12

Während ich auf einen freien Platz auf der Fähre zurück nach Hyannis wartete, kamen drei Fähren mit einer Trooper-Mannschaft an, die North Anderson für die Fahndung nach Billy angefordert hatte. Mehr als zwanzig Mann fuhren in Streifenwagen, Geländefahrzeugen und Jeeps von der Rampe. Reporter von lokalen Sendern und einige Vertreter von überregionalen Stationen hatten dieselben Fähren genommen. Ich sah R. D. Sahl von den New England Cable News, Josh Resnek von der Independent News Group und Lisa Pierpont von Chronicle TV, die alle um Jeff Cooperman von Dateline NBC herumscharwenzelten. Am Himmel dröhnten nicht nur die üblichen Pendler-Flugzeuge, sondern auch mehrere Hubschrauber der State Police, die zweifellos dabei waren, die unzugänglichen Wälder und Seen und Preiselbeer-Gehölze zu überfliegen, aus denen sich das Nantucket-Moor, besser bekannt als »Commons«, zusammensetzt.

Schon an jedem x-beliebigen Tag Ende Juni herrscht kein Mangel an Berühmtheiten, die die Main Street entlangschlendern, doch die Bishop-Tragödie schien sich zu einem jener Ereignisse auf der Insel zu entwickeln, die noch für Generationen nachklingen würden. Leute, die praktisch nichts mehr beeindrucken konnte, wollten anscheinend an diesem Spektakel teilhaben. Vielleicht versuchten sie auch unbewusst, das Ganze in ein Spektakel zu verwandeln, dem Ereignis seinen Schrecken und die Tragik zu nehmen, um es zu einer Unterhaltungsshow zu verwässern, die problemlos auf den Bildschirm eines 70-cm-Fernsehers passte. Dort würde dann, unterlegt von einer Zehn-Sekunden-Schleife düsterer, computergenerierter Musik, die Einblendung prangen: »Säuglingsmord auf Nantucket. Der 4. Tag«. Der Mord an einem Baby und der versuchte Mord an einem weiteren Säugling würden auf einen Eintrag in etwas so Unverfänglichem wie dem TV Guide reduziert.

Ich fand schließlich einen Platz auf der Drei-Uhr-Fähre, so- dass ich um 16 Uhr 40 in Hyannis ankam. Während ich die Route 3 entlangfuhr, erwischte ich im Radio die Fünf-Uhr-Nachrichten auf WRKO. Die Bishops waren der Aufmacher. In knapp fünfzehn Sekunden wurden die Fakten des Falls abgehandelt, ehe während der nächsten Minute Darwin Bishops milliardenschwerer Lebensstil im Mittelpunkt stand. Geld verkauft sich einfach besser als Mord und beinahe so gut wie Sex. Hätte die Presse auch noch gewusst, dass Bishop mit Claire Buckley schlief, hätten wir wahrscheinlich die nächsten Tage keine anderen Nachrichten mehr gehört.

Am Ende des Berichts wurde North Anderson interviewt, der erklärte, die Ermittlungen würden »noch laufen«, obwohl sie bereits einen Hauptverdächtigen hätten. Da es sich jedoch um einen Minderjährigen handelte, dürfe der Name der betreffenden Person nicht bekannt gegeben werden.

Um 17 Uhr 50 kam ich am Mass General an und hastete auf direktem Weg zur pädiatrischen Intensivstation.

Es gibt nur wenige Orte, die einen noch nachdenklicher machen. Die Station mutet wie die Höllenversion eines Miniatur-Einkaufszentrums an, mit winzigen Schaufenstern entlang allen vier Wänden. Jedes Zimmer beherbergt ein Kind in Todesgefahr oder in Erwartung eines sicheren Todes. Das Schwesternzimmer bildet den Mittelpunkt, ein Kiosk des Mitleids, in dem Überwachungsmonitore piepsend die schwachen Rhythmen von Herzen anzeigen, die eigentlich für die nächsten siebzig oder achtzig Jahre kräftig schlagen sollten. Unter den Monitoren steht eine Reihe von Heftern, auf deren Rücken die Vornamen der Patienten auf weißen Klebestreifen verzeichnet sind – eine Sammlung von Kurzgeschichten über die Grenzen von Gottes Allmacht.

Ich fand Tess’ Namen und Zimmernummer und entdeckte die entsprechende Nummer auf dem Schild des hintersten Zimmers zu meiner Rechten. In diesem Augenblick sah ich John Karlstein, den Chefarzt der pädiatrischen Intensivstation, aus einem der anderen Zimmer auf das Schwesternzimmer zugehen. Er bemerkte mich ebenfalls und kam auf mich zu.

Karlstein war ein Hüne von über einem Meter neunzig und Cowboystiefeln aus schwarzem Alligatorleder, die so etwas wie sein Markenzeichen sind. Er war eingestellt worden, als der vorige Leiter der Intensivstation sich geweigert hatte, nach der Pfeife der Krankenversicherungen zu tanzen, und auf einen Vollzeit-Lehrposten abgeschoben worden war. Seit dieser Zeit war die pädiatrische Intensivstation eine Gans, die goldene Eier legte. »Wie geht’s, Frank?«, begrüßte er mich mit seinem Bass. »Ist schon eine ganze Weile her, dass ich dich gesehen habe.«

»Gut. Und dir?«

»Kann mich nicht beschweren«, sagte er. »Wir sind voll belegt. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass die Aufenthaltsdauer unserer Patienten immer kürzer wird.«

Ich nickte. »Ich vermute, das hängt von der Sichtweise ab – von unserer Warte aus oder der der Patienten.«

Er schmunzelte, offenkundig nicht im Geringsten beleidigt. »Am Ende jedes Monats sehe ich mir die Zahlen an, um sicherzugehen, dass wir unsere Vorgaben erfüllen. Wir werden selbst künstlich am Leben erhalten.« Er klopfte mir auf die Schulter. »Hat jemand einen psychiatrischen Gutachter angefordert?«

»Diesmal nicht. Ich arbeite an dem Bishop-Fall – als Forensiker«, sagte ich.

»Ich wusste gar nicht, dass du wieder im Geschäft bist.«

»Bin ich auch nicht. Ich habe einen Freund bei der Nantucket Police, der mich dazugeholt hat. Dieser Fall ist eine Ausnahme.«

»Ich kann verstehen, warum«, bemerkte Karlstein. »Ziemlich üble Geschichte, was? Erst der eine Zwilling, jetzt der andere. Und dieser Bishop ist Milliardär. Brillanter Kopf, wie ich höre. Ein Finanzgenie.«

»Scheint so«, sagte ich und deutete mit einem Nicken zu Tess’ Zimmer. »Wie geht es ihr?«

»Dem Baby?«

»Ja.«

Karlsteins Miene wurde ernst. Sein linkes Auge schloss sich halb, ein Reflex, der immer dann aufzutauchen schien, wenn sein Verstand auf Hochtouren arbeitete. So sehr John Karlstein auch auf die Profitspanne schielte und ich mich manchmal über ihn ärgerte, war er noch immer einer der besten pädiatrischen Intensivärzte der Welt. Vielleicht sogar der beste. »Die Sache sieht so aus«, sagte er. »Nortriptylin ist ein heimtückisches Zeug, besonders bei Kindern. Nach einer Überdosis kann es noch Tage später zu einer tödlichen Herzrhythmusstörung kommen. Tess’ QRS-Dauer war 0,14 Sekunden, was zu lang ist, wie du ja weißt. Die Reizleitung durch ihr Herz ist noch immer träge. Das bedeutet, sie ist weiterhin gefährdet. Wir haben getan, was wir konnten – eine gründliche Magenspülung, dann Aktivkohle, um auch noch die letzten Tablettenkrümel oder Medikamentenreste in ihrem Bauch zu eliminieren. Ich glaube nicht, dass die auf der Insel wirklich rigoros genug waren.«

»Es ist nur ein kleines Krankenhaus«, sagte ich.

»Nun ja, was geschehen ist, ist geschehen.« Er zwinkerte mir zu. »Das Einzige, was mir sonst noch Sorgen macht, ist, ob da noch ein anderes Gift in ihrem Körper ist, das die Blut- und Urinuntersuchungen nicht nachweisen.«

Viele Stoffe tauchen bei einer toxikologischen Untersuchung nicht auf, wenn man nicht mit maßgeschneiderten chemischen Tests speziell nach ihnen sucht. »Deuten ihre Symptome auf ein anderes Gift hin?«, fragte ich.

»Nein, aber ich will nicht plötzlich eine böse Überraschung erleben.« Er blickte zu Tess’ Zimmer hinüber. »Wir haben sie an den Überwachungsmonitor angeschlossen, geben ihr alle nötigen Infusionen, und am Bettende steht ein einsatzbereiter Defibrillator.« Er sah mich mit jener arroganten Zuversicht an, die man sich bei einem Arzt nur wünschen kann. »Ich werde dieses Kind verflucht noch mal nicht sterben lassen, Frank. Basta.«

Ärzte halten gewöhnlich nicht viel von gegenseitigem Schulterklopfen, doch Karlsteins Entschlossenheit rührte mich. »Sie könnte in keinen besseren Händen sein«, sagte ich. »Nicht für alles Geld der Welt.«

Karlstein war kein großer Freund von Komplimenten. »Sie ist hier, weil der Hubschrauber sie hier abgeliefert hat.« Er wurde wieder ernst. »Hör zu, ich will hier keinen Interessenkonflikt heraufbeschwören. Ich weiß, dass du an den Ermittlungen beteiligt bist, aber vielleicht könntest du einen kurzen Blick auf die Mutter werfen. Sie kommt nicht besonders gut mit der Situation zurecht.«

»Erklär mir bitte genauer, was du meinst.«

»Ich habe einfach nur ein mulmiges Gefühl, was sie angeht. Sie hat keine zwei Worte gesprochen, seit sie hier ist, was verständlich ist – Schock oder was auch immer –, aber sie klammert sich in einer Weise an das Kind, die mir nicht gefällt. Sie ist nicht aus dem Zimmer zu kriegen. Hat nichts gegessen. Keine Anrufe. Keine einzige Frage bezüglich der Behandlung ihrer Tochter.« Er hielt einen Moment inne. »Ich schätze, all das ist ziemlich vage, aber auf mich wirkt sie wie jemand, der kurz vor einem Zusammenbruch steht.«

»Ich bin hergekommen, um mit ihr zu sprechen«, erklärte ich. »Aber ich kann es nicht als offizielle Konsultation für das Krankenhaus tun – zumindest nicht, solange ich an den Ermittlungen beteiligt bin.«

»Schon verstanden«, sagte er. »Wir holen uns jemand anderen aus der Psychiatrie, wenn sie durchdreht.«

Ich nickte zustimmend, ehe ich mich auf den Weg zu Tess’ Zimmer machte. Julia saß mit dem Rücken zur Glaswand und starrte auf das Baby hinunter, sodass sie mich zuerst nicht bemerkte. Das gab mir Gelegenheit, mich erst einmal an den Anblick von Tess’ fünf Monate altem Körper zu gewöhnen – die EKG-Kabel auf ihrer Brust, die beiden Infusionsschläuche, die in ihre zarten Ärmchen führten, und die nasogastrale Sonde, die aus ihrer Nase ragte. Ihre Arme wurden von Pflasterstreifen in Schienen gehalten, die verhindern sollten, dass sie ihre Arme bewegte und dadurch die Infusionskanülen herausriss. Sie atmete, schlief jedoch dankbarerweise tief und fest.

Ich hatte in meinem Leben viele schreckliche Dinge gesehen, doch Tess’ Mitleid erregender Zustand stellte sie alle in den Schatten. Ich suchte noch nach Worten, die ich zu Julia sagen konnte, als sie sich umdrehte und mich in der Tür stehen sah. Sie wirkte hilflos und unbeteiligt, ergeben in ihr Schicksal, wie ein Schatten ihrer selbst. Doch welches emotionale Vakuum sie auch immer ihrer Gemütsregungen beraubt hatte, hatte ihre Schönheit unberührt gelassen. Sie mutete fast überirdisch an – ihr langes schwarzes Haar war ungekämmt noch atemberaubender, und ihre grünen Augen funkelten im Schein der Neonröhren. Vielleicht war es die sterile Kulisse, die sie so unglaublich strahlend wirken ließ, vielleicht aber auch die schlichte Tatsache, dass ich mich in sie verliebt hatte. Ich betrat das Zimmer.

Zu meiner Erleichterung begann sie zu sprechen, noch bevor ich das Wort ergreifen konnte. »Du hattest Recht«, sagte sie tonlos.

»Inwiefern?«

»Win.«

»Wie meinst du das?«

»Er hat Tess das angetan.« Sie drehte sich wieder zu dem Baby um.

Mein Herzschlag beschleunigte sich. Ich trat auf die andere Seite des Betts und betrachtete Tess. »Wieso denkst du das?«, wollte ich wissen.

»Er hat mich gefragt, wo die Tabletten sind.«

»Das Nortriptylin?«

Sie nickte.

»Wann?«

»Gestern.« Sie schloss die Augen. »Bevor wir zu Brookes … Beerdigung gefahren sind.«

»Hat er gesagt, was er damit vorhatte?«

Sie starrte ins Leere und schien völlig in ihren Gedanken versunken.

»Julia«, sagte ich. »Hat Darwin gesagt, was er mit den Nortriptylin-Tabletten vorhatte?«

Sie holte tief Luft.

»Julia?«

»Er meinte, er hätte Angst, dass ich sie nehme. Alle auf einmal. Dass ich mich umbringen würde.«

»Hast du an Selbstmord gedacht?«, fragte ich.

»Ich war aufgelöst, mehr nicht«, antwortete sie. »Ich meine, ich hatte gerade Abschied von meiner Tochter genommen. Ist es mir da nicht erlaubt, traurig zu sein und die eine oder andere Träne zu vergießen?«

»Natürlich«, erwiderte ich sanft.

»Ich habe ihm geschworen, dass ich mir nichts antun würde. Aber er wollte die Tabletten trotzdem haben.« Ein gequälter Ausdruck trat auf ihr Gesicht. »Das Tablettenfläschchen war noch immer in der Reisetasche, die wir letztes Jahr in Aspen dabeihatten«, sagte sie. »Ich hatte ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache. Ich habe sogar überlegt, ob ich ihm sagen soll, die Tabletten wären verloren gegangen.« Ihre Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Aber am Ende habe ich sie ihm gegeben.« Sie blickte zu Tess.

»Bist du bereit, das alles vor North Anderson zu wiederholen?«, fragte ich.

»Ja«, antwortete sie und starrte durch mich hindurch. »Ich habe Darwin das Medikament gegeben, mit dem er mein Baby vergiftet hat. Und du hast noch gesagt, ich soll gut auf sie aufpassen.«

»Sie wird durchkommen«, beschwichtigte ich sie.

»Im Krankenhaus in Nantucket haben sie gesagt, sie könnte einen Hirnschaden davongetragen haben.«

Mir war klar, dass Julias Feststellung in Wirklichkeit eine Frage war, doch ich wusste keine Antwort darauf. Das Risiko neurologischer Komplikationen bestand eindeutig, doch ich konnte nicht sagen, wie groß es war. »Gib ihr etwas Zeit«, sagte ich. »Sie hat gute Chancen, dass sie sich vollständig erholt. In ein paar Tagen – oder auch schon in ein paar Stunden – kann alles schon viel besser aussehen.«

»Ich lasse sie nicht allein«, erklärte sie.

»Niemand will dich dazu zwingen. Du kannst so lange bei ihr bleiben, wie du möchtest.« Ich trat zu ihr und ging neben ihrem Stuhl in die Hocke, sodass unsere Gesichter auf gleicher Höhe waren. »Aber du musst jetzt auf dich selbst achten. Um ihretwillen.«

Zum ersten Mal sah Julia mich direkt an.

»Sie braucht jetzt eine gesunde Mutter mehr als je zuvor«, sagte ich.

»Kannst du eine Weile bei uns bleiben?«, fragte sie und hielt mir ihre Hand hin.

Ich ergriff sie. Ihre Finger zitterten ein wenig, wie ein zarter, verängstigter Vogel, und sie zu halten gab mir das Gefühl, gebraucht zu werden und stark zu sein. Ich dachte an North Andersons Warnung, mich nicht so weit auf diese Geschichte einzulassen, dass ich den Blick für die Wahrheit verlor, doch in jenem Moment sah ich nur zwei klare Verdächtige: Billy und Darwin Bishop. »Ich bleibe eine Weile hier«, versprach ich. »Ich muss später noch eine andere Patientin hier im Krankenhaus besuchen, kann aber anschließend wieder herkommen.«

Sie kaute an ihrer Unterlippe, auf eine traurige und verführerische Weise, wie ein kleines Mädchen. »Ich meinte, ob du bei uns bleiben wirst, wenn wir das Krankenhaus verlassen. Ich gehe nicht wieder nach Hause.«

»Was hast du vor?«, fragte ich, um der ursprünglichen Frage auszuweichen.

»Ich gehe mit Garret und Tess zu meiner Mutter«, erklärte sie.

Ich nickte.

»Ich möchte, dass du mitkommst«, sagte sie. »Nur, bis ich mich sicher fühle.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wer weiß, vielleicht fühlen wir uns beide am Ende zusammen am sichersten.«

Rückblickend muss ich gestehen, dass ich diese Worte mit dem Teil von mir hörte, der in meiner Kindheit verletzt worden und der als Erwachsener trotz der unermüdlichen Bemühungen von Dr. James, meine Psyche wieder zusammenzusetzen, noch immer nicht verheilt war. Denn der Drang, eine unglückliche Frau – eine Ehefrau und Mutter – zu retten, die im Gegenzug mich retten würde, war nahezu überwältigend. Es war ein Traum, den ich vierzig Jahre lang in meinem Unterbewusstsein gehegt hatte. Und ich konnte mir nur mit größter Mühe ins Gedächtnis rufen, dass Julia ebenso Zugriff auf Tess – und das Nortriptylin – gehabt hatte wie Darwin. »Ich verspreche dir, dass ich dich beschützen werde«, sagte ich und ließ damit die Tür für jegliche Möglichkeit offen.

Anschließend rief ich North Anderson an und berichtete ihm von Julias Verdacht. Er sagte, er würde einen Detective von der Bostoner Polizei vorbeischicken, um ihre Aussage aufzunehmen. »Ich schätze, du solltest wissen, dass ich an die Seitenlinie abgeschoben werde«, erklärte er. »Man sollte immer vorsichtig sein bei den Dingen, die man sich herbeiwünscht. Der Bundesstaat setzt alle Hebel in Bewegung, um Billy zu finden, außer den Mitteln wurde mir ein Captain der State Police namens Brian O’Donnell an die Seite gestellt. Er ist scharf darauf, sich die ganze Sache unter den Nagel zu reißen.«

»Was für ein Mensch ist er?«

»Niemand, mit dem wir ein Bier …«, setzte Anderson an, ehe er abrupt verstummte.

»Ist schon in Ordnung«, sagte ich. »Ich kann einen Scherz wegstecken, ohne gleich zur Flasche zu greifen.«

»Sagen wir einfach, er geht genau nach Vorschrift vor. Sehr zielstrebig. Sehr ernst.« Er hielt inne. »Die richtige Diagnose lautet vermutlich Größenwahn, falls das überhaupt eine zulässige Diagnose ist.«

»Heutzutage heißt das narzisstische Persönlichkeitsstörung«, erklärte ich.

»Das beschreibt es recht treffend«, erwiderte Anderson. »Wann kommst du wieder her?«

»Morgen Vormittag. Ich sehe bei Claire und Garret vorbei, wie du vorgeschlagen hast.«

»Das würde ich so schnell wie möglich tun. O’Donnell ist dick mit dem Gouverneur befreundet. Er könnte uns alle beide ausbooten.«

»Verstanden.«

»Ruf mich an, sobald du auf der Insel bist.«

Ich ging zu Lilly Cunningham, die zu meiner Überraschung aufrecht im Bett saß und den Boston Herald las. Ihr Bein war noch immer dick in Mull eingepackt, hing jedoch nicht mehr im Streckverband. Beim Näherkommen sah ich, dass der Bishop-Fall es zum Aufmacher der Abendausgabe gebracht hatte. Unter der reißerischen Schlagzeile »Zwillings-Horror« war ein Foto, das Julia und Darwin auf einem Ball zeigte. Auf einem kleineren Foto war das Bishop-Anwesen abgebildet. Ich versuchte, mich auf Lilly zu konzentrieren. »Es scheint Ihnen bedeutend besser zu gehen«, sagte ich.

Sie senkte die Zeitung und lächelte mich an. »Sie haben endlich das richtige Antibiotikum gefunden«, erklärte sie.

Ich sah zum Tropfständer, der bis auf einen einzelnen Plastikbeutel leer war. »Scheint so.«

»Ich bin froh, dass Sie wiedergekommen sind«, sagte sie.

»Ich hatte es Ihnen versprochen.« Ich setzte mich.

»Ich habe an meinen Großvater gedacht.«

Angesichts der Tatsache, wie leicht Lilly diese Worte über die Lippen kamen, stellte sich die Frage, ob das Antibiotikum allein die erfolgreiche Arbeit an ihrem Bein geleistet hatte oder ob sich ihr Verstand genügend geöffnet hatte, sodass einiges von dem Gift hatte abfließen können. »Was ist mit ihm?«

»Diese Gedanken, die ich habe«, sagte sie, »ich glaube nicht, dass es Rückblenden sind – oder irgendeine Art von unterdrückter Erinnerung. Ich glaube nicht, dass Grandpa mich je angerührt hat.«

»Gut«, ermutigte ich sie, »woher kommen diese Gedanken Ihrer Meinung nach dann?«

»Aus meiner Fantasie«, antwortete sie. »Es sind Dinge, die ich mir ausgedacht habe – wie Tagträume, aber eben Albträume. Haben denn nicht alle kleinen Mädchen seltsame Gefühle, was ihre Väter betrifft?«

Freud war überzeugt, dass alle kleinen Mädchen unbewusste sexuelle Gefühle für die Männer in ihren Familien hegen. Doch üblicherweise verlieren sich diese Gefühle mit dem Erreichen der Reife und erzeugen keine ernsthaften psychiatrischen Symptome. Ich fragte mich, warum Lillys Impulse ihre Kindheit und Pubertät ungemindert überstanden hatten. Warum waren sie ausgerechnet während ihrer Flitterwochen zutage getreten? Und warum waren sie so bedrohlich, dass sie ihnen nur etwas so Verzweifeltes und Destruktives entgegensetzen konnte, wie sich selbst Schmutz zu injizieren?

»Weil sie sich nicht darauf verlassen konnte, dass ihnen sonst jemand etwas entgegensetzen würde«, sagte die Stimme in meinem Hinterkopf.

Dieser Vorschlag schien der richtige Weg zur Wahrheit zu sein. »Wie hätte Ihr Großvater reagiert, wenn Sie den ersten Schritt gemacht hätten?«, fragte ich sie.

»Den ersten Schritt?«, wiederholte sie.

»Wenn Sie ihm Sex angeboten hätten.«

Die Andeutung eines Lächelns spielte um ihre Mundwinkel. »Darüber möchte ich nicht nachdenken«, sagte sie.

»Das liegt ganz bei Ihnen«, erwiderte ich. »Aber wenn Sie sich diesen Gedanken stellen, dann können sie Sie vielleicht nicht mehr überfallen. Möglicherweise stellen Sie fest, dass Sie sie an- und abschalten können, ohne eine Spritze zu benutzen.«

Sie sah aus, als sei ihre Entschlossenheit ins Wanken geraten.

»Versuchen Sie es nur zehn Sekunden lang. Nicht länger«, sagte ich.

Sie sah mich prüfend an, ob ich es ernst meinte, dann verdrehte sie die Augen und schüttelte den Kopf.

»Wäre er böse mit Ihnen gewesen?«, fragte ich.

»Nein«, sagte sie. »Er war ein verständnisvoller Mann.«

»Wäre es ihm peinlich gewesen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wäre er schockiert gewesen?«

Sie wurde rot und kicherte. »Meine Güte, ich habe keine Ahnung, was er gesagt hätte.«

Diese Worte schienen dem Kern des Problems ausgesprochen nahe zu kommen. Lilly konnte nicht sagen, ob ihr Großvater sie als Geliebte akzeptiert hätte, wenn sie sich ihm angeboten hätte.

Eine gesunde psychosexuelle Entwicklung findet in einer Atmosphäre statt, in der Kinder wissen, dass die Erwachsenen um sie herum ihre sexuellen Gefühle nicht ausnutzen würden. Wenn ein kleines Mädchen ihren Vater fragt, ob er sie heiraten würde, ist eine gute Antwort: »Ich bin mit deiner Mutter verheiratet. Ich liebe sie. Eines Tages wirst du auch jemanden kennen lernen, der dich auf dieselbe Weise liebt.« Der Vater (oder Großvater) sollte nie mit einem anzüglichen Augenzwinkern oder einem spielerischen Klaps auf den Po antworten – oder mit Schweigen.

Lilly hatte unbewusst gefürchtet, ihr Großvater würde ein Angebot auf eine Liebesbeziehung annehmen, und daraufhin ihre Sexualität unterdrückt. Als jene Sexualität während der Flitterwochen zutage getreten war, waren damit all die Schuldgefühle und die Furcht eines kleinen Mädchens einhergegangen, das versucht, sich den Mann des Hauses zu angeln. Ihre sexuellen Triebe waren tabu. Schmutzig. Mussten bestraft werden.

»Hatte er Affären mit anderen Frauen?«, fragte ich.

»Oh, ich denke schon«, antwortete sie. »Mit ziemlicher Sicherheit sogar.«

»Wieso sagen Sie das?«

»Sie haben sich deswegen gestritten – er und Großmutter. Er hat oft Überstunden gemacht. Manchmal ist er nachts überhaupt nicht nach Hause gekommen. Es gab eine wütende Szene wegen einer Frau, die er als Sekretärin eingestellt hatte.«

»Hat er je mit Ihnen über diese Frauen gesprochen?«, fragte ich.

»Ich glaube nicht«, sagte sie. »Zumindest nicht direkt. Aber ich wusste, dass er mit Großmutter nicht glücklich war.«

»Woher wussten Sie das?«

»Er hat immer über ehemalige Freundinnen gesprochen, mit denen er vor seiner Heirat ausgegangen war. Besonders über eine. Eine Frau namens Hazel. Sie war Jüdin, und mein Großvater war irisch-katholisch, was der Sache ein Ende setzte. Es war damals eine andere Zeit. Aber er hat mir erzählt, dass sie diejenige war, für die er bestimmt war.«

»Wie alt waren Sie, als er Ihnen das erzählt hat?«, fragte ich.

»Acht, vielleicht auch neun.« Sie überlegte kurz. »Seltsam, dass ich mich daran noch erinnere.«

Leute klammern sich oft an einzelne, lebhafte Kindheitserinnerungen als ein Symbol für größere psychologische Zusammenhänge. Im Alter von neun wusste Lilly schließlich schon eine Menge über ihren Großvater. Er liebte seine Frau nicht. Er war offen für andere Frauen. Und, vor allem anderen, er war bereit, ihr sehr persönliche und erwachsene Informationen über sich zu offenbaren. Vielleicht könnte sie eines Tages den Platz ihrer Großmutter einnehmen und ihrem Großvater Erfüllung schenken, hatte sich die neunjährige Lilly möglicherweise überlegt. Es war außerordentlich wichtig, dass sie ihn glücklich machte, da sie schließlich bereits ihren Vater verloren hatte.

»Es klingt so, als wüssten Sie nicht, wie Ihr Großvater reagiert hätte, wenn Sie sich ihm angeboten hätten«, erklärte ich Lilly. »Das bedeutet, dass er Sie verführt hat, ohne Sie jemals anzufassen.«

»Genau das ist so schwer für mich zu glauben«, entgegnete sie. »Er war kein gemeiner oder berechnender Mann. Er war … liebevoll.«

»Ich bezweifle, dass er Ihnen mit Absicht schaden wollte«, sagte ich. »Doch er war emotional leer und suchte anderweitig nach Erfüllung – und sei es durch die romantischen Fantasien seiner Enkelin. Sie haben mitgespielt, weil kleine Mädchen von acht, neun oder zehn Jahren das normalerweise tun.« Sie ließ diese Worte einen Moment lang auf sich einwirken.

»Und deshalb fühle ich mich so schuldig?«

»Ja«, antwortete ich. »Diese Schuldgefühle mögen eine Zeit lang als Schutz gedient haben. Als Sie klein waren, haben sie Sie vielleicht davor bewahrt, sich tiefer in eine Beziehung zu begeben, die schlecht für Sie war.« Ich beugte mich näher an das Bett. »Jetzt hat dieses Gefühl – dieses Schuldgefühl – ausgedient. Es ist an der Zeit, sich davon zu trennen.«

Sie blickte auf ihr Bein hinunter. »Was soll ich tun, wenn diese Bilder wieder auftauchen und die Gefühle zurückkommen? Gibt es irgendein Medikament, das ich einnehmen kann?«

»Meine Einstellung in dieser Hinsicht unterscheidet sich wahrscheinlich von dem, was Ihnen andere Psychiater empfehlen würden«, erwiderte ich.

»Warum? Was würden Sie mir empfehlen?«

»Ich denke, die meisten würden Ihnen raten, einen Angsthemmer wie zum Beispiel Klonopin oder ein Kombinationspräparat wie Zoloft zu nehmen, das gegen Angstzustände und Depressionen wirkt. Oder beide. Und im Grunde spricht nichts dagegen. Ihre Symptome würden schwächer werden oder sogar ganz verschwinden, zumindest für eine Weile.«

»Und was würden Sie empfehlen?«, fragte sie.

»Meine Empfehlung lautet, lassen Sie diese Bilder zu, laufen Sie nicht vor ihnen davon. Suchen Sie sich einen Psychiater, der Ihnen dabei hilft, diese Szenen zu ergründen, die sich in Ihrem Kopf abspielen. Ich schätze, Ihre Schuldgefühle verwandeln sich sehr schnell in Wut. Und das ist eine Emotion, die bedeutend leichter zu handhaben ist.«

»Kann ich nicht weiter mit Ihnen zusammen daran arbeiten?«, fragte sie.

Lilly versuchte zweifellos, jede männliche Autoritätsfigur, der sie begegnete, für sich zu gewinnen. Ihren Großvater. Ihre Ärzte. Warum also nicht auch einen Psychiater? Ihr Fall faszinierte mich, doch ich hatte die Gelegenheit, zu beweisen, dass ich bereit war zu tun, was für sie das Richtige war, nicht das, was mir die größte Befriedigung verschaffen würde. Zu sehen, dass ich im Gegensatz zu ihrem Großvater fähig war, diese Grenze zu ziehen, könnte der erste zaghafte Schritt auf ihrem langen Weg zur Genesung sein. »Ich würde jemanden empfehlen, der älter als ich ist«, sagte ich.

Sie wandte den Blick ab. »Ich weiß nicht, ob ich mich jemand anderem öffnen kann.«

»Es ist jemand, vor dem ich den größten Respekt habe«, sagte ich.

»Sie haben gesagt, Sie würden mir helfen, diese Sache durchzustehen.«

Unter normalen Umständen hätte ich nicht preisgegeben, was ich ihr als Nächstes sagen würde, doch ich hatte das Gefühl, dass Lilly eine spezielle, dauerhafte Verbindung zu mir brauchte. Ich fürchtete, ohne diese Verbindung würde sie nicht weitermachen. »Ich werde Sie an einen Psychiater überweisen, der mir geholfen hat«, sagte ich. »An meinen eigenen Analytiker.«

Sie starrte mich ungläubig an. »Ihren eigenen Analytiker? Sie würden erlauben, dass ich zu ihm gehe?«

»Ja«, sagte ich. »Das würde ich.«

»Wer ist er?«, fragte sie.

»Dr. Theodore James. Er ist etwa im Alter Ihres Großvaters.«

In der pädiatrischen Intensivstation herrschte Krisenstimmung, als ich durch die automatische Tür trat. Schwestern liefen umher und holten Infusionsbeutel, während John Karlstein Anweisungen aus Tess’ gläsernem Zimmer brüllte. Jemand hatte die Jalousien zugezogen. Julia stand in der hintersten Ecke des zentralen Stationsareals und weinte, während eine Schwester versuchte, sie zu trösten.

»Frank!«, rief Julia, als sich unsere Blicke trafen, und kam auf mich zugelaufen. Ich umarmte sie, und sie schluchzte so heftig, dass sie kaum sprechen konnte. »Sie atmet – nicht – mehr. Tess … O Gott, bitte.«

»Legen Sie eine Tocainid-Infusion«, befahl Karlstein. Einer der Monitore im Schwesternzimmer gab plötzlich einen schrillen Alarmton von sich. Ich schaute hinüber und sah, dass Tess’ EKG-Monitor eine durchgehende Linie zeigte. »Warten Sie mit dem Tropf! Wir müssen sie noch mal defibrillieren!«, brüllte Karlstein. »Alle zurücktreten!«

Julia sackte in meinen Armen zusammen. »Nein!«, flehte sie. »Frank, bitte hilf.«

Ich setzte Julia sanft auf einen Stuhl neben dem Schreibtisch der Stationssekretärin, von dem aus Tess’ Zimmer nicht zu sehen war, und winkte eine der Schwestern heran. »Bleib hier«, befahl ich Julia, als die Schwester kam. »Ich finde heraus, was los ist.«

Ich ging zu den fünf oder sechs Gestalten, die sich um Tess drängten. Sie war intubiert worden, und eine der Schwestern pumpte mit einem Ambubeutel Luft in ihre Lungen. Karlstein wirkte wie ein General auf dem Schlachtfeld, eine hoch aufragende Gestalt inmitten eines Gewirrs aus hängenden Infusionsbeuteln und -flaschen und Gummischläuchen. Er hielt noch immer die Elektroden des Kardioverters in den Händen und sah zu mir herüber. »Wir haben einen Puls«, verkündete er. »Vielleicht haben wir Glück.«

Mehrere Mitglieder des Teams nickten bekräftigend, angespornt von diesem winzigen Funken Hoffnung. Im Gegensatz zu Karlstein, der noch immer taufrisch aussah, waren sie schweißnass – entweder von ihren hektischen Bemühungen oder der Tatsache, dass das Unabwendbare so nahe gewesen war.

»Geben Sie jetzt das Tocainid zu«, sagte Karlstein.

Ich bemerkte, dass auf dem Nachttisch ein vollständiges Instrumententablett parat stand. Mir war klar, was das bedeutete: Karlstein war darauf gefasst gewesen, Tess’ Brust zu öffnen und ihr Herz von Hand zu massieren. Bewunderung für ihn wallte in mir hoch.

»Dann wollen wir mal sehen, ob sie selbstständig atmen kann«, sagte er.

Die Schwester am Kopfende des Bettes löste den Pflasterstreifen, mit dem der Beatmungsschlauch an Tess’ Lippen befestigt war, und zog den Schlauch vorsichtig aus ihrer Kehle. Tess hustete, zuerst schwach, dann heftiger. Dann begann sie zu weinen.

Erleichterung spiegelte sich auf den Gesichtern der Männer und Frauen wider, die – zumindest für den Augenblick – dem Tod ein Schnippchen geschlagen hatten.

»Gute Arbeit«, lobte Karlstein. »Lasst uns beim Chinesen etwas zu essen bestellen. Ich zahle. Aber ich will einen Berg von diesen Krupuk-Dingern. Frittiert, nicht gedämpft.« Er verließ das Zimmer und gab mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Er ging zu Julia hinüber, die mit ängstlich aufgerissenen Augen noch immer an der Stelle stand, wo ich sie zurückgelassen hatte. »Ihr Herz schlägt, und sie atmet«, berichtete Karlstein.

Julia traten abermals Tränen in die Augen. »Vielen, vielen Dank«, presste sie hervor. Sie lehnte sich in einer Weise gegen mich, die geradezu dazu einlud, meinen Arm um sie zu legen – etwas, das ich von Herzen tun wollte und auch getan hätte, wenn wir irgendwo anders gewesen wären. Als ich keine Anstalten machte, sie zu umarmen, richtete sie sich wieder auf.

»Wir werden Tess ab sofort nicht mehr aus den Augen lassen«, versicherte Karlstein. »Ich rate Ihnen, dass Sie sich, sagen wir mal, fünf Minuten zu ihr setzen und dann irgendwohin gehen und sich ausruhen. Gegenüber vom Krankenhaus gibt es ein ganz annehmbares Hotel. Nehmen Sie sich ein Zimmer. Machen Sie ein Nickerchen. Tess wird hier sein, wenn Sie zurückkommen.«

»Ich gehe hier nicht weg«, verkündete Julia und sah mich flehend an.

Ich sah, wie sich Karlsteins linkes Auge zur Hälfte schloss, ein Zeichen, dass ihn etwas beschäftigte. »Warum lässt du mich nicht kurz mit Dr. Karlstein reden?«, sagte ich zu Julia.

Sie atmete tief durch und wischte sich die Tränen ab. »Ich komme schon zurecht«, sagte sie. »Ich werde niemandem im Weg sein. Das verspreche ich.«

Ich nickte. »Ich bin gleich wieder bei dir.« Ich wandte mich um und ging mit Karlstein im Schlepptau auf eine Ecke der Intensivstation zu.

»Das war wirklich knapp«, sagte ich und deutete mit einem Nicken auf Tess’ Zimmer.

»Ich werde einen der Kardiologie-Jungs holen und ihn einen provisorischen Schrittmacher einsetzen lassen«, meinte er. »Mir gefällt nicht, wie sie uns so urplötzlich abgegangen ist. Ventrikuläre Tachykardie, ohne jede Vorwarnung.«

»Wie schätzt du ihre Chancen ein?«

»Unmöglich, das zu sagen«, antwortete er. »Wenn wir sie hier wieder auf die Beine bringen und nach Hause schicken können, dann besteht noch immer für ein Jahr oder noch länger ein Risiko.«

»Plötzlicher Kindstod«, sagte ich.

»Ganz genau. Fünfundzwanzig Prozent der Patienten, die einen Herzstillstand überleben, fallen innerhalb des ersten Jahres nach Entlassung aus dem Krankenhaus tot um. Über eine Zeitspanne von mehreren Jahren betrachtet, steigt die Zahl auf etwa einunddreißig Prozent. Niemand kann mit Gewissheit sagen, warum.«

»Damit wären ihre Chancen immer noch besser als vor ein paar Minuten.«

Karlstein schmunzelte. »Danke, dass du mich daran erinnert hast.« Er schüttelte den Kopf. »Dieser Laden hier würde einem wirklich den Rest geben, wenn man halbwegs normal wäre.« Er kicherte.

Das wusste ich. Ich wusste auch, dass Karlstein es nicht wirklich als Scherz gemeint hatte. »Du weißt ja, wo du mich erreichen kannst«, erwiderte ich halb im Scherz, um das Angebot weniger aufdringlich klingen zu lassen.

Er klopfte mir auf den Rücken. »Ich gehöre zu denjenigen, die zusammenbrechen, wenn sie fünfzig Minuten zum Nachdenken haben«, entgegnete er. »Für mich ist es besser, einfach weiterzumachen.«

Ich sagte nichts darauf, was als Antwort genügte, um Karlstein wissen zu lassen, dass ich kein großer Freund dieser Strategie war.

»Zwei Dinge muss ich dir allerdings sagen«, fuhr er fort, »wo du ja mit dem Bishop-Fall zu tun hast – zumindest als Forensiker.« Die Art, wie er »zumindest« sagte, weckte in mir die Frage, ob er ahnte, dass Julia und ich eine nicht nur professionelle Beziehung hatten.

»Schieß los«, sagte ich.

»Ich werde den psychiatrischen Gutachter für die Mutter anfordern. Ich bin lange genug in diesem Geschäft, um zu sehen, dass sie schwer zu kämpfen hat.«

»Gut«, stimmte ich zu. »Ich bin sicher, du hast Recht.«

»Und ich ordne außerdem eine Sitzwache an«, erklärte er.

»Eine Sitzwache?«, wiederholte ich. »Du willst das Baby unter ständige Beobachtung stellen?«

»Eine der Schwestern hat es vorgeschlagen, aber es war mir auch schon durch den Kopf gegangen.« Er holte tief Luft, warf einen Blick zu Julia, dann sah er wieder mich an. »Sie klammert, verstehst du? Sie hat diese klebrige Anhänglichkeit.«

Das waren die Kodeworte für Eltern, die ihren Kindern zu nahe zu stehen schienen. »Du bist nicht sicher, ob ihr das Wohl des Babys am Herzen liegt«, sagte ich. »Du möchtest, dass jemand sie im Auge behält.«

»Am Herzen, das ist ein guter Witz.« Er schmunzelte.

»So habe ich es nicht gemeint«, gab ich zurück.

»Dann war es vielleicht ein freudscher Versprecher«, bemerkte er, ehe seine Miene wieder ernst wurde. »Lass uns ehrlich sein, Frank. Es hat bereits einen Mord in der Familie gegeben. Wenn Tess uns wieder abgehen sollte, dann will ich verdammt noch mal sicher sein, dass es von dem Nortriptylin von gestern Nacht und nicht von etwas in Mommys Handtasche kommt.«

»Sie hat bereits eine Tochter verloren«, sagte ich, »die andere könnte sterben. Ich sträube mich ja nicht gegen eine Sitzwache, aber ich halte es nicht für die ›normale‹ Art, mit einer Situation wie dieser umzugehen.«

»Ich gebe zu«, erwiderte er, »dass ich übervorsichtig bin. Das ist so meine Art.«

Ich hatte schwer an der Erkenntnis zu schlucken, dass noch jemand, den ich respektierte, Julia für eine mögliche Verdächtige hielt. »Nein. Du tust das Richtige«, lenkte ich ein. »Ich sage ihr, dass sie Gesellschaft bekommt.«

Ich ging zurück zu Julia. »Hier rund um die Uhr zu sitzen lässt Tess auch nicht schneller gesund werden«, sagte ich. »Gegenüber ist ein Hotel. Ich bringe dich hin. Du kannst etwas essen, vielleicht sogar ein bisschen schlafen. Danach kannst du sofort wieder herkommen.«

»Ich vertraue ihnen einfach nicht, dass sie Darwin von ihr fern halten«, sagte sie.

»Ich bleibe hier, bis du zurückkommst«, versprach ich.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich gehe hier nicht weg.«

»Na schön, aber es wird sowieso jemand hier sein, um auf Tess aufzupassen«, sagte ich. »Sie haben eine so genannte Sitzwache angefordert.«

»Was ist das?«

»Normalerweise ist es ein Student oder eine Lernschwester«, erklärte ich, »die rund um die Uhr am Bett sitzen.«

»Warum?«, fragte sie.

Ich überlegte, ob ich erzählen sollte, dass auf diese Weise die Atmung des Babys überwacht wurde, beschloss jedoch, ehrlich mit ihr zu sein. »Bei einer laufenden Ermittlung muss das Krankenhaus Tess vor jedem beschützen, der vor dem Vorfall Zugang zu ihr hatte«, erklärte ich.

»Mich eingeschlossen«, sagte sie.

»Ja«, bestätigte ich und wartete auf ihre Reaktion.

»Gut«, sagte sie. »Das beruhigt mich etwas. Zumindest nehmen sie ihre Sicherheit ernst.«

Julias Bemerkung beruhigte mich ebenfalls ein wenig. Ein Elternteil, der die Verletzungen eines Kindes hervorgerufen hat, widersetzt sich gemeinhin einer Überwachung durch das Pflegepersonal und besteht häufig auf einem Treffen mit dem Patientenrechts-Beauftragten des Krankenhauses oder sogar auf einem Anwalt. »Bedeutet das, dass du dir das mit dem Hotel noch einmal überlegst?«, fragte ich.

»Ich nehme mir nachher ein Zimmer«, erklärte sie ohne wirkliche Überzeugung.

»Du weißt, dass ich zehn Minuten von hier wohne, in Chelsea«, sagte ich. »Du kannst auch jederzeit …«

»Danke.« Sie ergriff meine Hand und hielt sie einen Moment lang. »Du bist einfach fantastisch«, sagte sie. »Ich brauche dich an meiner Seite, um das hier durchzustehen.«

»Ich lasse dich nicht im Stich«, versprach ich.

»Einfach unverschämtes Glück, schätze ich«, sagte sie.