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Anderson und ich nahmen die Cape-Air-Maschine um 1 Uhr 15, die uns in fünfundvierzig Minuten vom Flughafen Logan nach Nantucket brachte. Die neunsitzige Cessna schaukelte ein wenig im Wind hin und her, doch es gab keine wirklichen Probleme, dafür aber einen Ausblick auf das herrliche Panorama des saphirblauen Atlantiks beim Landeanflug. Wir kamen niedrig genug herein, um die Surfer am Cisco Beach ausmachen und einen Blick auf die beeindruckenden Villen mit ihren grauen Schindeldächern werfen zu können.

Nantucket, auch bekannt unter dem Spitznamen »Graue Dame«, besteht aus drei Inseln, die an einen dicken Bumerang erinnern, von dessen einem Ende zwei Stücke abgebrochen wurden. Der Legende nach entstand die Insel aus Aschebrocken, die aus der Pfeife des indianischen Riesen Moshup, des mythischen Wächters der Ureinwohner von Cape Cod, gefallen sind. Doch wenn Moshups Aufgabe darin bestand, seine Schöpfung und sein Volk zu beschützen, dann hatte er kläglich versagt. Im achtzehnten Jahrhundert wandten sich Quäker-Siedler aus Massachusetts an die freundlichen Algonquin-Indianer, um von ihnen zu lernen, wie man in Nantuckets Gewässern fischte, das örtliche Federvieh jagte und den Boden beackerte. Im Gegenzug brachten die Siedler ihnen gerade genug Lesen, Schreiben und Rechnen bei, dass sie ihr Land verkaufen konnten. Die Indianer lernten schnell und überschrieben so viele Ländereien, dass ihrem Vieh kein Platz zum Weiden mehr blieb. Dieser Verlust, zusammen mit dem Whiskey und der Tuberkulose, die vom Festland importiert wurden, sorgten dafür, dass Abraham Quary der letzte männliche Nantucket-Indianer war, als er 1854 starb.

Im neunzehnten Jahrhundert bildete der Walfang Nantuckets Haupteinnahmequelle. Herman Melville benutzte die tragische Reise von Nantucket-Kapitän George Pollard, dessen Schiff 1820 von einem Wal versenkt wurde, als Vorlage für sein Meisterwerk Moby Dick. Obgleich voller Gefahren, passte der Walfang perfekt zur Arbeitsmoral der Quäker – und war ausgesprochen lukrativ. Geld floss in Strömen auf die Insel und nährte den Bauboom, der den größten Teil der Bäume der Insel verschlang, im Gegenzug jedoch die Main Street mit Villen säumte. Eine der berühmtesten von ihnen war später Jared Coffins dreistöckiges Haus aus englischem Backstein und walisischem Schiefer.

In jedem Kapitel seiner neuzeitlichen Geschichte war der Kommerz die Triebfeder für Nantuckets Wachstum, während er der Insel gleichzeitig immer mehr von ihrer Seele raubte. Es ist also nicht wirklich verwunderlich, dass auf den Niedergang der Walfangindustrie, beschleunigt durch die schweren Verluste der Flotte während des Bürgerkriegs, der ultimative Handel mit dem Teufel folgte: der Touristenboom. Mit der Zeit entwickelte sich die Insel zu einem Spielplatz des Müßiggangs und des Reichtums – in einem Ausmaß, dass jeder Quäker blass geworden wäre. Kapitän George Pollards Haus wurde zum Seven-Seas-Andenkenladen, während Jared Coffins Villa zu einem mit Reproduktionen von Kolonialstil-Möbeln voll gestopften Gasthaus umfunktioniert wurde.

Die wahre Seele von Nantucket, jener Teil, der von Eingeboreneninstinkten und Kühnheit zur See überschäumte, wurde so erfolgreich unter all dem Glanz und Flitter begraben, dass sie inzwischen praktisch so tot wie der letzte Algonquin war.

Während des Flugs hatte North Anderson mir erzählt, dass Darwin Bishop sein Anwesen auf Nantucket im Jahr 1999 erworben hatte, kurz nachdem ihm der Börsengang von Consolidated Minerals and Metals 1,2 Milliarden Dollar eingebracht hatte. Mit diesem netten Sümmchen mussten 9,6 Millionen Dollar für eine Villa mit achtzehn Zimmern auf einem gut zwei Hektar großen Grundstück an der Wauvinet Road mit Ausblick auf das Meer und den Hafen wie ein Trinkgeld angemutet haben.

CMM baute Eisen und Kupfer aus den reichen Vorkommen in der Ukraine ab. Selbst im Angesicht der politischen Unruhen in der Region machte der Konzern weiterhin riesige Profite damit, Erz in andere europäische Staaten, nach Asien und in die Vereinigten Staaten zu exportieren. Consolidated plante eine Expansion zu Öl und Erdgas, was die Profite in die Stratosphäre katapultieren würde.

»Weiß er, dass wir kommen?«, fragte ich Anderson, als wir in die Wauwinet Road einbogen.

»Wenn nicht, würden wir nicht einmal durchs Tor kommen«, erwiderte Anderson und zeigte auf ein hübsches kleines Cottage mit Schieferdach, weißen Fensterläden und üppigen Blumenkästen voller Blüten und Efeu an der Straße. »Das hier bezeichnet er als sein Wachhaus

Ich sah zwei weiße Range Rover mit getönten Scheiben, die neben dem Cottage parkten. »Warum braucht er denn Aufpasser?«, fragte ich.

»Dafür gibt es eine Million Gründe, schätze ich«, gab Anderson zurück.

Das Haus, dessen zwei Dutzend Fenster entlang der geschwungenen Front im Schatten von Markisen lagen, sah aus wie das Clubhaus eines Golfclubs. Die Fassade war zu dem typischen Graubraun gut gefetteten Leders verwittert. Rechts der Auffahrt erstreckte sich ein Swimmingpool von olympischen Ausmaßen, umgeben von einer Zwanzig-Meter-Mahagoniterrasse. Ein Wald aus grünen Stoffschirmen spendete einem halben Dutzend weißer Tische am Beckenrand Schatten. Gleich dahinter, näher zum Meer hin, sah ich einen Mann und einen Jungen über einen Tennisplatz hetzen und dabei rote Staubwolken aufwirbeln.

Ich deutete mit einem Nicken auf den Tennisplatz. »Wer sind die beiden?«, fragte ich.

Anderson spähte zu den Tennisspielern hinüber. »Garret, der ältere Sohn«, antwortete er. »Den anderen kenne ich nicht.«

»Garret hat seinen Schock offensichtlich überwunden«, bemerkte ich.

»Die Spiele müssen weitergehen«, feixte Anderson.

Wir parkten den Wagen und gingen zum Haus. Als wir noch immer etliche Meter davon entfernt waren, ging die Tür auf, und eine attraktive Frau um die fünfundzwanzig mit samtiger Haut und langem, zu einem Pferdeschwanz gebundenem braunem Haar erschien. Sie trug ein kurzes Leinenkleid, das ihre makellose Figur umschmiegte. Ihre kastanienbraunen Augen waren blutunterlaufen, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen.

»Chief Anderson«, sagte sie. Angesichts ihres gequälten Gesichtsausdrucks klang ihre Stimme überraschend warm.

»Guten Tag, Claire«, erwiderte North. »Wie geht es Ihnen?«

Sie antwortete mit einem Achselzucken.

»Das ist Dr. Frank Clevenger aus Boston. Ich habe Mr. Bishop vorhin angerufen und unseren Besuch angemeldet.«

»Selbstverständlich.« Sie streckte ihre Hand aus. »Doktor«, begrüßte sie mich in einem besonders herzlichen Tonfall. »Ich bin Claire Buckley.«

Ich schüttelte ihre Hand, deren Haut weich war wie die eines Kindes. Ich bemerkte, dass sie einen mit Diamanten besetzten Ring am kleinen Finger und ein Cartier-Armband – einen dieser unverkennbaren, mit Schraubenköpfen verzierten Goldreifen – trug. Für das Armband allein musste man fast vier Riesen hinblättern – ich wusste das, weil ich Kathy eines gekauft hatte, bevor sie krank geworden und unser Leben bergab gegangen war. Claire Buckley verdiente offenbar für ein Kindermädchen ausgesprochen gut. »Mein herzliches Beileid«, sagte ich.

Sie nickte und trat beiseite. »Kommen Sie herein.«

Das Innere des Hauses war kalkuliert beeindruckend. Die Decken waren gut vier Meter hoch, mit glatten, weiß getünchten Balken. Die Sofas und Sessel waren perfekt arrangiert, mit dicken Polstern umgeben und mit Webstoffen bezogen, die keinen einzigen Sommer sorgloser Benutzung überstehen würden. An den Wänden hingen Ölgemälde von Stränden und Schiffen und Walfangszenen, die meisten amerikanisch, einige französisch und alle sehr wertvoll. Während wir durch den weitläufigen Raum gingen, fielen mir ein Bild von Robert Salmon und ein weiteres von Maurice Pendergast ins Auge, die beide mehrere Millionen wert waren und Momentaufnahmen der Erhabenheit der Natur darstellten. Was mir jedoch augenblicklich die Freude daran nahm, waren die protzigen Messingschilder mit den eingravierten Namen der Künstler, die an den Rahmen prangten. »Es ist wie ein Museum«, flüsterte North.

Claire Buckley führte uns zur Tür von Darwin Bishops Arbeitszimmer. Er saß in einem genieteten Ledersessel mit hoher Lehne hinter einem langen, gediegen-schlichten Schreibtisch und starrte durch Verandatüren, die Ausblick über den Swimmingpool, den Tennisplatz und das Meer boten. Er trug ein frisch gebügeltes Freizeithemd und eine Khakihose. »Es ist mir egal, ob du sie nach Palm Beach oder Myopia schaffst«, erklärte er gerade mit einer herrischen Stimme, in der nicht einmal mehr ein Anflug seines Brooklyner Akzents lag. »Meinetwegen kannst du sie auch im Stall in Greenwich lassen. Packer kann sie in White Birch laufen lassen. Ich muss verständlicherweise im Moment aussetzen.« Er bemerkte uns und winkte uns herein.

Wir blieben zögernd in der Tür stehen.

»Gehen Sie nur rein«, sagte Claire. »Er kümmert sich gleich um Sie.« Sie drehte sich um und verschwand.

Wir nahmen auf dem Sofa einer kleinen Sitzgruppe an einer Wand Platz, zu der noch weitere Sessel gehörten.

Bishop drehte sich auf seinem Schreibtischsessel zu uns herum und musterte uns, während er sein Telefongespräch beendete. Er war ein beeindruckender Mann. Sein Haar war silbern und aus seiner hohen Stirn gekämmt, unter der tief liegende stahlgraue Augen funkelten. Seine Haut war makellos gebräunt. Seine breiten Schultern, die muskulösen Unterarme und seine kräftigen Handgelenke ließen erkennen, dass er trotz seiner einundfünfzig Jahre noch immer durchtrainiert war.

Ich ließ meinen Blick durch das Arbeitszimmer schweifen. Ein Orientteppich in zarten Grün-, Rosa- und Beigetönen bedeckte den Boden. Zwei der Wände wurden von weiß lackierten Einbauregalen gesäumt, in deren Borden überall ledergebundene Bücher standen, die aussahen, als wären sie noch nie aufgeschlagen worden. Auf einem runden Tisch aus massivem Walnussholz standen etwa ein Dutzend Familienfotos in Silberrahmen. Eines zeigte Bishop und die beiden Jungen beim Segeln auf einer Yacht, ein anderes Bishop im Smoking, Arm in Arm mit einer wunderschönen jüngeren Frau mit schwarzem Haar, von der ich annahm, dass es sich um seine Frau Julia handelte. Auf einem dritten Foto saß Bishop in Reithosen und Stiefeln auf einem muskulösen Pferd und zeigte mit einem Poloschläger gen Horizont.

Bishop hatte offenkundig gerade am Telefon besprochen, in welchem Stall seine Polopferde untergebracht werden sollten. Der Palm Beach Polo Club und der Myopia Hunt Club waren die Vorzeigezentren dieses Sports. Gary Packer, Geschäftspartner des legendären Medienmoguls Rupert Murdoch, war einer seiner Schutzheiligen.

Mir fiel auf, dass sich unter den Fotos auf dem Tisch keines von Bishops kleinen Töchtern befand.

»Das ist sehr freundlich, Pedro«, brachte Bishop das Gespräch zum Abschluss. »Wir werden es durchstehen.« Er legte auf, erhob sich und kam zu uns herüber. Stehend wirkte er sogar noch imposanter als hinter seinem Schreibtisch. Er musste mindestens einsfünfundachtzig, vielleicht sogar einsneunzig groß sein. »Tut mir Leid, dass Sie warten mussten«, sagte er. »Win Bishop.« Er streckte mir seine Hand entgegen. »Und Sie müssen Dr. Clevenger sein.«

Wir schüttelten einander die Hand, wenn man es überhaupt so nennen konnte. Er legte nichts in seinen Handschlag, so als wäre er ein König, der einem Untertan die Gnade zuteil werden ließ, ihn zu berühren.

»Mein Beileid«, sagte ich.

Er setzte sich in einen Sessel gegenüber von Anderson und mir. »Wir werden es durchstehen«, wiederholte er.

Ein unbehaglicher Moment verstrich, während Bishop uns abwartend ansah, aber durch nichts erkennen ließ, dass er noch etwas sagen würde. Mir ging auf, dass Win Bishop Geschmack daran gefunden hatte, Macht über andere zu besitzen.

»Es ist wahrscheinlich das Beste, wenn ich und Dr. Clevenger hier mit Billy sprechen …«, setzte Anderson an.

Bishop hob eine Hand. »Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen. Bei all den Vorbereitungen, die nötig waren, um es in die Wege zu leiten, habe ich versäumt, Sie auf dem Laufenden zu halten: Billy ist nicht mehr hier.«

»Nicht mehr hier?«, wiederholte Anderson. »Wo ist er?«

»Ich habe seine Einweisung in die psychiatrische Payne-Whitney-Klinik in Manhattan veranlasst«, antwortete Bishop und sah mich an. »Man versicherte mir, es sei eine hoch angesehene Institution. Gehört zu Cornell.«

»Durchaus«, bestätigte ich. »Was erhoffen Sie sich von seiner Einweisung?«

Ehe Bishop antworten konnte, erfüllte der schrille Schrei eines Babys – wohl seine überlebende Tochter – das Arbeitszimmer.

Bishop verzog das Gesicht.

»Ich komme schon, Schätzchen!«, rief Claire Buckley. Ich hörte ihre Schritte auf der Treppe, als sie nach oben eilte.

Bishop stand auf, ging zur Tür und schloss sie. Dann setzte er sich wieder und schlug die Beine übereinander. Er trug keine Socken, und ich starrte unwillkürlich auf seinen Knöchel, auf dem eine primitive grünschwarze Tätowierung eines Friedenszeichens prangte.

»Vietnam«, erklärte er in Antwort auf die Frage, die mir im Gesicht gestanden haben musste, ohne mir die Gelegenheit zu geben, weiter darauf einzugehen. »Lassen Sie mich etwas in Bezug auf Billy klarstellen«, sagte er. »Meine Frau und ich haben alles in unserer Macht Stehende getan, um einen äußerst gestörten jungen Mann zu retten. Nachdem Chief Anderson mich über das Ergebnis der Obduktion in Kenntnis gesetzt hatte, musste ich mich der Wahrheit stellen. Billy kann nie wieder hier bei uns wohnen. Ich muss meine Familie beschützen. Ich muss daran denken, dass es noch ein zweites kleines Kind hier gibt.«

»Ich verstehe«, sagte ich.

Anderson beugte sich vor. »Die Staatsanwaltschaft wird die Einweisung ins Payne Whitney als eine Strategie betrachten, die Verhaftung Ihres Sohnes zu verhindern.«

»Der Bundesstaat kann Billy jederzeit zurück nach Massachusetts beordern, um ihn vor Gericht zu stellen, wenn sie das wollen«, erwiderte Bishop.

»Wenn ich mich nicht irre«, erklärte Anderson, »werden sie genau das auch tun. Ein Auslieferungsbefehl kann binnen weniger Stunden vom Gericht ausgestellt werden.«

Bishop nickte. »Darauf habe ich keinen Einfluss«, sagte er, »aber es wäre eine reine Zeit- und Geldverschwendung. Der Staatsanwalt wird niemals beweisen können, dass Billy für den Tod seiner Schwester verantwortlich ist. In der Nacht, als meine Tochter ermordet wurde, waren fünf Personen im Haus. Jeder von uns könnte der Mörder sein.« Er machte eine kurze Pause. »Und keiner von uns wird als Zeuge aussagen.«

So viel also zu Darwin Bishops Ausrollen des roten Teppichs. Ich warf Anderson einen Seitenblick zu.

»Ich hoffe, Sie werden meinen Leuten nachher gestatten, das Haus zu durchsuchen«, sagte Anderson. »Wir müssen nach allem suchen, das mit dem Tod Ihrer Tochter in Verbindung stehen könnte.«

»Wann immer Sie wollen«, antwortete Bishop. »Ich kann Ihnen versichern, dass Sie nichts finden werden.«

»Die Tube mit der Dichtungsmasse zum Beispiel«, beharrte Anderson.

»Ich nehme doch an«, erwiderte Bishop, »Ihr Labor wird feststellen, dass jeder im Haus die irgendwann einmal in der Hand gehabt hat.«

»Zufällig oder absichtlich?«, konterte Anderson.

Bishop antwortete nicht.

Ich wollte nicht, dass die Unterhaltung in eine Konfrontation abglitt. »Was sollte Ihrer Meinung nach am besten mit Billy passieren?«, fragte ich Bishop.

»Es geht nicht darum, was meiner Meinung nach passieren sollte. Als sein Vater werde ich dafür sorgen, dass er wenigstens bis zu seinem achtzehnten Geburtstag im Payne Whitney oder einer vergleichbaren Institution bleibt. Anschließend kann ich eine strikt geregelte und gesicherte Unterbringung hier auf der Insel für ihn arrangieren.«

Ich dachte an das »Wachhaus« an der Straße, die zu Bishops Anwesen führte. »Hausarrest?«, fragte ich, wobei ich dem Wort mit einem angedeuteten Lächeln die Schärfe nahm.

»Wenn es sein muss«, antwortete Bishop. »Aber nicht in diesem Haus.«

Und zum ersten Mal machte ich mir zur Gänze bewusst, dass ich einem Mann gegenübersaß, dessen kleine Tochter ermordet worden war. Doch es gelang mir nicht, große Wut – oder Trauer – zu erkennen. »Sie wollen Billy trotz allem helfen«, fragte ich vorsichtig.

»Selbstverständlich.«

»Selbst nachdem Sie das Ergebnis der Obduktion kennen.«

Bishop zögerte keine Sekunde. »Billy ist kein schlechter Mensch«, erklärte er. »Er ist krank. Und er hat allen Grund dazu. Er ist selbst ein Opfer.«

Dieses Bild stimmte mit meiner persönlichen Einschätzung von gewalttätigen Menschen überein. Nichtsdestotrotz störte mich Bishops Gemütsruhe im Angesicht des Todes seiner Tochter. Er schien eher distanziert denn mitfühlend. »Stört es Sie, wenn ich Ihnen einige Fragen über Billy stelle?«, fragte ich.

»Nicht im Geringsten«, antwortete Bishop.

»Sie erwähnten, dass Billy bereits gestört war, als Sie ihn adoptierten. In welcher Hinsicht?«

»Ich weiß nicht, was Chief Anderson Ihnen bereits erzählt hat«, sagte Bishop.

»Ich höre die Dinge gern aus erster Hand«, erwiderte ich.

»Nun gut. Wir haben Billy aus einem Moskauer Waisenhaus adoptiert, als er sechs war. Das war vor zehn Jahren. Er hatte ein schweres psychologisches Trauma erlitten.«

»Was ist mit ihm passiert?«, fragte ich.

»Seine Eltern wurden ermordet«, erklärte Bishop tonlos.

»Wie?«, wollte North wissen.

»Beide wurden mit jeweils einem Kopfschuss getötet, wie bei einer Hinrichtung. Billy wurde neben ihren Leichen gefunden. In der Wohnung der Familie.«

»Wurde der Fall aufgeklärt?«, fragte North.

»Ich bin nicht sicher, ob es überhaupt eine Ermittlung gab«, antwortete Bishop. »Wir sprechen hier von einer Zeit umwälzender Veränderungen dort drüben – Korruption in der Regierung, Übermacht des organisierten Verbrechens. Die Polizei war mehr damit beschäftigt, Schutzgelder von Geschäftsbesitzern zu kassieren, als die unbescholtenen Bürger von Moskau zu beschützen.« Er räusperte sich. »Ich bin sicher, dass die Zeit im Waisenhaus alles nur noch schlimmer gemacht hat. Als Billy in die Staaten kam, hatte er am ganzen Leib blaue Flecke und war unterernährt. Er wog gerade mal fünfzehn Kilo.«

»Und in emotionaler Hinsicht?«, fragte ich.

»Auf den ersten Blick ein sehr sanftmütiges, verletzliches Kind. Er hatte Angst vor lauten Geräuschen, unbekannten Orten, unbekannten Gesichtern. Selbst vor mir. Sein größtes Problem waren seine Albträume, aus denen er völlig hysterisch hochgeschreckt ist. Sein Schlaf ist nie wirklich ruhiger geworden.« Bishop verschränkte seine Finger. »Das mag zum Teil daran liegen, dass er so lange Bettnässer war.«

Ich dachte wieder an Carl Rossettis Wette im Café Positano in East Boston, es würde sich herausstellen, dass Billy alle drei Risikofaktoren für Psychopathie aufweisen würde – Tierquälerei, Feuerlegen und Bettnässen. »Wie hat er sich im Lauf der Zeit entwickelt?«, fragte ich.

»Seine Angst hat eindeutig nachgelassen«, meinte Bishop. »Leider trat Aggression an ihre Stelle. Er hat mich und seine Mutter angegriffen, ohne jede Vorwarnung. Eine Zeit lang haben wir uns gefragt, ob er wütend auf uns ist, weil wir ihn in dieses Land gebracht haben – oder weil wir versuchen, ihm seine leiblichen Eltern zu ersetzen. Aber seine Destruktivität hat sich nie allein gegen Julia und mich gerichtet, sondern praktisch gegen alles: Dinge, Tiere, sogar ihn selbst.«

»Hat er sich Schnitte zugefügt?«, fragte ich.

»Ja. Und er hat sich gebissen«, erklärte Bishop. »Außerdem hatte er die Angewohnheit, sich das Haar auszureißen. Die Selbstverletzung hat irgendwann aufgehört; die Gewalttätigkeit gegen andere nicht.«

»Ist Billy von einem Psychiater behandelt worden?«, fragte ich.

»Von vielen. Er ist in ein halbes Dutzend psychiatrische Abteilungen eingewiesen worden, gleich nachdem er mit neun Jahren die Haustiere von Nachbarn verletzt hat.«

»Und hatte er einen behandelnden Psychiater außerhalb des Krankenhauses?«

Bishop schüttelte den Kopf. »Das Jugendamt hat mehrmals ambulante psychiatrische Betreuung zu einer Bedingung für Billys Freilassung gemacht. Er hat sich genau an die Vorgaben gehalten – zehn Therapiestunden, fünfzehn, was immer nötig war, um rauszukommen und nicht in die Jugendstrafanstalt zu müssen. Danach hat er sich strikt geweigert, in die Kliniken zu gehen. Wenn wir ihn gezwungen haben, hat er nur die ganze Stunde über stumm dagesessen. Die Ärzte haben es einmal auch mit Prozac probiert, nachdem er versucht hatte, das Haus anzuzünden. Aber die Pillen schienen ihn eher noch impulsiver zu machen.«

Ich musterte Bishop einen Moment lang. Er wirkte ebenso gekünstelt wie seine Umgebung. Elegant und unerschütterlich. Vielleicht war eine kleine Konfrontation doch keine ganz schlechte Idee, dachte ich. Vielleicht würde sie ihm irgendeine Emotion entlocken. Schuld. Wut. Irgendetwas. »Wieso haben Sie überhaupt den Fehler gemacht, ihn zu adoptieren? Ausländische Adoptionen sind ja bekanntermaßen problematisch, auch ohne eine katastrophale Familiengeschichte wie Billys.«

Er ließ sich nicht von dem Wort Fehler ködern. »Meine erste Adoption, die von Garret, war eine durch und durch positive Erfahrung. Ich war dabei, ein Unternehmen in Russland aufzubauen, und hatte überwältigenden Erfolg«, erklärte er. »Ich wollte etwas zurückgeben. Aber zweifellos habe ich die emotionalen Hürden auf Billys Weg unterschätzt.«

Mir fiel auf, dass Bishop von den Adoptionen sprach, als wäre er allein dafür verantwortlich gewesen. »Beide Adoptionen waren Ihre Entscheidung«, stellte ich fest.

»Ja«, bestätigte er. »Mir gefällt die Vorstellung, Menschen eine Chance zu geben, denen das Leben keine geben will. Besonders jungen Menschen. Und ganz besonders Kindern.«

»Und wie stand Ihre Frau Julia dazu, dass Billy in die Familie kam?«, fragte ich.

»Sie hat mich unterstützt«, antwortete er.

»Das klingt nicht gerade begeistert«, hakte ich nach.

Bishop faltete seine Hände auf dem Schoß. »Ich habe viel von Julia verlangt«, fuhr er mit gelassener Stimme fort. »Sie hat meinen Sohn vom ersten Tag unserer Ehe an in der Familie willkommen geheißen. Sieben Jahre später ein weiteres Kind aufzunehmen war keine leichte Aufgabe – besonders einen Jungen mit Billys Vergangenheit.«

»Ihre Exfrau hat nicht das Sorgerecht für Garret zugesprochen bekommen«, sagte ich.

»Sie hat es nicht eingeklagt«, erwiderte er.

»Warum?«

»Das ist eine komplizierte Geschichte, die jetzt nichts zur Sache tut.«

Sein Tonfall verriet mir, dass das Thema tabu war. Ich registrierte sein Unbehagen und steuerte in eine andere Richtung. »Wer hat Ihre Tochter gefunden nach … nach dem Verbrechen?«, fragte ich.

»Ich«, sagte er augenblicklich und ohne jede Emotion.

»Wann?«

»Am Donnerstag, kurz vor vier Uhr früh.«

»Sie waren zufällig um vier Uhr früh wach?«, fragte Anderson.

»Ich habe einige Bilanzen durchgesehen, um mich auf den Börsenbeginn in Fernost vorzubereiten«, erklärte Bishop.

»Haben Sie auch gestern die Börse verfolgt?«, erkundigte ich mich.

»Ja«, sagte er.

Ich entschied mich für einen Blattschuss, um seinen Panzer zu durchdringen. »Wie konnten Sie sich Ihren Geschäften widmen«, sagte ich, »nachdem Sie Ihre Tochter tot in ihrer Wiege gefunden hatten?«

Bishop starrte mich an, antwortete aber nicht.

Anderson warf mir einen Blick zu, der signalisierte, dass er der Ansicht war, ich sei zu weit gegangen.

Ich fürchtete, er könnte Recht haben. Möglicherweise hatte ich die Nadel in Bishops Seele gebohrt und etwas aufgestochen, das unkontrolliert bluten würde. Doch als er schließlich fortfuhr, tat er es mit derselben kühlen Entschiedenheit, die er während unserer gesamten Unterhaltung an den Tag gelegt hatte. »Wenn ich ein Lösegeld zahlen könnte, um meine Tochter zurückzubringen«, sagte er, »dann würde ich mit Freuden jeden Dollar hergeben, den ich besitze. Aber das ist unmöglich. Ich habe sehr hart für mein Geld gearbeitet und beabsichtige, daran festzuhalten.« Er verzog den Mund zu einem aufgesetzten Lächeln und sah auf seine Uhr. »Meine Herren«, sagte er, »uns bleibt leider keine Zeit mehr. Ich habe Julia versprochen, dass wir früh zu Abend essen.«

»Wäre es möglich, dass Dr. Clevenger sich in New York mit Billy unterhält?«, fragte Anderson.

Bishops Gesicht blieb eine Maske der Umgänglichkeit. »Wozu?«, fragte er.

»Ich könnte nützlich für Ihren Sohn sein, falls Mordanklage gegen ihn erhoben wird«, sagte ich. »Es besteht durchaus die Möglichkeit, auf verminderte Schuldfähigkeit zu plädieren.«

Verminderte Schuldfähigkeit ist eine juristische Doktrin, die es Richtern und Geschworenen erlaubt, sich gegenüber Angeklagten nachsichtiger zu zeigen, die zum Zeitpunkt der Tat zwar zurechnungsfähig waren, doch nichtsdestotrotz eindeutig geistesgestört sind. Solche Angeklagten werden häufig einer geringeren Straftat für schuldig befunden – beispielsweise Körperverletzung mit Todesfolge oder Totschlag statt Mord.

»Ja, ich muss gestehen, dass das gegebenenfalls nützlich sein kann«, sagte Bishop. »Ich werde alles Nötige veranlassen.« Er stand auf. »Gibt es sonst noch etwas, womit ich Ihnen behilflich sein kann?«

»Im Moment nicht«, antwortete Anderson.

Wir erhoben uns und machten Anstalten, das Arbeitszimmer zu verlassen, als mein Blick auf eine Gruppe von drei Ölgemälden direkt neben der Tür fiel. Es waren Porträts von drei Polopferden, die mit Paradesätteln und -steigbügeln aufgezäumt und deren Fesseln mit purpurnen Binden umwickelt waren. Ich blieb vor den Bildern stehen. Ich wollte herausfinden, wie schnell Bishop von einem Gespräch über den Mord an seiner Tochter zu einem erheblich seichteren Thema wechseln konnte. »Sind das Ihre?«, fragte ich ihn.

Der Themenwechsel schien ihm keinerlei Schwierigkeiten zu bereiten. »Ja«, antwortete er stolz. »Sie gehören alle mir.« Es schwang mehr Gefühl darin mit, als er in unserer gesamten bisherigen Unterhaltung gezeigt hatte. »Ich habe zwölf.«

»Wunderschöne Tiere«, bemerkte Anderson.

»Das sind sie«, pflichtete Bishop bei.

»Ich selbst habe nie Polo gespielt«, sagte ich. »Aber ich hatte immer vor, es zu lernen.«

»Ich hoffe, Sie werden irgendwann einmal mein Gast sein«, erwiderte Bishop. »Vielleicht im Myopia. Er liegt ganz in der Nähe von Boston.« Sein Tonfall sagte mir, dass ich vermutlich lange auf eine Einladung warten musste.

»Das würde mich freuen.« Ich betrachtete abermals die Porträts. »Sind das Ihre Lieblinge? Von Ihren zwölf, meine ich.«

»Eigentlich nicht. Sie standen dem Maler rein zufällig zur Verfügung.«

»Haben Sie je eines von ihnen mehr geliebt als die anderen?«

Bishop grinste. »Ich empfinde für alle dasselbe.«

»Ist es so wie die Liebe zu einem Haustier?«, fragte ich. »Zu einem Hund oder einer Katze?«

»Nein«, erwiderte er. »Es ist eher wie die Liebe zu einem Tennis- oder Golfschläger.«

»Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, sagte ich.

»Man liebt sie«, antwortete er, »in dem Maße, in dem sie einem zum Sieg verhelfen.«

Claire Buckley führte uns hinaus. Als wir auf die Auffahrt hinaustraten, kamen zufällig Garret Bishop und seine Mutter vom Tennisplatz auf das Haus zu. Wir verlangsamten unsere Schritte.

Der ältere Bishop-Junge, der weiße Shorts und ein weißes T-Shirt trug, war mit seinen siebzehn Jahren bereits fast einsachtzig groß und so kräftig gebaut wie sein Vater. Doch während der Gang des Vaters entschlossen und aggressiv war, bewegte sich sein Sohn wesentlich zaghafter. Er zog die Schultern hoch und beugte beide Knie ein wenig, sodass jeder Schritt etwas schlurfend wirkte.

Julia Bishop, in einem schwarzen Pareo und einem weißen T-Shirt, war kleiner und zierlicher, als ich von ihrem Foto im Arbeitszimmer vermutet hätte. Sie ging mit gesenktem Kopf.

Aus zwanzig Meter Entfernung wirkten Mutter und Sohn wie ein Pärchen auf dem Rückweg von einem Tennisturnier, doch als sie näher kamen, wurde deutlich, dass man Julia ihr Alter – Mitte dreißig – durchaus ansah und dass sie der Verlust ihrer Tochter schwer getroffen hatte. Ihre Wangen waren ein wenig aufgedunsen, und die roten Flecke an ihrem Hals waren deutliche Anzeichen, dass sie viel geweint hatte. Nichtsdestotrotz war ihre Schönheit unleugbar, strahlend wie ein Scheinwerfer im Nebel. Als Erstes fielen mir ihre Smaragd-Augen auf – ein tiefes Grün, das von dem Rahmen aus schulterlangem schwarzem Haar, dem Haar einer Geisha, noch betont wurde. Dann wanderte mein Blick zu ihren hohen Wangenknochen und den vollen Lippen, dem schlanken Hals, der Anmut und blanke Sexualität verschmolz.

Ich konnte meine Augen nicht von ihr losreißen. Sie trug ein kurzärmeliges weißes T-Shirt, das so eng anlag, dass sich darunter ihr spitzenbesetzter Bügel-BH abzeichnete, und kurz genug war, um den Blick auf ihren Nabel und gute zehn Zentimeter ihres sonnengebräunten Bauchs freizugeben. Noch etwas tiefer lugte ein schmaler Streifen eines schwarzen Bikini-Höschens unter dem schwarzen Leinen-Pareo hervor, der an einer Hüfte zusammengeknotet war und ein makellos geformtes Bein entblößte.

Ich streckte meine Hand aus, während Anderson uns einander vorstellte, und Julia ergriff sie.

»Es tut mir Leid, dass Sie den ganzen Weg hier herausgekommen sind, Doktor«, sagte sie mit einer Stimme so voller Verletzlichkeit, als würde sie jeden Moment darum bitten, in den Arm genommen zu werden.

Je länger ich sie ansah, desto mehr schien mich ihre innere Leuchtkraft einzuhüllen. Es war wie ein himmelblauer Nebel. Als sie mir ihre Hand entzog, überkam mich fast so etwas wie ein Gefühl des Verlusts. »Ich hatte Gelegenheit, mit Ihrem Mann zu sprechen«, sagte ich. »Ich bin froh, dass ich hergekommen bin.«

Julia sah zu Claire. »Wie geht es Tess?«, fragte sie besorgt.

»Bestens«, versicherte Claire. »Sie war vorhin ein bisschen quengelig …«

Julia seufzte und schaute zum ersten Stock des Hauses hinauf. »Ich hätte sie nicht allein lassen sollen. Ist sie …?«

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Claire beschwichtigend. »Ich hab ihr ein Fläschchen gegeben, und sie hat sofort aufgehört. Jetzt macht sie ein Nickerchen.«

Julia nickte geistesabwesend und spielte nervös an ihrem Verlobungs- und ihrem Ehering herum. Der Diamant funkelte im Sonnenschein. Er musste um die acht bis zehn Karat haben.

Garret wirkte sogar noch nervöser als sie. Von Zeit zu Zeit trat er nach einem der Kiesel auf der Auffahrt. Er war kein gut aussehender junger Mann, besaß aber eine Adlernase und markante Wangenknochen, die ihm ein entschlossenes, ernstes Aussehen verliehen. »Ich möchte jetzt reingehen«, verkündete er und zupfte an dem geflochtenen Lederarmband an seinem Handgelenk.

Julia rang sich ein Lächeln ab, das jedoch nicht die Trauer in ihren Augen zu verdrängen vermochte. »Garret hätte heute fast seinen Tennislehrer geschlagen.«

»Das ist mir egal«, sagte der Junge zu Claire. »Ich wollte überhaupt nicht spielen. Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden.«

»Mein Mann möchte, dass er seinen Tagesablauf beibehält«, sagte Julia und warf mir einen flehenden Blick zu. Offensichtlich sah sie sich gezwungen, zu erklären, warum Garret keine zwei Tage nach der Ermordung seiner Schwester und wenige Stunden nach der Einweisung seines Bruders in eine geschlossene psychiatrische Abteilung eine Tennisstunde nahm. Es war eine durchaus angebrachte Frage. »Aber nicht nur Win«, fügte Julia hinzu, »sondern auch unser Hausarzt hat gesagt, wir sollen alles so normal wie möglich weiterlaufen lassen.«

Garret schüttelte den Kopf. »Klar«, zischte er.

Ich wollte nicht der Elefant im Porzellanladen sein, aber auch nicht fortgehen, ohne so viel wie möglich über die emotionale Dynamik innerhalb der Familie herausgefunden zu haben. »Garret«, sagte ich. »Wie wirst du mit dem fertig, was hier während der letzten achtundvierzig Stunden passiert ist?«

Er hörte auf, mit den Füßen zu scharren, und wagte flüchtigen Augenkontakt mit mir. Einen Moment lang sah er aus, als würde er gleich in Tränen ausbrechen, doch dann verhärteten sich seine Züge. »Gut«, erklärte er trotzig. »Ich werd’s schon durchstehen.«

Julia zuckte zusammen.

Ich streckte die Hand aus und berührte sanft ihren Arm. »Wenn Sie oder irgendjemand sonst in der Familie darüber reden wollen, was passiert ist, dann stehe ich gern zur Verfügung«, sagte ich. Ich bemerkte, dass Anderson auf meine Hand starrte, die noch immer auf Julias weicher Haut ruhte, und nahm sie weg.

Sie schluckte. »Danke«, sagte sie. »Ich vermute, dass wir nicht alle erwarten können, es allein durchzustehen.«

»Also, was denkst du?«, fragte Anderson, als wir die Auffahrt hinunter zur Wauvinet Road fuhren.

»Ich sage dir, was ich nicht denke«, erwiderte ich. »Ich denke nicht, dass Darwin Bishop schlicht vergessen hat, dich über Billys Einweisung in eine New Yorker Klinik zu informieren.«

»Das heißt?«

»Niemand, der vierundzwanzig Stunden, nachdem er seine Tochter tot in ihrer Wiege gefunden hat, am Nikkei mit Aktien spekulieren kann, vergisst einfach, dass der Polizeichef mit einem Seelenklempner aus Boston vorbeikommt. Er wollte, dass wir kommen.«

»Warum? Warum hat er uns hierher kommen lassen, wenn Billy nicht zu sprechen ist?«

»Vielleicht, um mich unter die Lupe zu nehmen, oder aber, um uns eine Botschaft zu übermitteln. Jedenfalls hat er gesagt, was er zu sagen hatte: wie gestört Billy ist; dass er, Julia und ein halbes Dutzend Psychiater nach Kräften versucht haben, ihm zu helfen, und sogar, dass Billy dem Bild eines Psychopathen bis ins letzte Detail entspricht. Er hat nichts ausgelassen: Brandstiftung. Tierquälerei. Bettnässen. Und er hat als Zugabe sogar noch Selbstverstümmelung draufgegeben – das Beißen und das Ausreißen von Haaren.«

»Er hat nur deine Fragen beantwortet«, widersprach Anderson. »Er hat nichts aus freien Stücken gesagt.«

»Ein Mann wie Darwin Bishop kommuniziert auf dieselbe Weise, wie ein Karatemeister kämpft«, erwiderte ich. »Er nutzt deinen eigenen Schwung, um dich an die Stelle zu lenken, wo er dich haben will. Wenn er dir etwas über sein Unternehmen erzählen wollte, dann würde er nicht einfach damit herausplatzen. Er würde dich glauben lassen, du hättest ihm die Informationen praktisch aus der Nase gezogen.« Ich nickte. »Er geht in dieser Angelegenheit so vor, als wäre sie ein Geschäftsabschluss. Strategisch.«

»Na ja, keine besonders clevere Strategie«, bemerkte Anderson. »Er drängt die Staatsanwaltschaft mit dem Rücken an die Wand. Wenn die Presse erst einmal Wind davon bekommt, dass Billy den Bundesstaat verlassen hat, dann ist Tom Harrigan praktisch gezwungen, Mordanklage gegen ihn zu erheben. Wenn er es nicht tut, würde er sich eine Blöße geben.«

»Das könnte genau das sein, was Bishop beabsichtigt.«

»Harrigan dazu zu bringen, Anklage gegen Billy zu erheben, bevor er sich richtig vorbereitet hat?«

»Oder«, sagte ich, »ihn Anklage gegen Billy statt gegen jemand anderen erheben zu lassen.«