45 Avasarala


»Sir, wie ich es sehe, sind die Würfel gefallen«, erklärte Avasarala. »Wir haben zwei Ansätze, die bereits im Raum stehen. Die Frage ist nun, wie wir weiter vorgehen. Bisher konnte ich verhindern, dass die Informationen nach draußen gelangen, aber sobald dies geschieht, werden die Folgen verheerend sein. Da inzwischen recht sicher ist, dass das Artefakt kommunizieren kann, sind die Aussichten, diese Hybriden zwischen Protomolekül und Menschen militärisch zu nutzen, im Grunde gleich null. Wenn wir diese Waffe einsetzen, erschaffen wir eine zweite Venus, begehen einen Völkermord und verlieren jeden moralischen Einwand gegen die Drohung, beschleunigte Asteroiden auf die Erde zu schleudern. Bitte entschuldigen Sie die deutlichen Worte, Sir, aber dies war von Anfang an ein Scheißspiel. Die Sicherheit der ganzen Menschheit hat einen unvorstellbaren Schaden erlitten. Es scheint klar zu sein, dass das Projekt des Protomoleküls auf der Venus über die Ereignisse im Jupiter-System im Bilde war. Wahrscheinlich haben die dortigen Proben umgekehrt die Informationen erhalten, die aus der Zerstörung der Arboghast herrührten. Die Einschätzung, dass dies unsere Position schwierig macht, ist eine starke Untertreibung.

Wäre alles über die richtigen Kanäle gelaufen, dann wären wir jetzt nicht in dieser misslichen Lage. Wie es aussieht, habe ich alles getan, was mir derzeit und in dieser Situation möglich ist. Die Koalition, die ich zwischen Mars, Elementen aus dem Gürtel und der Regierung der Erde geschmiedet habe, ist bereit, zur Tat zu schreiten. Aber die UN müssen sich von diesem Plan distanzieren und sofort Maßnahmen ergreifen, um die Fraktion innerhalb der Regierung zu isolieren und auszuschalten, die uns diesen Haufen Hundekacke vor die Tür gesetzt hat. Noch einmal, entschuldigen Sie die drastische Ausdrucksweise.

Ich habe Kopien der hier angefügten Daten an die Admiräle Souther und Leniki sowie an mein Team geschickt, das an dem Venusproblem arbeitet. Sie stehen Ihnen natürlich zur Verfügung, um alle Fragen zu beantworten, falls ich nicht erreichbar bin.

Es tut mir sehr leid, Sie in diese Situation zu bringen, Sir, aber Sie müssen sich in diesem Fall für eine Seite entscheiden, und zwar sehr schnell. Die Ereignisse hier draußen haben eine Eigendynamik entwickelt. Wenn Sie auf der richtigen Seite der Geschichte stehen wollen, dann müssen Sie jetzt einschreiten.«

Falls es überhaupt eine Geschichte gibt, in der man auf der richtigen Seite stehen kann, dachte sie. Anschließend überlegte sie, ob sie sonst noch etwas vorzubringen hatte, irgendein Argument, das die in vielen Jahresringen angelegten hölzernen Wucherungen um das Haupt des Generalsekretärs durchdringen konnte. Ihr fiel jedoch nichts ein, und alles in einfachen Kinderbuchversen zu wiederholen hätte vermutlich herablassend geklungen. Also stoppte sie die Aufzeichnung, schnitt die letzten paar Sekunden weg, in denen sie verzweifelt in die Kamera geblickt hatte, und schickte die Aufnahme mit diplomatischer Verschlüsselung und höchster Priorität ab.

Darauf lief es nun also hinaus. Die ganze menschliche Zivilisation und alles, was sie seit der ersten Höhlenmalerei bis heute hervorgebracht hatte, da sie aus der Schwerkraftsenke kroch und das Vorzimmer der Sterne betrat, hing davon ab, dass ein Mann, dessen größte Ruhmestat darin bestand, für das Verfassen schlechter Gedichte ins Gefängnis gesteckt worden zu sein, den Mut fand, Errinwright aufzuhalten. Das Schiff führte erneut eine Kurskorrektur durch und bewegte sich wie ein Lift, der auf einmal den Schacht zu verlassen drohte. Sie wollte sich aufrichten, doch die kardanisch aufgehängte Liege folgte der Bewegung. Bei Gott, sie hasste die Reisen im Weltraum.

»Wird es funktionieren?«

Der Botaniker stand in ihrer Tür. Er war spindeldürr, und der Kopf schien für den Rumpf ein wenig zu groß zu sein. Er war nicht so unästhetisch gebaut wie die Gürtler, aber man konnte ihn keineswegs für jemanden halten, der bei voller Schwerkraft aufgewachsen war. Nun stand er also in ihrer Tür, versuchte eine Beschäftigung für die nervösen Hände zu finden und wirkte linkisch, verloren und fremd.

»Ich weiß es nicht«, antwortete sie. »Wenn ich dort wäre, würde es so laufen, wie ich es mir vorstelle. Ich könnte ein paar Leuten die Eier quetschen, bis sie es so sehen wie ich. Aber von hier aus? Vielleicht, vielleicht auch nicht.«

»Aber Sie können doch auch von hier aus mit allen Leuten reden, oder?«

»Das ist nicht das Gleiche.«

Er nickte und richtete anscheinend den Blick nach innen. Trotz der Unterschiede hinsichtlich Hautfarbe und Körperbau erinnerte der Mann sie auf einmal an Michael-Jon. Auch er erweckte den Eindruck, stets einen halben Schritt neben der realen Welt zu stehen. Nur dass Michael-Jons Zurückhaltung an Autismus grenzte, während Praxidike Meng für die Menschen in der Umgebung etwas deutlicher sichtbar war.

»Die haben sich an Nicola gewandt«, erklärte er. »Die haben sie gezwungen, Lügen über mich und Mei zu verbreiten.«

»Natürlich haben sie das getan. So gehen diese Leute vor. Wenn sie es für nötig gehalten hätten, gäbe es jetzt auch Papiere und Polizeiberichte, um das alles zu untermauern. Alles zurückdatiert und in die Datenbanken eingepflegt, wo immer Sie bislang gelebt haben.«

»Ich hasse es, wenn die Menschen glauben, ich hätte das wirklich getan.«

Avasarala nickte und zuckte schließlich mit den Achseln.

»Der Ruf eines Menschen hat meist nicht viel mit der Realität zu tun«, erklärte sie. »Ich könnte Ihnen ein halbes Dutzend scheinbar absolut tugendhafte Menschen nennen, die in Wirklichkeit kleingeistig und böse sind. Und einige der besten Männer, die ich kenne, tragen Namen, bei deren Klang Sie sofort den Raum verlassen würden. Niemand ist auf dem Bildschirm der Mensch, den Sie vor sich haben, wenn Sie mit ihm dieselbe Luft atmen.«

»Holden«, wandte Prax ein.

»Ja. Er ist die große Ausnahme«, stimmte sie zu.

Der Botaniker schlug die Augen nieder und hob nach einem Moment den Blick. Er wirkte jetzt fast verlegen.

»Mei ist wahrscheinlich tot«, sagte er.

»Das glauben Sie doch nicht wirklich.«

»Es ist so lange her. Selbst wenn sie ihre Medikamente bekommen hat, haben diese Leute sie wahrscheinlich in eine dieser … Kreaturen verwandelt.«

»Das glauben Sie nicht«, wiederholte sie. Der Botaniker beugte sich vor und runzelte die Stirn, als hätte sie ihn mit einem Problem konfrontiert, das er nicht sofort lösen konnte. »Sagen Sie mir, dass es richtig ist, Io zu bombardieren. Ich könnte jetzt gleich dreißig nukleare Sprengköpfe abfeuern lassen. Wir müssen nur die Maschinen stoppen und die Raketen auf die Reise schicken. Nicht alle werden durchkommen, aber einige werden einschlagen. Sagen Sie es mir jetzt, und ich kann Io in einen Schlackebrocken verwandeln lassen, ehe wir überhaupt dort ankommen.«

»Sie haben recht«, lenkte Prax ein. Er dachte nach. »Warum tun Sie es nicht?«

»Wollen Sie den wirklichen Grund oder meine Rechtfertigung hören?«

»Beides.«

»Ich rechtfertige es folgendermaßen«, begann sie. »Ich weiß nicht, was sich in diesem Labor befindet. Ich kann nicht davon ausgehen, dass sämtliche Ungeheuer dort sind. Wenn ich das Labor zerstöre, vernichte ich möglicherweise zugleich die Unterlagen, die es mir erlauben könnten, die fehlenden Monster zu finden. Ich kenne nicht alle Menschen, die daran beteiligt sind, und ich habe nicht genügend Beweise gegen einige, von deren Beteiligung ich weiß. Die Beweise könnten dort unten liegen. Ich will hinfliegen, es herausfinden und erst danach das Labor zu radioaktivem Glas zerschmelzen.«

»Das sind gute Gründe.«

»Das sind bloß gute Rechtfertigungen. Überzeugend finde ich sie allerdings trotzdem.«

»Aber der Grund ist, dass Mei noch leben könnte.«

»Ich töte keine Kinder«, erwiderte sie. »Nicht einmal dann, wenn es richtig wäre, keine Rücksicht zu nehmen. Sie würden sich wundern, wie oft das schon meiner politischen Karriere geschadet hat. Die Menschen hielten mich für schwach, bis ich den Trick herausgefunden habe.«

»Welchen Trick?«

»Wenn Sie dafür sorgen können, dass die Menschen erröten, hält man Sie für einen harten Knochen«, erklärte sie. »Mein Mann nennt es ›die Maske‹.«

»Oh«, sagte Prax. »Danke.«

Das Warten war noch schlimmer als die Angst vor der Schlacht. Ihr Körper wollte sich bewegen, wollte von dem Sitz wegkommen und durch die vertrauten Gänge wandern. Im Hinterkopf hörte sie Rufe, die nach Taten, nach Bewegung, nach Streit verlangten. Wieder einmal lief sie vom Bug bis zum Heck durch das ganze Schiff. Im Geiste ging sie die Kleinigkeiten durch, die sie über jeden wusste, der ihr auf den Gängen begegnete. Die spärlichen Angaben aus den Geheimdienstberichten, die sie gelesen hatte. Der Mechaniker Amos Burton. Angeblich an mehreren Mordfällen beteiligt. Angeklagt, aber nie verurteilt. Hatte eine Vasektomie durchführen lassen, sobald er das gesetzlich vorgeschriebene Mindestalter erreicht hatte. Naomi Nagata, Ingenieurin. Zwei Masterabschlüsse. Hatte ein volles Stipendium für den Erwerb des Doktortitels auf der Ceres-Station abgelehnt. Alex Kamal, Pilot. Mit Anfang zwanzig in sieben Fällen wegen Trunkenheit und Pflichtverletzungen gemaßregelt. Hatte auf dem Mars einen Sohn, von dem er selbst nichts wusste. James Holden, der Mann ohne Geheimnisse. Der heilige Narr, der das Sonnensystem in einen Krieg gezerrt hatte und den von ihm angerichteten Schaden nicht wahrhaben wollte. Ein Idealist. Die gefährlichste Sorte Mensch, die es überhaupt gab. Und ein guter Mann.

Sie fragte sich, ob das alles eine Rolle spielte.

Der einzige Mitspieler, der nahe genug war, um ohne Zeitverzögerung ein halbwegs normales Gespräch zu führen, war Souther. Vorläufig stand er jedoch immer noch auf derselben Seite wie Nguyen und bereitete sich darauf vor, gegen die Schiffe zu kämpfen, die sie beschützten. Vieles würde wohl von Glück und Zufällen abhängen.

»Haben Sie etwas gehört?«, fragte er, als sie über das Terminal mit ihm sprach.

»Nein«, antwortete sie. »Ich weiß nicht, warum der verdammte Klopskopf so lange braucht.«

»Sie fordern ihn immerhin auf, einem Mann den Rücken zu kehren, dem er bisher bedingungslos vertraut hat.«

»Und warum dauert das so lange, verdammt? Als ich das tun musste, war es in fünf Minuten vorbei. ›Soren‹, habe ich gesagt, ›Sie sind ein Weichei. Verschwinden Sie.‹ Das ist doch gar nicht so schwer.«

»Und wenn er sich doch nicht dazu durchringt?«, fragte Souther.

Sie seufzte.

»Dann rufe ich Sie zurück und versuche, Sie zu überreden, sich auch ohne Befehl auf meine Seite zu schlagen.«

»Ah«, erwiderte Souther mit einem kleinen Lächeln. »Und wie genau soll das vor sich gehen?«

»Es gefällt mir nicht, wenn es ungünstig für mich aussieht, aber man weiß ja nie. Ich kann verdammt überzeugend sein.«

Ein kleines Warnfenster wies sie darauf hin, dass eine neue Botschaft eingegangen war. Sie kam von Arjun.

»Ich muss jetzt Schluss machen«, sagte sie. »Legen Sie immer ein Ohr auf den Boden, um zu horchen, oder was Sie auch sonst tun, wenn Sie keinen richtigen Boden haben.«

»Passen Sie auf sich auf, Chrisjen.« Souther verschwand im grünen Hintergrund, als die Verbindung getrennt wurde.

Die Messe, in der sie saß, war verlassen. Trotzdem konnte natürlich jederzeit jemand hereinkommen. Sie raffte die Säume ihres Saris und ging in ihre kleine Kabine. Ehe sie die neue Datei auf dem Terminal öffnete, zog sie die Schiebetür ganz zu.

Arjun saß in Abendkleidung am Schreibtisch, nur die Knöpfe am Hals und an den Ärmeln waren geöffnet. Er wirkte wie ein Mann, der gerade von einer unangenehmen Party zurückgekehrt war. Hinter ihm strömte Sonnenlicht in den Raum. Vielleicht war es dort immer noch sonnig. Sie berührte den Bildschirm und folgte mit den Fingerspitzen dem Umriss seiner Schultern.

»Wenn ich deine Nachricht richtig verstehe, kommst du vorläufig nicht nach Hause.«

»Es tut mir leid«, sagte sie zu dem Bildschirm.

»Wie du dir vorstellen kannst, finde ich diesen Gedanken … beunruhigend.« Dann lächelte er, und das Lächeln spiegelte sich sogar in den Augen, die, wie sie jetzt sah, vom Weinen gerötet waren. »Aber was kann ich schon tun? Ich zeige meinen Studenten, was Poesie ist, und besitze in dieser Welt keine Macht. Du warst immer diejenige, die sich um solche Dinge gekümmert hat. Deshalb biete ich dir etwas an. Denk nicht über mich nach. Konzentriere dich nur auf das, was du letzten Endes auch für mich tust. Und wenn du nicht …«

Arjun holte tief Luft.

»Ob das Leben den Tod überdauert oder nicht, ich bin bei dir.«

Er senkte den Blick und hob ihn wieder.

»Ich liebe dich, Kiki. Ich werde dich immer lieben, so groß die Distanz auch ist.«

Damit endete die Botschaft. Auf einmal kam ihr das Schiff mit seinen engen Räumen so vor wie ein Sarg. Die kleinen Geräusche, die es machte, bedrängten sie, bis sie am liebsten geschrien hätte. Bis sie schlafen konnte. Sie weinte einen Moment lang. Sonst konnte sie nichts tun. Sie hatte alles, was sie aufzubieten vermochte, in die Waagschale geworfen, und nun blieb ihr nichts als zu meditieren und sich Sorgen zu machen.

Eine halbe Stunde später zirpte das Terminal erneut und weckte sie aus ihren unruhigen Träumen. Errinwright. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie hob einen Finger, um die Nachricht abzuspielen, dann zögerte sie. Sie wollte es nicht hören. Sie wollte nicht in diese Welt zurückkehren und die dicke Maske auflegen. Sie wollte Arjun zusehen. Seine Stimme hören.

Nur dass Arjun natürlich genau wusste, was ihr wichtig war. Deshalb hatte er genau das gesagt, was sie vorher gehört hatte. Sie startete die Wiedergabe.

Errinwright war wütend. Mehr als das, er war auch müde. Die Verbindlichkeit war verschwunden, und nun bestand er nur noch aus salzigem Wasser und Drohungen.

»Chrisjen«, begann er. »Ich weiß jetzt schon, dass Sie es nicht begreifen werden, aber ich habe alles in meiner Macht Stehende getan, um Sie und Ihre Angehörigen zu beschützen. Sie verstehen nicht, worauf Sie sich eingelassen haben, und Sie bringen jetzt alles durcheinander. Ich wünschte, Sie hätten den Mut gehabt, sich mit alledem vorher an mich zu wenden, aber stattdessen sind Sie mit James Holden durchgebrannt wie eine verknallte Sechzehnjährige. Ehrlich, selbst wenn ich angestrengt nachdenke, fällt mir keine bessere Möglichkeit ein, die politische Glaubwürdigkeit zu zerstören, die Sie früher hatten.

Ich habe Sie auf die Guanshiyin gesetzt, um Sie vom Spielfeld zu nehmen, weil ich wusste, dass bald scharf geschossen wird. Nun, so ist es auch gekommen, aber Sie stecken mittendrin und haben keinen Blick für das Gesamtbild. Millionen von Menschen droht nun wegen Ihrer Selbstsucht ein schlimmer Tod. Das wird auch Sie selbst treffen, ebenso Arjun und Ihre Tochter. Sie alle schweben jetzt Ihretwegen in Gefahr.«

Der Errinwright auf dem Bild faltete die Hände und presste die Knöchel an die Unterlippe. Der Inbegriff des zürnenden Vaters.

»Wenn Sie jetzt sofort umkehren, dann könnte ich … dann bin ich vielleicht noch fähig, Sie zu retten. Nicht Ihre Karriere. Damit ist es vorbei. Vergessen Sie das. Jeder hier unten sieht jetzt, dass Sie mit der AAP und dem Mars zusammenarbeiten. Alle denken, Sie hätten uns verraten, und diesen Eindruck kann ich nicht aufheben. Aber Ihr Leben und Ihre Familie, das alles kann ich retten. Sie müssen sich allerdings von diesem Zirkus verabschieden, den Sie veranstaltet haben, und Sie müssen es jetzt sofort tun.

Die Zeit drängt, Chrisjen. Alles, was Ihnen wichtig ist, steht auf dem Spiel, und ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich nicht selbst helfen. Nicht bei dieser Sache.

Dies ist die allerletzte Gelegenheit. Falls Sie jetzt nicht auf mich hören, ist, wenn wir das nächste Mal sprechen, schon jemand gestorben.«

Die Nachricht endete. Sie startete die Wiedergabe noch einmal und ein drittes Mal. Schließlich grinste sie böse.

Bobbie war mit dem Piloten Alex auf dem Operationsdeck. Sie unterbrachen ihr Gespräch, als Avasarala eintrat. Bobbie sah sie fragend an. Avasarala hob einen Finger und schaltete die Wiedergabe auf die Schiffsmonitore. Errinwright erwachte zum Leben. Auf den großen Bildschirmen konnte sie seine Poren und die einzelnen Haare der Augenbrauen erkennen. Als er sprach, wurden Alex und Bobbie sehr ernst und beugten sich vor, als säßen sie an einem Pokertisch, an dem sich gerade eine Runde mit hohen Einsätzen dem Ende zuneigte.

»Also«, meinte Bobbie im Anschluss. »Was tun wir jetzt?«

»Wir köpfen eine Pulle Champagner«, sagte Avasarala. »Was hat er uns gerade gesagt? Die Nachricht hat keinen Inhalt. Da ist absolut nichts. Er windet sich zwischen seinen eigenen Worten durch, als hätten sie giftige Stacheln. Und was hat er in der Hand? Drohungen. Niemand verbreitet solche Drohungen.«

»Warten Sie mal«, unterbrach Alex. »War das etwa ein gutes Zeichen?«

»Es war ausgezeichnet«, erklärte Avasarala. Auf einmal fand noch ein anderes Puzzleteilchen seinen Platz, und sie lachte und fluchte zugleich.

»Wie bitte? Was ist los?«

»›Ob das Leben den Tod überdauert oder nicht, ich bin bei dir.‹«, zitierte sie. »Das ist ein verdammtes Haiku. Der Mann hat einen eingleisigen Verstand, auf dem nur ein einziger Zug fährt. Poesie. Erlöse mich von der Poesie.«

Die anderen verstanden es nicht, aber das war egal. Die wirklich wichtige Nachricht traf fünf Stunden später ein. Sie kam über einen öffentlichen Newsfeed und stammte direkt vom Generalsekretär Esteban Sorrento-Gillis. Der alte Mann verstand sich ausgezeichnet darauf, zugleich ernst und energiegeladen zu wirken. Wäre er nicht der Vorsitzende des größten Regierungsapparats in der Geschichte der Menschheit gewesen, er hätte eine hervorragende Werbefigur für Gesundheitsdrinks abgegeben.

Dazu hatte sich die ganze Crew versammelt – Amos, Naomi, Holden, Alex. Sogar Prax war da. Sie drängten sich auf dem Operationsdeck, und der vereinte Atem der Menschen überlastete die Recycler und erzeugte eine Hitze wie in einer Scheune. Aller Augen ruhten auf dem Schirm, als der Generalsekretär an das Rednerpult trat.

»Ich möchte Ihnen heute Abend mitteilen, dass wir in Kürze einen Ermittlungsausschuss einberufen werden. Gewissen Anschuldigungen zufolge haben einige Angehörige der UN-Regierung sowie der bewaffneten Streitkräfte im Rahmen ihrer Zusammenarbeit mit privaten Vertragspartnern unautorisierte und möglicherweise illegale Maßnahmen ergriffen. Sofern diese Anschuldigungen Substanz besitzen, werden wir ihnen auf der Stelle nachgehen. Falls sie unbegründet sind, müssen alle Zweifel zerstreut und diejenigen, die für die Verbreitung der Lügen verantwortlich sind, zur Rechenschaft gezogen werden. Ich muss Sie nicht eigens an die Jahre erinnern, die ich als politischer Gefangener galt.«

»Ach, leck mich doch.« Avasarala klatschte fröhlich in die Hände. »Er benutzt die Außenseiter-Rede. Das Arschloch dieses Mannes muss so verkniffen sein, dass er den Raum biegen kann.«

»Meine Amtszeit als Generalsekretär habe ich der Ausrottung jeglicher Korruption gewidmet, und solange ich dieses Amt innehabe, werde ich damit fortfahren. Unsere Welt und das ganze Sonnensystem müssen sicher sein können, dass die Vereinten Nationen vor allem jene ethischen, moralischen und geistigen Werte achten, die uns als Menschheit insgesamt auszeichnen.«

Im Feed sah man Esteban Sorrento-Gillis nicken, dann drehte er sich um und schritt unter dem Ansturm der aufgeregten Fragen davon. Sogleich füllten die Kommentatoren den frei gewordenen Raum und überboten einander darin, alle nur denkbaren Standpunkte des politischen Spektrums zu schildern.

»Na gut«, überlegte Holden. »Was hat er denn nun eigentlich gesagt?«

»Er hat gesagt, dass Errinwright erledigt ist«, entgegnete Avasarala. »Wenn der Mann überhaupt noch irgendeinen Einfluss hätte, wäre es nie zu dieser Presserklärung gekommen. Verdammt, ich wünschte, ich wäre dabei gewesen.«

Errinwright war nicht mehr mit von der Partie. Nun blieben noch Nguyen, Mao, Strickland oder wer er auch war, außerdem die kaum kontrollierbaren Protomolekülsoldaten und die zunehmende Bedrohung auf der Venus. Sie schnaufte ebenso ausgiebig wie geräuschvoll.

»Meine Damen und Herren«, sagte sie, »ich habe soeben unser geringstes Problem gelöst.«

Expanse 02: Calibans Krieg
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