17
Ich nahm mir ein Taxi zurück nach Chelsea und trat um 21 Uhr 17 durch die Tür meines Lofts. Um 21 Uhr 22 hatte ich mir von der Telefonauskunft bereits die Nummer von Dr. Marion Eisenstadt besorgt und die Angestellte ihres Telefondienstes überredet, sie über ihren Pieper zu rufen. Ich musste mehr als fünf Minuten warten.
»Dr. Eisenstadt«, meldete sie sich schließlich. Ihre Stimme klang jünger, als ich erwartet hatte.
»Ich bin Dr. Frank Clevenger aus Boston«, stellte ich mich vor. »Ich bin Psychiater und betreue die Bishop-Familie.«
»Ja?«
»Ich rufe an, um …«
»Sie sind forensischer Psychiater«, unterbrach sie. »Ist das hier eine polizeiliche Ermittlung?«
Es ist nicht immer ein Vorteil, wenn einem der eigene Ruf vorauseilt. »Nicht offiziell«, schränkte ich ein. »Die Bishops haben mir erlaubt, ein Gutachten über ihren Sohn Billy zu erstellen. Jetzt versuche ich, so viel wie möglich über die gesamte Familie herauszufinden, um mir ein vollständiges Bild von ihm machen zu können, wenn ich bei seinem Prozess aussage.«
»Gut«, sagte Eisenstadt abwartend.
»Und Julia Bishop hat mir erzählt, Sie hätten sie behandelt. Es war ihr Vorschlag, Sie anzurufen.«
Sie zögerte, bevor sie antwortete. »Ich glaube nicht, dass ich Ihnen ohne eine schriftliche Einverständniserklärung von Ms. Bishop viel sagen kann.«
Mir fiel ein Stein vom Herzen. Zuerst einmal gab es Dr. Eisenstadt tatsächlich. Zum Zweiten war Julia eindeutig ihre Patientin. »Das verstehe ich voll und ganz«, sagte ich. »Wir hatten bislang keine Zeit für all diese Formalitäten. Sie wissen wahrscheinlich, dass Billy noch immer auf der Flucht ist. Ich hatte telefonisch Kontakt mit ihm. Alles, was Sie mir sagen, kann mir helfen – sowohl um ihn jetzt zur Aufgabe zu überreden als auch später bei seinem Prozess.«
»Zum Beispiel …?«
»Zum Beispiel, wie er sich Ihrer Ansicht nach in die Familiendynamik einfügt«, sagte ich, um von meinem eigentlichen Anliegen abzulenken. »Ist Ms. Bishop schon lange bei Ihnen in Behandlung?«
»Sporadisch«, antwortete Eisenstadt, noch immer zurückhaltend.
»Während des Sommers ist sie natürlich auf Nantucket«, sagte ich.
Wieder verstrichen einige Augenblicke. »Ich denke, das ist nur ein Grund für ihre seltenen Besuche. Wir haben uns insgesamt vier-, vielleicht fünfmal gesehen, würde ich sagen. Aber das ist auch wirklich schon alles, was ich Ihnen erzählen kann.«
Mein Vertrauen in Julias Geschichte schwand augenblicklich. Ich setzte mich hin. »Ich wusste nicht, dass es so selten war«, sagte ich. »Vielleicht sind Sie trotz allem der Ansicht, dass Sie sie gut genug kennen, um …«
»Sobald Sie besagte Einverständniserklärung haben, bin ich gern bereit, Ihnen Einsicht in ihre Unterlagen zu geben.«
»Würde das ihre Briefe einschließen?«, fragte ich, in der Hoffnung, sie aus der Reserve zu locken.
Eisenstadt schwieg.
»Ms. Bishop hat erwähnt, sie hätte Ihnen von Zeit zu Zeit geschrieben«, fügte ich hinzu. Ich konnte hören, wie mein Tonfall in den eines Ermittlers abglitt, was auch Dr. Eisenstadt nicht entging.
»Ohne schriftliche Erlaubnis eines Patienten kann ich die Existenz irgendeines speziellen Teils der Behandlungsunterlagen weder bestätigen noch verneinen«, erklärte sie tonlos. »So lautet das Gesetz. Ich bin sicher, Sie sind damit vertraut.«
»Das verstehe ich«, sagte ich und änderte die Taktik. »Soll ich Ms. Bishop die Freigabe der Briefe gesondert gestatten lassen, oder genügt eine allgemeine Einverständniserklärung?«
»Ich kann nichts weiter dazu sagen«, erwiderte sie fast eisig.
»Selbstverständlich. Vielen Dank für Ihre Mühe. Ich melde mich wieder.«
»Gern geschehen. Ich spreche jederzeit gern wieder mit Ihnen.« Sie legte auf.
Ich stand mit dem Hörer in der einen Hand da und rieb mir mit der anderen die Augen. Es schien unvorstellbar, dass Julia in nur vier oder fünf Therapiestunden eine so enge Beziehung zu Dr. Eisenstadt aufgebaut hatte, um schreiben zu können, die Therapeutin gäbe ihr »Kraft«, sie müsse »unablässig« an ihre gemeinsam verbrachten Stunden denken und fände nur den Willen zum Weiterleben, wenn »ich dich sehe«. Darüber hinaus war Dr. Eisenstadt eine Frau – das falsche Geschlecht, um bei Julia eine solche Intimität entstehen zu lassen.
Julia hatte einen anderen Liebhaber. Ich wusste nicht, was mich mehr beunruhigte – die Tatsache an sich oder dass sie in dieser Hinsicht gelogen hatte. In jedem Fall war bei den Ermittlungen etwas Wichtiges versäumt worden: die Person zu vernehmen, mit der Julia zur Zeit von Brookes Ermordung geschlafen hatte, wer auch immer es sein mochte.
Es war unmöglich, vorauszusagen, was eine solche Vernehmung zutage fördern würde. Was, wenn Julia und ihr Liebhaber Pläne geschmiedet hatten, gemeinsam wegzugehen – Pläne, die ihr Liebhaber aufgegeben hatte, als sie schwanger geworden war? Was, wenn Julia Brooke und Tess zunehmend als die einzige Hürde zwischen ihr und einem Neuanfang mit einem anderen Mann gesehen hatte?
Und was, wenn ihr Liebhaber die Zwillinge als Hindernis betrachtet hätte? Es war nur zu gut vorstellbar, dass ein Mann alles tun würde, um Julia zu bekommen.
Ein dumpfer Kopfschmerz pochte in meinem Nacken. Ich brauchte dringend bessere Neuigkeiten. Etwas Angenehmes. Ballast. Ich rief im Präsidium der State Police an und fragte nach Art Fields, wobei ich mir vorkam, als würde ich den Hebel eines einarmigen Banditen ziehen, der gerade meine letzte Münze geschluckt hatte. Eine Minute später war Fields am Apparat. »Frank Clevenger hier«, sagte ich.
»Ich bin froh, dass Sie angerufen haben.«
»Wissen wir schon, von wem die Fingerabdrücke auf dem Negativ stammen?«, fragte ich.
»Nur von einer einzigen Person«, antwortete Fields zögernd. »Darwin Bishop.«
Ich fühlte mich, als hätte ich den Jackpot geknackt, obwohl in Fields’ Stimme keinerlei freudige Begeisterung mitschwang. »Sie klingen nicht sonderlich erfreut«, bemerkte ich.
»Es gibt keine anderen Abdrücke«, sagte er. »Nicht von Billy Bishop. Von niemandem sonst. Ich hätte gern wenigstens einen nicht identifizierten Abdruck gesehen – von demjenigen, der den Film entwickelt hat, von irgendeinem Angestellten im Fotogeschäft, von demjenigen, der die Fotos für Bishop aufgenommen und ihm die Negative gegeben hat. Von irgendjemandem.«
»Sind diese Leute denn nicht speziell ausgebildet, die Negative anzufassen, ohne die Oberfläche zu berühren?«, fragte ich. »Tragen einige nicht sogar Handschuhe?«
»Aber viele von ihnen kriegen das nicht hin, scheren sich nicht darum oder was auch immer«, hielt Fields dagegen. »Also stellt sich die Frage, ob jemand mit Absicht darauf geachtet hat, dass nichts auf die Negative kommt, bevor sie in Bishops Hände gelangten. Und das führt zu der Frage, warum.«
»Es sei denn, es ist ein Zufall«, sagte ich. »Ich meine, einer von Darwins Wachmännern könnte die Fotos gemacht, den Film zur Entwicklung ins Labor gegeben und die Negative artig in einem Umschlag zurückgebracht haben, ohne dass irgendjemand je die Oberflächen berührt hat.«
»Sicher. Das ist möglich. Manchmal trifft ein Chor tatsächlich einen reinen Ton. Ich würde mich nur einfach wohler fühlen, wenn da ein paar Störgeräusche wären.«
»Verständlich«, sagte ich. »Haben Sie die Ergebnisse schon Chief Anderson durchgegeben?«
»Sollte ich das?«
Die Frage zielte offensichtlich darauf ab, ob man Anderson in Anbetracht dessen, was Fields auf dem Foto gesehen hatte, noch trauen konnte, und sie ließ mich erkennen, dass ich nach wie vor Vertrauen zu Anderson hatte. Ich glaubte ihm seine Geschichte, dass er sich magisch zu Julia hingezogen gefühlt und den Kopf verloren hatte. Sie besaß diese Macht. Das war mir jetzt klarer als je zuvor. »Ja«, erklärte ich, ohne zu zögern. »Er ist derjenige, bei dem alle Informationen zusammenlaufen sollten.«
»Dann werde ich es umgehend tun«, versprach Fields.
»Danke. Und vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Gern geschehen«, sagte er. »Ich arbeite für jeden, der mit den nötigen Referenzen zur Tür hereinkommt, aber wirklich Freude bereitet es mir nur bei denen, die die Wahrheit hören wollen. Passen Sie auf sich auf.« Er legte auf.
Ich stimmte zu, dass das Negativ ein noch überzeugenderer Beweis gewesen wäre, wenn sich noch mehr Abdrücke darauf befunden hätten. Doch das Bild von Darwin Bishop als Mörder war nichtsdestotrotz unumstößlich. Seine Fingerabdrücke waren die einzigen auf dem Negativ. Er hatte Julia bedrängt, die Zwillinge abzutreiben. Er hatte Lebensversicherungen auf sie abgeschlossen, besaß einen ausgeprägten Hang zu Gewalt und hatte Julia das Tablettenfläschchen mit dem Nortriptylin abgenommen.
Es war kurz nach 22 Uhr. Julia würde bald kommen. Ich musste dringend etwas schlafen, und wenn es nur für eine halbe Stunde war. Ich ließ mich in einen Gobelinsessel sinken, von dem ich Ausblick auf die Tobin Bridge hatte und den lautlosen, glühwürmchengleichen Verkehr genießen konnte, der sich in einem Bogen durch die Nacht zog, dann schloss ich die Augen und nickte tatsächlich ein.
Zehn Minuten später klingelte das Telefon. Ein Blick auf die Rufnummernanzeige verriet mir, dass es North Anderson war, der mich vom Handy aus anrief. Ich nahm an, dass er sich über die Neuigkeiten unterhalten wollte, die Fields ihm über Bishops Fingerabdrücke mitgeteilt hatte. Ein Teil von mir hätte es am liebsten weiterklingeln lassen, doch ich wusste, dass dies keine Lösung war. Ich griff nach dem Hörer. »Frank hier«, sagte ich.
»Wie geht’s dir?«
»Gut«, erwiderte ich etwas steifer als geplant. »Und dir?«
Er ignorierte die Frage. »Sie haben Billy erwischt«, teilte er mir mit. »Er will dich sehen.«
»Sie haben ihn erwischt? Geht es ihm gut?«
»Er ist erschöpft, aber ansonsten unversehrt, soweit ich höre. Er hat nicht viel gegessen und geschlafen.«
»Wo haben sie ihn gefunden?«
»In Queens. Auf dem La-Guardia-Flughafen«, antwortete Anderson. »Er wollte gerade in eine Maschine nach Miami einsteigen.«
»Wie hat er es geschafft, von der Insel herunterzukommen, ohne der Polizei in die Arme zu laufen?«
»Er hat sich wahrscheinlich sofort nach dem Einbruch abgesetzt.«
»Ich komme mit der ersten Maschine nach New York«, sagte ich.
»Bleib, wo du bist. Er ist auf dem Weg zu dir«, meinte Anderson. »Die State Police holt ihn mit einem Wagen ab und bringt ihn zum Bezirksgefängnis in Boston. Ich kann dir sofort eine Besuchserlaubnis beschaffen. Er ist offiziell in Untersuchungshaft, angeklagt des Mordes, versuchten Mordes und einer ganzen Latte minderschwerer Straftaten – Einbruch, schwerer Diebstahl, Verlassen des Gerichtsbezirks. Im Laufe des morgigen Tages wird eine Anklagejury entscheiden, ob ein Verfahren gegen ihn eröffnet wird. Wenn sie grünes Licht geben, wird Billy nach Erwachsenenrecht vor Gericht gestellt. Er könnte lebenslänglich bekommen.«
»Hat er einen Anwalt?«, fragte ich.
»Bislang nur einen, den das Gericht für ihn bestellt hat. Darwin Bishop war nicht bereit, für einen Anwalt zu zahlen, vorausgesetzt, er hätte überhaupt das nötige Kleingeld dazu. Ich dachte, du könntest vielleicht mit Julia reden. Vielleicht kann sie ja etwas arrangieren.«
Ich konnte einen Ölzweig erkennen, wenn jemand damit vor meiner Nase wedelte. Anderson überließ mir Julia. »Ich werde ihr Carl Rossetti empfehlen«, sagte ich. »Er ist brillant. Und ich kenne ihn beinahe so lange wie dich. Wir können ihm vertrauen.«
Anderson begriff, dass ich ihm die Hand der Freundschaft reichte. »Danke, Frank«, sagte er. Er ließ einen Moment verstreichen. »Billy wird jemanden wie Rossetti brauchen. O’Donnell und der Staatsanwalt sind beide überzeugt, dass sie ihren Mann haben. Sie werden Billy in der Presse als solches Ungeheuer hinstellen, dass er Staatsfeind Nummer eins sein wird, wenn es schließlich zur Verhandlung kommt.«
Ihr Mann war zufällig noch immer ein Junge, dachte ich. Wenn man Kinder nach Erwachsenenrecht vor Gericht stellen konnte, warum machte man dann einem unreifen Fünfzigjährigen nicht als Jugendlichem den Prozess? Eine weitere Einbahnstraße, die der Bundesstaat angelegt hat. »Hast du schon mit Fields gesprochen?«
»Ja. Es gibt eine Menge, das auf unseren alten Freund Darwin hinweist – das Negativ eingeschlossen –, aber es sind alles Indizienbeweise. So wie die Staatsanwaltschaft die Sache sieht, ist der Einbruch der springende Punkt. Wenn sie die Geschworenen überzeugen können, dass Tess’ Herzstillstand und Billys Einbruch zeitlich zu nahe beieinander liegen, um ein Zufall zu sein, dann haben sie praktisch schon gewonnen. Dass Billy aus dem Gerichtsbezirk geflohen ist, sieht auch nicht gerade gut aus.«
»Nein. Tut es nicht«, pflichtete ich bei.
»Sonst noch was Neues?«
»Ich habe mit Julia über den Brief gesprochen«, sagte ich.
»Was hat sie gesagt?«
»Sie hätte ihn an ihre Therapeutin in Manhattan geschrieben. Dr. Marion Eisenstadt.«
»Kannst du das überprüfen?«
»Ich habe sie bereits angerufen«, sagte ich. »Sie wollte ohne schriftliche Einverständniserklärung von Julia nicht richtig mit der Sprache rausrücken, aber sie hat mir zumindest erzählt, sie hätten nur vier oder fünf Therapiestunden zusammen gehabt.«
»Und?«
»Und Julias Brief klingt wie etwas, das man einem Therapeuten nach vier oder fünf Therapiestunden pro Woche schreibt, und zwar nach vielen, vielen Wochen.«
»Stimmt«, bestätigte er. »Aber vergiss nicht, mit wem wir es hier zu tun haben.«
»Soll heißen?«
»Julia weckt unglaublich starke Gefühle in Menschen, und zwar unglaublich schnell. Vielleicht funktioniert das in beiden Richtungen.«
»Du meinst, sie baut ebenso schnell eine enge Bindung zu ihrem Therapeuten auf? Spontane Übertragung?«
»Du bist der Psychiater«, sagte Anderson, »aber es scheint durchaus möglich.«
»Möglich ist es schon«, pflichtete ich bei. »Aber wahrscheinlicher ist, dass es ein Liebesbrief an einen anderen Mann war.«
»Ein Mann, mit dem wir uns dringend unterhalten sollten«, sagte er.
»Wenn wir je herausfinden, wer er ist.«
Anderson schwieg einen Moment lang. »Plötzlich fühlt man sich gar nicht mehr so einzigartig, stimmt’s?«
»Nein. Du hast Recht«, bestätigte ich, obwohl ich es nicht wirklich glaubte. Ich klammerte mich tatsächlich noch immer an die vage Chance, dass Julia eine Frau mit einer komplizierten Vergangenheit war, die sich für eine Zukunft mit mir entschieden hatte. Ich wollte ihr verzeihen – fast alles.
»Fährst du noch mal zum Krankenhaus, um mit ihr zu reden?«, fragte er. »Ich würde zu gern wissen, was sie zu sagen hat, wenn du ihr erzählst, dass du mit ihrer Ärztin gesprochen hast.«
Ich wollte ihm nicht sagen, dass Julia auf dem Weg zu mir war. »Ich werde sie schon auf die eine oder andere Weise sehen«, sagte ich. Das klang nicht besonders toll, selbst in meinen eigenen Ohren.
»Es ist deine Entscheidung«, sagte Anderson. »Sei nur immer auf der Hut. Letztes Mal hattest du Glück. Du könntest tot sein.«
»Das brauchst du mir nicht zu sagen.« Ich verstummte, als ich bemerkte, dass sich abermals ein Anflug von Paranoia in meine Gedanken stahl. Ich konnte an seinem Tonfall nicht erkennen, ob er mich warnte oder mir drohte. Letztes Mal hattest du Glück. Du könntest tot sein. »Kannst du für morgen früh um acht ein Gespräch mit Billy für mich arrangieren?«, fragte ich.
»Kein Problem«, versprach er.
»Wir hören voneinander«, sagte ich und legte auf. Ich war körperlich und emotional erschöpft. Ausgelaugt. Ich schloss erneut die Augen.
Ich schreckte aus dem Schlaf hoch und wusste einen Moment lang nicht, wo ich war. Ich sah auf meine Uhr – 1 Uhr 20, und Julia war noch immer nicht hier. Ich rief im Mass General an, um herauszufinden, ob sie noch auf der Beobachtungsstation war.
Die Stationssekretärin meldete sich. »Dr. Frank Clevenger hier«, sagte ich. »Ich wollte fragen, ob Mrs. Bishop zufällig noch bei ihrer Tochter ist?«
»Können Sie kurz dranbleiben?«
»Natürlich.«
Fast eine Minute verstrich. Langsam wurde ich nervös und fragte mich, ob etwas mit Tess passiert war, als John Karlstein an den Apparat kam. »Frank?«
»Ich bin noch dran.« Ich war mir nicht sicher, ob er Tess auch außerhalb der Intensivstation weiterbetreute, doch mir war klar, dass seine Anwesenheit nichts Gutes verhieß.
»Es gab hier unten ein kleines Problem mit Tess«, sagte Karlstein. »Ich war noch hier, um ein paar Dinge zu erledigen, also bin ich vorbeigekommen.«
Ich schloss die Augen. »Was für ein Problem?«
»Ihre Atmung hat sich verlangsamt. Die Atemfrequenz ging runter auf acht, die Sauerstoffkonzentration in ihrem Blut fiel auf siebenundsiebzig. Ich wollte ihr keine Sauerstoffmaske aufsetzen, weil ich Angst hatte, dass wir damit den Atemreflex gänzlich unterbinden würden. Zwanzig Minuten lang konnten wir nur mit angehaltenem Atem warten, genau wie sie. Dann hat sich alles langsam wieder normalisiert. Inzwischen geht es ihr wieder gut, die Sauerstoffsättigung ist rauf auf fünfundneunzig.«
»Wie ist das passiert?«
»Ich weiß es nicht, ganz ehrlich«, sagte er. »Möglicherweise hat sie einen begrenzten neurologischen Schaden zurückbehalten, der irgendwie ihre Atemfrequenz beeinträchtigt. Es könnte auch sein, dass das Nortriptylin nicht das einzige Gift in ihrem Blutkreislauf war, als sie eingeliefert wurde. Oder es könnte eins dieser Dinge sein, die aus heiterem Himmel passieren, vor denen ich dich ja schon gewarnt hatte. Patienten, die einen Herz- oder Atemstillstand hatten, neigen dazu, noch einen zu bekommen.«
»Ist Julia Bishop bei ihr?«, fragte ich und hängte ihren Nachnamen an, um die Beziehung möglichst professionell klingen zu lassen.
Ein seltsam besorgter Unterton stahl sich in seine Stimme. »Sie ist vor einer Weile gegangen – kurz bevor das hier los gegangen ist«, sagte er.
»Machst du dir immer noch Sorgen wegen ihr und dem Baby?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich habe mich ein-, zweimal dabei ertappt, dass ich an Caroline Hallisseys Einschätzung gedacht habe. Kurz gesagt, ich schätze, es kann nicht schaden, wenn der behandelnde Arzt hier unten eine Sitzwache rund um die Uhr anordnet.« Er räusperte sich. »Sehr wahrscheinlich war es nur ein kleiner Rückschlag. So etwas passiert. Ich hatte schon Patienten, die aussahen, als würden sie jeden Moment abgehen, bevor sie sich wundersamerweise wieder erholt und nie wieder das geringste Problem hatten.«
»Oder es war doch nicht nur ein Rückschlag«, sagte ich halb zu mir selbst.
»Es gibt jede Menge Arzneimittel, die die Atmung behindern können«, erklärte Karlstein. »Aktivan. Klonopin. Sie alle werden Menschen mit Depressionen häufig verschrieben.« Womit er Julia meinte. »Wir ordnen eine toxikologische Untersuchung von Tess’ Blut an, nur um ganz sicherzugehen.«
»Das halte ich für angebracht«, pflichtete ich bei.
»Ich wusste, du würdest mir zustimmen, Doc. Du kannst dich jederzeit nach ihr erkundigen«, sagte Karlstein. »Ich hoffe, ich kann bald gehen, aber ich werde Anweisung geben, dass sie dir Bescheid sagen, wenn es irgendeine Veränderung gibt. Du bist über den Pieper zu erreichen?«
»Natürlich«, bestätigte ich.
»Bestens«, sagte er.
Wir legten auf. Es gefiel mir nicht, dass Julia die Station unmittelbar, bevor Tess’ Atemprobleme eingesetzt hatten, verlassen hatte. Karlstein gefiel es augenscheinlich auch nicht. Doch es gab keinen Grund zur Annahme, dass zwischen den beiden Geschehnissen ein kausaler Zusammenhang bestand. Zumindest noch nicht. Die toxikologische Untersuchung würde jegliches neue Medikament in Tess’ Blutkreislauf aufzeigen.
Keine zwei Minuten später ertönte die Klingel an der Eingangstür. Ich ging zur Gegensprechanlage. »Hallo?«
»Tut mir Leid, dass ich so spät komme«, sagte Julia. »Willst du mich noch immer sehen?«
»Das weißt du doch«, erwiderte ich und ließ sie ein.
Als sie die Wohnung betrat, wirkte Julia entspannter, als ich sie je gesehen hatte, was ich dahingehend interpretierte, dass sie das von Tess nicht gehört hatte und vermutlich auch nicht wusste, dass Billy verhaftet worden war. Ich hingegen war alles andere als entspannt. »Möchtest du einen Kaffee? Einen Drink?«, fragte ich, während ich in die Küche ging.
Sie schlenderte durch die Wohnung und blieb schließlich vor dem Panoramafenster stehen, vor dem die Skyline von Boston leuchtete.
»Kann ich dir etwas anbieten?«, erkundigte ich mich abermals.
Langsam drehte sie sich um. Vor der Kulisse des nächtlichen Himmels mutete sie wie eine Göttin an. »Geh nur einfach mit mir ins Bett, ja?«, sagte sie auf eine erschöpfte, bedürftige Art, die trotz der Umstände das spontane Bedürfnis in mir weckte, ihr aus den Kleidern zu helfen.
Ich suchte in ihrem Gesicht nach irgendeinem Anzeichen von Anspannung oder Angst, doch ich fand keines. War es auch nur im Entferntesten vorstellbar, dass sie gerade versucht hatte, ihre Tochter umzubringen? »Wir müssen reden«, erklärte ich.
Sie atmete tief durch und setzte sich auf die Bettkante. »Ich habe dir alles über North erzählt, was es zu erzählen gibt«, sagte sie. »Aber frag nur.«
»Es geht nicht um North.« Ich trat vor sie und streckte automatisch meine Hand aus, außerstande, körperliche Distanz zu wahren. Sie ergriff meine Hand, während ich mit einem Nicken auf die Couch deutete. »Komm, setzen wir uns da hin.«
Die Mutter in Julia musste den Teil meiner Gedanken gelesen haben, der um Tess’ Atemprobleme kreiste – es sei denn, sie wusste bereits darüber Bescheid, weil sie sie selbst hervorgerufen hatte. »Stimmt etwas im Krankenhaus nicht?«, hauchte sie.
»Nicht mehr«, erwiderte ich. »Es ist alles wieder in Ordnung.« Ich half ihr auf und führte sie zur Couch. Wir setzten uns dicht nebeneinander.
»Es ist etwas passiert«, presste sie hervor. »Was? Sag es mir.«
»Es ist alles in Ordnung. Ich habe auf der Beobachtungsstation angerufen, weil ich mit dir reden wollte. Stattdessen bekam ich Dr. Karlstein an den Apparat.«
»Doktor …«
»Er war dort, weil Tess Probleme mit der Atmung hatte.«
Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Geht es ihr gut?«
»Das tut es«, versicherte ich ihr nachdrücklich. »Ihre Atmung ist wieder normal.«
»Ich muss sofort zu ihr«, sagte sie. »Kannst du mich hinfahren?«
»Nicht so schnell. Es geht ihr gut. Wirklich.« Ich legte meine Hand auf ihr Knie und bemerkte, wie mein Atem unwillkürlich schneller ging. »Lass mich erst zu Ende reden«, bat ich.
Julia musterte panisch mein Gesicht. »O Gott. Da ist noch etwas.«
»Es geht nicht um Tess«, sagte ich, ehe ich einen Moment innehielt. »Sie haben Billy gefunden. Er war am LaGuardia und hat auf einen Flug nach Miami gewartet.«
Sie seufzte erleichtert. »Wenigstens ist er jetzt in Sicherheit.«
»Sie bringen ihn ins Bezirksgefängnis von Boston. Ich werde dort morgen früh mit ihm sprechen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Er sollte nicht einen einzigen Tag in irgendeinem Gefängnis zubringen müssen«, sagte sie. »Er ist unschuldig. Ich weiß das jetzt.«
Ich nahm meine Hand von ihrem Knie und nickte zustimmend.
Julia sah mich besorgt an. »Was noch?«, fragte sie.
»Nichts«, antwortete ich, doch mein Seufzen strafte meine Worte Lügen. »Ich hatte Gelegenheit, Marion Eisenstadt anzurufen«, erklärte ich.
Sie starrte mich einen Moment lang an. »Das ist nicht dein Ernst.«
»Du kannst es mir sagen, wenn der Brief nicht an sie gerichtet war«, sagte ich.
»Ich kann nicht glauben, dass du sie tatsächlich damit belästigt hast. Hinter meinem Rücken.«
»Sie hat mir erzählt, ihr hättet vier oder fünf Therapiestunden zusammen gehabt. Mehr wollte sie nicht sagen.«
»Sie hat dir nichts von den Briefen erzählt?«
Bluffte sie? »Sie hat sich geweigert«, antwortete ich. »Ohne schriftliche Einverständniserklärung von dir wollte sie nichts sagen.« Ich wartete ab, wie sie auf diesen nicht sonderlich subtilen Wink reagieren würde.
»Du willst, dass ich irgendein Formular unterschreibe, damit du dir meine psychiatrischen Unterlagen ansehen kannst, um zu beweisen, dass ich niemand anderen gevögelt habe? Machst du Witze?«
»Ich will nur, dass du mir gegenüber offen bist. Ich will, dass du weißt, dass du mir gegenüber offen sein kannst.«
Sie schüttelte enttäuscht den Kopf, während sich ihre Augen mit Tränen füllten.
»Wenn der Brief an jemand anderen gerichtet war, dann muss ich im Zuge der Ermittlungen mit der betreffenden Person reden. Ich kann nicht einfach …«
Sie sah mich an, und der Zorn in ihrem Blick vertrieb jegliches Anzeichen von Traurigkeit. »Stimmt genau. Du kannst einfach keine Ruhe geben. Du kannst die Vergangenheit nicht loslassen und uns die Chance auf ein gemeinsames Leben geben. Du siehst überall Phantomliebhaber von mir. Weil Eifersucht keinen Mut erfordert, Vertrauen hingegen schon. Jemanden zu lieben erfordert Mut. Und du bist unfähig, jemanden wirklich zu lieben.«
Ich ließ nicht locker, obgleich Julias Diagnose von mir einen Nerv getroffen hatte. »Trotz allem ist es schwer, zu verstehen, wie du nach nur vier oder fünf …«
»Es ist nicht meine Aufgabe, dich von irgendetwas zu überzeugen«, entgegnete sie. »Glaub, was du willst.« Sie stand auf. »All das hier ist völlig idiotisch. Wir sind völlig idiotisch. Ich muss zu meiner Tochter.«
Ich war mir nicht sicher, ob ich wirklich wollte, dass sie ging – die Wohnung oder mich verließ. Denn selbst wenn Julia log, bezog sich ihre Lüge vermutlich nur auf ihre komplizierte Vergangenheit mit Männern. Und mein eigenes Liebesleben war schließlich auch nicht gerade unkompliziert gewesen. Vielleicht hatte sie Recht, und ich stand tatsächlich zaudernd an der Schwelle eines Gefühls, dem ich mein ganzes Leben lang nachgelaufen war – dem Gefühl bedingungsloser Liebe für eine Frau.
Sie ging zur Tür.
»Geh nicht«, bat ich.
Sie blieb stehen, ohne sich jedoch zu mir umzudrehen. »Du bist derjenige, der gegangen ist«, erklärte sie und ging weiter.
»Es ist spät«, sagte ich. »Lass mich dich doch wenigstens hinfahren.«
Sie öffnete die Tür und schlug sie hinter sich zu.