Null-Linien

 

 

Susannah rannte durch das ganze Schiff. Deck um Deck, Sektion für Sektion hechtete sie mit nur einem Gedanken zur Kryohalle I, zur medizinischen Station.

Ein schrilles, unüberhörbares Alarmsignal schmerzte ihr im Ohr, ein grauenhaftes Gefühl drückte im Bauch und eine schreckliche Vorahnung durchbohrte ihre Gedanken. Steven. Dieser Alarm konnte nur eines bedeuten.

„Was ist los, Sue? Was hat der Alarm zu bedeuten?“, rief ihr Caren besorgt nach. Barrow, Braun und Rivetti folgten Susannah, der die Angst ins Gesicht geschrieben stand.

„Vielleicht ist es nur ein Fehlalarm“, sagte Barrow besorgt.

Susannah schüttelte den Kopf und öffnete die Verbindungstür zur Kryohalle. Unermüdlich trieb ihr Herzschlag ihren Blutdruck in schwindelerregende Höhe. Doch alles schien in bester Ordnung. James beugte sich in diesem Moment über Steven, um seinen Zustand zu überprüfen.

„Ist er in okay?“, keuchte Susannah aufgeregt und kam dichter heran gelaufen.

„Ja, was ist denn los? Was hat der Alarm zu bedeuten?“, fragte Stevens Vater aufgebracht.

„Ich dachte, es wäre was mit ihm.“ Susannah fing sich wieder, als sie zum nächsten Gedanken sprang. „Irgendetwas stimmt…“

Susannah rannte zu nächstgelegenen Konsole und aktivierte die Sensoren der Biochipimplantate, die jeder an Bord in sich trug.

„Komm schon!“, rief sie ungeduldig. Mit einem Blick überflog Susannah die 21 Datenblätter der Besatzungsmitglieder. In tabellarischen Anordnung und medizinischer Präzision zeigte ein großer Monitor sämtliche Vitaldaten aller Menschen an Bord. Ein Blick genügte, um sich an vergangene Ereignisse zu erinnern. Längst waren sie nicht mehr vollzählig. Zu viele Null-Linien beherrschten das Zentrum des Bildschirmes. Miller, Wheeler, Carter, Stone. Aber es waren nicht nur vier, es waren schon fünf Menschen, die keine Lebenszeichen mehr von sich gaben.

„Seht! Der Professor!“, schrie Caren auf und hielt sich voller Entsetzen die Hände vor den Mund.

„Das muss ein Fehler sein“, beharrte Barrow. „Ich hatte ihn vorhin …“ Plötzlich erinnerte sich Barrow. „Dieser Idiot!“

Susannah schaltete den markdurchdringenden Alarm ab. „Computer, lokalisiere Professor Arkov, Jaros Kaspar. Identitätsnummer AJK19.“

IVI: „Scann negativ. Signalkontakt negativ. Professor Arkov befindet sich nicht an Bord der Explorer.“

„Was? Wo ist er?“ Caren sah zu Barrow, der sich einem Fenster näherte.

„Wie hoch ist die Reichweite der Biochips?“, fragte Braun mit rauer Stimme.

„Hier draußen praktisch unbegrenzt. Das sind Hochleistungssender. Irgendetwas muss sein Signal stören“, meinte Susannah aufgebracht.

„Das glaub ich nicht.“ Braun hatte eine Vorahnung. „Es wird nicht gestört. Es wird verschluckt. Ich weiß, wo er ist.“

„Das kapier ich nicht! Wo soll er sein?“, fragte Susannah.

„Er ist draußen“, sagte Barrow kurz und leise. Alle sahen ihn an und wussten, dass er Recht hatte. Braun nickte, denn er ahnte, dass es stimmen musste.

„Er hatte mich um Hilfe gebeten, den Hauptspiegel auszufahren. Ich dachte nicht, dass er … Ich meine, woher sollte ich wissen, dass er ...“

„Herrgott! Warum haben Sie uns das nicht gesagt?“, wütete Rivetti los. „Die Antenne, stimmt’s? Dieser Narr! Das konnte er doch unmöglich allein...“

„Fehlt sonst noch jemand?“, fragte Braun schnell und sah sich um. Plötzlich ertönte ein neuer Alarm, Wullfs Vitaldaten blinkten.

„Oh nein, Aaron“ Rivetti machte sich große Sorgen.

„Wo ist er?“, rief Susannah und starrte auf sein Datenblatt, das allen Grund zur Beunruhigung zeigte. Sein Blutdruck sank rapide.

Das EEG schloss auf Bewusstlosigkeit hin, es zeigte nur noch minimale Hirnstromaktivitäten.

„Er muss in der Nähe sein“, rief Braun und rannte zum nächsten Fenster an Steuerbord. Rivetti lief zur anderen Seite.

„Computer, lokalisiere Wullf, Aaron. Identitätsnummer WAB09“, hatte Susannah eine bessere Eingebung.

„Scann positiv. Signalstärke 97 Prozent. Master Sergeant Wullf befindet sich nicht an Bord der Explorer.“ Eine Schiffsgrafik zeigte die genaue Position des Marines.

„Er ist auf der Backbordseite, mittschiffs an der Tragfläche“, rief Susannah und rannte zum nächsten Fenster an die betreffende Seite.

„Da, ich sehe ihn“, rief Rivetti aufgebracht und zeigte hinaus. „Das sieht nicht gut aus. Wir müssen ihn sofort reinholen.“

„Sie hätten uns Bescheid sagen müssen, was Arkov vorhatte!“ Brauns kühle Kritik war direkt, als sei das Schicksal Wullfs und Arkovs schon beschlossene Sache.

„Woher sollte ich wissen, wie weit er gehen würde?“, versuchte sich Barrow zu verteidigen. Doch Braun sagte vermutlich die Wahrheit. Die kleinste Nachlässigkeit hatte vielleicht zwei neue Opfer gefordert.

 

Frachtraum 1, Steuerbordschleuse, Mittelsektion, C-Deck

Im Frachtraum war die Hölle los.

„Schnell, die Trage hierher!“, rief Rivetti und traf sämtliche Vorbereitungen zur Reanimation. Der Boden war gesäumt von diversem, medizinischem Plunder. Container, Kisten, Decken, Defibrillator. Rivetti prüfte die Medikamente und legte fertige Spritzen und Infusionen bereit.

„Wieso waren die da draußen, zum Teufel? Wer hat das angeordnet?“, fragte Bone aufgeregt, als er begriff, dass er den Unfall verursacht hatte.

„Fragen Sie das lieber Mister Barrow. Oder Arkov, wenn er noch lebt“, antwortete Rivetti gereizt.

Bone schaute durch die Schleuse hinaus und beobachtete zwei Gestalten, die eine dritte von der Tragfläche bargen.

„Wer ist da draußen?“

„Braun und Van Heusen“, antwortete Rivetti.

„Und wer ist der Dritte?“

„Wullf! Tun Sie nicht so, als wüssten Sie es nicht längst!“

Rivetti stand auf und blickte Bone verächtlich in die Augen, als sei er schuld an dem Debakel.

„Ich wusste es nicht! Wir hatten keine Ahnung, genauso wenig wie Sie! Okay? Also regen Sie sich ab und sagen Sie mir, was los war!“

„Arkov hat die Hauptantenne ausgefahren, um mehr Daten vom Schwarze Loch zu empfangen. Den Rest können Sie sich doch selbst vorstellen.“

„Wieso hat er nichts davon gesagt? Er wusste doch, dass wir uns startklar machen. Hier kann doch nicht jeder machen, was er will! Wo ist der verrückte Spinner?“

„Was denken Sie denn? Den haben Sie auf dem Gewissen!“

Bone sah in Rivettis weit aufgerissene Augen. Ihr Blick war so endgültig, voller Trauer. Erst jetzt realisierte er, was Arkov wiederfahren war. Bone schaute abermals hinaus und schluckte.

„Verdammt! Lebt er noch?“

„Woher soll ich das wissen. Sein Biochip sendet nicht mehr.“

 

Sensorenphalanx & Hauptcomputer, B-Deck

Von Schuldgefühlen geplagt, versuchte Barrow verzweifelt, die Leistung der Sensoren zu verstärken. Caren sah ihm über die Schulter, konnte jedoch nicht nachvollziehen, was er da in den Konfigurationssystemen des Schiffes trieb.

„Was tun Sie da?“, fragte sie neugierig.

„Wir müssen ihn finden. Wir brauchen ihn oder wir kommen hier nie mehr weg.“ Barrow wechselte rasch von einer Station zur nächsten. Über ein Sternensuchraster horchte er nach und nach die einzelnen Frequenzen ab. Planquadrat für Planquadrat. Seine Bemühungen schienen aussichtslos, doch er kämpfte, als ginge es um sein eigenes Leben. Lärm erfüllte die Sektion, so dass man es schon am ganzen Körper spüren konnte. Obwohl nur lautes Rauschen zu hören war, tanzte der Lautstärke-Pegel bereits am Schmerzlimit. Caren sah auf den Masterregler, der auf maximale Power stand. Das kleinste Signal, ganz gleich ob kosmisch oder menschlich, konnte in dieser Signalstärke zu dauerhaften Hörschäden führen. Noch ein paar Dezibel mehr und Schallwellen könnten sogar töten. 

„Wollen Sie uns umbringen?“ Caren regelte die Lautstärke auf ein erträglicheres Maß herunter.

„Wir müssen ihn finden.“ Barrow meinte es ernst und war sichtlich verbittert. „Das wollte ich nicht.“

„Wir werden ihn finden, aber mit anderen Mitteln.“, machte sie ihm Mut. „Warum nutzen Sie nicht die Computer? Das geht doch viel schneller.“

„Das hab ich schon. Das System konnte nichts finden. Vielleicht kann ich ihn hören. Ich weiß, er ist noch nicht tot. Ich habe gute Ohren.“ Barrow wandelte am Rand der Verzweiflung.

„Nicht mehr lange, wenn Sie so übertreiben. Jeder macht Fehler. Diesen hat Arkov begangen, nicht Sie.“ Caren machte ihm keine weiteren Vorwürfe und versuchte ihn zu beruhigen. „Sagen Sie mir, wie ich helfen kann. Wir sollten den Scan wiederholen.“

Caren blickte zu den Biochips an der gegenüberliegenden Wand. Die Anzeigen waren eindeutig und ließen kaum Grund zur Hoffnung. Arkovs Vitaldaten zuckten keinen Millimeter, keine Amplitude, kein Herzschlag, nur Null-Linien. Auch Wullfs Zustand war äußerst kritisch. Wenn er nicht sofort medizinisch versorgt würde, käme auch für den sanften schwarzen Riesen, den sie von allen Marines am meisten mochte, jede Hilfe zu spät.

 

Frachtraum 1, Steuerbordschleuse, Mittelsektion, C-Deck

Ungeduldig warteten alle, dass sich endlich die Tore schlossen. Gleichmäßig huschte ein greller, roter Lichtblitz über die angespannten Gesichter. Es war die Signalleuchte der offenen Schleuse, die eine fast hypnotische Wirkung besaß. Dann endlich traten Braun und Van Heusen in die Schleuse und legten Wullfs regungslosen Körper ab.

Es war wohl Braun, der kurz gegen das Glas des inneren Schleusenfensters schlug und ein Handzeichen gab. Bone zögerte nicht lange und schloss das äußere Tor, um sofort mit dem Druckaufbau zu beginnen.

„Wie ist sein Zustand? Sind Verletzungen zu erkennen oder ist sein Anzug beschädigt?“, fragte Rivetti über das Intercom.

„Wir können nichts erkennen“, antwortete Van Heusen.

Der Druckausgleich begann mit einem zunehmend lauten Zischen. Luft füllte den leeren Raum der Schleuse und die künstliche Schwerkraft zerrte wieder an ihren Gliedern. Nun waren Wullfs stolze 125 Kilogramm nicht mehr so leicht zu bewegen.

„IVI, Schwerkraftfaktor 0,3“, keuchte Bone ins Intercom.

IVI: „Bestätigt. Schwerkraft verringert.“

„Legt ihn vorsichtig auf der Trage ab.“

„Mann ist der immer noch schwer“, stöhnte Van Heusen.

Auch Bone und Vandermeer packten mit an, um seinen Rücken gerade zu halten. Alle waren der verringerten Gravitation dankbar.

Rivetti schlängelte sich durch die großen Männer, die mit ihren Raumanzügen noch größer wirkten, als sie es von Natur aus schon waren. Schnell scannte sie Wullfs Lebenszeichen und verglich sie mit den Daten des Biochipsensors.

„Die Daten sind korrekt. Nehmt ihm vorsichtig den Helm ab!“

Vorsichtig entfernte Braun den Helm, während Van Heusen seinen Kopf stabilisierte und nach hinten legte.

„Er ist bewusstlos. Wir müssen den Anzug öffnen und den Gürtel lockern. Macht seinen Oberkörper frei!“ Rivetti beobachtete die Daten, die sich langsam zu normalisieren begannen.

„Was ist mit ihm?“, fragte Braun besorgt, als auch Susannah den Frachtraum betrat. Sofort machten alle Platz und traten einen Schritt zurück.

„Wie ist sein Zustand?“, fragte sie mit fachlicher Neugier.

„Gut, soweit ich erkennen kann. Er ist bewusstlos. Bis auf einige Blessuren und eine Quetschung an der Hüfte hat er Glück gehabt. Keine ernsten Verletzungen“, antwortete Rivetti erleichtert.

„Was für ein Muskelberg. Ich staune jedes Mal wieder. Wäre er nicht so kräftig gebaut, wäre es vielleicht anders ausgegangen.“ Susannah scannte ihn auf innere Verletzungen.

„Er war schon immer hart im Nehmen“, freute sich Isabell.

„Wir sollten ihn zur Beobachtung auf die Station bringen“, fügte Susannah hinzu. Braun stockte kurz und hielt sie fest.

„Warten Sie! Können Sie ihn wecken? Wir müssen wissen, was passiert ist.“

„Gut. Es spricht nichts dagegen. Isabell, wecken Sie ihn auf!“, stimmte Susannah zu.

Rivetti griff zu einer Packung und entnahm ein kleines gelbes Röhrchen, knickte es mit den Fingern und hielt es an seine Nase. Es war eines dieser neurotoxischen Zaubermittel mit positivem Nebeneffekt, das sogar Elefanten aus der Narkose erwecken konnte.

Betrübt sah Susannah zu, wie schnell Wullf wieder zur Besinnung kam. Wenn es doch nur immer so einfach wäre. Ihre Gefühle fuhren erneut Achterbahn, während ihre Augen ins Leere entgleisten. Sie dachte an Steven, wie so oft. Komata ließen sich nicht so einfach behandeln.

Plötzlich erwachte Wullf so heftig wie unerwartet, griff sich zielsicher Bone und zog ihn zu sich heran. Völlig überrumpelt, sah sich Bone einer unkontrollierten Kraft ausgesetzt. Entschlossen ballte Wullf seine Hand zu einem Vorschlaghammer und wollte gerade ausholen, als Braun und Van Heusen seinen Arm packten. Die Hilfe kam zur rechten Zeit. Wullf roher Gewalt vermochte Bone nichts entgegenzusetzen.

„Immer mit der Ruhe, Sergeant. Beruhigen Sie sich! Alles ist in Ordnung“, versuchte Braun ihn zu beruhigen.

„Aaron, du hast uns vielleicht einen Schrecken eingejagt“, unterstützte ihn Rivetti schnell und hoffte die Situation zu entspannen. „Du kannst ihn jetzt loslassen!“

Doch noch immer hielt Wullf Bones Kragen fest und lies keinen Anschein einer Amnesie aufkommen. Er konnte sich an alles erinnern.

„Was sollte das Manöver? Wollten Sie uns umbringen? Hatten Sie das vor?“ Wullf knurrte förmlich und schloss seine Hand noch fester. Mit finsterem Ausdruck starrte er Bone in die Augen, bereit, jeden Moment zuzuschlagen.

„Sergeant! Halten Sie sich zurück! Das war keine Absicht. Niemand wusste, dass Sie draußen waren“, stellte Braun klar.

„Bullshit! Tun Sie nicht so, als hätten Sie es nicht gewusst!“, schrie Wullf Bone voller Wut ins Gesicht.

„Hey, es tut mir leid. Es war weder meine noch Ihre Schuld! Sie sollten sich beim Professor bedanken.“

„Das stimmt, Aaron. Lass ihn los! Er sagt die Wahrheit“, rief Rivetti ihn zur Räson. Sie war schon immer Wullfs innerster Ruhepol gewesen.

Nur zögerlich trennten sich die kräftigen Finger vom Hals des stellvertretenden Commanders. Vermutlich wäre es Wullf ein Leichtes gewesen, seine Kehle mit nur einer Hand zu zerquetschen.

„Was ist mit Arkov? Wo ist er? Konnten Sie ihn retten?“, fragte Wullf unsicher. Doch ein einziger Blick in die langen Gesichter verriet ihm, was er schon ahnte. „Also nicht“, seufzte er kurz.

„Was hatten Sie da draußen zu suchen? Was ist passiert?“, forderte Braun eine Erklärung.

„Was denken Sie denn? Die Tragfläche hat ihn voll erwischt. Er wurde weggeschleudert. Ich konnte mich in letzter Sekunde mit der Harpune retten, sonst wäre ich auch erledigt. Der Alte hatte nicht die geringste Chance. Er war nicht mal angeleint.

„Er war nicht gesichert?“ Rivetti verstand es nicht.

„Verdammte Scheiße!“, fluchte Wullf verbittert „Er wollte nicht auf mich hören. Er wollte nicht…“

Niedergeschlagen, erschöpft und mit starken Schmerzen in der Seite schämte sich Wullf sichtlich, dass er den alten Mann nicht hatte retten können. Er sah in Vandermeers Augen, die ihn ohne ein einziges Wort verurteilten.

„Was!“, brüllte Wullf. „Sag laut, was du denkst! Keiner von euch war da draußen. Ich habe keine Schuld!“

„Ich hab doch gar nichts gesagt!“, bäumte sich Viktor verteidigend auf.

Erneut versucht Rivetti den schwarzen Riesen zu beruhigen und mäßigte Vandermeer mit einem einzigen strafenden Blick. Sie beugte sich nieder.

„Niemand macht dir Vorwürfe. Alles kommt wieder in Ordnung. Wir finden ihn schon.“ Rivetti sah sich um und hoffte auf zustimmende Gesten. „Wir müssen ihn finden. Vielleicht lebt er noch.“

„Barrow ist schon dran. Er versucht sein Signal zu orten.“

„Bringen wir ihn auf die Krankenstation. Wir können momentan nichts für den Professor tun. Können Sie laufen, Sergeant?“ Susannah streckte ihm den Arm aus. Wullf zog sich mühsam hoch, während ihn Rivetti und Braun stützten.

„Ich verstehe nicht, warum er niemandem Bescheid gesagt hat. Warum hat er das getan?“, fragte Wullf. Immer wieder spielten sich die verhängnisvollen Bilder in seinem Kopf ab.

„Er dachte wohl, wir würden es nicht mehr zulassen, was auch immer er vorhatte, und starten“, dachte Braun laut.

„Und, hatte er recht?“ fragte Wullf leise.

Braun nickte achselzuckend. Er wusste die Antwort selbst nicht mehr. „Wenn wir bleiben, werden wir sterben.“

„Das werte ich als ein Ja. Dann haben Sie ihn auf dem Gewissen.“

 

Irgendwo draußen im Weltraum

Bewegungslos schoss Arkov seinem Ende entgegen. Schon seit gut zwei Stunden näherte er sich lautlos dem unwiderstehlichen Giganten, der fortlaufend an seinem Körper zog. Vermutlich konnte er sich keinen schöneren Tod vorstellen, war es doch der Traum eines jeden Wissenschaftlers, solch ein Objekt aus dieser Nähe direkt spüren zu können. Doch es sollte noch viel schlimmer kommen, als er es sich hätte vorstellen können. Heftige synaptische Nervenimpulse, starke innere Schmerzen durchzuckten seinen Körper und entrissen ihn nach und nach aus der friedlichen Bewusstlosigkeit. Es war schwer zu sagen, ob er den Wachzustand oder die Bewusstlosigkeit bevorzugt hätte, wüsste er, was ihm noch bevorstand. Jeder Knochen schmerzte. Nur vage konnte er sich an den Hieb der Tragfläche erinnern. Seine Augen brannten wie Feuer.

Nur mühsam öffneten sich die faltigen Augenlider und gaben die Sicht auf die Leere frei. Seine einst strahlenden, stahlblauen Augen waren einem Mischmasch aus blassem Blau und Grau gewichen. Er war nicht der eitle Typ und hatte sich schon lange nicht mehr im Spiegel betrachtet, doch in dem Moment, als er seine Augen öffnete, starrte er in sein fahles, verzerrtes Ebenbild. Vom Aufprall mit der Tragfläche schwer beschädigt, flimmerte die innere Helmbeleuchtung auf nervtötende Weise in unregelmäßigen Abständen. Blendend hell beleuchtete sie sein blutverschmiertes Gesicht und spiegelte es im angesprungenen Glas des Schutzvisiers. Wäre er nicht im Weltraum, sondern stattdessen in 500 Meter Tiefe im Meer, hätte ihm der Druck längst den Helm zermalmt. Wenn es die Tragfläche schon nicht vollends vollbracht hatte, das Visier zu zerstören, so würde es der niedrige Druck in seinem Anzug auch nicht schaffen. Noch hielt das Glas.

Hilflos ruderte er mit den Armen, als er zunehmend begriff, wo er sich befand. Angestrengt versuchten seine Augen den Hintergrund jenseits des Glases zu fokussieren, doch da war nichts. Nur ab und zu huschte ein helleres, verschwommenes Sternenbild vorüber.

Als er wieder in sein Gesicht blickte, erkannte er, wie schlecht es um ihn stand. Schmerzverzerrt, blass und blutverschmiert starrte er in seine eigenen riesigen Pupillen.

„Aaaargh“, schnaufte er mühsam. „Mayday! Hört mich jemand?“

Arkov würgte, als er spürte, wie sich seine Speiseröhre langsam mit seinen Magensäften füllte. Der Pegel stieg von Sekunde zu Sekunde. Die Bewusstlosigkeit, das Schwindelgefühl, die inneren Verletzungen und die brutalen Kräfte, die seinen Körper streckten, spielten ihm einen gefährlichen Streich. Ehe er sich versah, erbrach er seinen gesamten Mageninhalt in einer schmierig sauren, blutigen und widerlichen Konsistenz in seinen Helm. Solch ein Missgeschick bedeutete höchste Lebensgefahr, da er an seinem eigenen Erbrochenen zu ersticken drohte. Sofort pumpte ein Notsystem die angerichtete Sauerei ab. Das ohnehin eingeschränkte Sichtfeld wurde von der stinkenden Brühe nur noch trüber. Er würgte erneut.

„Orgh, zum Kotzen. So ein Mist“, röchelte der Professor und versuchte vergeblich, das Visier mit seinen Händen zu säubern.

„Visier reinigen!“, beauftragte er den Computer seines Anzuges, doch es tat sich nichts. Dann tastete er seinen Arm ab, um den Anzug über die Steuereinheit manuell zu bedienen.

Angestrengt versuchte er, die viel zu kleinen Anzeigen auf dem Display zu entziffern. Sein Alter und die verschmierte Sicht machten es nicht einfacher, die richtigen Einstellungen zu treffen. Ein falscher Handgriff könnte seinen Sauerstoffvorrat oder sein Jetpack ausklinken.

„Verflucht, wo ist dieser verdammte Knopf?“ Nicht raus sehen! Nicht übergeben! „Reiß dich zusammen!“, dachte er laut.

Plötzlich klarte sich die Sicht vor seinen Augen. Das Reinigungsprogramm arbeitete wie befohlen und säuberte sein Visier. Es war ein kleiner Triumph.

Arkov konnte sich ein kurzes Lächeln nicht verkneifen.

„Kommt schon, holt mich zurück! Nur nicht wieder schwindelig werden. Wie funktioniert das verflixte Teil?“

Mühsam experimentierte Arkov mit den Schubdüsen seines Jetpacks, um dem Trudeln ein Ende zu bereiten.

„Nein, nein, nein … zu viel … nach links ... wie dreh ich mich? Also entgegengesetzter Schub. … Und stopp.“

Nach mehreren Versuchen hatte Arkov seine Bewegung endlich unter Kontrolle. Ein prüfender Rundumblick versetzte ihn gleich den nächsten Schock. Von der Explorer war weit und breit keine Spur. Ohne helle Außenlichter oder eine strahlende Sonne war sie praktisch unsichtbar. Sie konnte überall sein. Stattdessen schien sich das ganze Universum um ihn herum zu drehen.

„Oh Gott, wo seid Ihr? Schon so weit weg.“ Dann schwieg er. Er wusste, was bald geschehen würde und wo er sich befand. Die Sterne zogen schon zu schnell an ihm vorüber. Das konnte nur eins bedeuten. Er war kurz davor, in die Ergosphäre einzutreten und begann die weite elliptische Umlaufbahn der Explorer zu verlassen. Er war allein.

Dann kehrte er seine Sicht in Fallrichtung. Vor ihm erstreckte sich vollkommene Finsternis ohne einen einzigen Bezugspunkt.

„Großer Gott! Denk nach! Denk nach!“ Erneut prüfte er seine Steuereinheit und checkte den verbliebenen Treibstoff und Sauerstoff. Er holte tief Luft und hielt den Atem an.

„Das war’s dann wohl.“

 

Sensorenphalanx & Hauptcomputer, B-Deck

Die Gemeinschaft schien in zwei Lager gespalten. Was konnte der Grund sein, dass man das eigene Leben über das eines anderen stellte? Zu groß war die Angst vor dem Tod, wenn doch eine Chance bestand, ihm zu entfliehen. Warum also einen Schritt auf den Sensenmann zugehen, wenn man auch zurücktreten konnte? Laute Stimmen durchdrangen das halbe Schiff, so dass jeder an Bord die Diskussion hätte verfolgen können. Nicht jeder war ehrlich mit sich selbst. Die Meinungen der Diskussion waren durchtränkt von Egoismus, Vernunft, Angst und Menschlichkeit. Welche Seite hatte Recht? Welche Seite sollte über das Schicksal der anderen bestimmen. Eine Entscheidung stand bevor, keine geringere als die Wahl zwischen Leben oder Tod.

Auf Deck B in Sektion I wurde es eng. Noch immer gab Barrow alles Mögliche, um die Position des Professors ausfindig zu machen. Auch Bone, Caren und der Admiral halfen bei der Suche, wo sie nur konnten. Die Opposition meuterte indessen mit verschränkten Armen. Wahrscheinlich hätte Arkov nichts anderes von den Marines erwartet. Besonders Weißberg machte seiner Angst entschieden Luft.

„Der Alte hat sich die Scheiße selbst eingebrockt. Wenn wir ihn holen, gehen wir alle drauf! Sehen Sie das endlich ein!“

Bone ignorierte die Worte und suchte unbeirrt weiter, als Colonel Braun näher trat. Er ging es etwas ruhiger an.

„Arkov hat es selbst gesagt. Mit jedem Kilometer, den wir uns dem Schwarzen Loch nähern, vergrößert sich die Fluchtgeschwindigkeit, die wir aufbringen müssen, um zu entkommen. Das waren seine Worte. Das Risiko ist zu groß!“

„Darüber diskutieren wir nicht, Colonel! Niemand wird in Stich gelassen. Das ist mein letztes Wort!“

Barrow wurde immer nervöser und verzweifelter.

„Ich weiß nicht, wo ich suchen soll. Er kann überall sein. Vielleicht suchen wir an der falschen Stelle.“

„Suchen Sie weiter! Er muss da draußen sein. Wir finden ihn.“, sprach ihm Admiral Cartright Mut zu. Braun schüttelte verständnislos den Kopf, kniff die Augen zusammen und wurde deutlicher.

„Admiral, sagen Sie etwas dazu! Das können Sie nicht zulassen! Sie können das Leben eines Einzelnen nicht über das von uns allen stellen! Herrgott, es gibt nicht mal ein Lebenszeichen.“

„Er ist doch schon längst erledigt. Was glaubt Ihr denn, welche Chancen er hat. Sein Sauerstoff wird nicht ewig reichen.“

Vandermeer sprach es mit nüchterner Brutalität aus, was auch andere dachten. Seine Zeit lief erbarmungslos ab, ob sie wollten oder nicht. Doch Barrow war anderer Meinung.

„Sie sollten einsehen, dass wir es versuchen müssen. Falls er noch lebt, werden wir alles tun, um ihn zu retten.“

„Dann kann ich nur hoffen, dass Sie nichts finden.“

Vandermeer setzte sich und ignorierte die verächtlichen Blicke, die er erntete. Er hatte seinen Standpunkt unmissverständlich klargemacht.

„Ich sag es ungern, aber ich denke genauso“, stimmte Braun Viktor vollkommen zu.

„Von dem bin ich nichts anderes gewohnt. Aber von Ihnen, Colonel. Ich hätte Sie anders eingeschätzt.“ Bone klang maßlos enttäuscht.

„Tja, dann hab ich Sie wohl genau richtig eingeschätzt“, fügte Susannah abwertend hinzu, als sei ihr die Existenz des Colonels ebenso egal. „Wie würden Sie reagieren, wenn es einer Ihrer Männer wäre? Ich dachte, Sie hätten ihre Lektion schon gelernt.“ Susannah erwartete eine Antwort.

„Dann würde ich genauso handeln. Diese Umstände erfordern besondere Maßnahmen. Ich würde jeden zurücklassen, wenn es um das Überleben der gesamten Truppe geht. Freunde, Brüder, jeden! Sogar mich selbst! Sie sollten den Unterschied erkennen, was möglich ist und wo das reinste Himmelfahrtskommando beginnt.“

„Genau! Das ist glatter Selbstmord!“, bekräftigte Weißberg seine Meinung, der schlichtweg Angst um sein Leben hatte. Auch Van Heusen und Vandermeer stimmten Weißberg ausnahmsweise zu.

Braun hingegen vertraute seinem Instinkt und darauf, dass auch die restliche Mannschaft zur Vernunft kommen musste. Er hatte gelernt, Gefahren richtig einzuschätzen.

„Um noch einmal auf Ihre Frage zurückzukommen. Gewöhnlich lassen wir niemanden zurück. Wenn ICH jedoch den Fehler selbst verschuldet hätte, würde ich es ganz allein versuchen, diesen Mann zu retten. Das wäre in diesem Fall IHR Part, Mister Roddam“, blickte er dem stellvertretenden Commander vorwurfsvoll entgegen. Bone schwieg.

Plötzlich hob Barrow aufgeregt seine Hand.

„Kommt her! Ich hab hier was. Es ist schwach, aber er könnte es sein.“ Alles rannte zu seinem Platz und beobachtete den Bildschirm, auf dem sich schwache Signale abzeichneten.

„Entfernung?“, rief Bone gefasst.

„Das Signal fluktuiert. Es scheint ein Echo zu haben. Die Signalstärke ist nicht stark genug“, antwortete Barrow.

„Dann verstärken Sie das Radar. Maximale Leistung!“

„Wir sind bereits auf Maximum.“

„Holen Sie alles raus, was Sie können! Woher wussten Sie, dass er dort ist?“

„Ich dachte mir, es kann nicht schaden, wenn ich das Suchfeld erweitere. Wenn er schon dichter ist, muss er eine engere Umlaufbahn besitzen. Jetzt kommt es klarer rein! Entfernung, Moment … 28 Grad Steuerbord und 362 Kilometer voraus.“

„Chad, versuchen Sie die Sensoren zu bündeln. Vielleicht können wir die Biodaten auslesen oder Funkkontakt herstellen.“

„Moment mal.“ Barrow hielt inne. „Das kann nicht sein. Die Masse des Kontaktes beträgt 1,8 Tonnen.“

„Tssssss. Na toll, Sie haben das alte Triebwerk im Visier. Geben Sie’s auf! Er ...“ Vandermeer versuchte wie alle an Bord seine Müdigkeit zu verdrängen und rang um Luft. Keiner hatte die letzten 24 Stunden Zeit zum Schlafen gefunden. Übermüdet gähnte er und konnte seinen Schlafmangel nicht mehr verbergen. „Er ist längst tot.“

„Sind Sie nun zufrieden?“, fragte Bone erschöpft und blickte zum Colonel auf.

„Sie irren, wenn Sie denken, dass ich Arkov den Tod wünsche. Ich wünschte, er wäre an Bord, und zwar lebend. Dann könnten wir endlich mit dem russischen Roulette aufhören und uns in Sicherheit bringen. Mehr will ich nicht.“

„Dann setzen Sie sich ans Steuer und fliegen uns hier raus. Ich rühre keinen Finger, solange wir nicht wissen, ob er noch lebt oder tot ist. Suchen Sie weiter, Chad!“

Minuten vergingen. Die Atmosphäre im Raum war so angespannt, dass ein kleiner Funke ausgereicht hätte, die Luft zu entzünden. Alle warteten, dass Barrow ein weiteres Signal empfing. Die Stille wurde unerträglich. Die mühsame Suche schien ewig zu dauern und das Piepen und Surren der Sensoren zerrte an allen Nerven. Vandermeer plagte ein schlechtes Gewissen. Geistesabwesend ging er auf und ab. Als es niemand mehr erwartete, sprang Barrow vom Stuhl.

„Ich hab ihn! Neuer Kontakt. Das muss er sein!“

 

Irgendwo draußen im Weltraum

Arkov raste unter dessen immer schneller seinem Untergang entgegen. Seine glasigen Augen starrten leer und verloren in die eigene Vergangenheit. Er atmete flach. Tief in Gedanken versunken, erinnerte er sich an die schönsten Momente seines Lebens. Mathilda. Zu lange hatte er sie nicht mehr gesehen. Sie war die Liebe seines Lebens gewesen, bis…. Er lächelte kurz, blinzelte und blickte auf die Steuereinheit. Schmerzen zerrten ihn aus dem Delirium.

„Mayday, hört mich einer? Wo seid ihr?“, unternahm er einen weiteren Versuch, auf sich aufmerksam zu machen. „Mayday, könnt ihr mich hören?“ Seine Kräfte schwanden. Er musste sie schonen. Erneut drifteten seine Gedanken ab.

Eigentlich sollte er sich nicht beklagen. Je länger er sein Leben Revue passieren ließ, umso friedlicher wurde sein Wesen. Was hatte er nicht alles erreicht, ausgiebig in vollen Zügen gelebt und geliebt. Mathilda. Sie war sein Sommer, sein Sonnenschein. Er gehörte zu den obersten 10.000. Keine Tür war ihm verschlossen geblieben. Er hatte Privilegien genossen, von denen andere Menschen nur hatten träumen können. Seine Forschung und sein Name würden für alle Zeiten bestehen. Und nun stand ihm ein krönender, phänomenaler Abgang bevor, mehr als er sich je erträumt hatte. Wie oft hatte er schon über den Tod und den passenden Ort seiner verwehenden Asche nachgedacht. Schon als er 30 Jahre alt war, damals, als er promovierte und seinen dritten Doktor machte, vielleicht sogar weit früher als Kind. Zeiten, in denen er Angst hatte, die Zeit würde ihm zu schnell davonlaufen, ohne seine Träume erfüllt zu haben. All das war schon lange her. Arkov war zufrieden mit seinem Leben und sah der Gefahr mit einer gewissen Faszination entgegen.

Welcher Mensch konnte schon von sich behaupten, in ein Schwarzes Loch gefallen zu sein. Okay viele. Aber in eine echte Singularität? Er konnte sich auch andere jämmerlichere und finsterere Todesursachen vorstellen. Sinnloser, banaler. Wie oft war er nur knapp einem Unfall entronnen? Im Auto oder bei einem seiner zahlreichen Experimente. Es gab heimtückische Krankheiten, die den körperlichen und seelischen Ruin bedeuteten. Er hatte gut gelebt, viele Frauen geliebt und noch mehr riskiert. Dieser Tod, sein Tod, war ein Geschenk und seiner würdig.

Doch so sehr er sich anstrengte, seiner Situation etwas Gutes abzugewinnen, stellte sich ein bitterer Nachgeschmack ein. Nein, es war mehr als nur das. Er war wütend, wütend auf sich selbst. Er hatte die bedeutendste Möglichkeit seines Lebens verspielt. Warum hatte er nur einen so folgenschweren Fehler begangen? Wer sollte nun die Aufzeichnungen machen? Offenbar wussten die anderen nicht einmal, was passiert war, sonst wäre er jetzt nicht in dieser deprimierenden Situation. Seine Gedanken brachten ihn fast um den Verstand. Ein Meer von Fragen tat sich vor ihm auf, denen allen er eine Antwort schuldig war. So viele Fragen, so wenig Zeit.

Erneut blickte er auf seine Anzeigen. Der tiefe Fall ins Schwarze Loch nahm kein Ende. Vermutlich würde er eher ersticken, bevor die eigentliche Show begann. Oder wie Spaghetti in die Länge gezogen, wie es andere Wissenschaftler vermuteten. So wollte er nicht enden.

„Mayday, könnt ihr mich hören?“, versuchte er nochmals über Funk. Sein Hals schmerzte schrecklich. Er wusste, dass Sprechen seine Zeit nur verkürzen würde, doch das Schweigen entsprach ihm nicht. Gerade als er seinen letzten Beschluss fasste, knackte es in seinem Ohr. Das Rauschen wurde von vertrauten Geräuschen abgelöst. Die Stimmen klangen verzerrt und erreichten ihn in einem viel zu schnellen Tempo, als würden sie in einer zu hohen Frequenz übertragen.

„Professor, hören Sie uns? Wir haben Sie auf dem Schirm. Können Sie uns hören, Arkov? Bitte, antworten Sie“, rief eine männliche Stimme, die er kaum erkennen konnte.

Arkov nahm seine letzten Kräfte zusammen, überwand die Schmerzen und wollte gerade antworten, als er wieder Stimmen hörte. Sie ließen ihn nicht mal zu Wort kommen.

„Jaros, melden Sie sich! Antworten Sie! Wir haben Sie auf dem Bildschirm. Kommen Sie, alter Freund.“

Die Stimmen klangen fremd, doch nun wusste er, wer zu ihm sprach.

„James. Ich höre Sie. Wurde auch Zeit. … Wo seid Ihr? Geht es Sergeant Wullf gut?“, fragte Arkov mit geschwächter Stimme.

 

Sensorenphalanx & Hauptcomputer, B-Deck

Die Euphorie über das empfangene Lebenszeichen hielt sich in Grenzen. Noch immer hatten sie keine eindeutige Nachricht vom Professor erhalten. Besorgt beobachtete Susannah die Lebensdaten des Biochips. Das Signal war schwach, doch es war aufschlussreich genug. Er lebte.

„Jaros, melden Sie sich! Antworten Sie! Wir haben Sie auf dem Bildschirm. Kommen Sie, alter Freund!“ Admiral Cartright legte das Mikrofon ab und richtete sich auf. Alles wartete auf eine Antwort.

„Offenbar kann er uns nicht hören. Er könnte bewusstlos sein“, meinte Braun.

„Nicht bei der Herzschlagfrequenz. Die ist viel zu hoch“, war sich Susannah sicher. „Es muss einen anderen Grund geben.“

„Wir können ihn nicht retten. So sehr ich es wünschte, es ist zu spät! Wir müssen endlich weg!“

„Halten Sie den Mund!“, warnte ihn Susannah eindringlich. „Nichts ist zu spät!“

Rhythmisch pulsierte der Gigant immer schneller, während das Schiff unentwegt eine engere Bahn einschlug. Der Umfang der elliptischen Flugbahn nahm Kilometer für Kilometer ab. Erneut erreichte die Explorer den Scheitelpunkt der größten Annäherung. Das Schiff begann zu beben, dass es nur so klapperte. Unerwartet zuckten alle zusammen, als sich zudem das laute Hintergrundrauschen plötzlich in eine überlaute, tiefe und langsame Stimme verwandelte.

„James. Ich höre Sie. Wurde auch Zeit. … Wo seid Ihr? Geht es Sergeant Wullf gut?“, fragte Arkov, dessen Schmerzen über die gequälte tiefe Stimme physisch spürbar wurde.

„Ja. Er lebt“, klatschte Admiral Cartright erfreut in die Hände. Allen fiel ein Stein vom Herzen.

„Gott sei Dank“, seufzte Barrow erleichtert.

„Kriegen wir das besser rein?“

„Einen Moment, Admiral. Ich versuch es zu kompensieren.“

Nur Susannah und Bone konnten sich nicht über diesen kleinen Erfolg freuen.

„Er hat Schmerzen. Vielleicht hat er innere Verletzungen.“

„Können Sie die Signalfrequenz noch weiter verstärken?“, wollte Braun wissen, der trotz seiner Meinung sichtlich froh war, dass Arkov noch am Leben war.

„Ich versuche es. Seltsam, es kommt so rein“, rief Barrow. Bone entschied für den Rest der Crew, fackelte nicht lange mit der Antwort und betätigte die Sendetaste.

„Wullf geht es gut. Er ist an Bord. Wie geht es Ihnen? Over.“

Gespannt warteten alle auf eine Antwort.

„Wie es scheint, gibt es Funkverzögerungen“, meinte Barrow unsicher und runzelte die Stirn. Bone fuhr fort.

„Hören Sie, Professor. Wir holen Sie zurück. Haben Sie gehört? Wir kommen Sie holen. Versuchen Sie mit ihrem Jetpack die Geschwindigkeit zu drosseln und halten Sie Position. Bestätigen Sie!“

„Nein! Er darf seine Eigengeschwindigkeit auf keinen Fall reduzieren“, warf Barrow ein.

„Ich meinte die Annäherung, nicht die Geschwindigkeit seiner Umlaufbahn.“

„Das ist hirnverbrannter Wahnsinn! Wir riskieren unser Leben für den Alten, der abnibbelt, bevor wir ihn an Bord nehmen können“, fluchte Van Heusen. „Er ist viel zu weit weg.“

„Es sind nur ein paar Kilometer“, stellte Bone mit schroffem Ton überdeutlich klar.

Barrow hatte die Kontaktdaten inzwischen in den Hauptcomputer übertragen und aktivierte eine Liveanimation der errechneten Umlaufbahnen. Der Colonel trat näher heran. Was er sah, gefiel ihm nicht. Es war eindeutig zu erkennen.

„Sein Signal wird wieder schwächer. Er bewegt sich auf einer viel engeren Umlaufbahn. Damit handelt es sich wohl eher um ein paar tausend Kilometer“, legte Braun klare Fakten auf den Tisch.

„O Mann. Ich fürchte, Sie haben Recht, Colonel. Wir entfernen uns rapide. Sein Signal verschwindet. Er passiert möglicherweise die Rückseite“, bestätigte Barrow die grausame Wahrheit. Deutlich war der Unterschied zu erkennen. Während die Explorer in einer weiten Ellipse ausholte, hatte sich Arkovs Umlaufbahn deutlich verkleinert.

„Damit ist er unerreichbar. Wir fliegen nicht mehr parallel zueinander. Sehen Sie hin!“

„Mit der Arche sollte das zu schaffen sein“, hielt Bone blindlinks an seiner Meinung fest. „Wir holen ihn so schnell es geht und verschwinden dann.“

„Und wenn Sie es nicht schaffen? Dann versucht der Nächste, Sie zu retten. Wer soll dann die Explorer fliegen? Am Ende sterben alle.“

Die Vitaldaten fluktuierten. Immer wieder riss der Kontakt zum Biochip ab. Während die Explorer noch immer 52 Sekunden für einen Umlauf brauchte, reduzierte sich Arkovs Bahn bereits auf 27.

„Tu es nicht.“ Susannah sah Bone an. „Es ist zu riskant.“

Er hatte genug gehört. Als er sich aufrichtete, um zur Hangarbucht der Arche zu eilen, stellte sich Braun in den Weg.

„Ich kann das nicht zulassen.“

„Gehen Sie mir aus dem Weg!“

Dann geschah etwas Unerwartetes.

„Ich versteh das nicht. Was tut er da?“, rief Chad plötzlich.

„Was ist los?“, wollte Bone erschrocken wissen.

„Der Professor, er entfernt sich. Irgendwie verkürzt sich der Radius seiner Bahn“, antwortete Barrow überrascht und deutete auf seinen Kurs.

„Arkov, Sie sturer, alter Idiot! Was haben Sie vor? Er fliegt direkt darauf zu. Was will er damit beweisen?“ Bone kochte vor Wut. Er wusste, was Arkov tat, doch er wollte es nicht akzeptieren. Er konnte der edlen, selbstzerstörerischen Heldentat nichts abgewinnen.

„Verdammt, antworten Sie! Will er nicht oder kann er nicht antworten? Hört er uns überhaupt?“ Ungeduldig warteten alle ab, doch eine Antwort blieb aus.

Eine Sekunde nach der anderen verstrich, als das Schiff wieder bebte.

„Wann war das letzte Mal?“, Cartright sah auf seine Uhr und nahm die Zeit.

„Wir holen ihn jetzt!“ Bone lief durch das nächste Verbindungsschott, als Arkovs Stimme durch das Schiff hallte. Sie klang noch verzerrter als zuvor.

„Ja, ich höre Sie und Sie haben vollkommen Recht. Es war mein Fehler. Ich muss dafür die Konsequenzen tragen. Deshalb bin ich weder verrückt, noch ein Narr!“ Arkov hustete entsetzlich und rang quälend um Luft. Schmerzerfüllt sprach er weiter. „Glauben Sie mir. Ich wäre viel lieber bei Ihnen. Dann hätte ich weit mehr Zeit gehabt, dieses Schauspiel zu bewundern. Mir bleiben...“ Rauschen.

„Signalverlust. Er ist wieder weg.“

Bone stand am blanken Schott, lehnte seine Schulter am kühlen Metall an, ließ den Kopf hängen und wartete auf die Worte des alten Wissenschaftlers. Niemand wagte es, die letzten Worte des sterbenden Mannes zu unterbrechen. Vielleicht hätte es auch niemand gekonnt.

„… zulassen, dass Sie meinetwegen das Schiff, die Arche und alle in Gefahr bringen. Ich nehme Ihnen eine schwierige Entscheidung und jede Verantwortung ab. Folgen Sie mir nicht und unternehmen Sie keinen Rettungsversuch, sonst kommen Sie nie…“

Alles schwieg. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sein Signal wieder da war.

„…ziehung am ganzen Körper. Es ist sehr nahe. … Warten Sie mit Ihrem Fluchtstart nicht zu lange, sonst wird es zu spät sein.“

„Da hört Ihr es“, rief Weißberg. „Es ist seine Entscheidung. Er will es so. Er weiß, dass er sterben wird und wir wissen es auch. Hauen wir endlich ab! Sofort!“

„Das können wir nicht zulassen“, schluchzte Caren.

Langsam drehte sich Bone zu Caren um und schaute in den Raum zurück, dem er gerade entfliehen wollte. Caren blickte ihm mit tränenerfüllten Augen entgegen. Arkovs Worte klangen beinahe erlösend. Er nahm die Schuld von seinen und Barrows Schultern. Offenbar war es die einzig vernünftige Lösung. Es kam ihm fast vor, als würde Arkovs Stimme mit jedem Satz weiter in die Ferne rücken, tiefer und tiefer, immer langsamer und verzerrter. Was passierte nur mit ihm?

Erschüttert über den bevorstehenden Tod eines Freundes, senkte auch James seinen Kopf, bis er bemerkte, dass Braun einen Com-Kanal dauerhaft aktiviert hatte. Auf frischer Tat ertappt, stand Braun selbstsicher und entschlossen neben der Konsole und hielt die Hand fest über dem Knopf, so dass Arkov seit Minuten jedes einzelne Wort an Bord verstehen konnte. James starrte ihn an, als er begriff, worum es ging.

„Er sollte selbst entscheiden. Und er hat seine Wahl mit Vernunft getroffen“, sagte er leise zum Admiral.

„Sie haben ihm keine andere Wahl gelassen.“

„Was sollen wir jetzt machen?“, klagte Susannah traurig.

„Wir werden tun, was er sagt“, entschied James schweren Herzens und starrte auf den gedrückten Knopf, wissend, dass Arkov auch in diesem Moment jedes gesprochene Wort hörte. Braun hatte Recht. Arkov hatte selbst entschieden. Es wäre Wahnsinn gewesen, jeden Mann und jede Frau an Bord für ein einziges Leben zu opfern. Nun verstand er Brauns Absicht, der eine Eskalation und den Massenselbstmord zu verhindern versuchte.

James trat näher heran, um deutlich ins Mikro sprechen zu können.

„Hörst du mich, alter Freund? Wir …“ Noch bevor er seinen Satz beenden konnte, wandelte sich das Rauschen und Arkov ergriff das Wort. Nur langsam wechselten die stark verzerrten und kaum verständlichen Worte. Jeder versuchte mühsam, dem Zusammenhang seiner letzten Sätze zu folgen. Auch Bone trat wieder näher heran und lauschte.

„Bevor ich sterbe, habe ich noch eine Bitte… Ich hab nie an übernatürliche Phänomene geglaubt. Viele glauben, ein Schwarzes Loch sei das Tor zu einer anderen Dimension. Ich werde beweisen, dass dem nicht so ist und der Wissenschaft einen einzigar…“ Wieder kehrte Stille ein. „… mich mit den Sensoren. Nun bin ich die Ratte im Labyrinth. Beobachten Sie mich so lange wie möglich und zeichnen Sie alles auf, dann ist mein Tod nicht umsonst… Folgt mir nicht! Es wäre Euer sicheres Ende.“

Bone wandte sich wütend vom Colonel ab, dem er gerade am liebsten einen Kinnhaken verpasst hätte. Langsam trat er hinter Barrow und legte seine Hände auf dessen Schultern.

„Du hast ihn gehört. Es ist seine Entscheidung. Richte alles aus, was wir haben und bleib an ihm dran.“

„Wir müssen was tun! Wir sollten ihn jetzt in diesem Augenblick zurückholen“, begann Susannah zu weinen. 

Bone starrte zu Braun, der ebenfalls nickte.

„Ja, das sollten wir. Ich täte nichts lieber“, antwortete Bone deprimiert. „Chad, tu uns einen Gefallen und schalte die Lautsprecher ab. Nimm alles auf, was er noch sendet!“

„Okay.“ Es war nur ein kleiner Handgriff, der den Kontakt zum Professor abschnitt. Das laute Rauschen verstummte und wich einer beängstigenden Stille, die nur von dem Surren der Computerkonsolen übertönt wurde. Für einen kurzen Moment lang herrschte eine andächtige Schweigeminute. Admiral Cartright blickte auf seine Uhr und wartete auf das vertraute Beben des Schiffes, das sie seit Stunden begleitete. Präzise wie ein Uhrwerk begann sich das Schiff zu schütteln.

„52,3.“

„Jeder auf seine Station! Nichts wie weg hier“, rief Bone und verließ die Sektion.

Nur Barrow und James saßen noch da und betrachteten den Schirm. Irgendjemand musste doch noch kommunizieren. Arkov war noch nicht tot.

„Möchten Sie noch was sagen?“, fragte Barrow den Admiral.

„Ja. Öffnen Sie den Kanal.“

James nahm einen Kopfhörer, setzte ihn auf und lauschte der Unendlichkeit. Barrow stellte den Kontakt wieder her.

„Alter Freund. Hören Sie mich?“

Es dauerte eine Weile, ehe er eine letzte Antwort bekam.

 

Exploration Capri: Teil 2 Verschollen
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