Jenseits der Grenze
Blutschaum quoll aus seinem Mund. Die Augen weit aufgerissen und starr vor Schmerzen, rang er der Gravitation Minute für Minute seines Lebens ab. Seine Lippen rieben aneinander. Er hasste den Geschmack von Blut.
Der Gigant spielte Tauziehen mit seinem kleinen Körper. Wie lange würde er es noch ertragen können? Arkov kämpfte ums blanke Bewusstsein. Er wollte unter allen Umständen bis zum Ende wach bleiben und sehen, was mit ihm geschah. Selbst wenn er lebendig auseinander gerissen würde. Er musste wissen, was noch passierte. Mühsam zog er unter größter Anstrengung seinen Arm hoch, um ein letztes Mal auf die Anzeigen zu sehen. Es kam ihm vor, als fiele er schon seit Stunden. Sowohl die Treibstoffanzeige als auch die Sauerstoffanzeige zeigten rote Zahlen. Alles war leer. Er atmete nur noch heiße Luft und hoffte innerlich, dass sich die Anzeigen irrten. Seine Schmerzen nötigten ihn, hastig nach Luft zu schnappen. Flache kontrollierte Atmung, die sein restliches Leben möglicherweise einige Minuten verlängern könnte, war unmöglich geworden. Er steckte zudem in einem Dilemma. Er musste berichten, was er sah. Gleichzeitig verkürzte er damit jedoch die Zeit, die ihm noch blieb. Entschlossen nutzte er die kostbaren Minuten.
„Meine Zeit ist bald abgelaufen. Das Atmen fällt mir schwer, meine Brust schmerzt. Ich werde solange weiter reden wie möglich. Ihr werdet schon bald nichts mehr von mir empfangen. Hört Ihr mich noch? Ich kann die Gezeitenkräfte deutlich spüren. Wenn ich nur mehr Zeit hätte.“
Die Temperatur innerhalb seines Anzuges stieg auf ein unerträgliches Maß an, so dass seine Poren riesige Schweißperlen absonderten. Durstig leckte er die salzige Flüssigkeit von seinen spröden Lippen. Der Wert eines einzigen Schluckes kühlen Wassers stieg ins Unermessliche. Nie hatte er sich mehr danach gesehnt als in diesem Augenblick. Wasser.
„Diese Hitze. Ich habe entsetzlichen Durst.“
Weitere Minuten vergingen, in denen er sich fragte, was er eigentlich noch atmete. Wieviel Luft war noch in seinem engen Anzug? Die Sterne begannen spürbar schneller an ihm vorüber zu ziehen. Er wusste, was das bedeutete.
„Meine Rotation nimmt dramatisch zu. Ich scheine die Statische Grenze zur Ergosphäre überschritten zu haben.“
Inzwischen raste Arkov mit unmessbarer Geschwindigkeit auf den Ereignishorizont zu. Der rotierende Raum, der ihn unbarmherzig mitriss, beschleunigte ihn immer mehr.
„Diese Stille. Empfange keine Signale mehr. Meine Scanner zeigen nichts an. Ich hoffe, ihr schafft es. Sonst werdet ihr mir bald folgen. Die Rotation zieht mich immer tiefer. Es gibt kein Zurück mehr. Eines wollte ich euch noch sagen. Wenn ihr nach Hause fliegt, wird euch so manche Überraschung erwarten.“
Als er bemerkte, dass sein Anzug von hinten hell erleuchtet war, wurde er neugierig. Beinahe wäre ihm das Spektakel seines Lebens entgangen. Sofort versuchte er sich mit den Schubdüsen zu drehen. Natürlich blieben sie stumm. Er hatte vergessen, dass sein gesamter Treibstoff längst aufgebraucht war. Zu lange starrte er bereits in die trostlose Schwärze, die sein gesamtes Sichtfeld ausfüllte.
„Was zum Teufel ist das?“, fragte er, ohne mit einer Antwort zu rechnen. Und wenn es das Letzte war, was er sah. Er musste sehen, was hinter ihm geschah.
Instinktiv versuchte er seinen Körper mit einem kräftigen Ruck in leichte Rotation zu bringen. Es gelang. Langsam drehte er sich vom Schwarzen Loch weg und blickte über den Horizont in unzählige, blendend helle Lichtbögen, die sich rasend schnell zu gewaltigen Kreisen ausbreiteten, um sich schließlich an zwei Polen zu bündeln. Sterne im Zenit seiner Position strahlten mit unfassbarer Intensität, als wären sie viel näher.
„Unglaublich! So etwas sieht man nicht alle Tage. So helle Sterne. Fantastisch. Darum wird mich jeder beneiden“, flüsterte er leise vor sich hin. Magisch, vom Lichtspiel der Sterne in den Bann gezogen, entspannten sich die Muskeln in seinem Gesicht.
Plötzlich ereignete sich in seinem linken Gesichtsfeld eine riesige, gewaltige Explosion, gleißend hell und von immenser Zerstörungskraft.
„Waaaas …“ Vom Blitz erschrocken, hielt sich Arkov schützend die Hände vor die Augen. Blitzschnell, wie in Zeitraffer, bog sich auch das Licht der Druckwelle in alle Richtungen davon. Runde um Runde verzerrte sich die Explosion mehr. Dann verschwand sie, so schnell, wie sie gekommen war. Das ganze Schauspiel dauerte keine acht Sekunden, als schließlich eine zweite, schwächere Explosion erfolgte. Noch während er vom Anblick der zweiten Detonation geblendet wurde, erfasste ihn die Druckwelle der ersten und schleuderte ihn noch tiefer in das Schwarze Nichts.
„Sie sind explodiert“, würgte Arkov, spuckte Blut und erbrach wieder pure Magensäure gegen das Visier. Eine große Platzwunde klaffte an seiner Stirn, der Riss im Glas hatte sich verdreifacht. Doch das war ihm längst egal. Mittlerweile würde er es fast begrüßen, wenn das Glas endlich brach.
„Mach schon!“
Die Schmerzen waren kaum mehr zu ertragen. Warum war er noch nicht im Schockzustand, dachte er sich. Alles drehte sich. Er hatte jegliche Kontrolle verloren. Dieses Mal half ihm sein Jetpack nicht mehr.
„Bring es endlich zu Ende!“, röchelte er unverständlich in den Äther.
Eine dritte helle Explosion blitzte durch sein Sichtfeld. Keine fünf Sekunden später war auch dieser Feuerball samt seiner gewaltigen Druckwelle verschwunden. Was mochte nur mit ihnen passiert sein. War das Schiff zerbrochen oder der Fusionsreaktor explodiert?
Völlig entkräftet vermochte Arkov der unkontrolliert zunehmenden Drehung, den starken zerrenden Kräften und dem nun unausweichlichen Ende nichts mehr entgegenzusetzen. Alles um ihn herum schien zu brennen. Die strahlend hellen Sternenbögen überfluteten das Schwarze Loch mit ihrem Licht der Zeit. Die Gravitation bog alles Licht der Sterne ins Innere. Nichts konnte ihr mehr entrinnen.
Plötzlich blitzte einer von ihnen auf und verschwand, kurze Zeit später ein zweiter. Die Sterne begannen sich in Zeitraffer aufzulösen. Sie starben. Wie im Wirbel drehten sie, zogen unterschiedliche Kreise, verschwanden spurlos und verschwammen schließlich im unübersehbaren Chaos. Das Licht von Jahrhunderten, Jahrtausenden oder gar Millionen traf gebündelt auf seine Augen. Wohin er blickte, alles war strahlend weiß. Nur die Singularität stach in ihrer pechschwarzen Endgültigkeit bedrohlicher denn je hervor. Arkov wurde mitgerissen, drehte sich und ließ alles über sich geschehen.
Der Übergang vom endlosen Weiß zum alles verschlingenden Schwarz glich einer brodelnden Turbulenz, einem Gebiet, dass sich nicht entscheiden konnte, was es war. Himmel oder Hölle. Fiel er nun direkt ins Fegefeuer? Arkov hatte nie an Gott geglaubt. Noch immer waren seine Gedanken viel zu klar. Seine Zweifel wollten nicht weichen.
Obwohl die Streckung bereits begonnen hatte, hielt sein Anzug viel zu lange und pumpte ihn mit Medikamenten voll. Arkov schnaufte schwer, kämpfte mit der unbarmherzigen Belastung seines vielfachen Körpergewichtes und versuchte krampfhaft heiße Luft zu atmen, die endlich seine Lungenbläschen zerstörten. Der letzte Überlebenskampf hatte begonnen. Er fand weder seine Arme noch seine Hände, um das grelle Licht abzuhalten. Würde er doch endlich erblinden. War es die Strafe für seine Hochmütigkeit? Längst hatten seine Leiden jede erträgliche Schmerzgrenze überschritten. Der Anzug riss unterhalb seiner Taille. Verzweifelt öffnete er die Augen. Sein ganzer Körper stand in Flammen. Die Augenlider verschmolzen mit der Hornhaut. Barbarische Schmerzen mündeten in seinem letzten Schrei.
Dann verstummte der strahlend helle Körper, der wie ein Feuerball brannte und einen Schweif hinter sich her zog. Obwohl keinerlei Reibung herrschte, wirkte sein Anzug wie der glühender Schutzschild altvergangener Raumkapseln, die sich ihren Weg durch die Erdatmosphäre bahnten. Vielleicht gab es doch kleinste Teilchen, Elektronen, Photonen oder Antiteilchen, die mit Arkovs Körper kollidierten und sich an ihm rieben. Der Anzug verglühte, bis der Überdruck seiner leeren Kanister die sterblichen Überreste in tausend Einzelteile zersprengte.
Das Sternenchaos verdichtete sich schließlich, bis alles im vollkommenen Weiß endete. Von allen Seiten absorbierte die Singularität die abgestrahlte Energie ganzer Galaxien, aller Zeitepochen aus der prähistorischen Vergangenheit bis weit in die Zukunft. Nur der unheimlich schwarze Kern, tief im Inneren, würde sein Geheimnis nie preisgeben.
Arkov hatte die Grenze überschritten. In seine Elementarteilchen gespalten, sollten seine Überreste nun in alle Ewigkeit Teil des Schwarzen Loches sein. Für immer.
Wirklich für immer?
Nun, nicht wenn Stephen Hawkings genialer Verstand Recht behielt.