093 10:53 Uhr, knapp einen Tag vor dem Start. Steven nahm das Bild der 21-köpfigen Besatzung in die Hände und überflog die einzelnen stolzen Gesichter. Es war ein heroischer Moment, entschlossene junge Frauen und Männer, voller Tatendrang, Mut und Ehrgeiz. James Brust platzte fast vor Stolz.
Es gab Hunderte Bilder von Aberhunderten Missionen in den Kontrollzentren auf der Erde. Bis auf wenige Ausnahmen waren die meisten erfolgreich und wohlbehalten zurückgekehrt. Sie alle gehörten auf ihre spezielle Art zu den Pionieren und hatten die Grenzen des Unmöglichen überschritten. Jeder von ihnen nahm die bekannten Risiken und Gefahren auf sich, um dem höheren Ziel einen Schritt näherzukommen. In Gedanken versunken, betrachtete auch Susannah noch immer das Foto. Nacheinander fokussierte sie einzelne Gesichter, die es nicht zurückgeschafft hatten. Kira und Hiroto standen strahlend nebeneinander. So sehr sie sich gegen die verdrängten Erinnerungen sträubte, kehrten die grauenvollen Bilder schlagartig aus ihrem Unterbewusstsein zurück. Miller, Stone, Carter, Wheeler, Professor Arkov und nicht zuletzt James waren bereits tot. Die Liste der Überlebenden schrumpfte mit jedem weiteren Risiko. Wie sollte sie das nur verhindern?
Plötzlich schreckte Steven hoch. Eine Person stand in der dunklen Tür. In Gedanken versunken, hatte er niemanden hereinkommen gehört.
„Na, Kumpel. Darf ich eintreten?“, bat Bone respektvoll. Einen kleinen Augenblick wartete er auf eine Antwort, ehe Steven trauernd antwortete.
„Natürlich. Komm rein! Gehörst doch zur Familie.“
Langsam trat er über die Schwelle. Während Bone sich mit kleinen Schritten der abgeschalteten Station des Admirals näherte, bemerkte Steven den Brief, den sein Freund in den Händen hielt.
„Du hast auch einen bekommen?“, blickte er erstaunt auf die so vertraute Handschrift.
„Ja.“
Niedergeschlagen blieb Bone vor seinem Ziehvater stehen und wischte sich sein Gesicht ab. Beide schauten auf ihre Briefe.
„Verstehe! Er hat gut vorgesorgt. Er wusste ja, was kommt.“
Nun überraschte Steven gar nichts mehr.
„Ich mach’s kurz und werde nicht lange stören“, sagte Bone knapp.
„Du störst uns nicht“, fühlte Susannah mit ihm mit. Betroffen schüttelte ihr Mann nur den Kopf.
„Das weiß ich. Ich wollte mich nur selbst verabschieden. Dauert nicht lange, dann bin ich wieder weg.“
„Bleib, solange du willst“, ließ ihn auch Steven alle Zeit der Welt.
Die nahm er sich. Einige Minuten verharrte er andächtig auf den Knien, streichelte die Hand des alten Mannes und bedankte sich leise bei diesem. Dann betete er.
Als er schließlich wieder aufstand, trat er an seinen Freund heran und umarmte ihn innig, wie es Brüder taten. Beide schwiegen. Es gab keine Worte, die das lindern konnten. Noch nie hatten Worte einen geliebten Menschen zurückgebracht. Nur sie drei waren noch füreinander da.
Plötzlich zog Bone auch Susannah zu der Umarmung hinzu, so dass sich alle drei umschlossen.
„Ich danke euch beiden“, sagte er eine Weile später. „Sue. Du bist wie eine große Schwester für mich. Ich mach dir keine Vorwürfe. Und du, Stevieboy, du bist mein großer Bruder. Ich liebe euch beide! ... Und dich auch, James.“
Mit einem letzten Gruß kehrte er schließlich allen den Rücken und verließ die Sektion so langsam, wie er sie betreten hatte. Beide sahen ihm mit feuchten Augen nach.
Wieder vergingen einige Minuten, ehe Steven den Brief in die Box legte und den letzten Inhalt betrachtete.
Unter den berühmten grünlich schimmernden Rasterbildern des alten Missionszieles, des Planeten Capri, lag schließlich eine versiegelte braune Aktenmappe mit überdeutlicher roter Aufschrift:
„TOP SECRET - SINUS AESTUMM, CAPRI - CODE HS5A“ Susannah überflog das Deckblatt der Mappe.
Das Siegel trug die Initialen J. T. C., die seines Vaters. Ungläubig starrten beide auf die letzten Zahlen und Buchstaben, die auf der Mappe zu lesen waren. 5A? Capri? Er war verwirrt. Offiziell sollte er alle Einzelheiten zur Mission, alle Hintergründe und sämtliche Forschungsergebnisse kennen. Offenbar war dem nicht so. Steven und Susannah sahen einander an.
„5A? Das ist die Höchste Sicherheitsstufe!“, erkannte Susannah, die niemals zuvor eine so streng geheime Akte einsehen durfte.
„Mal sehen, was du uns allen verschwiegen hast, Dad.“
Gerade als er die Mappe öffnete, unterbrach der wieder zum Leben erwachte Colonel Braun die Ruhe mit einer Durchsage über das Intercom.
„An alle. Wir haben unsere Endstation erreicht.“
Die Tonlage seiner tiefen Stimme versprühte Eiseskälte und Endgültigkeit. Sie waren zu Hause angekommen.
Steven zögerte und spürte, wie die Triebwerke bremsten. Für einen Moment blickte auf das erste Blatt des offenen Dokumentes. Ein schwarzweißes Foto voller langer, schwarzer Schatten erregte seine Aufmerksamkeit, doch seine Gedanken umkreisten ganz andere Fragen. Zuerst wusste er nicht was er da sah. Unförmige Strukturen unter Capri. Dann schien sich sein Blick zu versteinern. Er schluckte. Welche Wahrheit war die Schlimmere? Welche bot mehr Trost? Oder war es dafür nun zu spät?
„Was ist das da auf dem Bild?“, fragte Susannah neugierig, die das seltsame Gebilde nicht erkannt hatte.
Plötzlich polterte jemand durch die Tür. Es war Bone.
„Wir sind da. Das solltet ihr euch ansehen!“, schnaufte er atemlos.
Einen Moment hielt Steven inne. Hin- und hergerissen starrte er auf das befremdliche Bild. Konnte das sein? Dann packte er die Akte in die Box zurück, schloss den Deckel und stand auf.
„Willst du sie nicht durchsehen? Vielleicht ist sie wichtig.“
Ganz sicher war es wichtig, dachte er sich. Doch nichts war bedeutender, als das Schicksal ihrer Heimat. Er stand auf.
„Später, Sue. Ich muss das da draußen sehen. Komm mit!“
Neugier und Überlebenswille. Beides waren Urinstinkte, die tief in der menschlichen Psyche verankert waren. Das schwierige daran war, eine gesunde Balance zu finden, um nicht noch tiefer in die Scheiße zu geraten.