Nur noch fünf Minuten!
Die Zeit rann davon, der Countdown lief. Die sichere Zukunft dauerte nur noch bescheidene fünf Minuten. Susannah stand vor Steven und hatte jedes Zeitgefühl verloren. Seine Brust hob und senkte sich ruhig und beständig. Es war ein kleines medizinisches Wunder, das sie vollbracht hatte. Das Koma war überwunden, wenn auch mit drastischen Mitteln. Doch es war nur ein kleiner Sieg, gegenüber der Macht, die draußen auf sie lauerte. Der verrückte Plan potenzierte den Wahnsinn nochmals. Aber hatten sie eine andere Wahl?
Ihre Hände wanderten zärtlich über seinen Körper, ihr Verlangen und ihre Sehnsucht nach seiner Wärme und Geborgenheit war unermesslich. Steven sah sie an. Er sah ängstlich aus und dennoch beruhigte er sie mit einem einzigen liebenden Lächeln. Was er wohl dachte, fragte sie sich. Ihre Blicke liebkosten einander. Sie streichelte ihn erneut und schloss den Reißverschluss seiner Bekleidung.
„Hey, meine Kleine. Alles wird gut.“
Wenn sie doch nur mehr Zeit hätten. Doch plötzlich holte sie eine erbarmungslose Stimme in die Wirklichkeit zurück.
IVI: „Achtung! Abwurf erfolgt in fünf Minuten.“
Susannah klappte die Fußstütze ein und begann eilig die Vorbereitungen zum Aufrichten der Kammer. Mühsam und hastig schloss sie alle Gurte und Halterungen, um die Kammer hydraulisch in die Vertikale zu bringen. Mit einer kleinen Erschütterung rastete die Kammer ein. Susannah gab weitere Kommandos in das Computerterminal ein. Synchron begannen sich alle Kammern in Flugrichtung zu drehen. Nur so konnten die Absorber und die Gravitoneinheit die bevorstehenden Schockwellen entgegenwirken. Das Kryogel, das in seiner Konsistenz variabel war, übernahm eine zusätzliche absorbierende Wirkung, ähnlich einem Airbag. Je kälter und zähflüssiger das Gel war, umso geschützter waren sie.
„Ich bin gleich so weit“, sprach sie mit ihm. Gleich hatte sie wieder Zeit für ihn. Zumindest ein wenig.
IVI: „Achtung! Abwurf erfolgt in vier Minuten.“
Plötzlich drehten sich alle Kammern nach und nach in Flugrichtung. Das sollte die Insassen schützen, so hofften jedenfalls alle. Die Frage war nur, ob auch das Schiff die starken Belastungen aushielt, wenn die Schockwellen gleich auftreffen würden.
Da war sie wieder, die Angst. Fast hatte er sie verdrängt. Steven sah zu Caren und Sadler hinüber, die sich bereits in ihren hermetisch versiegelten Kammern befanden.
Susannah drehte sich zu Stevens Kammer und checkte sie unermüdlich. Es geschah unabsichtlich in einem Moment der Hektik. Von der Angst übermannt hatte sie scheinbar jedes Feingefühl verloren und zu stark an den Gurten gezogen, so dass es in seiner Brust schmerzte. Steven verzerrte sein Gesicht.
„Nicht so fest! Es ist schon gut so.“
Er zog sie zu sich heran, streichelte sie und küsste ihren verführerischen Mund solange Zeit dazu war. Sie schloss ihre Augen. Seine vom Dreitagebart umsäumten Lippen stachen etwas. Dennoch waren sie das Schönste, was heute noch geschehen würde. Er legte seine Hände auf ihre Wangen, streichelte ihr Gesicht, fuhr mit seinen Fingern durch ihre langen Haare. Die kalte, dünne und trockene Luft schmerzte in ihren Lungen. Sein warmer Atem kam da gerade recht. Er küsste sie erneut.
IVI: „Achtung! Abwurf erfolgt in drei Minuten.“
„Du musst in deine Kammer!“, machte Steven Druck und schob sie schweren Herzens von sich.
„Ich will nicht“, erwiderte sie fröstelnd. „Wir haben uns doch grad erst wieder.“
Er nahm ihre Hand und zog sie zu sich heran.
„Das will ich auch nicht, aber du musst! Hab keine Angst! Wir haben es so weit geschafft. Das überstehen wir auch.“
„Das weiß ich”, zögerte Susannah misstrauend.
„Es ist ein guter Plan. Bone wird es packen.“
Susannah sah ihn ungläubig an und musterte ihn erneut.
„Du bist noch zu schwach. Ich werde deine Kryostasis aktivieren.“
„Nein! Ich will sehen was passiert. Ich hab schon lange genug geschlafen. Verschwinde endlich in deine Kammer! Mach schon! Du hast bald keine Zeit mehr!“
Es klang fast herzlos, doch sie wusste, dass er sich nur Sorgen machte. Sie musste ihn jetzt loslassen, ob sie wollte oder nicht.
„Okay, du hast Recht. Verdammt! Bis nachher“, küsste sie ihn nochmals innig. Ihre Lippen trennten sich. Alles erschien ihr wie ein böser Traum zu sein. Behutsam, wie im Trance, legte sie ihm die Atem- und Sprechmaske auf und schloss die Kanzel. Wenig später war die Kryokammer hermetisch verschlossen. Die Zeit verstrich. Sie überhörte sogar die Warnung des Computers. Nervös zuckten beide zusammen, als das Schiff wieder zu rütteln begann. Wenige Sekunden später strömte das Kryogel in die Kammer und der Pegel stieg unaufhaltsam.
IVI: „Achtung! Abwurf erfolgt in einer Minute.“
Susannah programmierte noch einen Parameter und berührte ein letztes Mal das Glas vor seinem Gesicht.
„Ich liebe dich!“ Ihr Flüstern war so leise, dass es kaum zu hören war, doch es spielte auch keine Rolle. Die Botschaft war in seinem Herzen angekommen. Sie presste ihre nackte Hand auf das eisige Glas und spürte, wie die Kälte sie erfasste. Dann lief sie zu Kammer vier, die offen bereit stand. Nun musste alles sehr schnell gehen. Sie wusste, wie lange es dauerte, bis das Kryogel den rettenden Spiegelstand erreicht hatte.
IVI: „Abwurf erfolgt in fünf, vier, drei, zwei, eins, null. Abwurf eingeleitet! Detonation erfolgt in zwei Minuten und vierzig Sekunden.“
Außerhalb der Explorer
Das Schiff regte sich. Am Heck schlossen sich die Schutztore der Haupttriebwerke. Überall am Schiff, am Bug, am Heck, Steuerbord, Backbord, auf dem Kamm und am tiefsten Punkt der Explorer fuhren die Metallpole der Kraftfeldgeneratoren hinaus, die das Ablenkungsfeld erzeugten. Es waren 24 dicke, silberfarbene Metallspitzen, einen halben Meter lang. Die Positionslampen erloschen, dann wurde es ganz dunkel.
Nur unterhalb des D-Decks blitzte es unregelmäßig. Funken sprühten aus dem klaffenden Riss, welcher sich erst vor kurzem gebildet hatte. Es war zu spät, diese Wunde, die sich direkt neben einem der Pole befand, zu schließen.
Eine Klappe öffnete sich am Heck. Ein langes, torpedoähnliches Objekt schoss achtern in den Weltraum, zündete den Mikrodrive und verschwand wenige Sekunden später im All. Die Bombe tickte.
Cockpit, B-Deck
Die rote Notbeleuchtung hüllte das Cockpit in dunkles Warnlicht. Alle Systeme warteten auf den großen Knall. Ein Meer von bunten Lichtern spiegelte sich in Bones Visier.
„Torpedo abgefeuert. Zünder ist scharf. Die Zeit läuft“, rief Barrow aufgeregt neben ihm. Die Kehle wurde immer trockner.
IVI: „Detonation erfolgt in genau zwei Minuten“, verkündete der Computer präzise.
„Hauptgeneratoren 01 bis 18 ausgefahren. 19 bis 24 fahren ebenfalls aus. Dann bauen wir mal das Kraftfeld auf“, antwortete Bone angespannt.
Bewegungsunfähig angeschnallt saßen er und Barrow in ihren Raumanzügen in ihren Sitzen. Während der Rest der Crew die Sicherheit der Kryokammern bevorzugte, nahmen die beiden das Risiko auf sich, ohne Sicherheitsnetz auf der Rakete zu reiten. Gemeinsam gingen sie die Checkliste für Notfälle durch.
„Heliumplasmatanks gesichert und bereit“, bestätigte Barrow.
„Kraftstoff-Plasma-Leitungen?“
„Druck normal, Ventile geschlossen.“
„AFDO?“
„Standby.“
„Triebwerke geschlossen? Wie sieht’s mit der Antenne aus?“
„Haupttriebwerke sind geschlossen auf Standby. Hauptmast ist ausgefahren und ausgerichtet. So wie es Arkov wollte.“
„Stimmt. Wird nicht lange halten.“, meinte Bone und dachte an die Stabilität brechender Streichhölzer. „Weiter im Plan. Navigation und Manöverdüsen?“
„Bereit.“
„Backupsysteme?“
„Alle auf Standby.“
„Schalte alles außer Schilde, Absorber und Gravitoneinheit ab. Nur zur Sicherheit“, erwiderte Bone.
„EMP? Dagegen sind wir geschützt“, blitzte Barrow wütend zurück.
„Ich weiß, was ich tue! Schalte alles ab, was wir nicht brauchen!“
„Sie sind der Pilot. Verbocken Sie das nicht!“
IVI: „Achtung! Backup-Systeme sind offline.“
„Status Trägheitsabsorber?“, fragte Bone weiter.
„Okay. Bereit. Leistung bei 85.“
„Das reicht nicht! Wir brauchen die volle Leistung. Davon hängt alles ab. Falls sie ausfallen, sind wir erledigt“, verdeutlichte Bone den entscheidenden Punkt.
„Okay, ich versuch das letzte Quäntchen herauszuholen. Leistung steigt auf 93, 94, 95. Bleibt stabil.“
„Gut.“
IVI: „Detonation erfolgt in genau einer Minute und dreißig Sekunden.“
„Chad, mach dein Rundumcheck!“, forderte Bone.
„Verstanden.“
Barrow blickte sich um, überprüfte alle Konsolen auf seiner rechten Seite. Bone tat das Gleiche auf seiner Linken.
„Leitwerk eingefahren. Sektionen eins bis vier versiegelt. Alle Schotten geschlossen. Kabinendruck nominal. Gravitoneinheit deaktiviert. Alles auf Go. Wir sind bereit zum Start.“
Barrow lehnte sich langsam in seinen Sitz zurück und starrte Bone an, als wartete er auf etwas.
„Ich vergrößere das Kraftfeld auf maximalen Durchmesser, umso mehr Schub bekommen wir.“
Bone fragte nicht gern, er tat es einfach. Barrow schluckte.
„Das ist ein mieser Plan. Dadurch verliert es zu viel Intensität, die Druckwelle wird uns auseinanderreißen!“, widersprach Barrow vergeblich.
IVI: „Detonation erfolgt in genau einer Minute.“
„Hast du das in die Berechnungen mit einbezogen? Wenn die Schilde falsch konfiguriert sind, werden wir vaporisiert.“
„Ich dachte, diese Lady sei unverwüstlich? Jetzt wird sich zeigen, was dieses Schiff drauf hat.“
Barrow nahm solche Sätze stets persönlich. Der Subtext klang für ihn ein wenig anders. Beleidigend.
„Du überschreitest bei weitem meine Schmerzgrenze, das ist dir klar, oder? Das ist nicht einer deiner Testbomber! Du bist verrückt!“
Bone grinste, öffnete seine Brusttasche und zog schließlich ein altes, zerknittertes Foto von Jane heraus.
„Ich trage es immer bei mir. Sie hat mich noch nie in Stich gelassen.“ Es hatte etwas Nostalgisches, als er das Bild wieder zwischen die Instrumente klemmte, fast so, wie es die alten Piloten im Zweiten Weltkrieg taten, bevor sie ihre Himmelfahrtskommandos flogen.
„Denk positiv!“, meinte Bone und tastete nach Carens Anhänger, den er nun um die Armmanschette des Raumanzuges trug. Neidisch spähte Barrow auf beide Glücksbringer und erkannte Bones Entschlossenheit.
IVI: „Detonation erfolgt in genau dreißig Sekunden.“
„Wieso hab ich so was nicht? Es hat dir hoffentlich schon tausend Mal das Leben gerettet, oder?“, fragte Barrow.
„Nein, die hier ist neu“, deutete Bone mit einem Lächeln auf die Kette.
„Wie schön.“ Barrow schluckte.
„Wenn jemand noch ein letztes Gebet sprechen will, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt“, spaßte Bone ins Intercom und zog seinen Gurt noch fester, dass es schmerzte.
„Vermassle es nicht!“
„Ich habe noch nie versagt, wenn es brenzlig wird.“ Er gönnte sich ein letztes Grinsen.
Der Countdown der digitalen roten Anzeige näherte sich seinem Ende. Im Hud des Cockpitglases eingeblendet, lag der rettende Kurs des AFS, einem ähnlichen Programm wie das ILS, das Instrumenten-Lande-System bei Flugzeugen. Kleine virtuelle Kästchen bildeten einen Korridor, weg vom Schwarzen Loch. Die kleinste Abweichung bedeutete den sicheren Tod.
„Erste Zündung erfolgt in 4.700 Kilometer Entfernung.“
Der Computer begann mit dem Countdown.
IVI: „Achtung! Detonation erfolgt in zehn, neun, acht …“
„Das ist Wahnsinn! Ich finde wir sollten das noch mal überdenken“, rief Barrow verunsichert. Er starrte auf die Zahlen, krallte sich an den Lehnen des Sessels fest und drückte sich mit den Rücken in das Polster. Das Schiff vibrierte erneut und passierte wieder den nächsten Punkt der Annäherung. Die Bombe folgte ihnen. Das Timing war perfekt.
„Dafür ist es jetzt zu spät. Festhalten! Detonation!“, brüllte Bone zurück.
Sein Grinsen war verschwunden.