18
Sonnabend, 29. Juni 2002
Ich tigerte eine Weile in der Wohnung auf und ab, sorgsam darauf bedacht, dem Schnapsschrank nicht zu nahe zu kommen, während ich überlegte, ob ich Julia nachgehen sollte. Doch ich blieb, wo ich war, obwohl die Entscheidung ziemlich knapp war. Ob sie mich angelogen hatte oder nicht, ob sie in meine Seele geblickt hatte oder nicht, fing ich endlich an, tief in meinem Herzen zu glauben, was North Anderson mir schon die ganze Zeit über gesagt hatte. Ich konnte diesen Fall nicht klar sehen, solange sie mein gesamtes Blickfeld einnahm.
Ich griff zum Telefon und rief Anderson zu Hause an, um ihm zu erzählen, wie Julia reagiert hatte. Er meldete sich nach dem ersten Klingeln. »Anderson.«
»Frank hier«, sagte ich.
»Gut, dass du anrufst. Hier laufen ein paar ganz üble Dinge ab.«
»Inwiefern?«
»Bürgermeister Keene hat mich angerufen. Er will mich gleich morgen früh in seinem Büro sehen. Ich schätze, er wird mich feuern – oder mir zumindest damit drohen.«
»Dich feuern?«
»Bezirksstaatsanwalt Harrigan und Captain O’Donnell sind überzeugt davon, dass sie ihren Schuldigen haben«, erklärte er. »Sie wollen, dass alle hinter ihnen stehen. Und sie wissen, dass ich da nicht mitmachen werde.«
»Mein Gott«, entfuhr es mir. »Ist dieser Keene denn wirklich nur ein Strohmann für Bishop?«
»Schlimmer als das«, erwiderte Anderson. »Er würde dieselbe Drecksarbeit für mindestens zwanzig andere seiner Wahlkampf-Spender tun. Ich hätte ihm auch einen Riesen zustecken sollen.« Er hielt einen Augenblick inne. »Ich fürchte, Bishop hat ihm das Foto von mir und Julia gegeben, weil er meinte, er hätte Bedenken wegen meines Anstandsgefühls.«
»Sie erpressen dich?«, sagte ich. »Vielleicht solltest du eine verdammte Wanze tragen, wenn du zu ihm gehst.«
»Ich will die Sache im Moment nicht an die große Glocke hängen, sondern in erster Linie, dass du dich noch einmal mit Billy treffen kannst und dann mit ein paar Reportern hier und in Boston redest. Ich finde, du solltest mit deinen Zweifeln bezüglich seiner Schuld an die Öffentlichkeit gehen – vorausgesetzt, du hast nach eurem Gespräch noch immer welche.«
»Wann kann ich Billy sehen?«
»Ich hab dich für drei Uhr früh angemeldet. Billy wird im U-Haft-Trakt sein. Freunde von mir haben heute Nacht Dienst am Eingang und in der Haftaufnahme. Sie werden dir die Erlaubnis für ein Gespräch unter vier Augen geben.«
»Ich werde dort sein«, versprach ich. »Aber was ist mit dir? Wie sieht dein Plan für morgen früh aus?«
»Ich kann nicht behaupten, dass es der beste Zeitpunkt ist, sich zum Heer der Arbeitslosen zu gesellen«, sagte Anderson. »Nicht, wo ein Baby unterwegs ist.«
»Nein.« Ich wollte, dass Anderson wusste, dass er sich aus der Affäre ziehen konnte und ich den Kopf dafür hinhielt. »Warum ziehst du dich nicht für eine Weile zurück? Lass mich mit dem, was ich denke, an die Öffentlichkeit gehen. Sag denen, ich wäre dir aus dem Ruder gelaufen. Du kannst mich sogar feuern, wenn das einen besseren Eindruck macht. Ich mache einfach weiter. Ich bin sicher, Billys Verteidiger holt mich nichtsdestotrotz in den Zeugenstand.«
»Ich schätze, ich könnte klein beigeben«, pflichtete er bei. »Das Problem ist nur, dass ich keine Lust dazu habe. Deshalb werde ich Keene etwas anderes erzählen.«
»Und zwar?«
»Ich werde ihm sagen, dass du und ich zusammen Fälle bearbeitet haben, die genauso übel waren wie dieser, wenn nicht sogar noch übler, und zwar an bedeutend unschöneren Orten, wie zum Beispiel Baltimore. Ich werde ihm sagen, dass wir Männern begegnet sind, gegen die er und Darwin Bishop und O’Donnell und Harrigan wie Schulhof-Rowdys aussehen. Vielen Dank auch, Sir, aber Frank Clevenger und ich schätzen unsere Chancen, bei diesem Fall als Sieger vom Platz zu gehen, bedeutend höher ein als Ihre. Einen schönen Tag noch.«
Ich grinste. »Ich glaube nicht, dass dir das deinen Job retten wird.«
»Ich habe wichtigere Dinge zu retten«, sagte er. »Meine Selbstachtung zum Beispiel. Wie ich schon sagte, meine Frau und ich bekommen ein Baby.«
»Ich stehe hinter dir«, versicherte ich ihm.
»Daran habe ich keinen Moment gezweifelt«, erwiderte er. »Billy, drei Uhr früh. Es ist alles arrangiert.«
Ich versuchte erneut, ein wenig zu schlafen, was jedoch nur damit endete, dass ich vollständig angezogen auf dem Bett lag und grübelte. Alles deutete darauf hin, dass Billy wegen Mordes und versuchten Mordes vor Gericht kam, obgleich niemand in der Bishop-Villa gänzlich von der Liste der Verdächtigen gestrichen werden konnte. Abgesehen von Darwin Bishop, hing ein Schatten des Zweifels über Garret, Claire und, ob es mir nun gefiel oder nicht, Julia.
Ich befürchtete noch immer, dass Tess Bishops Leben an einem seidenen Faden hing – teils wegen ihres angegriffenen Gesundheitszustands, teils, weil sie inmitten der Ermittlungen von Brookes Tod vergiftet worden war. Der versuchte Mord an ihr in Verbindung mit dem Überfall auf mich bewies, dass das Motiv, das den Mörder antrieb, Gewalt nährte, selbst wenn das Risiko der Entlarvung hoch war. Er (oder sie) stand unter dem Zwang zu töten. Dieser unwiderstehliche Drang würde mit Billys Verhaftung oder seiner Verurteilung nicht aufhören. Er würde nicht aufhören, bis das angestrebte Ziel erreicht war.
Die Uhr zeigte 2 Uhr 26. Das Bezirksgefängnis war nur fünfzehn Autominuten von meiner Wohnung entfernt. Ich malte mir aus, wie Billy in Handschellen und Fußeisen in das Gebäude gezerrt und in eine kalte Zelle gestoßen wurde, wo er die erste von vielen Nächten bis zu seinem Prozess verbringen würde. Der Rat, den ich ihm am Telefon gegeben hatte, sich zu stellen und das Justizsystem seinen Dienst tun zu lassen, musste ihm inzwischen vollkommen absurd erscheinen. Vielleicht hatte er doch das Richtige getan, indem er weggelaufen war – seine Chancen standen so schlecht, dass schon ein Wunder passieren musste, damit North und ich gegen sie gewannen.
Abermals beschlich mich ein paranoider Zweifel an meiner wiederhergestellten Freundschaft mit Anderson. Ich würde den Loft in den frühen Morgenstunden verlassen und ins Zentrum von Boston fahren, irgendwo in der Nähe des Gefängnisses parken und dann eine verlassene Straße entlang zum Eingang gehen. Wenn Anderson hinter dem Überfall auf mich am Mass General steckte, wenn er wirklich noch nicht über Julia hinweg war …»Hör mit diesem Unsinn auf«, befahl ich mir laut. Ich zwang meinen Verstand, von diesen Verdächtigungen abzulassen, trotzdem blieb ein gewisses Gefühl der Vorsicht zurück, wahrscheinlich weil mein innerer Radar so sensibilisiert war, dass er selbst die wohlwollendsten Informationen als einen Beweis einer Invasion bewerten würde.
Ich schlief tatsächlich für eine knappe Viertelstunde ein, was mich müder statt wacher machte und sich enorm schlecht auf meinen Rücken auswirkte, dessen Mitte sich anfühlte, als wäre sie in einen Schraubstock eingespannt.
Ich hievte mich aus dem Bett, schlurfte in die Küche und trank ein Glas Milch, um meinen Magen zu beruhigen, damit er zwei weitere Motrin verkraften konnte. Ich schluckte die Tabletten, was mich beinahe in die Knie zwang, bevor sie endlich anfingen, den Schmerz auf ein erträgliches Maß zu betäuben.
Dann stieg ich in meinen Pick-up und fuhr Richtung Boston. Die Route 1 war verlassen, sodass ich förmlich über die Tobin Bridge, um die Kurven des Storrow Drive und die Ausfahrt zum Bezirksgefängnis entlangflog.
Der größte Teil des Parkplatzes neben dem Gebäude war einer Baustelle zum Opfer gefallen, während der Rest für die Angestellten des Gefängnisses reserviert war. Ich fand eine Parklücke etwa fünf Blocks entfernt und tastete nach meiner Pistole, als mir wieder einfiel, dass ich sie zu Hause gelassen hatte. Prima.
Ich stieg aus dem Pick-up und machte mich auf den Weg, wobei ich wesentlich schneller ging, als ich es bei Tageslicht getan hätte, und mich immer wieder umsah. Beim Gedanken daran, was Laura Mossberg wohl zu meinem Verhalten gesagt hätte – ein weiterer Beweis für ein posttraumatisches Belastungssyndrom, das von dem Überfall auf mich noch verstärkt worden war –, musste ich unwillkürlich grinsen.
Ich war etwa einen Block weit gekommen, als mir plötzlich ein Penner in den Weg trat. Sein Gesicht war unrasiert, seine Augen blutunterlaufen, und sein Atem stank nach Alkohol. »Du hast meine Kohle«, zeterte er.
Ich wich einen Schritt zurück. Dies war mit Sicherheit die interessanteste Methode, mit der ich je um Geld angehauen worden war. Genau das sagte ich ihm auch, während ich in meine Tasche griff und dabei seine Hände beobachtete, um sicherzugehen, dass sie nicht in seiner Kleidung verschwanden und mit einer Waffe wieder auftauchten.
»Man muss sich aus der Masse herausheben«, erklärte er. »Heutzutage hat doch jeder schon alles gehört.«
Wir waren keine Viertelmeile vom Mass General entfernt. »Ich schätze, Sie könnten sich einen Kaffee gönnen und sich dann für eine Ausnüchterung einweisen lassen«, schlug ich vor.
»Ich gönn mir lieber ein Bier«, erwiderte er augenzwinkernd.
Für viele wäre diese Ehrlichkeit ein hinlänglicher Grund gewesen, ihr Geld zu behalten, doch ich wusste nur zu gut, wie es war, wenn man ein Bier brauchte. »Hier.« Ich gab ihm zwei Dollar.
»Ich hab dir fünf Mäuse gegeben«, knurrte er. »Wo ist mein Fünfer?«
Ich lächelte. »Jetzt übertreiben Sie es ein wenig. Viel Glück.« Ich trat an ihm vorbei.
Keine zehn Meter weiter hörte ich hinter mir Schritte auf dem Bürgersteig. Ich drehte mich um und sah denselben Mann auf mich zulaufen. Sein Blick war zielgerichteter als zuvor, und er hielt mit einer Hand etwas umklammert, das im fahlen Schein der Straßenbeleuchtung schimmerte. Ich erwog loszurennen, doch er war bereits bis auf zwei Meter an mich herangekommen.
Er lächelte und entblößte eine Reihe makelloser, strahlend weißer Zähne, was mir wie ein Beweis erschien, dass er mir aufgelauert hatte und nur so tat, als wäre er ein Penner. Er hob seinen Arm über den Kopf.
Hastig wich ich zurück, brachte meine Fäuste in Karatehaltung und wartete darauf, dass er einen Schritt näher kam. Wenn er nur ein Messer hatte, dann würde ich ihn zu Boden bringen, bevor er es benutzen konnte.
Er blieb stehen und ließ seinen Arm sinken. »Tut mir Leid«, sagte er. »Ich hab dich erschreckt.« Zögernd hielt er ein silbernes Kruzifix in die Höhe. »Hab ich vergessen«, sagte er. »Vielen Dank. Und Gott segne dich.« Er schenkte mir abermals jenes strahlende Lächeln, ehe er mit dem Kruzifix auf seinen Mund deutete. »Auf Wohlfahrtsschein. Alle ganz neu«, sagte er, als könnte er meine Gedanken lesen. »Hab sie heute gekriegt.« Dann drehte er sich um und ging Richtung Charles Street davon, wahrscheinlich, um auf seine neuen Zähne anzustoßen, wer weiß.
Ich atmete tief durch, überredete mein Herz, wieder langsamer zu schlagen, und machte mich wieder auf den Weg Richtung Gefängnis. Vielleicht wäre ein Anruf bei Laura Mossberg doch gar keine so schlechte Idee, dachte ich.
Ich war noch immer knapp zwei Blocks vom Gefängnisgebäude entfernt, als ich eine Reihe Fernsehteams eilig in Position gehen sah. Ich beschleunigte meine Schritte. Ich wollte nicht über Billys Fall sprechen, bis ich die richtige Botschaft parat hatte, um die Geschichte zu widerlegen, die Bishop, O’Donnell und Harrigan sich ausgesponnen hatten.
Wie versprochen, hatte North Anderson mir den Weg für mein Gespräch bei Billy geebnet, sodass ich problemlos am Eingangstresen meinen Besucherausweis erhielt. Ich schrieb mich ins Wachbuch ein, ging durch den Metalldetektor und dann durch drei Eisentüren, von denen sich jede erst öffnete, nachdem die dahinter liegende zugeschlagen war.
Obwohl ich schon häufig Gefängnisse besucht habe, ist es mir nie gelungen, das Gefühl von Melancholie abzustreifen, das sie in mir wecken. Bei jedem Besuch ist mir, als würde ich in Fragen ertrinken. Durch welche Wendung des Schicksals sind diese Leute hier gelandet? Wer erinnert sich noch daran, wie sie als kleine Jungen waren, so unschuldig und erstaunt? Und die Frage, die im Kern dieser Überlegungen liegt: Welcher glückliche Zufall erlaubt es mir, als freier Mann umherzugehen? Denn ich empfinde nicht dieselbe Kluft zwischen mir und diesen Vergewaltigern, Mördern und Dieben, wie es wahrscheinlich die meisten anderen Menschen tun. Was mich von ihnen trennt, ist kaum mehr als eine hauchdünne, durchscheinende Membran. Und ich glaube, sie spüren das. An mir haftet der Geruch ihres Rudels. Wären da nicht die gelegentlichen freundlichen Worte meines unberechenbar gewalttätigen Vaters gewesen, ein Lehrer in der sechsten Klasse, der mich mochte und mir versicherte, dass aus mir einmal etwas werden würde, und unzählige andere, unendlich kleine Einzelheiten meiner Lebensgeschichte, hätte ich ohne weiteres als einer der Insassen hier enden können.
Ich ging einen langen, breiten Flur zu den Vernehmungszimmern entlang. Im Licht der Neonröhren wirkte meine Haut leichenblass. Das gebohnerte graue Linoleum des Fußbodens verwandelte jeden meiner Schritte in ein unheilvolles Echo, das von den strahlend weißen Ytong-Wänden widerhallte.
Am Ende des Flurs erwartete mich ein Wärter und brachte mich zu Billy Bishop, der bereits an einem kleinen Tisch in einem zwei mal zwei Meter fünfzig großen Raum mit einer Glastür saß. Er trug den obligatorischen orangefarbenen Overall mit einer aufgedruckten schwarzen Nummer auf seiner Brust. Er sah noch genauso drahtig aus wie im Payne Whitney, doch war sämtliche Unverfrorenheit aus seiner Haltung gewichen. »Ich wünschte, Sie hätten mir das Geld geliehen«, sagte er und zwang sich zu einem Grinsen. »Ich wär schon längst weg gewesen.«
Ich nickte dem Wärter zu, worauf er das Zimmer verließ. Ich blieb an der Tür stehen. »Ich bin froh, dass es dir gut geht«, sagte ich.
Billy ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. »Ich würde das hier nicht als gut bezeichnen«, gab er zurück.
Ich musterte ihn eine Sekunde lang. »Lass uns reden«, sagte ich und nahm auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz, während ich bemerkte, dass er seine Finger so fest verschränkt hatte, dass die Knöchel weiß schimmerten.
»Ist schon ein seltsamer Ort«, sagte er. Plötzlich klang seine Stimme wie die eines verängstigten Sechzehnjährigen.
»Das ist es.« Ich hielt einen Moment lang inne. »Erzähl mir, wie es dir geht.«
»Wie es mir geht? Ich bin erledigt«, sagte er. In seinen Augen loderte inzwischen kein Feuer mehr. »Win hat gewonnen.«
»Noch nicht«, widersprach ich. »Wir ermitteln weiter.«
Er schloss die Augen und nickte. »Ich bin in Schutzhaft, weil man mir vorwirft, ich hätte einem Baby etwas angetan … es getötet. Ich schätze, damit stehe ich auf einer Stufe mit den Kerlen, die Sex mit Kindern haben. Wenn sie an mich rankommen könnten, dann würden sie …« Er verstummte und sah mir in die Augen.
Eingesperrt zu sein ist aufreibender, als viele Männer ertragen können. Doch als ein Ausgestoßener, eine Zielscheibe eingesperrt zu sein lässt alles andere im Vergleich dazu harmlos aussehen. »Ich möchte dir eine klare Frage stellen«, begann ich. »Hattest du irgendetwas mit dem zu tun, was mit Brooke oder Tess passiert ist?«
Den Blick noch immer starr auf mein Gesicht gerichtet, schüttelte er den Kopf.
»Also, nein«, sagte ich. Ich wollte, dass er die Worte aussprach.
»Die Zwillinge tun mir Leid«, sagte er. »Sie wurden zum falschen Zeitpunkt geboren, in die falsche Familie hinein. Wie ich, denn ich habe meine Eltern verloren. Ich würde ihnen niemals wehtun wollen.«
Ich nickte. »Ich werde dir helfen, einen Anwalt zu finden«, sagte ich. »In der Zwischenzeit musst du versuchen, deinen Verstand beschäftigt zu halten, während du hier drin bist. Und du darfst niemals die Hoffnung aufgeben.«
»Keine leichte Aufgabe«, meinte er. »Ich hab ausgespielt, meinen Sie nicht auch?«
»Es ist noch nicht alles verloren. Das verspreche ich dir.«
Tränen traten in Billys Augen. Er wandte den Blick ab, während er mit ihnen rang, dann holte er tief Luft und sah wieder mich an. »Ich hab da noch eine Idee«, sagte er. »Meine letzte Hoffnung, sonst würde ich es gar nicht erwähnen.«
»Und zwar?«
»Wenn Garret in der Nacht von Brookes Ermordung etwas gesehen hätte, etwas in Bezug auf Darwin, hätte sein Wort dann vor Gericht irgendein Gewicht? Würden ihm die Geschworenen überhaupt glauben, was er zu sagen hat?«
Ich dachte an all die Indizienbeweise, die Darwin Bishop mit dem Verbrechen in Verbindung brachten. Ein Augenzeuge, besonders Bishops Sohn, könnte genügen, um die Geschworenen zu überzeugen, dass Billy fälschlicherweise angeklagt worden war. »Ich denke, seine Aussage könnte entscheidend sein«, sagte ich.
»Dann sollten Sie ihn danach fragen.«
»Das habe ich bereits«, sagte ich.
»Das war, bevor sie mich erwischt haben. Fragen Sie ihn noch mal.«
»Warum erzählst du es mir nicht?«, schlug ich vor. »Was hat Garret denn gesehen? Er hat es dir doch offensichtlich erzählt.«
Billy schüttelte den Kopf. »Es ist nicht meine Aufgabe, das zu tun.«
Ich war mir nicht ganz sicher, warum Billy Stillschweigen über etwas wahrte, das ihn von den Anklagen wegen Mordes und versuchten Mordes entlasten könnte. »Warum nicht? Warum kannst du nicht darüber sprechen?«
»Weil die Chance meiner Meinung nach groß ist, dass die Geschworenen sich nicht umstimmen lassen, selbst bei Garrets Zeugenaussage, und dann wandere ich lebenslänglich hinter Gitter, während er ganz allein mit dem Teufel ist. Nur Garret und Darwin. Ich an seiner Stelle würde dieses Risiko wahrscheinlich nicht eingehen. Ich meine, so nahe stehen wir uns nicht. Ich bin nicht sein leiblicher Bruder. Und ich habe einige wirklich abscheuliche Sachen getan, seit ich mit ihm zusammenlebe. Das Stehlen und all das. Er wäre besser dran gewesen, wenn es mich nicht gegeben hätte.«
Diese Worte ließen tiefes Mitleid für Billy in mir aufsteigen. Er hatte seine Familie in Russland verloren und war nie wirklich ein vollwertiges Mitglied der Bishop-Familie geworden. Julia, zum Beispiel, war im Grunde gegen seine Adoption gewesen. Vielleicht war das zum Teil der Grund dafür, weshalb er überhaupt in Schwierigkeiten geraten war. »Ich werde Garret bitten, es sich zu überlegen«, sagte ich. »Und du solltest das auch tun. Denn das könnte das Blatt wirklich wenden und dafür sorgen, dass du hier herauskommst.«
Er nickte und warf mir einen schüchternen Blick zu, ehe er die Tischplatte anstarrte. »Wenn ich freigelassen werden sollte …«, setzte er an, dann verstummte er.
»Red weiter«, ermunterte ich ihn. Ich war froh, dass er zumindest zu dem Gedanken fähig war, möglicherweise freizukommen.
»Ach, nichts«, sagte er. »Es ist dumm.«
»Komm schon, raus damit.«
Doch er zuckte mit den Schultern.
»Ich habe in meinem Leben mehr dumme Dinge gesagt, als ich zählen kann«, versicherte ich ihm. »Das holst du nie mehr ein.«
Das entlockte ihm ein Lächeln. Er sah mich abermals an, dieses Mal länger. »Na ja, wenn ich hier je herauskommen sollte, dann habe ich keinen Ort, an den ich gehen kann. Zu Hause werden sie mich nicht wieder aufnehmen.« Er räusperte sich. »Davon abgesehen, dass ich sowieso nicht wieder dorthin zurückgehen würde.«
»Es wird sich schon etwas finden«, sagte ich. »Das Sozialamt und die Familienfürsorge werden ganz sicher …«
»Was ich sagen will, ist … Na ja, vielleicht könnte ich für eine Weile bei Ihnen unterkommen«, sagte er. »Ich schätze nämlich, ich kann mich ändern. Wenn ich jemanden hätte, dem ich trauen kann. Verstehen Sie?« Er versuchte, in meinem Gesicht eine Reaktion abzulesen.
Ich antwortete nicht sofort, da mindestens die Hälfte meines Verstands mit Gedanken an Billy Fisk beschäftigt war – damit, dass die Dinge vielleicht anders für ihn ausgegangen wären, wenn ich bereit gewesen wäre, über meinen Schatten zu springen.
Billy sah mich verlegen an. »Es ist eine dumme Idee. Ich meine …«
»Ich wäre bereit, einen Versuch zu wagen«, erklärte ich.
»Wirklich?« In seiner Stimme schwang eine Mischung aus Verblüffung, Zweifel und Erleichterung mit.
»Klar«, sagte ich. »Warum nicht? Was haben wir schon zu verlieren?«
Nachdem Billy und ich uns voneinander verabschiedet hatten, machte ich mich wieder auf den Weg. Einer von Andersons Freunden führte mich zum Hintereingang, sodass ich zu meinem Wagen gelangen konnte, ohne von der Presse überfallen zu werden. »Die lauern da draußen schon auf Sie«, erklärte er und reichte mir Ausgaben des Boston Globe und des Boston Herald. Beide Zeitungen hatten, offenbar aus Angst, sie könnten ihre Leser mit der Familiensaga der Bishops überfüttern, Artikel über mich gedruckt. Als Schlagzeilen dienten die typischen Boulevardblatt-Reißer: »Geisel-Doc erlebt Comeback mit Milliardär-Babys« und »Der Sigmund Freud des Mordens«. Die Fotos von mir, die die Artikel begleiteten, waren während meiner Zeugenaussage bei Trevor Lucas’ Sensationsprozess aufgenommen worden.
Mir war klar, dass diese Berichterstattung alles in allem nicht schlecht war, denn damit wäre die Presse darauf vorbereitet, sich das anzuhören, was Anderson und ich über Billy zu sagen hatten. Ich musste nur darauf Acht geben, im richtigen Moment auf den Knopf zu drücken.
Es war 4 Uhr 10 morgens. Auf der Heimfahrt rief ich im chemischen Labor des Mass General an, um mich nach Tess’ Blutbild zu erkundigen. Der Labortechniker erklärte mir, die toxikologische Untersuchung sei negativ gewesen; im Blutkreislauf des Babys war keine neue Substanz entdeckt worden. Das schloss aus, dass Julia Tess etwas gegeben hatte, um ihre Atmung zu verlangsamen – zumindest irgendetwas, das bei einem Standardtest nachweisbar wäre.
Als Nächstes rief ich North Anderson an, der inzwischen von Art Fields über die Fingerabdrücke informiert worden war, die Leona auf der Innenseite des Tablettenfläschchens gesichert hatte. Drei Personen – einschließlich Darwin Bishop, aber nicht Billy Bishop – hatten das Innere des Fläschchens berührt. Diesbezüglich also keine Überraschungen. »Ich vermute, die anderen Abdrücke stammen von Julia und möglicherweise dem Apotheker, der ihr das Medikament ausgehändigt hat«, sagte Anderson. »Ein weiteres schwaches Glied in Harrigans Beweiskette gegen Billy.« Er wechselte das Thema. »Wie ist dein Gespräch mit ihm gelaufen? Sie haben dich doch zu ihm gelassen, oder nicht?«
»Ich komme gerade von dort«, erklärte ich.
»Welchen Eindruck hat er auf dich gemacht? Hält er durch?«
»Er hat abgenommen. Und er hat Angst. Aber er hat die Hoffnung noch nicht verloren.«
»Gut«, sagte Anderson. »Er ist also ein zäher Bursche. Hat er dir irgendetwas erzählt, was nützlich für uns sein könnte?«
»Er glaubt, Garret verheimlicht möglicherweise etwas«, berichtete ich. »Er will, dass wir ihn noch einmal fragen, was er in der Nacht von Brookes Ermordung gesehen hat.«
»Es wird schwierig sein, an ihn heranzukommen, aber wir können es auf alle Fälle versuchen.«
»Es ist die beste Spur, die wir haben«, sagte ich.
»Du kommst also wieder her?«
»Mit der ersten Maschine.«
»Ruf mich an, bevor du losfährst. Dann komme ich zum Flughafen und hole dich ab.«
»Wird gemacht.«
Ich bog nach links in die Winnisimmet Street ab und fuhr in Richtung meiner Wohnung. Zum Glück warf ich zufällig einen Blick in die erste Querstraße und sah die beiden Range Rover, die mit laufendem Motor etwa auf der Hälfte des ersten Blocks parkten. Das war ein sehr schlechtes Zeichen. Ich fuhr an meinem Haus vorbei und entdeckte zwei von Bishops Männern, die sich im Eingang herumdrückten – entweder, um höflich bei mir zu klingeln, oder, was wahrscheinlicher war, um die Eingangstür aufzustemmen.
Meine Verletzung tat immer noch höllisch weh, und meine Pistole lag fünf Stockwerke über mir auf dem Couchtisch, deshalb würde ich mich nicht auf irgendwelchen Ärger einlassen. Wahrscheinlich war es besser, ohne Gepäck nach Nantucket zu reisen und mir auf der Insel Kleidung zum Wechseln zu kaufen. Ich brauchte sowieso eine neue Jeans und ein neues schwarzes T-Shirt. Meine Lieblingskombination war blutgetränkt, außerdem zog sich ein breiter Riss quer über den Rücken meines T-Shirts.
Ich bog in die Front Street ein und fuhr auf direktem Weg zum Flughafen, um den ersten Cape-Air-Pendlerflug zu nehmen.
Anderson holte mich um 7 Uhr 30 ab, eine Stunde vor seinem Termin mit Bürgermeister Keene. Wir fuhren zur mobilen Einsatzzentrale der State Police für die Bishop-Ermittlung, einem speziell ausgestatteten Wohnwagen, der neben dem Polizeirevier von Nantucket aufgestellt worden war.
Brian O’Donnell begrüßte uns durchaus höflich, vielleicht weil er dachte, dass Anderson sowieso gefeuert werden würde.
Während wir den Planungsraum durchquerten, in dem ein Konferenztisch voller Landkarten der Insel stand und dessen Wände voller Luftaufnahmen des vielseitigen Terrains hingen, musste ich mir mühsam verkneifen, O’Donnell die Tatsache unter die Nase zu reiben, dass Billy anscheinend von der Insel geflüchtet war, bevor all die Geländewagen und Hubschrauber über die Sümpfe und die unzugänglichen Wälder hereingebrochen waren.
Anderson zeigte weniger Zurückhaltung. »Haben die da draußen in den Commons Infrarot-Suchgeräte eingesetzt?«, fragte er O’Donnell.
»Ich glaube, ja«, antwortete O’Donnell ungerührt.
»Irgendwas gefunden? Einen vermissten Hund vielleicht oder eine Katze oder so was? Das könnte eine ergreifende Story für die New England Cable News abgeben und dem Police Department etwas Wohlwollen seitens der Öffentlichkeit einbringen. Wenn man ein so kostspieliges Spektakel wie das hier auf die Beine stellt, sollte man am Ende wenigstens etwas vorzuweisen haben.«
»Wir haben gefunden, wonach wir gesucht haben«, erwiderte O’Donnell und warf uns über seine Schulter ein kurzes Lächeln zu. »Das allein zählt.«
O’Donnells Büro nahm das hintere Drittel des Wohnwagens ein. Er setzte sich hinter einen zusammenklappbaren Aluminiumtisch, der ihm als Schreibtisch diente, während Anderson und ich auf den Plastikstühlen ihm gegenüber Platz nahmen. O’Donnell verschränkte seine Finger im Nacken. »Gentlemen, womit kann ich Ihnen heute Morgen behilflich sein?«
Ich kam ohne Umschweife zur Sache. »Ich würde gern noch einmal mit Garret Bishop sprechen.«
»Unmöglich«, entgegnete O’Donnell.
»Warum?«, wollte Anderson wissen.
»Sie wissen bereits, warum. Die Ermittlungen sind abgeschlossen. Garret hat seine Aussage gemacht. Wir haben den Verdächtigen in Gewahrsam. Die Anklagejury wird in ein, zwei Tagen das offizielle Verfahren gegen Billy eröffnen.«
Die Bedeutung seiner Worte war nur zu offensichtlich. Spuckt uns ja nicht in die Suppe. »Ich glaube, dass Garret entscheidende Informationen darüber hat, was in der Nacht von Brookes Ermordung im Bishop-Haus passiert ist«, sagte ich.
»Wir haben bereits ein sehr klares Bild«, erwiderte O’Donnell grinsend. Die nicht gerade subtile Doppeldeutigkeit seiner Worte und der Blick, mit dem er Anderson ansah, verrieten deutlich, dass er das Foto von ihm und Julia am Strand gesehen hatte. »Dieses Bild hat sich entwickelt, seit Billy zum ersten Mal ein Tier gequält hat. Von da an ist das Ganze eskaliert. Einbruch. Sachbeschädigung. Brandstiftung. Mord. Wir haben das alles schon durchgekaut.«
»Das Bild passt aber nicht mit den Fingerabdrücken zusammen, die Ihr kriminaltechnisches Labor gefunden hat«, wandte Anderson ein.
»Das muss es auch nicht«, konterte O’Donnell. »Wenn man nicht gerade ein Navy-SEAL ist, kommt man nicht in ein Haus hinein und wieder heraus, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen. In Anbetracht der Tatsache, dass Billy sowieso schon jahrelang alles in dem Haus angefasst hatte, war nur eines wichtig, nämlich, dass seine Fingerabdrücke auf nichts zu finden waren, das direkt mit der Untat in Verbindung stand, die er begangen hatte, während er im Haus war. Es ist ganz einfach. Er hat Handschuhe getragen. Ende der Geschichte.«
»Ich glaube nicht, dass Sie mit Ihren vorliegenden Informationen eine Verurteilung erreichen werden«, bemerkte ich. »Garret könnte die Sache am Ende sogar erleichtern. Wenn er überhaupt etwas zu erzählen hat, dann könnte es Billy möglicherweise belasten statt entlasten. Ich habe keine Ahnung.«
»Wir werden eine Verurteilung erreichen«, erklärte O’Donnell. »Billy kriegt lebenslänglich. Denken Sie an meine Worte.«
»Jeder halbwegs brauchbare Verteidiger wird sich eine eidesstattliche Erklärung von mir holen und feststellen, dass ich Zweifel an Billys Schuld habe«, sagte ich. »Die Geschworenen werden diese Zweifel zu hören bekommen. Lassen Sie mich diese Zweifel jetzt anpacken und sie aus dem Weg räumen.«
»Mark Herman ist vom Gericht als Billys Pflichtverteidiger bestellt worden«, sagte O’Donnell. »Ich bin sicher, er wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen. Er ist ein guter Mann. Die Bishops haben keinen eigenen Anwalt engagiert.«
Ich kannte Mark Herman nicht, doch O’Donnells Tonfall ließ die Frage in mir aufkeimen, ob Herman möglicherweise ebenfalls bei diesem abgekarteten Spiel mitmischte. Vielleicht würde er sich nicht für einen Freispruch einsetzen, sondern versuchen, Billy zu überreden, sich eines minderschweren Verbrechens schuldig zu bekennen, Totschlag zum Beispiel. Ich warf Anderson einen zynischen Blick zu. Mir war vollkommen klar, dass wir bei O’Donnell nichts erreichen würden, deshalb beschloss ich, alle Brücken hinter mir niederzubrennen. »Ich habe wirklich großes Mitleid mit Leuten wie Ihnen«, bemerkte ich.
»Tatsächlich, Doktor?«, sagte O’Donnell.
»Es ist schwer, einen Soziopathen zu erkennen, wenn er Uniform trägt«, erklärte ich. »Aber mir ist klar, dass Sie etwas Schreckliches durchgemacht haben müssen, das Sie zerstört hat. Nichts kommt von ungefähr.«
»Ich denke, unsere Besprechung ist zu Ende«, sagte O’Donnell.
»Die Frage ist nur, was dieses Etwas war«, fuhr ich ungerührt fort.
Er stand auf.
»Was war es? Was in Ihrem Leben war so schmerzvoll, dass nicht einmal Ihre Polizeimarke genügt hat, um Ihren Hass zu zügeln?«
O’Donnell marschierte aus dem Büro. »Sie finden selbst hinaus«, rief er uns über die Schulter zu.
Der Rest des Tages war so, als würden wir in einem endlosen Labyrinth gegen eine Wand nach der anderen laufen. Andersons Treffen mit Bürgermeister Keene verlief mehr oder weniger so, wie er es erwartet hatte. Keene reichte ihm einen Abzug des Fotos von ihm und Julia eng umschlungen am Strand, dann verhängte er eine dreimonatige Suspendierung ohne Gehalt wegen moralischen Fehlverhaltens im Dienst. Anschließend versuchten Anderson und ich, zum Bishop-Anwesen zu fahren, um herauszufinden, ob wir Garret vielleicht noch einmal zufällig über den Weg liefen, wurden jedoch von State-Police-Fahrzeugen abgefangen und wieder zurückgeschickt.
Ich rief Julia im Mass General an, um sie zu bitten, uns zu helfen und ein Treffen mit Garret zu arrangieren, doch sie legte auf, noch bevor ich drei Worte gesagt hatte.
Schließlich rief ich Carl Rossetti an, um mich zu erkundigen, ob er mit Julias Einwilligung eine gerichtliche Verfügung für die Vernehmung von Garret besorgen könnte. Er machte sich die Mühe, Julia im Mass General aufzusuchen und ihr schriftliches Einverständnis einzuholen, nur um dann zu erfahren, dass Darwin Bishops Anwaltsteam sich bereits eine vorsorgliche gerichtliche Verfügung beschafft hatte, die jeglichen Kontakt mit Billy oder Garret untersagte, sofern nicht beide Elternteile zustimmten.
Ich musste gestehen, dass die Dinge immer schlechter für Billy standen. Es war so, als würde sich eine spezielle Version der Geschehnisse um ihn herum verfestigen und ihn unwiderruflich und unausweichlich in die Rolle des Mörders in einem Drama zwingen, das sich nichts beugte, nicht einmal der Wahrheit.