Als ich am frühen Morgen erwache, sitzt Harry an meinem Bett. Erschrocken weiche ich im ersten Moment zurück, weil ich vom Schlaf noch ganz benommen bin. »Mensch Dad, hast du mich erschreckt.«
»Entschuldigung, mein Sohn, das wollte ich nicht.«
»Wie spät ist es?« Verschlafen schaue ich auf meinen Wecker. Halb sieben.
»Was machst du so früh hier?«, will ich wissen. »Hast du überhaupt geschlafen?«
»Keine Minute. Ich habe geduscht und versucht, erst einmal nüchtern zu werden«, gesteht Harry.
»Was hast du jetzt vor?« Auf mich macht mein Vater einen ziemlich nüchternen Eindruck, auch wenn der Schein vielleicht trügt. So furchtbar kann sein Rückfall gestern also doch nicht gewesen sein. Ich weiß allerdings, was nur ein Schluck bei einem trockenen Alkoholiker ausrichten kann. »Wirst du dir hier eine Gruppe suchen?«
Es braucht einige Zeit, bis Harry sich zu einer Antwort durchringt. In Spanien war er den Anonymen Alkoholikern beigetreten, wobei das Wort anonym bei ihm einen ganz anderen Stellen Wert bekam.
»Ja, aber nicht hier in New Haven. Ich werde in New York eine Einzeltherapie machen.«
Ich nicke stumm. Das ist eine gute Idee, auch wenn ich hoffe, dass dieser Aussetzer gestern das bleibt, wonach es aussah: ein Ausrutscher in einer Ausnahmesituation.
Ich verschwinde schnell ins Bad, dusche kurz und ziehe mich an. Als ich wieder ins Zimmer komme, sitzt mein Vater immer noch an der gleichen Stelle.
»Lust auf Frühstück?«, frage ich ihn.
»Musst du nicht zur Schule?«
Ich hebe die Schultern. »Ich gebe mir heute frei.«
Wir fahren in ein Café nach Camden. Hier ist die Chance, dass man Harry erkennt, geringer und wir können in Ruhe reden. Das Frühstück mit Rührei und Bacon, Bagel und Fruchtsaft rühren wir beide kaum an, dafür werden unsere Kaffeetassen regelmäßig nachgefüllt.
»Wirst du es Ireland sagen?«, frage ich vorsichtig nach, weil mir klar ist, welche Folgen dieses Geständnis haben wird.
»Ja, noch heute werde ich zu ihr fahren und es ihr erzählen. Ich bin es ihr schuldig, dass sie die Wahrheit erfährt, auch wenn ich mit den Konsequenzen leben muss. Ich habe eine Straftat begangen und muss mich dafür verantworten.«
Mir wird plötzlich übel. Das ist ein großer Schritt und ich habe keine Ahnung, wie Ireland es auffassen wird, aber ich weiß, dass es Ava mit Sicherheit den Boden unter den Füßen wegreißen wird. Dies wird zur ersten und schlimmsten Belastungsprobe unserer Beziehung werden und ich bin mir sicher, dass sie ihr nicht standhalten wird. Doch ich habe im Moment keine passende Lösung parat.
»Was ist, wenn Ireland dich anzeigt?« Ich versuche mir dieses Szenario erst gar nicht vorzustellen.
»Dann werde ich meine Strafe annehmen, wie immer sie auch ausfallen wird. Ich überlege, ob es nicht vernünftiger wäre, direkt zur Polizei zu gehen. Doch ich will es Ireland persönlich sagen und mich bei ihr entschuldigen.«
»Du weißt, dass ich mit Ava zusammen bin?«
Das Aufflackern in Harrys Augen zeigt mir, dass ihn diese Neuigkeit überrascht.
»Und liebst du sie?«
»Ja«, antworte ich, ohne zu zögern, »ja, ich liebe sie und will sie nicht verlieren. Ich werde auf jeden Fall um sie kämpfen, egal, wie das heute ausgeht. Willst du allein mit Ireland sprechen?«
Wir sitzen an einem Fensterplatz und Harry starrt auf die belebte Straße hinaus, dann trinkt er einen Schluck Kaffee, wie um sich zu stärken und sagt: »Ich würde mich freuen, wenn du mich begleitest. Weißt du Junge, ich kann dich gut verstehen, ich habe mich nämlich auch verliebt, und zwar in Ireland.«
Mir bleibt im wahrsten Sinne des Wortes die Spucke weg. »Das glaube ich jetzt nicht!« Ich knalle unsanft die Kaffeetasse auf den Tisch, sodass einige Spritzer sich auf dem Resopal verteilen. »Ich liebe Ava, warum funkst du mir dazwischen? Wenn sie herausfindet, was du getan hast, dann wird sie mir das nie verzeihen, und dir auch nicht. Außerdem, du kannst Ireland nicht lieben, du kennst sie ja nicht einmal richtig.«
Unsere Blicke treffen sich.
»Du kennst Ava genauso wenig und liebst sie auch. Warum gelten nicht die gleichen Regeln für mich?«
»Harry, wir sind hier nicht auf dem Tenniscourt, wir spielen noch nicht einmal. Das hier ist das reale Leben.«
Einen Moment starrt Harry mich an, dann nickt er. »Ja, du hast recht, mein Sohn. Das hier ist kein Spiel, aber es ändert auch nichts an meinen Gefühlen für Ireland.«
»Was wirst du ihr denn sagen?«
»Was soll ich ihr schon sagen? Die Wahrheit natürlich.«