5
Das 24. Revier wirkte wie immer, ein leicht angestaubter roter Backsteinbau mit dreckigen Fenstern, der ehemals als Feuerwache gedient hatte und vor dessen rissiger Fassade nun Streifenwagen parkten.
Doch die Ausstrahlung des Gebäudes hatte sich verändert, und als ich es nach Bryson und unserer Zeugin betrat, überraschte mich schon auf den Stufen statt eines Gefühls der Vertrautheit ein krampfartiges Zucken in der Magengegend, das ich nur von Achterbahnfahrten kannte. Auf dem Flur riss mich dann der ekelhafte Geruch schlechten Spülwasserkaffees, der sich mit dem über Jahrzehnte angesammelten Gestank verhafteter Mörder und Gewaltverbrecher mischte, fast von den Beinen. Im Vergleich zu der seichten, gefilterten Luft von Justice Plaza roch es auf dem 24. wie auf einer Müllkippe.
»Gottverdammte Scheiße«, murmelte ich so leise, dass nur ich allein es hören konnte.
»Vernehmungsraum drei«, informierte Bryson den uniformierten Beamten, der Laurel Hicks einen Besucherausweis gab und sie dann in den besagten Raum führte. Zum Glück war es mitten am Tag, sodass Rick – mein alter Bekannter, der die Nachtschichten am Empfangstresen schob – nicht arbeitete. Was ich jetzt nämlich am allerwenigsten brauchte, war ein Gespräch der Marke »Na, was treibst du denn jetzt so?«
Shelley von der Tagschicht würdigte mich kaum eines Blickes. Wir waren nie besonders gut miteinander ausgekommen, was hauptsächlich daran lag, dass sie Werwölfe für eine Gefahr für die Gesellschaft hielt und ich ihr stillschweigend den Titel des größten Miststücks des 24. Reviers verliehen hatte.
»Du wolltest mir noch sagen, was du in der Wohnung der Kleinen getrieben hast«, erinnerte mich Bryson, als wir an seinem Schreibtisch im Großraumbüro der Detectives angekommen waren. Ihm gegenüber lag mein ehemaliger Arbeitsplatz. Als ich feststellte, dass ihn noch niemand benutzte, wusste ich nicht, ob ich mich freuen oder eher ärgern sollte.
Wortlos zog ich die Wurzel aus der Hosentasche und legte sie Bryson auf den Tisch.
»Das Ding stinkt«, sagte Bryson naserümpfend. »Schlimmer als ein Altherren-Deo.« Er hatte recht, aber damit hielt ich mich nicht auf.
»Es ist ein Talisman«, sagte ich, »der mit einem Schutzzauber belegt ist. Wogegen, weiß ich allerdings auch nicht.«
»Verstehe – und warum hast du ihn diesem Häufchen Elend in Menschengestalt geklaut?«
»Da er meiner Meinung nach nicht gegen Werwölfe, Bluthexen oder die üblichen Verdächtigen wirkt, will ich einfach herausfinden, wogegen sie sich damit zu schützen versucht.«
Bryson massierte einen Punkt zwischen seinen Augen. »Du machst mich fertig! Ich kann unmöglich reingehen und sie danach fragen. Hast du eine Vorstellung, was McAllister dazu sagen wird?«
Die Tür von McAllisters Büro war verschlossen. »Nichts«, antwortete ich erleichtert. »Er ist nämlich nicht da.«
»Egal«, sagte Bryson. »Ich werde ihre Aussage aufnehmen. Derweil kannst du einen Blick in die Akten der anderen drei Morde werfen. Aber untersteh dich, dich an meinen Keksen zu vergreifen!« Trotz seiner eindeutigen Ermahnung hielt Bryson es für sicherer, die Kekspackung im mittleren Fach seines Schreibtischs zu verstauen.
»Klar, ich helfe dir doch gern!«, rief ich und öffnete gleichzeitig die Schublade, um mir einen der Doppelkekse zu stibitzen. Er schmeckte wundervoll! Dann tat ich, als läse ich die Fallakten. Kaum war Bryson im Vernehmungsraum drei verschwunden, sprang ich auf, hastete den Flur hinunter und schlüpfte in den nikotinverpesteten Beobachtungsraum, um das Gespräch durch den Einwegspiegel zu verfolgen. Dort schaltete ich rasch die Lautsprecherboxen ein, über die man als Zuschauer die Vernehmung mitanhören konnte.
»Dann erzählen Sie mir jetzt bitte genau, was in dieser Nacht passiert ist, und lassen Sie nichts aus, Miss Hicks«, begann Bryson die Befragung.
Laurel zitterte bei jedem Wort aus Brysons Mund. Langsam schien die Wirkung von was auch immer sie genommen hatte nachzulassen. »Ich weiß nicht, ob ich Ihnen eine große Hilfe sein werde. Eigentlich habe ich nichts gesehen …«
»Erzählen Sie einfach, was passiert ist«, redete Bryson auf sie ein. »Ich weiß, es ist schwer, aber ich bitte Sie, Miss Hicks … Ihre Aussage könnte die erste brauchbare Spur in diesem Fall sein.«
»Was für eine Wandlung«, brummte ich lächelnd, während ich mir Schokocreme vom Daumen leckte. »Wer hätte geahnt, dass sich ein einfühlsamer Mensch unter den billigen Anzügen und der Pomade versteckt?«
»Gerard hatte Bertrand losgeschickt, um einen Typen auszuzahlen. Sie trafen sich an einer Raststätte am Highway 21. Ich musste im Wagen warten, weil Bertrand nicht wollte, dass ich etwas mit seinen Geschäften zu tun hatte. Zu diesem Treffen hatte er eine Pistole mitgenommen, obwohl er eigentlich nie eine Schusswaffe brauchte, weil er … nun …«
»Er brauchte keine Schusswaffe, weil er ein furchteinflößender Riesenwerwolf war«, beendete Bryson ihren Satz. »So viel habe ich schon mitbekommen. Gut, er bezahlt also diesen Typen – und dann?«
»Ahm. Danach war er schlecht gelaunt. Er sagte, Gerard sei ein Idiot, weil er die Abmachung, die das Rudel mit diesem Typen hatte, einfach so beendete, aber ich dachte mir nichts dabei, da er sich oft über Gerard aufregte, und bis wir im Naturschutzgebiet ankamen, hatte er sich beruhigt. Wir waren zelten … Bertrand liebte es zu zelten … im Sommer war er mindestens einmal im Monat draußen.«
»Ist Ihnen jemand gefolgt?«, fragte Bryson und spielte mit einer Büroklammer. »Hatte Bertrand Ärger mit dem Kerl, den er ausgezahlt hat?«
»Nein.« Laurel schüttelte den Kopf. »Irgendwann ist das Feuer ausgegangen …«, berichtete sie weiter und kämpfte wieder mit den Tränen. Nachdem sie ein Taschentuch genommen und sich einigermaßen beruhigt hatte, starrte sie wie versteinert geradeaus. Für einen Moment schien das Blinken an Brysons Digitalrekorder das einzige Zeichen von Leben in der Stille des Vernehmungsraums zu sein.
»Das Feuer ging aus«, drängte Bryson, »und?«
»Dann ging Bertrand los, um Holz zu suchen …«, wisperte Laurel und brach erneut ab. Schließlich forderte Bryson sie mit einer Geste zum Weiterreden auf. Laurel fuhr fort: »Er ist weggegangen, um neues Holz zu suchen. Die Pistole und die Taschenlampe hat er dagelassen.«
Wie alle Werwölfe hatte auch Lautrec hervorragend in der Dunkelheit sehen können und daher keine Taschenlampe gebraucht. Warum er allerdings die Pistole liegen gelassen hatte, war mir ein Rätsel – eigentlich hätte er einen möglichen Angreifer riechen müssen, schließlich war er kein unerfahrener Großstadt-Werwolf beim ersten Ausflug aufs Land gewesen.
»Plötzlich wurde der Wind stärker«, berichtete Laurel. »Äste und Erde flogen gegen das Zelt, und ich bekam Angst. Da griff ich mir die Lampe und bin raus, um Bertrand zu suchen. Die ganze Gegend lag plötzlich in dichtem Nebel. Er kam vom Meer und war sehr klamm, wie nach einem Regenguss. Schon nach wenigen Schritten waren mein Haar und meine Haut ganz nass.«
Ich richtete mich auf, beobachtete sie durch das Glas. Ihre Stimme klang ungekünstelt und ehrlich. Sie hatte sich vorgebeugt, um Bryson ins Gesicht sehen zu können, und ihre Finger spielten mit einem Papiertaschentuch. Alles deutete darauf hin, dass Laurel die Wahrheit sagte. Nur ihre Bemerkung zum feuchten Nebel wollte nicht ganz ins Bild passen. Seit Wochen hatte es nicht mehr geregnet, weder im Tal noch in den Hügeln. Die Luft war so trocken, dass mir regelmäßig die Nasenschleimhäute verkrusteten. Auch das Sierra Fuego Preserve machte seinem Namen alle Ehre und war dauernd wegen Waldbränden in den Nachrichten.
Falls Laurel in der Nacht, in der ihr Freund ums Leben gekommen war, tatsächlich im feuchten Nebel umhergeirrt war, hatte das nichts mit dem Wetter zu tun gehabt.
»Ich bin Betrands Fußspuren gefolgt und war schon nach ein paar Metern von Zweigen und Ästen völlig zerkratzt«, flüsterte Laurel. »Dann hörte ich einen Schuss.«
Bryson trommelte nervös mit den Fingern auf der Tischkante. »Was haben Sie gesehen?«, wollte er mit leuchtenden Augen wissen.
»Nichts«, sagte Laurel.
Bryson sackte zusammen. »Was? Sie veralbern mich. Sie sind allein da draußen in der Nacht, folgen Bertrand in den verdammten Wald, hören einen Schuss und wollen nichts gesehen haben?«
»Ich sah Bertrand. Er lag auf dem Rücken … mit offenen Augen und einem Loch in der Stirn«, entgegnete Laurel langsam und traurig. »In der Luft lag ein eigenartiger Geruch.«
»Schießpulver«, murmelte ich.
»Was ist mit dem Killer?« Brysons Finger unterbrachen ihr rhythmisches Trommeln. »Vom Killer haben Sie gar nichts gesehen?«
»Ich habe niemanden gesehen«, sagte Laurel. »Nur Bertrand. Wie er am Boden lag.« Traurig senkte sie den Kopf. »Ich würde jetzt gerne gehen, Detective.«
»Gut«, brummte er, schaute auf seine Armbanduhr und hielt den Digitalrekorder vor den Mund. »Befragung beendet um dreizehn Uhr zwanzig.« Nachdem er ihn ausgeschaltet hatte, legte er den Rekorder wieder weg. »Warten Sie einen Augenblick, Miss Hicks, ich werde schauen, dass Sie jemand nach Hause fährt.«
Auf dem Flur überraschte ich Bryson, als er aus dem Vernehmungszimmer kam. »Gott im Himmel, Wilder! Hast du mir etwa nachspioniert?«
»Spionieren würde ich es nicht nennen, schließlich arbeiten wir beide für das NCPD. Was hältst du von Hicks und ihrem Bericht?«
»Was ich von ihr halte? Ich halte sie für gottverdammt nutzlos«, entgegnete Bryson. »Sie hat den Mörder ihres Freundes entkommen lassen!«
»Die Frau ist eine verfluchte Krankenschwester«, sagte ich, »und nicht John Rambo. Ich für meinen Teil habe langsam den Eindruck, dass wir es hier mit einem wirklich außergewöhnlichen Fall zu tun haben.«
»Komm mir jetzt bloß nicht mit deinen Spukgeschichten«, ächzte er und ging zur Kaffeemaschine, wo er sich eine große Tasse schwarzen Kaffees einschenkte, in die er drei Tütchen Zucker schüttete. »Du sollst mir helfen, den Fall zu lösen, und mich nicht fortwährend entmutigen! So werde ich nie befördert.«
»Man hat Lautrec wie alle anderen Opfer aus nächster Nähe mit einer Pistole ohne Schalldämpfer erschossen«, fasste ich zusammen. »Man wollte seine Leiche nicht im Naturschutzgebiet verstecken, wie wir anfangs glaubten. Stattdessen hat ihm dort jemand oder besser gesagt etwas aufgelauert, ihn beseitigt und ist danach so schnell verschwunden, dass weder Laurel noch sonst irgendjemand etwas hätte sehen können.«
In vier tiefen Zügen schluckte Bryson den Kaffee. »Ich glaube nicht an dein Etwas oder an Geister, Wilder! Werwölfe und Bluthexen, schön – meinetwegen auch Dämonen –, aber ich lasse mir nicht erzählen, dass ein unsichtbarer Mörder Lautrec um die Ecke gebracht hat.«
»Ich sage nicht, dass es ein Geist war, David«, wandte ich ein. »Die Geldübergabe war offensichtlich eine Falle. Ich denke, Duvivier hat jemanden damit beauftragt, Lautrec umzubringen, um seinen Status im Rudel nicht zu gefährden. Einen Mord im Territorium hätte er den Rudelältesten in Montreal erklären müssen, aber da man Lautrec außerhalb der Stadt gefunden hat, steht Duvivier mit weißer Weste da.«
Ich tat Bryson einen Riesengefallen. Bei einem Mord an einem Rivalen innerhalb eines Werwolfsrudels bestand keine Notwendigkeit für das NCPD, allzu nachhaltig zu ermitteln. So war es absolut legitim, wenn Bryson den Fall auch ohne Ermittlungsergebnisse zu den Akten legte. Entgegen meiner Gewohnheit war ich auf dem besten Weg, die Toten dieses Mal ruhen zu lassen, statt ihnen zu schwören, für Gerechtigkeit zu sorgen.
Wilder, du bist kein Detective mehr. Lass sie ruhen!, mahnte eine Stimme in meinem Kopf.
»Gut, aber da sind noch die anderen drei Mordfälle, bei denen ich genauso im Dunkeln tappe«, wandte Bryson niedergeschlagen ein und wies auf die Fallakten auf seinem Schreibtisch.
»Gib mir ein paar Stunden Zeit, ich werde mir das mal ansehen«, versuchte ich, ihn aufzumuntern, während eine Kollegin Laurel Hicks zum Ausgang führte. Als sie an uns vorbeiging, warf sie mir einen langen, unglücklichen Blick zu und wandte sich dann mit einer energischen Bewegung ab.
»Tu dir keinen Zwang an«, sagte Bryson. »Der Karren steckt schon so tief im Dreck, dass es nur noch besser werden kann.«
»Wenn du mir einen Kaffee und einen Bagel spendierst, bleibe ich, bis TAC-3 mich ruft, um die Welt zu retten«, sagte ich. Derzeit war es mir lieber, im 24. neben Bryson zu sitzen und in Mordakten zu stöbern, als heimzugehen. Darüber, wie gestört dieses Verhalten war, wollte ich nicht nachdenken.
Zugegebenermaßen genoss ich es, dass Bryson losging, um mir meinen Wunsch zu erfüllen. In der Zwischenzeit setzte ich mich an seinen Schreibtisch und versuchte herauszufinden, welcher der ermordeten Werwölfe zu welchem Rudel gehört hatte und in welcher Verbindung sie zu Gerard Duvivier gestanden haben mochten.
Als ich mich über die Akten beugte, wurde mir klar, wie sehr ich es vermisst hatte, mich in einen Fall zu vertiefen und meinen Gedanken freien Lauf zu lassen, um in mühevoller Kleinarbeit den Ansatz für eine Theorie aus den Indizien und Hinweisen herauszuarbeiten.
»Werden wir jetzt sentimental?«, brummte ich und blätterte die Berichte der State Police durch. Man hatte alle vier Leichen fernab bekannter Zufahrtsstraßen und illegaler Müllkippen in einem Radius von fünfzig Meilen rings um das Sierra Fuego Preserve gefunden. Lautrec war das erste Opfer gewesen. In den darauffolgenden sechs Wochen hatte man dann erst die Leiche der attraktiven Blondine Priscilla Macleod und etwas später die der anderen beiden Werwölfe entdeckt.
Beinahe lautlos stellte Bryson eine Kaffeetasse mit mokkafarbenem Inhalt und einen mit Frischkäse bestrichenen Sesambagel neben mir auf den Tisch. »Wow, du erinnerst dich tatsächlich, wie ich meinen Kaffee trinke?«, fragte ich reichlich verdutzt.
»Wilder, fast zwei Jahre lang hast du deinen süßen Arsch an den Schreibtisch gegenüber meinem gepflanzt … ganz so unachtsam, wie du möglicherweise denkst, bin ich dann doch nicht.«
»Rührend. Das tote Mädchen, Priscilla, ist von den War Wolves.« Ich tippte mit dem Zeigefinger auf den keltischen Knoten an ihrem Hals. »Die Tätowierung kenne ich. Schottisch. Ich glaube, einige Mitglieder ihres Rudels betreiben diese illegalen Wettschuppen in Mainline. Bei den anderen beiden wird es schwieriger.« Viel schwieriger sogar, da ich Dmitri nicht um Hilfe bitten konnte.
»Welche Verbindung besteht zwischen denen und Lautrec?«
»Das ist doch eher dein Job, David«, entgegnete ich, während ich die Wurzel aus Lauras Wohnung in ein Beweismitteltütchen steckte und in meiner Jackentasche verschwinden ließ. »Ich werde unterdessen versuchen, etwas über die Rudel der anderen beiden Opfer herauszufinden.«
»Gut, dann sehe ich mir einstweilen mal Miss Macleods Vorstrafen an. Vielleicht bringt uns das weiter. Melde dich einfach, wenn deine haarige Schnüffelnase was findet, ja?«
Ich hatte schon den Mund geöffnet, um ihn wegen seines dämlichen Kommentars anzuschreien, da schnitt mir ein Tumult im Eingangsbereich das Wort ab.
»Ruhe!«, dröhnte Shelley. »Beruhigen Sie sich!«
»Wir wollen die Verantwortlichen sprechen!«, fauchte eine tiefe Stimme mit Akzent sie an. »Versuchen Sie ja nicht, mich hier abzuwimmeln, Fräuleinchen!«
Oh mein Gott. War das ein schottischer Akzent?
»Ich denke, wir sollten mal schauen, was da los ist«, flüsterte ich, als der unverwechselbare Geruch wütender Werwölfe nicht mehr zu leugnen war.
»Hex noch mal, was ist jetzt schon wieder los?«, fluchte er lautstark und stürmte zum Empfangstresen. Ich folgte ihm und baute mich neben ihm auf, als er kurz hinter dem Metalldetektor stehen blieb.
»Ach du Scheiße«, flüsterte ich mit einem Blick auf die sechs Werwölfe vor dem Tresen, von denen einige Anzüge, andere eher legere Bekleidung trugen. Unter ihnen waren drei Männer mit asiatischen Zügen, die helle Satinjacken und enge dunkle Hosen trugen und mit ihren Stachelfrisuren sehr auffielen.
Der Mann mit dem beeindruckenden Sean-Connery-Akzent pochte wuchtig mit der Faust auf Shelleys Tresen. Neben ihm stand ein Kamerateam von NC-1 – der schrillsten und sensationslustigsten Nachrichtensendung in Nocturne City- und filmte die ganze Szene. Mir schwante Böses, denn nach dem Duncan-Fall hatte NC-1 eine Sondersendung mit dem Titel »Die Blutspur der Wölfin« über mich produziert.
»Ich verlange eine Erklärung!«, donnerte der War Wolf. »Ich verlange, dass Detective Bryson mir persönlich erklärt, was er wegen des Mordes an meiner Nichte unternimmt!«
Auf dem Kopf von Priscillas Onkel waren erste graue Strähnen zu sehen. Hände, Hals und Gesicht waren von einer beeindruckenden Anzahl an Narben überzogen, von denen eine vom Mundwinkel bis hinters Ohr reichte. Hätte ich es nicht besser gewusst, ich hätte darauf getippt, dass der Mann in seiner Freizeit Bierdosen kaute. Als der War Wolf nochmals mit der Faust auf den Tresen hämmerte, machte sich selbst in den Augen der unerschütterlichen Shelley langsam Panik breit.
»Ich will Bryson sprechen, und zwar sofort!«
»Hier steht er! Ich bin der, den Sie suchen«, verkündete Bryson prahlerisch. Sogleich richteten sich sechs wütende Augenpaare auf ihn, während gleichzeitig sechs Oberlippen nach oben schnellten und rasiermesserscharfe Reißzähne freilegten. Am liebsten wäre ich Bryson in diesem Moment selbst an die Gurgel gegangen.
»Hast du nicht mal gesagt, du wolltest nicht als Werwolffutter enden?«, flüsterte ich ihm von hinten zu. »Glückwunsch, du Angeber, scheint so, als wärst du deinem ultimativen Albtraum gerade ein Stück näher gekommen.«
»Scheiße«, wisperte Bryson. Lauter sagte er: »Leute, ich tue alles, was in meiner Macht steht! Ich bearbeite Ihre Fälle mit höchster Priorität.«
»Höchste Priorität?«, fauchte einer der Asiaten und schnellte geschmeidigen Schritts nach vorn, um sich mit verschränkten Armen vor Bryson aufzubauen. Er war schnell, verdammt schnell sogar. Seine beiden Mitstreiter positionierten sich links und rechts neben ihm und ließen ihren Befehlshaber keinen Moment aus den Augen. »Nach sechs Wochen Ermittlungsarbeit haben Sie weder brauchbare Spuren noch Tatverdächtige! Unter höchster Priorität verstehe ich etwas anderes.«
»Entweder Sie verschwinden jetzt oder ich lasse Sie rauswerfen!«, heizte Shelley die Stimmung weiter an. »Sie können hier nicht einfach so hereinstapfen und ein solches Theater veranstalten!«
»Wagen Sie es nicht, uns aus einer öffentlichen Dienststelle jagen zu wollen!«, knurrte der War Wolf. »Als Steuerzahler haben wir ein Recht darauf, hier zu sein und Fragen zu stellen.«
»Bei allem Respekt, aber bis eben wusste ich noch nicht einmal, dass Sie überhaupt Steuern zahlen!«, schoss Shelley zurück, »und jetzt krabbeln Sie besser wieder in Ihre Höhle und lausen sich gegenseitig, bevor Sie größere Scherereien mit dem NCPD bekommen, als Ihnen lieb ist.« Als sie zum Hörer griff, um ihre Drohung wahr zu machen, presste der War Wolf ein bedrohliches Knurren hervor und ging in die Hocke, um sich auf sie zu stürzen.
»Tun Sie das nicht!«, rief ich und stellte mich schützend vor Shelley. Natürlich hatte sie verdient, was der alte War Wolf mit ihr vorhatte, aber trotz allem war sie meine Kollegin. »Bitte, können wir das nicht friedlich regeln?«
Der War Wolf musterte mich von Kopf bis Fuß, schnüffelte kurz an mir und starrte mir dann feindselig in die Augen, während die restlichen Wölfe einfach abwarteten, was als Nächstes geschehen würde.
Toll. Wenn dem Alten mein Geruch nicht passte, würden mich die anderen in Sekundenschnelle zu praktischen Grillsteaks verarbeiten.
»Eine Insoli auf einem Polizeirevier?«, zischte er. »Wer zum Teufel sind Sie?«
»Luna Wilder ist mein Name«, antwortete ich. »Bis vor Kurzem war ich Detective des Morddezernats.«
»Das ist Hausfriedensbruch!«, keifte Shelley, die augenscheinlich durch mein Einschreiten wieder angriffslustiger geworden war.
»Hören Sie …«, fuhr ich sie an. »Ich weiß, es fällt Ihnen verdammt schwer, diese Müllkippe in Ihrem Gesicht geschlossen zu halten, aber versuchen Sie es einfach, ja?«
»Ja, Shelley«, schaltete sich Bryson ein. »Ab jetzt haben Sie Sendepause.«
Unfassbar – Bryson unterstützte mich! Scheinbar geschahen doch noch Zeichen und Wunder. »Ich möchte mich für das Verhalten der Kollegin entschuldigen«, sprach ich den War Wolf an. »Was können wir für Sie tun?«
»Sie sind wirklich die Luna Wilder?«, erkundigte sich die NC-1-Reporterin mit weit aufgerissenen Augen. Es war Janet Bledsoe, eine kesse Brünette, die die Bezeichnung »investigativer Journalismus« als Entschuldigung für lächerliche Doku-Soaps über schmierige Gebrauchtwagenhändler und Pflegeskandale