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Sonnabend, 22. Juni 2002
Lilly Cunningham blickte auf. Ich schmolz dahin. Sie war neunundzwanzig und hatte hellblaue Augen, in denen man versinken konnte. Ihr blondes, lockiges Haar war so seidig, dass man es berühren wollte. Ihre hohe Stirn zeugte von Intelligenz, während der sanfte Schwung ihrer Nase ihrem Gesicht Anmut verlieh. Sie besaß volle Lippen, Grübchen auf den Wangen und einen langen, schlanken Hals. Ein schlichtes Goldkreuz an einer zarten Kette zeigte auf die Wölbungen ihrer Brust und ihres Bauchs, die sich unter dem dünnen weißen Laken hoben und senkten.
Ein Teil von mir wollte nicht aufhören, Lillys Schönheit zu bewundern, doch ein anderer, entscheidenderer Teil von mir liebt die Wahrheit, und die ist fast immer hässlich. Mein Blick wanderte zu ihrem entblößten Schenkel.
Das Fleisch war von der Lendenbeuge bis zum Knie entzündet. An einigen Stellen war die Haut aufgeplatzt, aufgeworfen wie feuchtes Pergament, durch das eine rötliche Flüssigkeit nässte. Zwei schwarze, mit Filzstift angemalte Schlangenlinien zogen sich etwa dreißig, fünfunddreißig Zentimeter lang über das blutige Fleisch und markierten die Stellen, wo der Chirurg seine Schnitte für die Drainage setzen würde.
Ein Krieg war erklärt und die Fronten gezogen worden.
»Ich glaube, wir sind einander noch nicht begegnet«, sagte Lilly angespannt.
»Dr. Clevenger«, stellte ich mich vor, ohne den Blick von ihren Schenkeln zu lösen. Ich stand einige Schritte vom Bett entfernt, wie immer, wenn ich meine Patienten das erste Mal besuche.
»Mhmm. Kahl geschorener Schädel, Jeans, Cowboystiefel. Sie sehen nicht wie ein Arzt aus. Zumindest wie keiner, den ich hier im Mass General gesehen habe.«
Ich sah sie herausfordernd an. »Wie sehe ich denn aus?«
Sie brachte mühsam ein Lächeln zuwege. »Keine Ahnung. Wie ein Künstler vielleicht … oder ein Barmann.« Sie lachte, doch es klang matt. »Haben Sie auch einen Vornamen?«
»Frank.«
»Na gut, Dr. Frank Clevenger. Was ist Ihr Spezialgebiet? Chirurgie? Innere Medizin? Infektionskrankheiten?«
»Ich bin Psychiater.«
Sie schüttelte den Kopf und drehte sich zur Wand um. »Das ist doch wirklich un-glaub-lich, verdammt noch mal.«
Ich stand einen Moment lang da und starrte auf den Dschungel aus Infusionsschläuchen, durch die Amphotericin und Vancomycin in Lillys Unterschlüsselbeinschlagader tröpfelten. Ein Fenster direkt hinter den Tröpfen bot Ausblick auf Bostons Charles River in der Abenddämmerung, dessen Wasseroberfläche blaugrau und vollkommen still dalag. Ich wagte einen erneuten Versuch. »Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«
»Sie können tun und lassen, was Sie wollen. Es ist mir egal.«
Ich hörte eine Mischung aus Wut und Kapitulation in ihrer Stimme und trat näher ans Bett. »Haben Sie eine Ahnung, warum Ihre Ärzte mich gebeten haben, mit Ihnen zu sprechen?«
»Vermutlich, weil sie Mist bauen«, maulte sie und schüttelte entnervt den Kopf. »Sie finden einfach nicht heraus, was mit mir los ist, deshalb stempeln sie mich als verrückt ab.«
Das war zur Hälfte richtig. Die Ärzte stempelten sie tatsächlich als verrückt ab, wussten aber ganz genau, was mit ihr los war – zumindest körperlich.
Drake Slattery, Chefarzt der Inneren Abteilung, hatte mir den Fall geschildert. Er hat die Statur eines Holzfällers und war Ringer in der Universitätsmannschaft von Duke, und die Muskeln seiner verschränkten Arme hatten angespannt gezuckt, während er sprach. »Sie ist vor etwa vier Monaten in die Notaufnahme gekommen, geradewegs aus den Flitterwochen auf St. Bart’s. Leichtes Fieber, rote Flecken auf ihrem Oberschenkel. Ich vermutete, irgendein tropisches Insekt hätte sie gestochen und eine leichte Entzündung des Unterhautbindegewebes hinterlassen. Keine große Sache. Aber ich Idiot habe meinen ganzen Terminkalender über den Haufen geworfen, um umgehend alle Untersuchungen zu veranlassen und sie auf Antibiotika zu setzen.«
»Ist sie so hübsch?«, hatte ich gefeixt.
Er warf mir einen beleidigten Blick zu. »Professionelle Höflichkeit; sie ist Krankenschwester drüben im Brigham & Women’s Hospital.«
»Schon klar.«
»Und ganz nebenbei ist sie schlichtweg umwerfend.«
Ich schmunzelte.
»Ich pumpe sie also mit Ampicillin voll, und es scheint zu wirken«, fuhr er fort. »Aber zwei Wochen später steht sie plötzlich wieder in der Notaufnahme. Ihr Bein ist auf doppelte Größe angeschwollen. Sie sagt, es fühle sich an, als würde jemand ein glühendes Messer in ihren Schenkel bohren. Und sie hat neununddreißig Grad Fieber.« Die Muskeln seiner Arme fingen wieder an zu zucken. »Das Ampicillin scheint nicht mehr zu wirken, also gebe ich als Nachschlag noch Rocephin dazu. Daraufhin geht die Schwellung auch ziemlich schnell zurück. Ende gut, alles gut, ja? Manchmal muss man den bösen Bazillen eben mit schweren Geschützen zu Leibe rücken.«
Slattery war ein begeisterter Jäger, was es mir gelegentlich schwer machte, ihn trotz seiner einzigartigen Kombination aus Genialität und trockenem Humor zu mögen. »Du bist hier der Schütze«, erwiderte ich.
Er zwinkerte. »Fünf Tage später ist sie wieder in der Notaufnahme, geschwollener und röter als je zuvor. Zittert am ganzen Leib. Über vierzig Grad Fieber. Jetzt fange ich wirklich an, mir Sorgen zu machen. Ich weiß einfach nicht, was es sein könnte. Lymphblockade infolge eines Tumors? Sarkoidose? Ich hab sogar überlegt, ob es irgendeine merkwürdige Erscheinungsform von Aids sein könnte. Ich wäre nie im Leben darauf gekommen, was es wirklich war.«
Über die folgenden Monate wies Slattery Lilly viermal ins Mass General ein, behandelte sie mit einem Dutzend verschiedener Fungizide und Antibiotika. Einige schienen zu wirken, senkten die Zahl ihrer weißen Blutkörperchen und hielten den Schüttelfrost und das Fieber in Zaum, unter denen sie litt. Aber jedes Mal tauchte sie schon wenige Tage danach wieder in der Notaufnahme auf, abermals infiziert und fiebernd.
Eine Computer-Tomographie ihres Beines zeigte keinen Tumor. Ein Skelettszintigramm offenbarte keine Knochenhautentzündung. Wiederholte Blutkulturen konnten keine bösartigen Bakterien nachweisen. Also veranlasste Slattery schließlich eine Biopsie des Semitendinosus- und des Schenkelmuskels in Lillys Bein und schickte die Gewebeproben zum bakteriologischen Labor der Zentralstelle für Infektionskrankheiten in Bethesda, Maryland. Das Ergebnis kam eine Woche später zurück: Pseudomonas fluorescens, ein Krankheitserreger, der gemeinhin in Erde gefunden wurde.
»Wir haben zuerst ihrem Mann die Neuigkeit überbracht«, hatte Slattery mir erzählt. »Er brach zusammen und gestand, er hätte ganz hinten in ihrer Schublade eine schlammverkrustete Spritze gefunden. Eingewickelt in einen ihrer Slips.«
Allein beim Gedanken daran bekam ich eine Gänsehaut.
»Wir reißen uns hier den Hintern auf, um zu verhindern, dass diese Irre ihr Bein verliert«, fuhr Slattery fort, »und dann stellt sich heraus, dass sie sich eigenhändig Dreck injiziert hat.«
»Das könnte uns einiges darüber sagen, wie sie sich selbst sieht«, bemerkte ich.
»Dir vielleicht. Mir sagt es, dass sie nichts in einem Krankenhaus zu suchen hat. Sie stiehlt – meine Zeit, von den Mitteln des Krankenhauses ganz zu schweigen.«
»Ich gehe jede Wette ein, dass es bei diesem Fall grundsätzlich ums Stehlen geht. Aber der Schlüssel ist, herauszufinden, was ihr gestohlen wurde.«
»Du bist hier der Poet«, hatte Slattery trocken erwidert. »Deshalb hab ich dich ja dazugeholt.«
Ich betrachtete Lilly, wie sie dort im Bett lag, das Gesicht noch immer zur Wand gedreht. Der Fachausdruck für ihre Erkrankung lautete »Münchhausen-Syndrom«: das absichtliche Hervorrufen von physischen Symptomen, um die Aufmerksamkeit von Ärzten auf sich zu lenken. Der Name leitet sich von Karl Freiherr von Münchhausen, dem berüchtigten »Lügenbaron«, ab. Studien haben gezeigt, dass ein hoher Prozentsatz von Patienten mit dieser Störung im Gesundheitswesen arbeitet – wie Lilly.
Viele Patienten mit Münchhausen-Syndrom haben darüber hinaus in ihrer Kindheit einige Zeit im Krankenhaus verbracht. Eine Theorie besagt, dass sie zu Hause schwerem Missbrauch ausgesetzt waren und die Freundlichkeit der Ärzte als so wohltuend empfanden, dass sie als Folge daraus anfingen, Kranksein mit Geborgenheit gleichzusetzen. Als Erwachsene werden sie regelrecht süchtig danach, in die Rolle des Kranken zu schlüpfen, um ihren unterschwelligen emotionalen Schmerz zu betäuben und traumatische Erinnerungen zu unterdrücken – in der gleichen Weise, wie Drogensüchtige Heroin benutzen.
Um Münchhausen zu behandeln, muss der Psychiater den Patienten an den Punkt bringen, wo er bereit ist, sich dem ursprünglichen Trauma zu stellen, das er oder sie verdrängt. Das mag einfach klingen, ist es aber ganz und gar nicht. Menschen mit Münchhausen entziehen sich in der Regel der Behandlung, um zu verhindern, dass den tiefer liegenden Problemen auf den Grund gegangen wird.
Lilly zu dem Geständnis zu zwingen, dass sie die Infektion selbst herbeigeführt hatte, würde sie nur verschrecken. Das Wichtigste war, sie wissen zu lassen, dass ich verstand, dass sie tatsächlich infiziert war. Nur einer der Erreger war in Erde zu finden. Der andere – weit giftiger und zerstörerischer – war in den dunklen Winkeln ihres Unterbewusstseins verborgen.
Ich zog einen Sessel ans Bett und setzte mich. »Niemand bezweifelt, dass Sie krank sind«, sagte ich. »Am allerwenigsten Dr. Slattery. Er meinte, die Infektion sei sehr ernst.«
Lilly rührte sich nicht.
Ich beschloss, sie damit zu ködern, dass ich die professionelle Distanz zwischen uns verringerte und ihr ein wenig von der ärztlichen Wärme anbot, nach der sie sich so sehnte. Ich streckte meine Hand aus und berührte die schwarzen Linien, die der Chirurg auf ihren Schenkel gezeichnet hatte. »Stress schwächt das Immunsystem. Das ist eine Tatsache.«
Noch immer keine Reaktion.
Ich ließ meine Hand zu Lillys Hüfte gleiten. »Eigentlich sollten Sie als Krankenschwester dem doch zustimmen, oder?«
Sie drehte sich auf den Rücken, und ich zog meine Hand zurück. »Es tut mir Leid, dass ich Sie so angefahren habe«, sagte sie und starrte an die Decke. »Ich bin mit den Nerven am Ende. Hier spaziert ein Arzt nach dem anderen herein. Ich werde mit einem Medikament nach dem anderen voll gepumpt. Zwischen den Aufenthalten hier war ich keine fünf Tage am Stück zu Hause.« Sie seufzte tief. »Nicht gerade das, was man verlängerte Flitterwochen nennt.«
»Sie sind frisch verheiratet«, sagte ich. »Das habe ich in Ihrem Krankenblatt gelesen.«
»Ich vermute, mein Leben ist ein offenes Buch«, konterte sie.
»Mein Eindruck ist eher, dass es kaum ein Buch gibt, das weniger offen ist als Sie.«
Sie sah mich an.
»Wie lange sind Sie schon verheiratet?«, fragte ich.
»Vier Monate.«
»Und ist es so, wie Sie es sich vorgestellt haben?«
Ihre Miene wurde schlagartig abweisend, vielleicht, weil ich zu distanziert geklungen hatte, zu analytisch, zu sehr wie der Psychiater, der gekommen war, um eine Diagnose zu stellen.
Ich bot ihr eine weitere Annäherung in der Arzt-Patient-Beziehung an. »Ich habe das mit der Ehe selbst nie ausprobiert.«
»Nein?«
»Ich war einmal verlobt. Es ist nichts daraus geworden.«
»Was ist passiert?«
Kathy erschien vor meinem geistigen Auge, so wie ich sie das letzte Mal gesehen hatte, in ihrem Zimmer in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie im Austin Grate Hospital. »Sie war krank«, sagte ich. »Ich habe versucht, gleichzeitig ihr Ehemann und ihr Arzt zu sein. Ich habe beides vermasselt.«
»Das tut mir Leid«, sagte sie.
»Mir auch.«
Lilly entspannte sich sichtlich. »Paul ist der absolute Traum. Er ist so verständnisvoll. In allem.«
»In allem …«
Sie errötete wie ein Backfisch. »Wir hatten nicht viel Zeit, um … Sie wissen schon.«
Ich zuckte mit den Achseln und schüttelte den Kopf, obgleich ich genau wusste, was sie meinte.
»Nun, Zeit, um …« Sie kicherte. »… Flitterwöchner zu sein.«
»Hatten Sie denn überhaupt Zeit dafür?«
»Das Problem mit meinem Bein fing gleich nach unserer Abreise nach St. Bart’s an. Wir mussten sogar früher zurückfliegen.«
»Aber er hatte Verständnis?«
»Er hat mich nie bedrängt«, erklärte sie. »Er ist ein sehr geduldiger Mann. In dieser Hinsicht erinnert er mich an meinen Großvater. Ich schätze, das ist auch der Grund, weshalb ich mich in ihn verliebt habe.«
Manchmal spricht eine leise Stimme in meinem Hinterkopf, während ich mit Patienten rede. Es ist meine eigene Stimme, doch sie entstammt einem Teil von mir, über den ich keine völlige Kontrolle habe – einem Teil, der zwischen den Zeilen lauscht, selbst meinen eigenen, und dann das Unausgesprochene in meinem Kopf abspielt. »Sex, Schmerz, Großvater. Wenn der Liebesakt sich genauso anfühlt, als würde man sich Schmutz injizieren, dann bricht man die Flitterwochen ab und fährt schnurstracks ins Krankenhaus.«
»Erzählen Sie mir von ihm«, sagte ich und überließ ihr die Entscheidung, über welchen der beiden Männer sie reden wollte.
»Großvater?«
Ich lächelte nur.
»Er ist gelassen und stark. Sehr verlässlich.« Sie machte eine kurze Pause. »Mein Vater ist gestorben, als ich sechs war. Meine Mutter und ich sind zu meinen Großeltern gezogen.«
»Leben sie noch?«
»Gott sei Dank«, sagte sie.
»Wissen sie über Ihr Problem Bescheid?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe es niemandem in meiner Familie erzählt.«
»Nicht einmal Ihrer Mutter?«
»Nein.«
Ich hatte das Gefühl, einen Zugang zu Lillys Psyche gefunden zu haben. Ich konnte die Infektion in ihrem Bein als eine Metapher für ihr Kindheitstrauma benutzen. »Ein Geheimnis zu hüten – besonders ein so großes – kann den Stress, unter dem Sie stehen, verstärken«, sagte ich.
»Meine Großeltern sind inzwischen sehr alt. Und meine Mutter hat ihre eigenen Sorgen. Ich will sie alle nicht damit belasten.«
»Aber Sie liegen ihnen am Herzen, und Sie leiden Schmerzen.«
»Ich werde schon damit fertig«, erklärte sie.
»Nachdem du deinen Vater verloren hattest«, sagte die Stimme in meinem Hinterkopf, »wolltest du nicht riskieren, deinen Großvater auch noch zu verlieren, egal, welchen Preis du dafür zahlen musstest, ihn zu halten. Selbst um den Preis deiner Unschuld. Oder deines Beins.«
Ich hielt mich weiter an die Metapher. »Es könnte ein langer Weg werden, dieser Infektion auf den Grund zu gehen. Sie brauchen vielleicht jemanden, dem Sie sich öffnen können. Jemanden außerhalb Ihrer Familie.« Ich betrachtete die Haut ihres Schenkels, die sich straff und glänzend über das entzündete Gewebe spannte. »Um etwas von dem Druck abzulassen.«
»Der Eingriff und die Drainage sind für morgen Nachmittag angesetzt«, sagte sie.
»Sonst würde sich die Infektion nur immer tiefer im Gewebe ausbreiten.«
Sie sah auf ihr Bein hinunter. »Ich vermute, es wird ziemlich scheußlich aussehen, nachdem sie es aufgeschnitten haben.«
»Ich habe so ziemlich alles schon mal gesehen … und gehört«, sagte ich.
Sie betrachtete ihr Bein noch ein paar Sekunden, ehe sie mich ansah.
»Wenn es Ihnen recht ist, schaue ich nach dem Eingriff wieder vorbei.«
Sie nickte.
»Gut.« Ich drückte ihre Hand, stand auf und ging zur Tür.
So sieht ein kleiner Triumph in der Psychiatrie aus. Man zieht sich an die Seitenlinie zurück, umläuft die Abwehrmechanismen des Verstands und ist froh, wenigstens einen halben Schritt in Richtung Wahrheit gemacht zu haben. Unmittelbar hinter dem nächsten Wort oder dem nächsten Blick könnte der Feuer speiende Dämon lauern, dem man auf der Fährte ist, begierig darauf, gefasst zu werden, und doch entschlossen zu fliehen.
Als ich Lillys Zimmer verließ, hörte ich, wie über das Lautsprechersystem die letzten Silben meines Namens ausgerufen wurden. Ich ging zum Schwesternzimmer, nahm das Telefon und wählte die Nummer der Telefonzentrale des Krankenhauses. »Frank Clevenger«, sagte ich.
»Anruf von außerhalb, Doktor. Ich verbinde.«
Es rauschte kurz in der Leitung, dann meldete sich eine tiefe Stimme. »Hallo?«
Selbst nach zwei Jahren erkannte ich North Andersons Bariton sofort. Er war ein zweiundvierzigjähriger schwarzer Polizist aus Baltimore, dem die dunklen Straßen der Stadt ebenso vertraut waren wie die Adern, die seinen muskulösen Gewichtheber-Körper durchzogen. Wir waren enge Freunde geworden, als wir gemeinsam an jenem Kriminalfall gearbeitet hatten, von dem ich geschworen hatte, es wäre mein letzter. Die Köpfe von Mördern auszuloten hatte am Ende meine eigene Psyche an den Rand der Auflösung getrieben. »Lange nichts von dir gehört«, sagte ich.
»Ich hätte mich schon früher gemeldet, aber …«
Aber wir erinnerten uns wieder an Trevor Lucas, einen wahnsinnigen Schönheitschirurgen, der sich in einer geschlossenen psychiatrischen Abteilung verbarrikadiert und an ausgewählten Patienten und Angestellten grausige Operationen, einschließlich Amputationen, durchgeführt hatte. Das Blutbad, das er angerichtet hatte, geisterte noch immer durch meine Albträume. Anderson schlief wahrscheinlich kaum besser. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte ich.
Einige Sekunden verstrichen. »Du errätst nie, wo ich jetzt arbeite.«
Anderson war der härteste und unerschrockenste Cop, dem ich je begegnet war. »Bandenkriminalität?«
»Kalt, eiskalt.«
»Sittendezernat?«
»Nantucket«, erklärte er.
»Nantucket?«
»Du erinnerst dich doch bestimmt noch, wie sehr ich das Meer liebe«, sagte er. »Da war der Posten eines Polizeichefs ausgeschrieben, also hab ich eine Bewerbung hingeschickt. Bin jetzt schon seit sechzehn Monaten hier. Ich bin sogar eigenhändig mit der North’s Star hergesegelt.«
North’s Star war Andersons Zehn-Meter-Segeljacht, eine der großen Lieben seines Lebens, die nur von der zu seiner Frau Tina und zu seiner Tochter Kristie übertroffen wurde.
»Ich fand, ich hätte meine Zeit an vorderster Front abgeleistet, verstehst du?«, meinte er.
Ich verstand. Nur zu gut. Anderson hatte sich auf eine Insel zurückgezogen, während ich in die geheiligten Hallen der Universitätsklinik von Harvard geflüchtet war. »Du hast mehr als deine Pflicht getan«, bestätigte ich.
Er räusperte sich. »Ich könnte deine Hilfe brauchen.«
Sein Tonfall weckte in mir die Frage, ob auch er mit einer Depression zu kämpfen hatte. »Ich tue, was ich kann. Worum geht’s?«
»Die Bishop-Familie«, sagte er, als würde das alles erklären.
»Wer ist das?«
»Darwin Bishop.«
»Nie von ihm gehört«, sagte ich.
»Der Milliardär? Consolidated Minerals and Metals – CMM? Wird an der Börse gehandelt.«
»He, das mag ja inzwischen deine Welt sein, aber ich hab mit Nantucket nichts am Hut«, gab ich zurück. »Und ich spekuliere nicht mit Aktien.«
»Gestern Abend waren sie in den überregionalen Nachrichten«, fuhr er fort.
»Ich sehe mir auch keine Nachrichten an, wenn ich’s vermeiden kann.«
»Eins seiner kleinen Mädchen, Zwillinge, wurde gestern tot in seiner Wiege gefunden. Fünf Monate alt.«
Ich schloss die Augen und ließ mich gegen die Wand sinken. Ich hatte schon mit Familien gearbeitet, die ein Kind durch Krippentod verloren hatten, eine unvorhersehbare Störung, die die Atmung eines Säuglings unterbricht und ihn im Schlaf dahinrafft. »Plötzlicher Kindstod«, sagte ich.
»Möglicherweise … Wir sind uns nicht ganz sicher. Es gibt zwei ältere Adoptivsöhne in der Familie – sechzehn und siebzehn Jahre alt. Der jüngere ist in der Vergangenheit durch gewalttätiges Verhalten aufgefallen. Richtig üble Sachen, hat sogar einige Nachbarskatzen stranguliert.«
Mir war klar, welche Richtung die Unterhaltung nahm. Und mir war klar, dass Trevor Lucas mir den Mut genommen hatte, diesem Weg zu folgen. »Ich übernehme keine Kriminalfälle mehr«, erklärte ich.
»Hab ich gehört. Der Chief in Baltimore hat mir erzählt, er hätte ein-, zweimal versucht, dich zu überreden«, sagte er.
»Viermal.«
»Daraus kann ich ihnen keinen Vorwurf machen. Du hast eine Gabe für so was.«
»So kann man es auch sehen«, entgegnete ich.
»Ich erwarte keine großen forensischen Ermittlungen«, sagte er, »sondern nur ein Gutachten.«
»Die Antwort lautet trotzdem Nein.«
»Ich unterschreibe eine Honoraranweisung, für was auch immer dir angemessen erscheint.«
»Himmel, North, du weißt, dass es keine Frage des Geldes ist.«
»Hör zu«, sagte er. »Der Staatsanwalt sitzt mir im Nacken. Er will den jüngeren Bruder verhaften und unter Mordanklage stellen. Er will, dass das Erwachsenenrecht angewendet wird, und auf lebenslänglich ohne Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung plädieren.«
Nur wenige Dinge machen mich wütender als ein Justizsystem, das die Chronologie im Dienste der Rache auf den Kopf stellt, und Anderson wusste das. Ich schwieg.
»Er ist erst sechzehn«, fuhr Anderson fort. »Die Bishops haben ihn aus einem russischen Waisenhaus adoptiert, als er sechs war. Wer weiß, welche Hölle er davor durchmachen musste.«
»Ich habe hier mehr als genug zu tun«, sagte ich, teilweise, um es mir selbst ins Gedächtnis zu rufen.
»Ich will dich nicht drängen, aber irgendwas an dieser Familie kommt mir merkwürdig vor – besonders die Art, wie der Vater den roten Teppich für mich ausgerollt hat, als ich seinen Sohn vernehmen wollte. Du bist der Beste, mit dem ich je …«
»Ich versuche, mich auf meine Ziele zu konzentrieren.« Ich versuchte auch, nüchtern zu bleiben, von geistig gesund ganz zu schweigen. »Warum rufst du nicht Ken Sklar oder Bob Caggiano vom North Shore Medical Center an? Sie sind Kollegen von Judith David. Du kennst die Truppe. Sie sind erstklassig.«
»Nur ein Gespräch mit dem Jungen«, drängte er. »Das ist alles, worum ich dich bitte.«
Ich wollte Anderson nicht enttäuschen, wusste aber nicht, wie weit ich mich in die Finsternis vorwagen konnte, ohne mich für immer darin zu verlaufen. »Wenn du willst, dass ich Sklar anrufe und ihn um den Gefallen bitte, dann tue ich das.«
»Ich will dich.«
»Nein«, entgegnete ich, »du willst einen Teil von mir, den ich vor zwei Jahren hinter mir gelassen habe.« Ich gab ihm keine Gelegenheit, etwas zu erwidern. »Hör zu, ich muss mit meiner Visite weitermachen.«
»Frank …«
»Ich rufe dich bei Gelegenheit mal an.« Ich legte den Hörer auf.