Ich starre Harry an, dann meine Mom, dann Jaden und zum Schluss wieder meine Mutter. Einige Minuten hängt Harrys Geständnis wie ein Regenschauer in der Luft, der nicht schwer genug ist, um den Boden zu erreichen.
Ich bin die Erste, die ihre Sprache wiederfindet. »Hast du das gewusst?«, frage ich meine Mom, doch sie blickt Harry verständnislos an, als hätte er gerade eine Fremdsprache benutzt.
»Mom, hast du davon gewusst?«
Ich spüre Jadens Hand auf meinem Arm und wende mich ihm zu. »Und du, wie lange weißt du schon davon? Die ganze Zeit?« Meine Stimme ich gefährlich leise und dabei fällt mein Blick auf die Uhr, die an der Wohnzimmerwand hängt. Mist, meine Schicht im Firework hat vor vier Minuten begonnen.
»Nein, ich habe es heute Nacht selbst erst erfahren.«
Die Einzige, die noch nichts gesagt hat, ist Mom. Wie gelähmt sitzt sie in ihrem Rollstuhl und starrt Harry an.
»Du?!«, bricht es dann aus ihr heraus, »aber warum? Wieso erzählst du mir es erst jetzt?« Ihre Stimme wird immer leiser und zum Schluss ist sie kaum mehr als ein Flüstern, so tief sitzt der Schock.
Aufgeregt beginnt Harry den Raum abzulaufen. »Ich bin seit mehr als zwanzig Jahren Alkoholiker. Der Druck des Erfolgs wurde irgendwann zu groß, besonders als er sich mit zunehmendem Alter nicht mehr wie selbstverständlich einstellte. Ich kam damit nicht zurecht, selbst als ich nur noch als Trainer arbeitete. Trank immer mehr, fand nur noch Erlösung in einem Rausch. Eines Nachts fuhr ich von einer Bar vollkommen betrunken nach Hause. Mit meinem neuen schwarzen Ferrari, den ich einen Tag zuvor gekauft hatte. Das Auto hatte eine Menge PS und ich war es nicht gewohnt, damit zu fahren. Als ich eine Kurve schnitt, verlor ich für einen Augenblick die Kontrolle und erfasste eine Fußgängerin, die die Straße überquerte. Ich bekam sofort Panik und gab Gas. Am nächsten Tag konnte ich mich an nichts erinnern. Es war, als wäre mein Gehirn blockiert. Nur bruchstückhaft und ganz verschwommen hatte ich Erinnerungen an diese Nacht. Jaden fand mich im Auto sitzend und entdeckte die Unfallspuren am Wagen. Ein alter Freund von mir ließ das Auto verschwinden und ich nahm ein Jobangebot aus Spanien an, das ich zwei Tage zuvor erhalten hatte. Ireland, als du mir gestern von deinem Unfall erzählt hast, waren plötzlich alle Bilder wieder da. Als wäre es gerade erst geschehen.«
»Ich kann es nicht fassen«, murmele ich leise, ohne meine Augen von Harry zu nehmen.
Plötzlich bleibt Harry vor Mom stehen und kniet sich hin, um mit ihr auf Augenhöhe zu sein. »Du musst mir glauben, dass es ein Unfall war. Wenn ich könnte, würde ich es ungeschehen machen. Oder an deiner Stelle in diesem Rollstuhl sitzen.«
»Hüte dich vor deinen Wünschen, sie könnten schneller in Erfüllung gehen, als dir lieb ist.« Meine Wut ist greifbar und erfüllt den ganzen Raum.
»Ava!« Die Stimme meiner Mutter ist sanft, duldet jedoch keinen Widerspruch. »Es ist nun mal so, wie es ist und nicht mehr zu ändern. Was hast du jetzt vor?«, fragt sie Harry.
»Ich werde mich der Polizei stellen und meine Strafe bedingungslos annehmen. Nur möchte ich dir vorher noch etwas sagen«, Harry räuspert sich und setzt zum Sprechen an, als mir der Geduldsfaden reißt.
»Mom, du wirst doch nicht auf sein Geschwafel hereinfallen? Ich weiß nicht, was diese beiden von uns wollen, doch ich höre im Moment nichts als gequirlte Scheiße.«
»Ava!«, ruft meine Mutter ein zweites Mal.
»Schenkst du diesem Geschwätz etwa Glauben? Ich weiß nicht, worauf sie hoffen, doch für mich gibt es nur einen Weg und der führt mich jetzt sofort zur Polizei.«
Ich springe auf, doch Jaden hält mich fest. »Nein, warte! Nicht so schnell. Du solltest meinen Dad zumindest zu Ende anhören.«
Damit ist ja klar, auf wessen Seite Jaden steht, nämlich nicht auf meine. Ich reiße mich von ihm los, setze mich aber wieder.
»Ireland«, fährt Harry fort und greift nach der Hand meiner Mutter, »was auch immer als Nächstes passiert – ich möchte, dass du weißt, ich habe dich nie belogen. Ich wollte immer, dass du für mich arbeitest. Ich war glücklich in der Zeit, die ich mir dir verbringen durfte und ich habe mich in dich verliebt. Auch wenn es sich kindisch anhört für einen Mann jenseits der Fünfzig.« Zu allem Überfluss küsst er auch noch Moms Hand und ich komme mir nun wirklich wie in einer verdammten Soap vor.
»Mom«, rufe ich außer mir, »bitte wach auf!«
Ich sehe ihren überraschten Gesichtsausdruck und ihre glänzenden Augen. »Harry, ich glaube, das ist etwas, was wir beide allein besprechen sollten. Die Kinder haben damit nichts zu tun.«
»Das fasse ich jetzt nicht. Ich werde das einzige Vernünftige tun und zur Polizei fahren.«
Ich springe auf, doch meine Mutter hält mich zurück. »Ava!« Ihr Ton ist eisig und trifft mich wie ein Peitschenschlag. »Du wirst jetzt genau das tun, was ich dir sage. Du schnappst dir Jaden und verziehst dich auf dein Zimmer. Nichts, was du hier gehört hast, wird diesen Raum verlassen. Ich werde das mit Harry allein klären. Die Polizei wird uns nicht weiterbringen. Keine Strafe der Welt bringt mich aus diesem verdammten Rollstuhl heraus. Also halte dich da heraus und lass mich das selber klären.«
Es ist das erste Mal, dass ich meine Mutter fluchen höre.
Jaden schnappt meine Hand und zieht mich aus dem Raum. »Wo geht es du deinem Zimmer?«, fragt er und ich zeige auf die Treppe nach oben.
»Die zweite Tür links.«
Als sie sich hinter uns schließt, ist es für mich, als hätte ich meine Mutter im Stich gelassen.
Bockig setze ich mich auf die Fensterbank und schaue aus dem Fenster. Ich wünsche mir, Jaden würde mich allein lassen, doch diesen Gefallen tut er mir nicht. Zumindest hat er so viel Feingefühl, mich nicht zu berühren.
»Weißt du, Ava, einerseits bin ich ziemlich sauer auf Harry, aber andererseits kann ich ihn auch gut verstehen, dass er sich in deine Mom verliebt hat ...«
»So einen Quatsch, du glaubst ihm das doch wohl nicht? Er mag ja vielleicht diesen Schwachsinn glauben, den er da von sich gibt, aber es ist doch offensichtlich, dass sein schlechtes Gewissen aus ihm spricht. Ich glaube ihm jedenfalls kein Sterbenswörtchen.« Ich könnte ausrasten, so wütend bin ich.
»Und mir? Glaubst du wenigstens mir?« Er steht verloren vor mir und sieht mich fragend an.
Ich möchte ihm antworten, kann es aber nicht. Daher bleibe ich lieber stumm.
»Ava, bitte! Du hast mir ein Versprechen gegeben, erinnerst du dich? Du wolltest nie an meinen Gefühlen zweifeln und jetzt tust du es doch.«
Enttäuscht setzt er sich auf mein schmales Bett und rauft sich die Haare. Er ist so niedergeschlagen, dass ich am liebsten zu ihm gehen würde, um ihn zu trösten, doch ich kann es nicht.
»Jaden, hast du dir mal Gedanken über die Konsequenzen gemacht? Wir können unmöglich zusammen sein, nach dem was geschehen ist.«
»Aber warum denn nicht?«
»Warum nicht? Glaubst du denn, sie könnte ihm verzeihen? Sie wird ihn nie wiedersehen wollen. Wie sollten wir denn eine Beziehung aufbauen und glücklich werden, wenn es die beiden nie werden können?« Meine Hände zittern und ich bin nicht in der Lage, es zu unterdrücken. Mein Leben geht gerade den Bach runter, dabei war ich der Meinung, es endlich im Griff zu haben. Verfluchte Scheiße!
»Dann lass uns beide abhauen!«
»Oh ja, noch so eine grandiose Idee. Ich brenne mit dir durch, um was zu tun, Jaden? Um als Bedienung in einer zweitklassigen Bar zu enden, nachdem du mich sitzen gelassen hast und ich keinen Mut finde, zurückzukehren? Oh nein, sorry, aber da erwarte ich mehr von meinem Leben.«
»Hey, Sugar Baby, ich würde dich niemals verlassen. Wie kommst du auf diese Idee? Ich liebe dich, du bist mein Leben, nichts auf der Welt wird mich von dir trennen können, außer du willst mich nicht mehr.«
Jaden ist zu mir herübergekommen und setzt sich zu mir an das Fenster. Er berührt mein Gesicht, streicht mir die Locken über die Schultern. Er sieht so schön aus, dass es mein Herz fast zerdrückt. Ich liebe ihn so sehr, dass es wehtut und wünschte, ich könnte es ihm sagen.
»Bitte, habʼ doch ein wenig Vertrauen zu mir.«
Was soll ich nur tun? Ich bin vollkommen ratlos.
»Ava, findest du nicht, dass es die Entscheidung deiner Mom ist, wie es weitergeht?«
»Nein, Jaden! Harry hat eine Straftat begangen und ich verstehe einfach nicht, dass du ihn schützt. Vater hin, Vater her. So viel ist also deine Liebe zu mir wert? Aber ich bin es ja selbst schuld, was hätte ich von einem reichen Typen mit Angeberauto auch anderes erwarten sollen?« Ich bin völlig außer mir, weil ich nicht verstehe, dass Jaden nicht einsieht, dass man seinen Vater zur Rechenschaft ziehen muss.
»Eine Bestrafung nützt doch niemandem etwas, ganz besonders deiner Mom nicht. Harry ist in der Lage, ihr auf ganz andere Weise zu helfen.«
Mittlerweile ist Jaden aufgesprungen und in seine Worte mischt sich Wut.
Plötzlich geht mir ein Licht auf. »Glaubt ihr wirklich, dass ihr euch mit Geld freikaufen könnt? War das von Anfang an euer Plan? Wollt ihr unser Schweigen mit Geld und vorgetäuschter Liebe erkaufen? Aber ohne mich, da spiele ich nicht mit.« Wütend springe auch ich auf.
»Bist du jetzt total verrückt geworden?«, blafft er mich an und zeigt mir damit endlich sein wahres Gesicht.
»Nein, Jaden. Nicht verrückt! Ich sehe wieder klar. Ich wusste von der ersten Sekunde an, dass du nur Ärger bedeutest. Ich habe direkt erkannt, dass man dir nicht trauen kann. Und ich bin noch nicht einmal überrascht! Scher dich zur Hölle!«
Ich schnappe meinen Autoschlüssel und laufe aus dem Zimmer. Als ich die unterste Treppenstufe erreiche, höre ich Jaden brüllen: »Da bin ich bereits! Kapierst du das denn nicht, Ava?!«
Die Haustür kracht so laut hinter mir ins Schloss, als ich aus dem Haus stürme, dass sicher niemand mein Schluchzen hören kann. Das Letzte, was ich sehe, als ich in den Rückspiegel meines Käfers schaue, während ich mit durchdrehenden Reifen vom Grundstück fahre, ist Jaden, der aus dem Haus stürzt. Er schreit etwas, aber das kann ich schon nicht mehr hören …
Fortsetzung folgt in ...
Jaden - Kissing a fool