21

Auf dem Garden-Hill-Friedhof wurde längst niemand mehr begraben. Er war in den Fünfzigerjahren wegen Überfüllung geschlossen worden, und kurz vor Ausbruch der Hex Riots hatten die Totengräber jede Menge Leichen ausgebuddelt, um die Grabstätten an neue Interessenten verkaufen zu können. Das Ganze war erst aufgeflogen, als sich einige Bewohner Waterfronts über die Massen an übel riechenden Kadavern beklagt hatten, die in ihrem Viertel abgelegt wurden. Möglicherweise hatten die geschäftigen Friedhofsangestellten gehofft, die vertrockneten Gebeine ihrer ehemaligen Kunden würden als Halloween-Dekoration durchgehen.

Der Friedhof war seit jeher in einem beklagenswerten Zustand: Schlechte Beleuchtung und abgesunkene Gräber machten jeden Spaziergang zu einer halsbrecherischen Angelegenheit. Die provisorischen Straßen und Trampelpfade waren holprig und zugewachsen und führten eigentlich nirgendwohin. Als junge Polizistin war ich in dieser Gegend oft Streife gelaufen, hatte aber bis auf ein paar Möchtegern-Bluthexen, die an Halloween eine Katze opfern wollten, nie ernstliche Probleme gehabt. Ich hatte die angehenden Schwarzmagierinnen schnell zur Vernunft bringen können – der Anblick meiner funkelnden Reißzähne hatte ihnen schon gereicht –, und die verängstigte Katze fand später bei meinem Schichtleiter ein neues Zuhause. Was hätte ich dafür gegeben, hätten sich meine aktuellen Probleme auch so einfach lösen lassen!

Der Wegweiser zum historischen Teil des Friedhofs war mit dem Graffiti eines Werwolfsrudels beschmiert, was aber nicht besonders schlimm war, da ich das Gebiet wie meine Westentasche kannte. Lange genug hatte ich dort Junkies aufgeschreckt und Liebespärchen verscheucht, sodass ich den Wagen sicher durch den aufkommenden Nebel steuern konnte. An einer der vielen Kurven unterschätzte ich allerdings meine Geschwindigkeit, sodass der Wagen einen Grabstein touchierte. »Tut mir leid«, murmelte ich mit einem Blick zur Seite, um mich für die Störung des Seelenfriedens zu entschuldigen.

Ich richtete meine Augen wieder auf die Straße und schrie, als plötzlich eine Gestalt im Scheinwerferlicht auftauchte. Ich trat auf die Bremse. Als der Fairlane daraufhin seitwärts ausbrach, flog mein Kopf nach vorn und knallte geradewegs aufs Lenkrad. Nachdem der Wagen zum Stehen gekommen war, öffnete ich die Augen wieder, in die bereits das Blut aus der Platzwunde auf meiner Stirn lief.

Draußen hörte ich Lachen aus dem Nebel. »Arme kleine Spürhündin. Hast du dir wehgetan?«

»Schmerzt jedenfalls mehr als der kleine Piekser von deinem Taschenmesser«, blaffte ich zurück, während ich mich mit dem Gurt abmühte. Leider klemmte jetzt auch noch die Tür, sodass ich nicht anders konnte, als sie mit einem Fußtritt zu öffnen.

›»Klein‹ ist doch dein Stichwort, Lucas, also zeig dich endlich! Wo bist du?«

»Hinter dir«, raunte er in mein Ohr und legte blitzschnell die Hände auf meine Schultern. Noch ehe ich reagieren konnte, hatten sich seine Klauen in die Haut unter meinem Schlüsselbein gegraben. Ich versuchte zwar noch, mich wegzuducken, aber im nächsten Moment hatte mich Lucas schon in die Höhe gehoben und gegen einen Grabstein geschleudert, der beim Aufprall in zwei Hälften brach. Durch die harte Landung riss die Stichwunde an meinem Bauch wieder auf.

»Jetzt liegt der Geruch deines Blutes in der Luft!«, rief Lucas vergnügt. »Ich hoffe, du bildest dir nicht ein, auch nur den Hauch einer Chance gegen mich zu haben.«

Ich brauchte einen Augenblick, um ihn im schwachen Licht auf einem Grabhügel vor mir ausmachen zu können: eine gebückte schwarze Gestalt mit einem Paar spitzer Ohren und jeder Menge rasiermesserscharfer Zähne, die aus dem schattenhaften Körper hervorstachen.

»Ich muss schon sagen, du hast erstaunlich lang überlebt«, rief Lucas. »Scheinbar hast du einen ganz passablen Überlebensinstinkt. Leider ist bei deiner Freundin davon nichts zu spüren.«

Zwei Wendigos in Menschengestalt schleppten eine sich kaum wehrende Carla auf den Grabhügel. Als sie angekommen waren, setzte ihr einer der beiden eine Spritze in den Hals – ganz so, wie sie es ein paar Tage zuvor auch bei mir getan hatten. Beim Anblick der Kanüle kam es mir allerdings vor, als läge meine Entführung Jahrzehnte zurück.

»Lasst sie zufrieden!«, schrie ich und rappelte mich auf, was sich von der Schmerzintensität her etwa so anfühlte, als steckte man den Zeh in einen Papierschredder. »Ich bin es, mit der ihr noch eine Rechnung offen habt, nicht sie!«

»Da würde ich dir widersprechen wollen«, gab Lucas zur Antwort. »Es ist nämlich so, dass ich mit jeder einzelnen von euch stinkenden Pelzkugeln eine Rechnung offen habe! Du hast deine Chance vertan, Luna. Ihr Blut wird genauso rot fließen wie deines.«

Lucas packte Carla, stieß seine Klauen in ihre Brust und begann, ihr Blut zu trinken. Er hatte keinen Augenblick gezögert und zeigte nicht das geringste Anzeichen von Anteilnahme. Selbst als sich Carla in seinem Griff zu winden begann und um ihr Leben kämpfte, wirkte sein Gesicht ruhig und entspannt, ja fast friedlich. Obwohl es mir wie eine Ewigkeit vorkam, dauerte es keine zehn Sekunden, bis ihr toter Körper vor Lucas’ Füßen zu Boden sank.

»Schafft mir dieses armselige Hundevieh aus den Augen«, fauchte Lucas seine Leute an und hob mit angewiderter Miene den Fuß, um Carlas Leichnam von sich zu schieben.

Bereits als Lucas seine Klauen in Carlas Brust gestoßen hatte, war ich auf ihn zugestürmt, um meiner Artgenossin zu Hilfe zu kommen. Auf halber Strecke war allerdings Mr Pferdeschwanz wie aus dem Nichts vor mir aufgetaucht. In bester Wrestling-Manier streckte er den Arm aus und riss mich mit einem gelungenen Treffer direkt auf den Kehlkopf nieder. Ich sackte zusammen, und mir wurde schwarz vor Augen. Der Schmerz in Hals und Brust schien mir bei jedem Atemzug die Lungenflügel zerfetzen zu wollen.

Der Wendigo mit dem Pferdeschwanz schüttelte seinen Arm, auf dem sich bereits ein Bluterguss vom Aufprall abzeichnete. »Sie ist zäh und schnell dazu.«

»Überlass Sie mir«, mahnte Lucas. »Du konntest sie schon beim ersten Mal nicht bändigen.«

»Lucas, ich habe dir doch gesagt …«

»Charlie, willst du mir jetzt wirklich noch deine schlechten Ausreden auftischen?«, herrschte ihn Lucas an. »Ihr Wilden raubt mir wirklich den letzten Nerv!«

Charlie antwortete nicht, sondern jaulte nur kurz. Kaum hatten die anderen beiden Wendigos Carlas Leiche weggeschleift, beugte sich Lucas über mich und strich mir das Haar aus dem Gesicht.

»Atme. Atme, Luna. Ich hab’s lieber, wenn meine Beute lebt«, wisperte er mit einem Lachen. »Das waren sie dann wohl, die fünf Werwölfe. Alle mausetot, und du konntest nichts dagegen tun, du kleine, nutzlose Wölfin.«

Als er meine Wange liebkoste, stieß ich ihn von mir und rappelte mich auf. »Warum kommen Sie nicht raus und genießen die Party, Donal?«, rief ich in Richtung der Grabreihen vor mir. »Ich weiß, Sie sehen zu. Also zieren Sie sich nicht und stehen Sie zu Ihrem Werk.«

Lucas waberte aufgebracht hin und her. »Du weißt ja nicht, was du redest!«, grollte er.

»Mit dir rede ich nicht, Wiskachee. Ich spreche mit Donal Macleod«, antwortete ich mit einem Blick in seine Augen.

Kaum hatte ich ihn gerufen, trat Donal hinter einem Grabmal hervor. Bis auf ein leichtes Humpeln schienen die Verletzungen unserer Prügelei vollkommen ausgeheilt. Im Schatten hinter ihm lauerten zwei seiner Handlanger, die auch schon bei unserer letzten Begegnung dabei gewesen waren. »Neunmalklug, wie alle Insoli«, brummte er. »Wie ich diese Gossenschläue verabscheue!«

»Es gibt keinen Schamanen, stimmt s?«, rief ich. »Sie haben Jason diesen Fetisch gegeben, damit Wiskachee sich seiner bemächtigt.«

Er spreizte die Finger. »Schuldig.«

»Sie haben auch dafür gesorgt, dass die Werwölfe von Wendigos getötet wurden, um es wie einen Rachefeldzug aussehen zu lassen.«

»Ja.« Er strich sich mit der Hand über die Narbe, die von seinem Mund abwärts über sein Kinn verlief. »Ihre kombinatorischen Fähigkeiten sind erstklassig, Miss Wilder. Aber sagen Sie, sind Sie überhaupt nicht neugierig, warum ich kein bisschen besorgt bin?« Natürlich war ich das, aber ich hatte gehofft, man würde es mir nicht ansehen.

Mit einem Blick zur Seite bemerkte ich, dass sich Lucas an mich heranschlich, sodass ich mich mit dem Rücken zum Grabmal stellen musste, um beide im Auge behalten zu können.

Donal holte einen Fetisch aus seiner Hosentasche hervor. Vom Aussehen ähnelte er dem Götzenbild aus Jasons Wohnung – allerdings konnte man dieses Mal die Magie mit bloßem Auge sehen. Schwarz und bedrohlich wand sie sich mit unstillbarem Hunger um die Figur in Donais Hand. »Jetzt werden wir das Werk vollenden.«

Er hob den Fetisch in Lucas’ Richtung, sodass der Mund des Götzen genau auf ihn zeigte. »Wiskachee, necht tagh.«

»Was zum Teufel …«, rief Lucas, als der Fetisch sich zu bewegen begann, langsam Augen und Mund öffnete und schließlich laut aufstöhnte. Plötzlich begann der Boden unter unseren Füßen zu vibrieren, und ich starrte zu Lucas hinüber. Seine graue Wendigo-Haut pellte sich von seinem Körper und legte rosafarbene Muskeln und glitzernde Knochen frei, die wie flüssiges Silber aussahen.

Lucas presste einen Schrei heraus, der sich wieder überaus menschlich anhörte, und fiel zu Boden. »Ich glaube nicht daran!«, schrie er, als sich Donal über ihn beugte und den Fetisch hin- und herschwang wie einen dämonischen Staubsauger.

»Darum warst du ja auch so wertvoll für mich, Bürschchen«, erläuterte Donal. »Schließlich habe ich diesen idiotischen Loups deine Dienste nur abgekauft, weil ich eben gerade keinen abergläubischen Spinner haben wollte. Allerdings hast du jetzt deine Schuldigkeit getan – bis auf eine kleine Sache.«

Ohne ihn zu berühren zerrte der Fetisch weiter an Lucas, wobei seine Kiefer unablässig mahlten. Lucas krümmte sich vor Schmerz auf dem Boden, und bereits nach kurzer Zeit verkümmerten seine Schmerzensschreie zu einem leisen Wimmern, bis er kaum noch Luft bekam. Als ich das süffisante Grinsen auf Donais Gesicht sah, konnte ich nicht mehr an mich halten. Ich stürzte mich auf ihn, packte ihn an der Kehle und drückte ihn auf einen Grabstein.

»Warum? Sie haben doch selbst gesagt, er hat seinen Job erledigt!«, schrie ich und drückte noch etwas fester zu. »Erst haben Sie dafür gesorgt, dass er von einem toten Gott besessen wird, dann haben Sie ihn dazu benutzt, die Rudelführer zu ermorden. Sie haben einfach alle kaltmachen lassen, die eine Gefahr für Sie darstellten.« Mir wurde heiß, denn plötzlich fügten sich die Puzzleteile in meinem Kopf zusammen, und ich erkannte die Zusammenhänge von Donais Schreckenstaten. »Sie haben sich selbst zum Gott gemacht. Ist Ihnen das nicht genug?«

Donais Schläger packten mich. Ich trat und schlug blindlings um mich, konnte aber nicht verhindern, dass sie mich von ihrem Anführer herunterzogen. Macleod räusperte sich kurz, massierte seine Kehle und rückte seinen Hemdkragen zurecht. »Alle, die eine Gefahr darstellten … außer dir, und langsam beginne ich, diesen Fehler zu bereuen.« Er stand auf, trat an mich heran und schlug mir mit einer solchen Kraft ins Gesicht, dass meine Unterlippe aufplatzte. »Das war für das Würgen. Man muss dir Manieren beibringen.« Ein paar Schritte entfernt lag Lucas am Boden und stöhnte leise. Er hatte wieder seine menschliche Form angenommen. Sein Körper war von unzähligen Bisswunden übersät, aus denen Blut sickerte und auf den Boden floss.

»Wenn man die Konkurrenz ausgeschaltet hat, muss man seine Position festigen«, meinte Donal, »und eigentlich gibt es nichts Schöneres als eine kleine Apokalypse, um das zu tun.« Er nahm Lucas’ Silbermesser an sich und rammte es ohne viel Schwung in die Brust des Wendigos. Lucas zuckte kurz und blieb dann reglos liegen.

»Hier«, wandte sich Donal an den War Wolf, der nicht damit beschäftigt war, mich festzuhalten, und gab ihm die Klinge. »Das war die Sache mit dem Blut. Jetzt hol mir den Salbei und den Zettel mit dem Text, den ich rezitieren muss.« Nach einem Blick auf die Uhr sah er zu Lucas und fügte hinzu: »Ich denke, dass unser gemeinsamer Freund seinen Teil des Deals erfüllen wird. Wenn alles läuft wie geplant, werde ich noch vor Sonnenaufgang der einzig ernst zu nehmende Werwolf in Nocturne sein.«

Noch ehe ich meine Gedanken – die sich hauptsächlich um die Worte Verdammt! und Mist! drehten – ordnen konnte, begann erneut der Boden unter meinen Füßen zu beben, als raste ein Güterzug an uns vorbei.

»Denkst du wirklich, die Rudel lassen sich das einfach so gefallen und akzeptieren dich als Leitwolf der Leitwölfe?«, schrie ich Donal an. Doch er zündete mit unbeeindruckter Miene den Salbei an, dessen Rauch im Handumdrehen die Luft zu verpesten begann.

»Ja. Wenn Wiskachee nämlich erst einmal begonnen hat, an ihren Leibern und Seelen zu zehren, werde ich der Einzige sein, der ihre Schmerzen beenden und dem Hungergott Einhalt gebieten kann.«

Er hob seine bluttriefende Hand und ließ Lucas’ roten Lebenssaft auf den Friedhofsboden tropfen. »Wiskachee gen kah, muscun ne kah. Nis kee.« Ich wusste zwar nicht warum, aber Donal ließ freundlicherweise eine Übersetzung folgen: »Wiskachee, ich komme, um dir das Blut des Unachtsamen zu bringen. Ich knie vor dir.«

Donal ging wirklich auf die Knie und drückte seine Hände in den Boden. »Ich komme zu dir mit Zorn im Herzen und knie vor dir.«

Während Donais Vortrag nahm das Beben des Bodens zu und fiel in regelmäßigen Abständen wieder ab. Man hätte fast denken können, unter uns sei ein riesiges Wesen in einer Grabkammer eingeschlossen und atmete stöhnend.

Als Donal seine Handflächen gen Himmel ausstreckte, wurden wir von einem substanzlosen Schleier eingehüllt, der sich wie die feuchte Luft der Bucht anfühlte, aber weitaus schwerer und heißer war. »Ich komme zu dir mit Hunger in der Seele, Wiskachee, und ich knie vor dir.« Donal wisperte nun. »Komm zu mir, hungriger Gott!«

Als er ausgesprochen hatte und seine blutbefleckten Handflächen erneut auf den Boden presste, begann die Erde zum dritten Mal zu beben.

Die beiden War Wolves sahen Donal nun mit besorgten Blicken an, aber der Clanführer lachte. »Keine Bange, Jungs. Genau rechtzeitig!«

Ich musste an die drei magischen Kreise hinter den Blockhäusern in der Wendigo-Siedlung denken, die mein Blut – das Blut einer Unachtsamen – aufgesogen hatten. Auch wenn hier weder Blut- noch Castermagie am Werk waren, so stand es doch außer Frage, dass Donal gerade Mächte mit unglaublichen magischen Kräften beschwor.

Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubendes Grollen, das einem anfahrenden Sattelzug glich und kleine Spalten in den Boden riss. Das Beben wurde auf einmal so intensiv, dass Donal sich an einer Engelsskulptur festhalten musste und ich zur Seite gegen einen Grabstein flog. Glücklicherweise landeten auch die beiden War Wolves auf der Erde, sodass ich plötzlich wieder frei war.

Das Beben stürzte den Friedhof ins Chaos. Gräber öffneten sich, und Steine flogen in die Luft. Die Erdrisse beförderten sogar ganze Särge wieder zurück an die Erdoberfläche. Doch damit nicht genug: Bei einigen sprang mit einem berstenden Geräusch sogar der Deckel auf, und sie gaben ihren Inhalt frei. Ich klammerte mich an dem Grabstein neben mir fest und büßte dabei einige Fingernägel ein, weil mich die wilden Erschütterungen hin und her warfen.

Im Zentrum des Chaos stand Donal und sah mit ruhigem Blick nach unten, wo sich direkt vor seinen Füßen eine Kluft im Boden auftat. Darunter wurden ein paar alte Kisten sichtbar, deren verrostete Nägel unter der Erschütterung ächzten.

»Wiskachee!«, schrie er so laut, dass seine Stimme für einen Augenblick sowohl den Lärm des Erdbebens als auch den der Autoalarmanlagen und der einstürzenden Häuser von der Straße überdeckte. »Wiskachee! Komm!«

Die Intensität des Erdbebens schwoll unglaublich schnell an, aber kaum hatte es seinen Höhepunkt erreicht, fand es ein abruptes Ende. Donal starrte nach wie vor auf den Spalt vor ihm, der mittlerweile eher einem bodenlosen Abgrund als einem Erdriss ähnelte. Etwas abseits sah ich Lucas’ reglosen Körper, und zwischen den aufgerissenen Gräbern lagen nun überall mehr oder weniger gut erhaltene Leichen herum. Es wirkte fast, als wären sie von einem gigantischen Hund auf Nahrungssuche ausgebuddelt worden. Überall in der Stadt jenseits des Hügels waren rotgolden glühende Brände zu sehen, und mit etwas Anstrengung konnte ich sogar die Hilferufe der Bewohner hören.

»Enttäuscht?«, rief ich Donal zu. Ich konnte nur mit Mühe sprechen. Nachdem ich meine zitternden Hände endlich dazu gebracht hatte, den Grabstein loszulassen, massierte ich meinen Kiefer und befühlte die Beule, die ich mir beim Aufprall geholt hatte.

»Keineswegs. Es ist genau wie ich es geplant habe«, antwortete er mit strahlenden Augen, in denen sich die Flammen über der Stadt spiegelten. Dann richtete er den Blick wieder nach unten. Aus dem Abgrund vor ihm reckte sich eine braune, knotige. Hand. An ihren Fingern prangten lange graue Nägel, die scharf wie Schlachtmesser zu sein schienen. Einen Augenblick später kam eine zweite Hand zum Vorschein, gefolgt von zwei Armen und einem Kopf mit wild abstehendem grauen Haar. Nach und nach kletterte eine unförmige Kreatur aus der Grabspalte, die grunzende Geräusche von sich gab und sich schließlich vor Donal aufrichtete.

»Wiskachee«, murmelte Donal. Das Ding sog durch dünne, reptilische Nasenlöcher den Wind ein. Dann lachte es und legte dabei ein Gebiss frei, das selbst einen Wendigo vor Neid hätte erblassen lassen. Es war mit riesigen pechschwarzen Reißzähnen ausgestattet, die viel zu groß und zahlreich für seinen Mund waren und an den Spitzen wie rasiermesserscharfe Steakmesser aussahen.

Um seine Füße krabbelte eine Horde Brakichaks, die nach und nach aus dem Abgrund emporkletterten. Mit zirpenden Geräuschen eilte einer nach dem andern in die Nacht hinaus.

»Das ist alles?«, rief ich verächtlich und bemühte mich, so wenig wie möglich über das nachzudenken, was ich gerade sah. Sobald mein Gehirn versuchte, die Situation zu verarbeiten, würde ich in Panik ausbrechen, so viel stand fest – und Panik bedeutete den Tod. »Das ist dein Hungergott? Sieht aus wie ein zu groß geratener Gartenzwerg. Ich denke, er würde sich ganz gut zwischen meinen Rosenbüschen machen.«

Donal lachte lautlos und mit bebenden Schultern. »Die da«, sagte er zu Wiskachee. »Du kannst sie haben.«

Aufgerichtet reichte mir Wiskachee höchstens bis zum Schlüsselbein, mit seinem schmutzig grauen Haar maximal bis an die Nasenspitze. Er hatte lange Arme, hängende Schultern und einen Kugelbauch. Seine strahlenden pechschwarzen Augen erinnerten mich an die Dämonen, die in der Vergangenheit meinen Weg gekreuzt hatten, aber Wiskachee war kein Dämon. Die Kraft unter seiner verschrumpelten Haut mochte groß sein, aber dämonischen Ursprungs war sie nicht. Nachdem Donal ihn auf mich angesetzt hatte, setzte Wiskachee ein kindhaftes Lächeln auf und knurrte etwas in der Wendigo-Sprache, das ich nicht verstand.

»Nimm dir, so viel du willst«, antwortete ihm Donal. »Aber merke dir: Du hast nur so lange Zeit, bis ich dich zurückrufe.«

Wiskachee wandte sich wieder zu mir, lächelte erneut und zwinkerte mir zu. Dann ließ er seinen langen Arm nach vorn schnellen und versenkte seine Krallen in Donais Brust. Erst jetzt erkannte ich, dass der graue Schimmer um Wiskachees Körper eine Spektralhülle war und seine Klauen nicht in Donais Brust, sondern in die Magie gefahren waren, die Macleod zum War Wolf machte. Im Handumdrehen begann das Schwarz des Hungergotts das leuchtende Grün von Donais nebelartiger Seelenhülle zu ersetzen. Als Wiskachee in den War Wolf fuhr und seine Seele aufsog, spürte ich ein schmerzhaftes Ziehen und konnte nicht anders, als in die gepeinigten Schreie Macleods einzustimmen.

Jetzt begann sich Donais Äußeres zu verändern: Seine Haut löste sich vom Körper, und seine Haare fielen aus. Nach wenigen Augenblicken hatte er sich in Wiskachees Marionette verwandelt und ähnelte dem Wesen, das aus seiner Nichte, Priscilla Macleod, entstanden war. Während Wiskachee die Verwandlung des Rudelführers lachend genoss, vergrub ich den Kopf zwischen den Knien und versuchte, die in der Luft liegende Magie des Hungergotts zu ignorieren, denn in einer solchen Atmosphäre als Leiter zu fungieren wäre höchstwahrscheinlich mein Todesurteil gewesen.

Jäh verstummte die unheimliche Geräuschkulisse. Als ich daraufhin die Augen wieder öffnete, hatte sich alles verändert. Wiskachee war nicht mehr das uralte, gekrümmte Etwas, das von einer grauen Hülle magischer Energie umgeben war, sondern hatte sich in etwas völlig Unglaubliches verwandelt. Ein riesiger Schatten ragte nun hinter seinem ursprünglichen Leib in den Himmel und wuchs unaufhörlich weiter. Seine körperliche Form hatte das uralte, grenzenlose Nichts, das sich im Zentrum seiner Macht befand, nicht mehr halten können. Dieser Schatten war also Wiskachee. Dieser gewaltige, alles vernichtende Hunger war der Gott der Wendigos.

»Hör auf!«, wollte ich sagen, aber angesichts der grotesken Situation entschieden sich meine Stimmbänder dafür zu schreien. Wiskachee lachte nur und riss dabei den riesigen Schlund in seinem schattenhaften Antlitz auf, um seine sägezahnartigen Zähne zu präsentieren.

»Er wird sie alle verschlingen«, knurrte mir Donal aus seinem ekelhaften neuen Mund entgegen. »Er wird jede einzelne Person in dieser Stadt bis auf den letzten Tropfen aussaugen.«

Ich zog mich hoch und stürmte auf Donal zu. Er drehte sich zu mir und streckte seine grauenhaften Pranken aus. Ich war noch keine fünf Meter an ihn herangekommen, als sich seine Krallen in meine Aura bohrten und mich mit einem stechenden Schmerz an Ort und Stelle fixierten.

»Böses Mädchen«, rief er mit dröhnender Stimme. »Ich könnte dir auf der Stelle die Seele aus dem Körper saugen. Hier ist Endstation, kleine Insoli, oder hast du noch mehr von diesen brillanten Tricks auf Lager?«

Der spöttische Klang seiner Stimme legte einen Hebel in meinem Kopf um. Obwohl ich halbtot war und eine unbekannte Macht meine Seele anzapfte – einen so herablassenden Ton konnte und wollte ich mir nicht gefallen lassen. Nicht von einem megalomanen Werwolf!

»Nur noch einen.«

»Du wehrst dich.« Donal seufzte. »Dabei hatte ich so gehofft, dass du es nicht tun würdest. Das versaut mir nämlich diesen großartigen Augenblick.« Er trat nach vorn und verringerte so den Abstand zwischen uns. Dann fuhren seine Krallen in mein Herz. Mit schmerzverzerrter Miene blieb ich stehen.

»Zu Tode erschrocken«, sagte Donal. »Köstlich.«

»Falsch!«, widersprach ich. »Ich habe nur gewartet, dass du nah genug herankommst.« Mit einer blitzschnellen Bewegung rammte ich die Spritze mit Sunnys Tinktur in seine Kehle und drückte den Kolben herunter. Sofort heulte Donal auf und wich mit wild rudernden Armen zurück. Sunnys Zauber jagte durch seine nun hell erleuchteten Adern und traf innerhalb von Sekundenbruchteilen auf die Magie des Hungergotts. Als der Kampf der Magieformen in seiner Brust entbrannte, begann Donal, spastisch zu zucken, und wurde vor- und zurückgeworfen. Extremitäten, Schädel und Organe nahmen plötzlich wieder ihre ursprüngliche Form an, während ihm Blutfontänen aus Mund und Augen schössen, und er fiel zuckend zu Boden.

Nur mit Mühe gelang es mir, seine markerschütternden Schreie zu ignorieren und in sein verzerrtes Antlitz zu schauen. Seine Augen starrten mich wie die finsteren Knopfaugen einer besonders gruseligen Kinderpuppe an.

»Er ist ein Mörder«, rief ich Wiskachee zu und zeigte auf Donais bebenden Körper. Seine Klauen hatten mich sehr geschwächt. Auch meine Stimme versagte nun, sodass ich nur noch wispern konnte: »Er hat dein Opfer getötet. Es war nicht das Blut eines Willigen, das hier vergossen wurde!«

Wiskachee starrte mir einen Moment lang in die Augen. »Tauthka du dan«, hauchte er.

»Nein!«, ächzte Donal. »Glaubst du einer dahergelaufenen Insoli mehr als mir? Ich habe dich zurückgebracht. Ich habe an dich geglaubt.«

»Möglicherweise solltest du es mal mit der Wahrheit versuchen, Macleod, dann würdest du länger leben.«

Wiskachee stieß ein zischendes Fauchen aus und zog seine Lippen zurück. Sein Gesicht schien nur noch aus rasierklingenscharfen Zähnen zu bestehen.

»Nein«, schnaufte Donal mit rasselnden Atemgeräuschen.

Anscheinend füllte sich seine Lunge langsam mit Flüssigkeit. »Nein, neinneinnein …«

»Ich frei«, zischte Wiskachee, »und hungrig!« Mit zögernden Schritten kam er auf uns zu.

»Nimm sie! Nicht mich! So einen Tod verdiene ich nicht!«, schrie Donal und versuchte, mich in Richtung des Hungergotts zu stoßen.

Wiskachee holte aus. Offensichtlich war er nicht sonderlich wählerisch, was seine Opfer anging. »Verpiss dich!«, schrie ich und trat zu. Als meine Magie mit der des Hungergotts kollidierte, durchzuckte mich ein außerordentlich starker Schmerz. Es war deutlich, dass ich chancenlos gegen ihn war. Trotzdem war ich entschlossen, bis zum Letzten zu kämpfen und mich nicht einfach so aussaugen zu lassen.

Plötzlich packte mich eine Hand von hinten an der Schulter und zog mich aus der Reichweite Wiskachees. »Untersteh dich, sie anzurühren!«, presste Lucas hervor. Er blutete stark aus den Wunden in seiner Brust und stolperte mehr, als dass er ging. Seine Lippen waren blau angelaufen und seine Pupillen durch den Schock geweitet.

Donal fixierte ihn ungläubig. »Wie kann das … wie kann das sein?«, stammelte er.

»Es ist schwer, mich zu täuschen …«, antwortete Lucas, »… aber noch schwerer, mich zu töten.«

Donal versuchte, auf Lucas einzuschlagen, aber ich fing seine Faust ab und verdrehte ihm das Handgelenk. Lucas schwankte bedrohlich und begann, krampfartig zu husten und schwarzrotes Blut zu spucken. »Denkst du wirklich, ich hätte es nicht gewusst, Donal? Denkst du wirklich, ich hätte noch nie zuvor einen Fetisch gesehen?«, grollte er. »Ich wollte sie ermorden, jeden Einzelnen von ihnen, und du hast mir die Chance dazu gegeben.«

Ich fühlte mich auf einmal, als müsste ich mich übergeben. »Du hast zugelassen, dass der Hungergott Besitz von dir ergreift?«

»Natürlich, und ich habe keinen Moment gezögert.« Seine Stimme wurde mit jedem Wort leiser. »Schließlich hatte ich nur so die Möglichkeit, diese Werwölfe zu erledigen.«

»Lucas!«, rief ich mit bebender Stimme. Auch mich holten die Folgen des Blutverlusts ein. »Was hast du getan?«

»Tut mir leid, Luna«, antwortete er. »Aber du würdest das nicht verstehen.«

Oh, Hex noch mal. »Ich würde es nicht verstehen?«, schrie ich, denn diesen Satz hatte ich schon allzu oft gehört. »Wie kannst du es wagen? Wie kannst du es verdammt noch mal wagen, Lucas? Du stößt meine Heimatstadt in den Abgrund und hast nichts Besseres als dieses dämliche ›du würdest das nicht verstehen zu bieten?!«

»Mein ganzes Leben …«, begann Lucas. »Mein ganzes Leben bestand nur aus diesem verdammten Abkommen, der entsetzlichen Armut meiner Familie und einem Vater, der seine Kinder schlug, um seine Wut über dieses Unrecht abzureagieren. Ein Leben lang auf den Knien und unter den Stiefeln der Werwölfe … das ist ungerecht! Aber ich werde es beenden, damit niemand mehr wie ich durchs Leben kriechen muss. Es ist wie eine Krankheit, die man ausbrennen muss.«

»Die Welt ist nicht nur schwarz-weiß«, flüsterte ich. »Werwölfe und Wendigos … was spielt das denn noch für eine Rolle? Wenn du etwas verändern willst, kannst du nicht einfach alles verwüsten und bei null beginnen. Was man dir angetan hat, war grausam und falsch, aber niemand kann sich sein Leben aussuchen. Wir alle bekommen nur eine Chance, und die müssen wir nutzen.«

Lucas ging in die Knie, Tränen strömten über sein Gesicht. »Ich wollte es besser machen, verstehst du? Ich wollte alles in Ordnung bringen, und der einzige Weg schien die Zerstörung zu sein. Ich musste es versuchen. Ich tat, was ich tun musste.«

Ich warf einen Blick auf Wiskachee. Der riesige Schatten wartete nur darauf, endlich jedes einzelne Lebewesen in Nocturne auszusaugen. »Ich tue auch nur, was ich tun muss«, antwortete ich, als ich Donal packte und ihn in die gierigen Arme des Hungergotts stieß.

Als sich die Krallen des Schattens in den Körper des Clanführers bohrten, stieß Donal entsetzliche Schreie aus, die diesmal allerdings wie die eines schmerzgepeinigten Menschen klangen. Als Wiskachee ihn in seinen Schatten zog, um das Leben aus ihm zu saugen, verlor erst sein Gesicht an Farbe. Nachdem das Lebenslicht aus seinen Augen verschwunden war, erschlaffte schließlich sein Körper. Am Ende sah Donal aus, als sei er schon seit einer Woche tot.

Wiskachee seufzte, und wieder überkam mich beim Anblick seiner heißhungrigen Augen, deren Blick über die Stadt ringsum schweifte, die furchtbare Vorahnung des unabwendbaren Todes Abertausender Seelen. Als er den Kopf schräg legte, um das schreiende Nocturne besser hören zu können, erschauderte ich vor Entsetzen. »So viele, an deren Fleisch ich mich laben werde. Deine Opfergabe gefällt mir, Insoli.«

»Welche Opfergabe?«, antwortete ich. »Macleod sollte dich nur ablenken, damit ich verschwinden kann.«

Kaum hatte ich ausgesprochen, nahm ich die Beine in die Hand und rannte in Richtung Straße. Hinter mir stieß Wiskachee einen heulenden Schrei aus und nahm die Verfolgung auf. Der Boden bebte unter dem Gewicht seiner unbeschreiblichen Macht.