Koma

 

 

Beinahe regungslos lagen ihre Körper aufeinander. Nur das langsame und ruhige Auf und Ab verriet, dass sie schliefen. Von ihrer Müdigkeit überrumpelt, ruhte Susannahs linke Gesichtshälfte auf Stevens Unterleib. Wie schon unzählige Male zuvor, war sie erneut auf ihrem Hocker neben seiner Station weggenickt.

Steven schlief jedoch einen anderen Schlaf. Seiner Sinne und Reflexe beraubt, lag er im vierten Grad der Komatiefe. Keine Schmerzreaktionen, keine Pupillenreaktion, Ausfall aller Schutzreflexe. Beinahe das gesamte somatische Nervensystem war ausgefallen. Nur die unbewussten, vegetativen Funktionen schienen Steven noch am Leben zu halten. Jene, um die sich kein Mensch Gedanken machen musste. Atmung, Herzschlag, Blutdruck und Verdauung.

Ununterbrochen scannte die Kryomedstation seine Lebensfunktionen. Es klang beinahe beruhigend, sicher, nicht zu laut. Von einer Sekunde zur nächsten begannen die Spritzen auf dem Tisch zu klappern. Alles geriet in Bewegung. Der schleichende Rhythmus gehörte mittlerweile zum Leben auf dem Schiff dazu, der Infarkt spürbar nah. Doch das Koma ließ diesen Moment unbeeindruckt vergehen, während sich Susannah kurz regte und erneut ihrer Müdigkeit ergab. Zu klein war der Reiz, zu groß ihr Bedürfnis nach Schlaf.

Plötzlich drangen Schreie in ihre Ohren und schreckten sie auf. Sofort rannte sie wie im Trance Richtung Mittelsektion zur nächsten Kryohalle.

„Verschwinden Sie! Lassen Sie mich in Ruhe!“, schrie Sadler aus vollen Kräften. Rivetti trat sichtlich gereizt zurück und machte Platz für Susannah, die sich sofort über Sadler beugte.

„Was ist los?“, fragte die Ärztin und sah Rivetti vorwurfsvoll an. „Sie sollten ihr doch was geben!“

„Das habe ich! Ich gab ihr 15 Milli-Einheiten.“

Susannah griff zu einer kleinen Stablampe und leuchtete der Ingenieurin in die Augen, deren Pupillen stark geweitet waren.

„Okay. Machen Sie noch zehn weitere fertig!“

„Ich will nicht mehr träumen. Mach, dass es aufhört!“ Sadlers leere Blicke sprachen ihr aus dem Herzen.

Rivetti ging zum großen Medizinschrank und entnahm ein weiteres kleines Fläschchen. Sie hielt kurz inne und verschaffte sich einen Überblick.

„Wir müssen mit den Medikamenten sparen. Vielleicht werden wir sie noch dringender brauchen.“ Rivetti öffnete die Tür soweit wie möglich, so dass Susannah selbst sehen konnte, dass der Schrank nur noch zur Hälfte gefüllt war. Das Chaos hatte seinen Tribut gefordert. Vieles wurde zerschmettert.

„Geben Sie schon her! Wir können sie nicht in diesem Zustand lassen. Es ist gleich vorbei, Beth.“

Sadler packte ihren Arm.

„Keine Drogen mehr! Bitte Sue, bring mich in Kryostasis! Ich halt das nicht mehr aus. Bitte! Ich ertrag die Alpträume nicht mehr länger! Ich will schlafen … nur noch schlafen.“

Rivetti reichte ihr das kleine Fläschchen und eine verpackte Spritze. Susannah legte beides ab, nickte der verzweifelten Ingenieurin zu und streichelte sie.

„In Ordnung. Keine Träume. Und wenn du aufwachst, sind wir zu Hause. Wie klingt das?“

„Hört sich gut an, ja. Nach Hause.“ Sadler schloss erleichtert die Augen.

„Isabell? Haben Sie das mitgekriegt? Wir aktivieren ihren Kryoschlaf. Können Sie das für mich übernehmen?“

„Klaro, Doc. Ich mach das schon“, sagte Rivetti.

„Gut … dann ... bereiten Sie alles vor. Alles wird gut, Beth. In zehn Minuten schläfst du tief und fest.“

„Ohne Träume?“, fragte Sadler noch immer aufgelöst.

„Ohne Träume!“, versicherte Sue. „Wir wecken dich, wenn wir wieder in Sicherheit sind. Wenn Sie mich brauchen? Ich bin nebenan“, wandte sich Susannah von beiden ab. „Ich muss noch was Wichtiges erledigen.“

„Okay.“ Isabell sah der Ärztin voller Sorgen nach. Dann begann sie die Vorbereitungen und fixierte die Ingenieurin.

„Ganz ruhig. Gleich ist es vorbei“, lächelte sie ihr zu.

„Danke.“ Sadler entspannte sich.

Wie oft hatte sie ähnliche Szenen im Einsatz erlebt. Blutüberströmte Kameraden ohne jede Chance. Tödlich verwundet, vollgepumpt mit Morphin, glaubten alle jedes Wort. Nicht immer hatte sie die Wahrheit gesagt. Leere Versprechen ohne Wiederkehr. Nur die Wenigsten erwachten wie erhofft.

Rivetti ließ sich Zeit und dachte über die letzten Worte nach, während sie Sadler anstarrte. Sie hatte es gut. Es kam einer Erlösung gleich, im Kälteschlaf nicht mehr an die ständige Bedrohung und den Tod denken zu müssen. Keine Angst mehr.

Dann richtete sie die Kryokammer in der Vertikalen auf und verankerte sie in der Wand. Ein paar Handgriffe später aktivierte sie den Kältevorgang. Sadler schwebte schwerelos und sicher verzurrt in ihrer Kammer. Langsam strömte das Kryogel hinein, umschloss ihre Beine, ihren Unterleib und stieg weiter an. Nur noch ein paar Minuten und sie hatte ihre Ruhe. Die Frage war nur: Würde sie je wieder aufwachen? Wahrscheinlich war es ihre geringste Sorge, solange sie nur endlich diese Bilder aus dem Kopf bekam.

Rivetti drehte sich um, als sie Caren an der gegenüberliegenden Wand am Boden sitzen sah. Sie sah verängstigt aus, bleich, als hätte sie einen Geist gesehen.

„Hey, alles in Ordnung? Geht es Ihnen gut?“, fragte sie zögernd. Sie wusste, dass jeder an Bord mehr als gereizt war. Langsam streckte sie ihre Hand nach der ihr fast unbekannten Biologin aus. Langsam zog sie sie hoch.

„Caren, richtig? Wir hatten bisher wenig Gelegenheit uns kennenzulernen.“

„Ja. Caren Staff“, antwortete sie zurückhaltend.

„Sehr angenehm, Caren. Ich heiße Isabell. Aber Sie dürfen mich auch Rivetti nennen. Ist mein Rufname unter den Jungs. Sie sind unsere Terraformingspezialistin, oder?“

„Richtig. Ich bin für die Biosphäre und die Basisstation verantwortlich. Aber daraus wird ja vermutlich nichts mehr.“

„Ja, beschissene Situation. Entschuldigung“, antwortet Rivetti unverblümt.

„Alles ist so unwirklich. Ich schaue ständig aus dem Fenster und versuche sie zu finden, aber sie ist nicht mehr da! Es ist so schrecklich, was passiert ist. Ich habe solche Angst!“

„Die haben wir alle!“

„Ich dachte immer, Soldaten kennen keine Angst“, sagte Caren, während sie Rivetti musterte.

„O doch. Wir sind auch nur Menschen.“

Caren schwieg und sah erneut durch ein Fenster hinaus.

„Sie sehen aus, als könnten Sie einen Cocktail zur Beruhigung gebrauchen.“ Rivetti griff wieder zur Spritze, die Susannah auf den Tisch gelegt hatte. „Soll ich…“

„Nein, danke. Ich möchte klar im Kopf bleiben! Ich fühle mich nur … so fehl am Platz. Was machen wir hier?“

„Das frage ich mich auch oft. Ich glaube, ich könnte selbst etwas gebrauchen.“ Gerade als sich Rivetti die Injektion setzte, griff Caren ein.

„Nicht! Wir brauchen auch klare Ärzte.“

Rivetti hielt inne und überlegte kurz. Dann stellte sie das Fläschchen wieder hin und legte die aufgezogene Spritze ab.

„Verdammt!“

 

Kryohalle I, Vordersektion, C-Deck.

Zögernd beobachtete Susannah die stabilen, vegetativen Vitalfunktionen. Alles war vorbereitet. Auf dem Beistelltisch lagen alle ihr bekannten Möglichkeiten, ihn sanft bis unliebsam aus dem Koma zu befreien. Neurotransmitter, Insulin, Rafiximol und andere Medikamente, bis hin zur Stromschockvariante DEFI.

Wie gelähmt, stand sie vor der Station, nicht imstande, das zu tun, was Bone von ihr verlangte. Begriffe wie Locked-in- Syndrom, Hirntod oder Wachkoma geisterten durch ihren Kopf. Sie schloss die Augen, versuchte irgendeine schöne Erinnerung zu packen, sich an ihr festzuhalten, um den Mut zu finden. Gedankenblitze hielten ihr immer wieder die schönsten Momente vor Augen. San Francisco, Glas Beach, die Nacht am Meer. Die Hochzeit, nach der beide beschlossen, ihre eigenen Namen zu behalten. Hätte sie sich nur anders entschieden.

Die grollenden Vibrationen erinnerten sie schließlich wieder daran, warum sie den Neurotransmitter in der Hand hielt.

„Hörst du mich?“, sprach sie mit ihm. „Ich fühl mich so einsam ohne dich. Ich kann dich nicht weiter liegen lassen. Wir brauchen dich jetzt, hörst du? Ich brauche dich! Du hast dich wirklich lange genug ausgeruht, findest du nicht?“

Sie legte ihre Hände auf seine Wangen, strich ihm langsam durchs Haar, küsste ihn auf die Stirn und den warmen Mund.

„Was ich tun muss, ist sehr gefährlich.“

„Susannah“, sprach eine vertraute Stimme. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass es ihr Schwiegervater war. Er stand hinter ihr.

„Ich wollte dich nicht stören“, sprach er sanft und blickte voller Sorge auf die medizinischen Instrumente. Er wusste, dass dieser Augenblick vielleicht der letzte sein konnte, an dem er seinen Sohn lebend sah. Überrascht, suchte sie nach einer Entschuldigung.

„Mir bleibt keine Wahl, James. Wir müssen es riskieren! Wenn ich ihn jetzt nicht aus dem Koma befreie, wird er nicht überleben!“

„Ich weiß, mein Kind. William hat mir alles erzählt. Deswegen bin ich hier. Ganz gleich, was passiert, ich bin bei euch.“

Susannah sah zu Steven. Auch James trat ganz nah heran.

„Er sieht so friedlich aus. Ich weiß nicht, was ich tun soll! Ich kenne nicht einmal die genaue Ursache für das Koma. Es könnte so vieles sein. Der Stoffwechsel, vielleicht hat er eine Überdosis CO2 abbekommen, als die Kammer nicht richtig funktionierte. Oder Sauerstoffmangel. Es gibt keine Anzeichen einer Hirnstammveränderungen, keine Blutungen, keinen Hirnüberdruck, nichts, dass auf den Grund hinweist.“

Der Admiral nahm seine Schwiegertochter in die Arme. Sie gehörte zur Familie. Dabei fühlte auch sie, wie er vor Kummer zitterte.

„Künstliche Komata sind einfacher. Da senkt man langsam die Dosierung der Medikamente und erhöht schrittweise die Körpertemperatur. Sowas kann mehrere Wochen dauern.“

„Die wir nicht haben, ich weiß. Tu, was du tun musst. Ich vertraue dir, gleich, wie es ausgeht“, sprach er entschlossen.

„Ja. Danke“, seufzte sie und umklammerte ihn noch fester.

„Ich lasse euch besser allein.“ James wandte sich ab.

„Nein. Bitte bleib!“, erwiderte sie knapp.

„Na schön.“ Vorsichtig nahm James die Hand seines Sohnes und küsste sie.

„Ihr beide seid alles, was ich noch habe.“ Er küsste auch Susannah auf die Wange und wich in eine Ecke zurück.

Entschlossen und mit einem Lächeln auf den Lippen, wischte sie sich die Tränen aus den Augen und begann mit der Behandlung. Zuerst befestigte sie seine Arme und Beine mit den Sicherheitsgurten und deaktivierte das Schwerkraftfeld „Dekubitus“. Ein letztes Mal kontrollierte sie die externe Tropfstation, die Steven fortlaufend mit Natriumchlorid-Lösung, L-Ornithin und Flüssignahrung versorgte.

Langsam nahm sie eine Spritze in die Hand und setzte sie am rechten Oberarm an. Die Nadel durchstach die Haut und ein Tropfen dunkelroten Blutes quoll hervor. Admiral Cartright verzog sein Gesicht, als spürte er die Nadel selbst.

„Es gibt viele theoretische Methoden, komatöse Patienten zu wecken. Ich werde jetzt eine massive Reizkette auslösen und ihn damit hoffentlich aufwecken.“ James nickte und war einverstanden.

Susannah nahm die silberne Spritzpistole, steckte eine Ampulle auf und injizierte ihm den Neurotransmitter Glutamat, Paromomycin Typ IV und eine weitere Substanz. Dann schloss sie die Kryokammer und beobachtete die Werte auf dem Glas der Kanzel.

Minuten vergingen, nichts passierte. Nur langsame und minimale Veränderungen waren sichtbar, die jedoch nichts am komatösen Zustand änderten. Susannah unternahm den nächsten Versuch, öffnete die Kanzel und injizierte das nächste Medikament. In diesem Moment betrat nun auch Rivetti den Raum.

„Kann ich helfen?“, fragte sie leise.

„Ja. Danke. Ich könnte Ihre Hilfe gut gebrauchen“, kämpfte Susannah mit sich selbst. Sie sah ratlos aus. Die Liste der Möglichkeiten schrumpfte minutiös.

Susannah schloss die Kanzel erneut, um ein Gas auszuprobieren. Alle konnten beobachten, wie sich der Bauch hob und wieder senkte, das Gas in seiner Lunge verschwand, ohne eine nennenswerte Reaktion hervorzurufen.

„Mist. Wieder nichts.“

Susannah betätigte die Absaugung, die binnen Sekunden das Gasgemisch gegen reine Luft mit hohem Sauerstoffanteil austauschte. Tapfer ertrug der Admiral das Schicksal seines Sohnes. Er konnte nichts dagegen unternehmen.

„Probieren wir es mit Rafiximol“, schlug Susannah als Nächstes vor. „Versuchen wir es mit einer Dosis von 400 Milligramm.“

„Sind Sie sicher?“, stutzte Rivetti. Susannah nickte nur und verdrängte die Gefahr. Rafixamol war eigentlich ein Nervengift, welches zu Muskelkrämpfen und Herzversagen führen konnte. Es hatte aber viele erfolgreiche Anwendungsfälle gegeben. Die prozentuale Überlebenschance blendete sie gedanklich aus. Sie ging das Risiko ein.

Ein geruch- und farbloses Gas strömte in die Kammer und löste sofortige heftige Reaktionen aus. Binnen Sekunden destabilisierten sich die vitalen Funktionen. Steven begann sich zu krümmen und zu husten. Ein gutes Zeichen mit üblen Nebenwirkungen.

„Puls bei 160 und steigt drastisch! Blutdruck sinkt ab! Er beginnt zu hyperventilieren!“, rief Rivetti hektisch und begann sofort eine Infusion vorzubereiten.

„Das ist eine Schockreaktion. Endlich! Ich senk die Sauerstoffzufuhr. Geben Sie ihm drei Einheiten Adrenalin!“

„Kammerflimmern!“, schrie Rivetti.

„Geben Sie ihm das Adrenalin. Schnell!“

Rivetti setzte die Ampulle ein und schoss das Adrenalin direkt in seine Vene. Die Vitalwerte brachen zusammen.

„Noch immer Kammerflimmern, wir müssen es stoppen!“

Susannah konzentrierte sich und aktivierte den Defibrillator zur Herzregulierung. Schnell entfernte sie eine Diode zur Analyse der Vitalfunktionen, die für die Schocktherapie hinderlich war. Nun war die Brust frei. Susannah beeilte sich, ein leitendes Gel über die Brust zu verteilen. Dann nahm sie zwei Elektroden-Pads unterhalb der Kryostation heraus, die mit feinen, flexiblen, silberblanken Kabeln mit der Station verbunden waren.  Die Pads ähnelten kleinen runden Bügeleisen mit bläulich glänzenden Elektrodenpolen.

IVI: „DEFI bereit. Modus zwei“, übernahm der Bordcomputer die Kontrolle des Defibrillators.

Susannah drückte die grünen Bereitschaftsknöpfe an beiden Pads, rieb die Pole aneinander und testete sie auf Spannung. Sofort spürte sie die Power.

„Stufe vier!“, befahl sie dem Computer.

IVI: „Stufe vier geladen. Bereit für Schock.“

„Und Schock!“, rief Susannah, setzte die Elektrodenpole auf und trieb die Spannung durch das Herz.

IVI: „Bitte zurücktreten. Patient nicht berühren! Analyse läuft. Stufe vier geladen. Bereit für Schock“, sprach die seelenlose Stimme.

„Das Kammerflimmern lässt nicht nach.“

Susannah trat erneut heran und wiederholte den Vorgang.

„Schock!“, rief sie erneut und sah verzweifelt auf das hilflose Gesicht ihres Mannes. Nur mit Mühe gelang es ihr, nicht die Fassung zu verlieren. Noch durfte sie die Hoffnung nicht aufgeben. Die Energie ließ Steven aufzucken, so dass sich der Oberkörper aufbäumte.

IVI: „Bitte zurücktreten. Patient nicht berühren! Analyse läuft.“

Die Scanner der Kryomedstation liefen ununterbrochen und sandten die Daten synchron zum Defibrillator.

„Herzstillstand! Kein Puls!“, rief Rivetti aufgeregt.

Sofort legte Susannah die Pads beiseite und begann mit dem Wiederbelebungsmaßnahmen. Mit schnellem und kräftigem Druck begann sie eigenhändig sein Herz zu stimulieren. Nach dreißig Kompressionen übernahm sie die Beatmung und presste zweimal Luft in seine Lungen. Seine Lippen waren warm und bestärkten sie, nicht aufzugeben. Sie durften nicht erkalten. Wie ein Uhrwerk wiederholte sie diese abwechselnde Routine fast zwei Minuten lang.

„Keine Veränderung“, bemerkte Rivetti leise, ihre Augen auf das Display bannend.

Susannah trat zurück, versuchte klar zu denken und fasste einen letzten Entschluss. Erneut griff sie zum Defibrillator, die vielleicht letzte Chance. Doch sie wusste, dass diese Methode keine Garantie zum Erfolg war. Schließlich setzte man DEFI nicht zur Herzschlagreanimierung ein.

„Stufe Sechs!“

Rivetti starrte erschrocken. Susannah war sehr angespannt und ging aufs Ganze.

IVI: „Stufe Sechs geladen. Bereit für Schock.“

„Und Schock!“

Noch mehr Energie bahnte sich den Weg durch das menschliche Gewebe, so dass die ganze Muskulatur kontaktierte.

IVI: „Bitte zurücktreten. Patient nicht berühren! Analyse läuft.“

Susannah regelte die Lautstärke herunter, führte die Wiederbelebungsmaßnahmen aus und beobachtete gebannt die Vitalanzeigen. Ihre Augen suchten eine Regung der Brust, ihr Gesicht dicht an seiner Nase und seinem Mund. Doch noch immer weigerten sich seine Lungen zu atmen.

„Es tut mir leid“, sprach Rivetti leise und trat zurück.

„Stufe sechs!“, sagte sie erneut mit schwerer Stimme.

IVI: „Stufe sechs geladen. Bereit für Schock“, erklang es leise.

„Schock! Komm schon. Bitte“, flehte sie ihn an.

Stevens Oberkörper zuckte stark, dann krümmte er sich.

IVI: „Bitte zurücktreten. Patient nicht berühren! Analyse läuft.“

„Da!“, schrie Isabell lachend auf. „Sein Herz, es schlägt! Und er atmet wieder! Der Blutdruck steigt bei 120 zu 100.“

Rivetti konnte ihre Freude kaum unterdrücken. Tränen bahnten sich ihren Weg.

IVI: „Analyse läuft. Vitaldaten stabil. Kein weiterer Schock notwendig.“ Die leise monotone Stimme klang wunderbar. Es war das Schönste, was Susannah seit langem gehört hatte. Sie strahlte überglücklich, beugte sich über Steven und küsste ihn.

Seine Bewegungen waren steif und mühsam. Langsam drehte er den Kopf, um anschließend kurz die Augen zu öffnen. Es war mehr ein Blinzeln. Susannah weinte vor Freude.

„Hallo, Schatz. Da bist du ja“, sagte sie mit einem Lächeln, das Herzen sprengen konnte. „Kannst du mir sagen, wie viele Finger ich zeige?“

Natürlich war er noch zu schwach, um Antworten zu können. Susannah war überglücklich. Behutsam streifte sie die Beatmungsschläuche von seinem Gesicht, setzte ihn eine neue Atemmaske auf, platzierte eine neue Elektroden auf der Brust und folgte dem ruhigen Herzschlag. Die Behandlung war noch nicht vorüber aber sein Zustand schien stabil.

„Du hast mir gefehlt“, flüsterte Susannah glücklich in seine Ohren. „Ich hatte schon gedacht, du verlässt mich für immer.“

Mit aller Kraft hob er eine Hand und berührte die ihre. Nur wenige Zentimeter hatten ihr gezeigt, dass er zu bewussten Handlungen fähig war. Er hatte sie erkannt. Das war das Wichtigste. Susannah strahlte.

Auch Admiral Cartright war erleichtert und trat zur Station, um Susannah zu umarmen und seinen Sohn zu begrüßen.

„Hallo mein Junge“, sprach er sichtlich ergriffen.

„Er braucht Zeit, um sich zu regenerieren. Lassen wir ihn schlafen“, flüsterte Susannah James zu und fiel dem Admiral um den Hals.

„Ich wusste, du schaffst es. Ich habe keine Sekunde gezweifelt“, sprach er zu ihr.

 

Gute drei Stunden später, saß sein Vater noch immer an der Seite seines Sohnes, als dieser plötzlich erwachte und James Hand ergriff.

„Hey, Dad. Sind wir schon da? Hab ich was verpasst?“, antwortete er schwach und ahnungslos. James lachte vor Freude.

„Allerdings! Das hast du.“

Endlich war er ansprechbar. Sofort eilte Susannah herbei, küsste und umarmte ihren Mann.

„Wieso weint und lacht ihr alle?“

Es war ein Moment der Freude und der Hoffnung. Es war ein Schritt nach vorn. Das Schiff hatte seinen Commander zurück.

Von der Tür aus beobachtete Caren das zurückgewonnene Mitglied und freute sich über das Glück der beiden. Zum ersten Mal strahlten alle gemeinsam.

Gerade als die Phase des Glücks seinen emotionalen Höhepunkt erreichte, verstrich die 52. Sekunde der Ruhe. Steven schreckte zusammen, sah wie Gegenstände zu zittern begannen. Er erkannte: Das war alles andere als normal.

„Dad? Was zum Teufel war das?“

 

Reaktorraum, Achtersektion, D-Deck.

Der Boden glänzte nass. Jemand hatte frisch gewischt. Nichts deutete auf das schreckliche Geschehen der vergangenen Stunden hin. Der glatte Metallboden hatte seine klinische Kälte zurückerlangt. Zwar gab es kein Blut mehr, doch der Gestank würde ewig bleiben. Wer war die arme Sau, der die grauenerregenden Überreste von Hiroto beseitigt hatte? Er war jedenfalls nicht zu beneiden.

Im ganzen Reaktorbereich herrschte reges Treiben. Wer nichts zu tun hatte, half bei der Suche nach Schäden, um weitere Tragödien zu verhindern. Am Ende war es purer Egoismus, das Wohlbefinden der eigenen Haut. Niemand wollte so enden wie Yoshimura. Der Schock saß noch immer tief. Die Umstände zwangen alle Marines zu unliebsamen Wartungstätigkeiten. Sie taten es mehr oder wenig freiwillig. Kowski, Wullf und Vandermeer suchten das Maschinendeck nach weiteren Mikrorissen ab. Mit Strukturscannern ausgerüstet, durchleuchteten sie jede Verstrebung, jedes Rohr und jeden Quadratzentimeter. Nichts durfte unentdeckt bleiben, nichts dem Zufall überlassen werden.

„Also ich kann nichts finden. Alles sauber“, meinte Vandermeer lustlos.

„Gut, Viktor. Dann räumt schon mal das Werkzeug weg! Wir suchen noch weiter.“, antwortete Wullf erschöpft

„Klar. Zu Befehl, Sergeant!“ Vandermeer salutierte ironisch, drehte sich um und verließ den Reaktorraum.

„Das ist Zeitverschwendung“, murrte auch Kowski entkräftet.

„Such weiter! Wir müssen sicher gehen. Die Pipeline ist nicht von allein gebrochen.“

Hinter der dicken Panzerscheibe des Reaktorraumes kämpften Weißberg und Barrow eine ganz andere Schlacht.

Da Sadler ausgefallen war, oblag es nun der brillanten Kompetenz Chad Barrows, den Reaktor wieder zu reaktivieren. Schließlich hatte er die Abschaltung vom Grundriss an zu verantworten. Die Explorer war sein jüngstes Kind. Es gab keine einzige Niete, keinen Schaltkreis noch eine Schwachstelle, von der er nichts wusste. Und glücklicherweise besaß er das Wissen, wie man die Sperre des Reaktorkerns umgehen konnte. Als gewissenhafter Konstrukteur war es seine Auffassung, einer Notabschaltung des Reaktors immer eine Sperrzeit folgen zu lassen. Es war nur eine von vielen Sicherheitsvorkehrungen im System, damit sich Ingenieure folgender Schiffe die Zeit nahmen, Probleme richtig anzupacken. Zu oft wurde in der Vergangenheit geschlampt und vertuscht.

Wie gesagt, es sollte keine schwere Aufgabe sein, die Sperre zu neutralisieren. Jedoch hatte Barrow nie die Möglichkeit solch schwieriger Umstände in Betracht gezogen. Wie konnte er auch? Die Kette der Ereignisse war zu absurd, als dass er sie vorausahnen konnte. Das Schiff drohte jeden Moment auseinanderzubrechen oder ins Schwarze Loch zu stürzen. Der Reaktor war außer Betrieb, der Zugangscomputer zur Entsperrung zerstört. Zu viele Probleme für den kleinen Mann. Ein Segen Gottes, dass Weißberg noch unter den Lebenden weilte. Zu Recht machte sich dieser Luft.

„Ich verstehe nicht, wieso Sie diesen so wichtigen Zugang in die gefährdete Zone installiert haben. Schauen Sie sich das an!“

Weißberg zeigte auf den geschmolzenen Computer. Mit einer Brechstange musste er diesen öffnen, um nachzusehen, was noch zu retten war.

„Ein Fehler, das gebe ich zu“, versuchte sich Barrow zu entschuldigen. Betriebsblindheit fern jeder Praxis und aller möglichen Unfälle hatte zu der offensichtlichen Fehlplanung geführt. Alle anderen relevanten Systeme verrichteten ihren Dienst hinter der Scheibe des Panzerglases.

„Werden Sie das beheben können?“, fragte Chad unsicher.

„Wenn Sie mir noch mehr Ersatzteile bringen können, ja.“

Voll in seinem Element, huschten Davids filigrane Hände über die feine Elektronik. Obwohl er diesen Computertyp nie zuvor gesehen hatte, lernte er schnell. Niemand sonst hätte in der kurzen Zeit einen Ersatz improvisieren können.

Das ausgebreitete Schlachtfeld an Schaltplatinen, optischem Leitungen und Nano-CPUs war kaum überschaubar. Weißberg steckte die letzten Kabelverbindungen zusammen und wischte den Schweiß von seiner Stirn.

„War’s das?“, fragte Barrow ungeduldig.

Weißberg schnaufte und nickte, was wohl ein „Ja“ bedeuten sollte. Sein Zeigefinger näherte sich dem Powerbutton auf der Konsole.

„Hoffentlich klappt es diesmal“, betete Barrow.

Kein Piepen, kein Rauschen von Lüftern oder Festplatten, keine Lautsprecher. Computersysteme hatten die Evolutionsstufe als Spielzeugkonsole weit hinter sich gelassen. Moderne Rechner basierten auf kaltem Licht der Photonentechnologie und Nanoquantentechnologie. Manche sogar auf Biochemie. Dieser hier machte keine nervigen Soundgeräusche. Vielmehr war es ein Warnsignal, wenn er es tat. Schnelligkeit und Präzision war alles. Diese Schaltkreise hatten nur eine Aufgabe und hielten die wohl größte technische Errungenschaft der Menschheit im Zaum. Heliumbrennen - Kernfusion.

Weißberg drückte die Taste. Völlig lautlos stand das System in Bruchteilen einer Sekunde wieder zur Verfügung. Sprachlos starrte Barrow auf den Screen und musterte die Statusmeldung.

„Gott sei Dank. Gute Arbeit!“, schnaufte Barrow erleichtert.

„Yeah! Ich hab’s voll drauf! Eine heiße Maschine“, feierte sich Weißberg begeistert selbst.

„Spinner! Komm wieder runter, David!“ Vandermeer schlug ihm anerkennend auf die Schulter.

„Wenn du es besser kannst, mach du es nächstes Mal, Großmaul“, zischte Weißberg zurück, der das ernstgemeinte Kompliment missverstand.

„Ich kann’s nicht besser“, grinste Vandermeer zurück und war sichtlich beeindruckt. „Bist ja doch zu was zu gebrauchen!“

Nachdenklich zuckte Weißberg mit seiner linken Augenbraue.

„Wiederhol das bitte! War das gerade ein Kompliment?“

„Hast es dir verdient“, antwortete Vandermeer lässig, packte die Werkzeugkiste und ging in die nächste Sektion.

„Pfffff. Hat er mich jetzt verarscht oder wie?“

Ein Brummen erfüllte plötzlich das gesamte Schiff. Der Reaktor war wieder Online. Alle Anzeigen waren im grünen Bereich.

Barrow nahm die Hände des Marines und schüttelte sie dankend.

„Das war eine großartige Leistung. Ich werde Sie für eine Beförderung vorschlagen, wenn Sie Wert darauf legen.“

Weißberg fühlte sich erhaben, schließlich war er solch löblichen Zuspruch nicht gewohnt. Im Grunde war alles nur ein Klacks. Er hatte ja nichts anderes getan, als die durchgeschmorten Bauteile durch neue zu ersetzen. Zum Glück hatte er den Programmcode nicht neu schreiben müssen. Der hatte die brodelnde Plasmasuppe glücklicherweise unbeschadet überstanden. Aber dass musste er ja niemanden verraten.

Auch jenseits des dicken Panzerglases streckten Wullf und Kowski die Köpfe, anschließend den Daumen senkrecht in die Höhe. Und Vandermeer? Meinte er es tatsächlich ernst? Wenn ja, fühlte er sich richtig gut. Deutlich war seine innere Freude zu erkennen. Es war lange her, dass er diese Anerkennung spürte. Das erste Mal seit dem Start. Aber wollte er eine Beförderung?

„Nein. Ich denke nicht“, antwortete er ein wenig später.

Barrow hatte den Faden verloren und schaute ihn verwundert an. „Was? Was meinen Sie?“

„Die Beförderung. Kein Interesse. Mein Dienst ist vorbei.  Falls wir es zurück schaffen, will ich mein normales Leben zurück.“ Er ging zur Schleuse.

„Eine kluge Wahl!“

Barrow, der selbst in jungen Jahren eingezogen wurde, teilte diese Einstellung. Er hatte den militärischen Kommandostil noch nie gemocht. Obwohl er durch seine Forschungen und technischen Entwicklungen in gewisser Hinsicht trotzdem für das Militär arbeitete, hatte er sich sein eigenständiges Denken bewahren können. Er konnte Entscheidungen treffen. Ja und Nein sagen. Er war keine Marionette und man brauchte ihn. Er tat das, was er am besten konnte. Er baute die besten Schiffe.

„Hey, vielleicht nehme ich Sie in mein Team auf. Ich weiß, dass Sie zu deutlich mehr im Stande sind. Ehrlich, einen Spezialisten wie Sie könnte ich gut gebrauchen“, rief Barrow ihm anerkennend hinterher.

„Klingt gut. Vielleicht komm ich drauf zurück“, freute sich Weißberg und ging durch die Schleuse.

 

Exploration Capri: Teil 2 Verschollen
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