36 Prax
Prax erinnerte sich an die erste Offenbarung. Oder jedenfalls gab es eine, die in seiner Erinnerung die erste war. Da er keine weiteren Hinweise hatte, ließ er es damit bewenden. Er war gerade erst siebzehn gewesen und hatte im zweiten Ausbildungsjahr in einem Genlabor gearbeitet. Hilflos hatte er zwischen den Stahltischen und den Mikrozentrifugen gesessen und sich gefragt, warum seine Ergebnisse unbrauchbar waren. Er hatte alle Berechnungen überprüft und die Labornotizen durchgesehen. Der Fehler war größer, als man es mit nachlässiger Vorgehensweise hätte erklären können, und er hatte sogar gewissenhaft gearbeitet.
Dann war ihm aufgefallen, dass eine seiner Reagenzien optisch aktiv war, und er wusste, was geschehen war. Er hatte nichts Böses geahnt, sondern einfach vorausgesetzt, dass die Reagenzien aus natürlichen Quellen stammten und nicht künstlich erzeugt worden waren. Der Stoff war nicht einheitlich linksdrehend, sondern eine zur Hälfte inaktive Mischung gewesen. Diese Einsicht hatte ihn bis über beide Ohren grinsen lassen.
Es war ein Fehlschlag gewesen, jedoch ein Fehlschlag, den er verstehen und dadurch in einen Triumph verwandeln konnte. Er bedauerte nur, dass er so lange gebraucht hatte, um zu begreifen, was von Anfang an hätte offensichtlich sein müssen.
In den vier Tagen nach der Sendung hatte er nicht viel Schlaf gefunden. Er hatte die Kommentare und Nachrichten durchgesehen, die zusammen mit den Spenden eingegangen waren, auf ein paar geantwortet und im ganzen System einigen Menschen, die er nicht kannte, Fragen gestellt. Die guten Wünsche und die Großzügigkeit, die ihn förmlich überfluteten, waren berauschend. Zwei Tage lang hatte er überhaupt nicht geschlafen und sich von der Begeisterung mitreißen lassen, weil er endlich etwas bewirken konnte. Als er dann geschlafen hatte, hatte er von Mei geträumt.
Als er auf die Antwort stieß, wünschte er sich abermals, er hätte sie schon viel früher gefunden.
»Da sie so viel Zeit hatten, hätten sie Ihre Kleine überall hinbringen können, Doc«, sagte Amos. »Ich meine, ich will Ihnen ja nicht jegliche Hoffnung nehmen.«
»Das ist denkbar«, antwortete Prax. »Sie könnten sie an jeden beliebigen Ort bringen, solange sie genug Medikamente haben. Aber nicht sie ist der begrenzende Faktor. Die Frage ist, woher sie kommen.«
Prax hatte die Sitzung einberufen, ohne eine klare Vorstellung zu haben, wo sie abgehalten werden sollte. Die Crew der Rosinante war klein, aber Amos’ Räume waren trotzdem zu beengt. Er hatte an die Messe des Schiffs gedacht, doch dort waren noch Techniker mit den Reparaturen beschäftigt, und Prax wollte niemanden mithören lassen. Schließlich hatte er die Spenden betrachtet, die seit Holdens Sendung ständig eingingen, und genug Geld abgehoben, um in einem Club der Station ein Hinterzimmer zu mieten.
Jetzt saßen sie in einem geräumigen privaten Salon. Die großen Wandbildschirme zeigten die riesigen Konstruktionskräne, die sich um Bruchteile von Graden bewegten, während die Rückstoßstrahlen der Manövriertriebwerke aufloderten und dabei Muster erzeugten, die so kompliziert waren wie eine Sprache. Auch das war etwas, das Prax nicht bedacht hatte, ehe sie hier eingetroffen waren. Die Kräne mussten mit Steuerdüsen arbeiten, um nicht die Station zu verlagern, an der sie befestigt waren. Alles war verbunden, jede kleine Bewegung hatte irgendwo eine Konsequenz.
Eine sanfte, betörende Musik schwebte zwischen den großen Tischen und den mit Gel gefüllten Polsterstühlen, der Sänger hatte eine tiefe, weiche Stimme.
»Woher sie gekommen sind?«, fragte Alex. »Ich dachte, sie wären von Ganymed gekommen.«
»Das Labor auf Ganymed verfügte nicht über die Ausstattung, um ernsthaft zu forschen«, erklärte Prax. »Außerdem haben sie es so gedreht, dass auf Ganymed ein Krieg ausbrechen sollte. Es wäre keine gute Idee, dort mittendrin die Hauptarbeit vorzunehmen. Es war nichts weiter als ein Feldlabor.«
Amos nickte. »Ich versuche, nicht dort zu scheißen, wo ich esse.«
»Du wohnst auf einem Raumschiff«, wandte Holden ein.
»Ich scheiße aber nicht in der Messe.«
»Auch wieder wahr.«
»Jedenfalls können wir annehmen, dass sie noch eine besser geschützte Basis haben. Diese Basis muss irgendwo im Jupiter-System sein. Nicht sehr weit entfernt.«
»Da komme ich nicht mit«, gab Holden zu. »Warum muss die Basis in der Nähe sein?«
»Die Flugzeit. Mei kann jedes Ziel erreichen, wenn der Vorrat an Medikamenten groß genug ist, aber sie ist robuster als … als die Dinger.«
Holden hob die Hand wie ein Schüler, der eine Frage stellen wollte.
»Na schön, vielleicht habe ich Sie missverstanden, aber haben Sie gerade behauptet, das Ding, das mein Schiff halb zerfetzt, eine fünfhundert Kilo schwere Palette nach mir geworfen und sich fast bis zum Reaktorkern durchgefressen hat, sei empfindlicher als ein vierjähriges Mädchen ohne Immunsystem?«
Prax nickte. Entsetzen und Kummer überwältigten ihn beinahe. Sie war nicht mehr vier. Mei hatte im vergangenen Monat Geburtstag gehabt, und er hatte ihn verpasst. Sie war jetzt fünf. Kummer und Entsetzen waren alte Weggefährten. Er schob sie beiseite.
»Ich muss mich klarer ausdrücken«, begann er. »Meis Körper kämpft nicht gegen ihre Situation an. Genau genommen macht das auch ihre Krankheit aus. In gesunden Körpern passieren viele Dinge, die in ihrem nicht geschehen. Jetzt nehmen Sie eines dieser Wesen wie das auf dem Schiff.«
»Der Bastard war ziemlich aktiv«, meinte Amos.
»Nein«, antwortete Prax. »Ja, doch, natürlich. Ich meine, er war auf biochemischer Ebene aktiv. Wenn Strickland oder Merrian oder wer auch immer das Protomolekül benutzt, um menschliche Körper umzubauen, dann legt er damit ein komplexes System über ein anderes. Wir wissen, dass das Ergebnis instabil ist.«
»Na schön.« Naomi saß neben Amos und gegenüber von Holden. »Woher wissen wir das?«
Prax runzelte die Stirn. Bei der Vorbereitung auf diesen Vortrag hatte er nicht so viele Fragen eingeplant. Die Dinge, die er von vornherein als gegeben unterstellte, waren den anderen völlig neu. Deshalb war er auch kein Lehrer geworden. Wenn er ihre Gesichter betrachtete, sah er nichts als Verwirrung.
»Also gut«, sagte er. »Ich beginne ganz von vorne. Auf Ganymed war etwas, das den Krieg ausgelöst hat. Außerdem war dort ein Geheimlabor mit Leuten, die mindestens über den Angriff Bescheid wussten, bevor er stattgefunden hat.«
»Ist klar«, stimmte Alex zu.
»Gut«, fuhr Prax fort. »Im Labor haben wir Spuren des Protomoleküls, einen toten Jungen und ein paar Leute gefunden, die gerade verschwinden wollten. Wir mussten uns nur ein Stück weit hineinkämpfen. Danach ist vor uns etwas anderes passiert, wobei alle anderen umgekommen sind.«
»He!«, sagte Amos. »Meinen Sie etwa, genau dieses Biest sei in die Rosinante eingedrungen?«
Prax verkniff sich das Wort »offensichtlich«.
»Wahrscheinlich«, sagte er. »Und vermutlich war an dem ursprünglichen Angriff mehr als eines beteiligt.«
»Also sind zwei von ihnen entkommen?«, fragte Naomi und zeigte ihm damit, dass sie das Problem zu erfassen begann.
»Nein, denn sie wussten, dass es geschehen würde. Ein Wesen ist entkommen, als Amos die Handgranate geworfen hat. Eines wurde absichtlich freigelassen. Aber das spielt keine Rolle. Wichtig ist, dass sie das Protomolekül benutzen, um Menschen umzubauen, und sie sind nicht fähig, das Ergebnis wirklich präzise zu kontrollieren. Die Programmierung, die sie einsetzen, versagt.«
Prax nickte, als könnte er sie damit zwingen, seinen Gedankengängen zu folgen. Holden schüttelte den Kopf, hielt inne und nickte.
»Die Bombe«, sagte er.
»Die Bombe«, stimmte Prax zu. »Obwohl sie nicht wussten, dass sich das zweite Wesen befreien würde, haben sie es mit einer Brandbombe ausgestattet.«
»Ah!«, machte Alex. »Jetzt verstehe ich es. Sie haben geahnt, dass es irgendwann aufmüpfig werden würde, und haben eine Sprengladung eingebaut, um es im Notfall in die Luft jagen zu können.«
In der Tiefe des Raumes flog eine große Schweißanlage an der Hülle eines halb fertiggestellten Schiffs entlang. Die Rückstoßflamme tauchte das aufmerksame Gesicht des Piloten in grelles Licht.
»Ja«, bestätigte Prax. »Grundsätzlich könnte es auch eine Hilfswaffe oder eine Nutzlast gewesen sein, die das Wesen irgendwo abliefern sollte. Ich glaube allerdings, es war eine Sicherung, obwohl es noch eine Reihe anderer Möglichkeiten gibt.«
»Na gut, aber das Wesen hat die Bombe zurückgelassen«, wandte Alex ein.
»Es hatte genug Zeit und hat die Bombe ausgeworfen«, erklärte Prax. »Verstehen Sie? Es hat sich selbst umkonfiguriert, um die Nutzlast loszuwerden. Es hat sie nicht abgesetzt, um die Rosinante zu zerstören, obwohl es das hätte tun können. Es hat die Bombe nicht an ein vorbestimmtes Ziel gebracht. Es hat sich nur entschlossen, sich davon zu befreien.«
»Und es wusste, wie es das tun musste …«
»Es ist klug genug, um eine Bedrohung zu erkennen«, ergänzte Prax. »Den Mechanismus kenne ich noch nicht. Es könnte kognitiv oder ein Netzwerk sein, vielleicht irgendeine Art modifizierter Immunreaktion.«
»Also gut, Prax. Wenn wir annehmen, dass das Protomolekül sich früher oder später von allen Beschränkungen befreien kann, die man ihm auferlegt, und durchdreht, wohin führt uns diese Erkenntnis?«, fragte Naomi.
Jetzt sind wir endlich da, wo ich eigentlich beginnen wollte, dachte Prax und fuhr mit den Informationen fort, auf die es ihm wirklich ankam.
»Es bedeutet, dass das Hauptlabor – wo sie natürlich keines dieser Wesen freigelassen haben – nahe genug an Ganymed sein muss, um das Wesen dorthin zu befördern, ehe es seine Ketten sprengt. Ich weiß nicht, wie weit es ist, und ich möchte auch nicht wetten. Also sage ich: je näher, je besser.«
»Ein Jupitermond oder eine geheime Station«, überlegte Holden.
»Im Jupitersystem kannst du keine geheime Station unterhalten«, widersprach Alex. »Da ist zu viel Verkehr. Irgendjemand wird früher oder später etwas bemerken. Verdammt, dort hat der größte Teil der extrasolaren Astronomie stattgefunden, bis wir den Uranus erreicht haben. Wenn dort etwas Unbekanntes herumfliegt, werden die Observatorien sauer, weil es ihnen die Bilder versaut.«
Naomi tippte auf die Tischplatte. Es klang wie Kondensat, das in Metallschächten abtropfte.
»Europa ist der wahrscheinlichste Standort«, erklärte sie.
»Nein, es ist Io«, widersprach Prax, dem die Ungeduld anzumerken war. »Einen Teil des Geldes habe ich benutzt, um eine Preissuche nach den Arylaminen und Nitroarenen durchzuführen, die man für die Mutationsforschung benötigt.« Er hielt inne. »Es ist doch in Ordnung, dass ich das Geld dafür ausgegeben habe, oder?«
»Dazu ist es da«, beruhigte Holden ihn.
»Na gut. Mutagene, die erst nach ausdrücklicher Aktivierung wirken, werden streng kontrolliert, weil man sie für die Biowaffenherstellung benutzen kann. Aber wenn man mit einer solchen biologischen Kaskade und Rückhaltesystemen arbeiten will, dann braucht man sie. Die meisten Lieferungen kamen nach Ganymed, aber es ging auch einiges nach Europa. Als ich dort nachgeschaut habe, konnte ich allerdings keinen endgültigen Empfänger entdecken. Das Material wurde zwei Stunden nach der Lieferung weitergeschickt.«
»Nach Io«, sagte Holden.
»Das Ziel war nicht angegeben, aber die Transportbehälter müssen die Sicherheitsbestimmungen von Erde und Mars erfüllen. Das ist sehr teuer. Die Behälter der Lieferung nach Europa wurden von Io aus zwecks Erstattung der Pfandgebühr zum Hersteller zurückgeschickt.«
Prax holte tief Luft. Es war wie Zähneziehen, aber er war ziemlich sicher, dass er alle wichtigen Details genannt hatte, um seine Erläuterungen, wenn schon nicht zweifelsfrei zu belegen, dann wenigstens sehr glaubhaft zu machen.
»Dann …«, setzte Amos an. Das Wort klang, als hätte es mindestens drei Silben. »Dann sitzen die bösen Buben wahrscheinlich auf Io?«
»Ja«, sagte Prax.
»Verdammt noch mal, Doc, hätten Sie das nicht gleich sagen können?«
Der Schub betrug ein volles G, doch die leichte Corioliskraft der Tycho-Station fehlte. Prax hockte, über sein Handterminal gebeugt, auf der Koje. Auf dem Weg zur Tycho-Station waren der Hunger und der Kummer manchmal die einzigen Dinge gewesen, die ihn überhaupt abgelenkt hatten. Physisch hatte sich nichts verändert. Der Raum war immer noch eng und winzig. Der Luftrecycler klickte und summte wie eh und je. Aber jetzt fühlte Prax sich nicht isoliert, sondern er saß im Zentrum eines großen Netzwerks vieler Menschen, die alle das Gleiche wollten wie er.
MISTER MENG, ICH HABE DEN BERICHT ÜBER SIE GESEHEN UND SENDE IHNEN MEIN MITGEFÜHL UND MEINE GEBETE. ES TUT MIR LEID, DASS ICH IHNEN KEIN GELD SCHICKEN KANN, WEIL ICH NUR STÜTZE BEKOMME, ABER ICH HABE DEN BERICHT IN DAS RUNDSCHREIBEN MEINER GEMEINDE AUFGENOMMEN. ICH HOFFE, SIE FINDEN IHRE TOCHTER WOHLAUF UND GESUND.
Prax hatte für alle, die ihm ihre guten Wünsche übermittelten, eine Standardantwort vorbereitet und spielte mit dem Gedanken, einen Filter zu entwickeln, der diese Botschaften erkannte und automatisch die vorbereitete Antwort zurückschickte. Bisher hatte er aber noch nichts unternommen, weil er nicht sicher war, wie genau er die Bedingungen definieren konnte, und er wollte niemandem den Eindruck vermitteln, seine Gefühle würden nicht ernst genommen oder für selbstverständlich gehalten. Außerdem hatte er auf der Rosinante sowieso nichts weiter zu tun.
ICH SCHREIBE IHNEN, WEIL ICH MÖGLICHERWEISE INFORMATIONEN HABE, DIE IHNEN HELFEN, IHRE TOCHTER WIEDERZUFINDEN. SEIT MEINER KINDHEIT HABE ICH STARKE VORAHNUNGEN IN MEINEN TRÄUMEN. DREI TAGE BEVOR ICH JAMES HOLDENS SENDUNG ÜBER SIE UND IHRE TOCHTER SAH, IST SIE MIR IN EINEM TRAUM ERSCHIENEN. SIE WAR AUF LUNA IN EINEM SEHR ENGEN LICHTLOSEN RAUM UND HATTE ANGST. ICH HABE VERSUCHT, SIE ZU TRÖSTEN, UND ICH BIN SICHER, DASS ES IHNEN BESTIMMT IST, SIE AUF LUNA ODER IN EINER UMLAUFBAHN IN DER NÄHE ZU FINDEN.
Natürlich antwortete Prax nicht auf alle Zuschriften.
Die Reise nach Io würde nicht viel länger dauern als die vorherige nach Tycho. Wahrscheinlich würde es sogar schneller gehen, weil sie nicht damit rechnen mussten, dass sich das Protomolekül in Gestalt eines blinden Passagiers einschlich und den Laderaum in die Luft jagte. Wenn Prax länger darüber nachdachte, juckten ihm die Handflächen. Er wusste, wo sie war oder gewesen war. Mit jeder Stunde kam er ihr näher, und mit jeder Zuwendung, die auf dem Sonderkonto einging, bekam er ein wenig mehr Macht. Nun musste er nur noch herausfinden, wo dieser Carlos Merrian war und was er tat.
Mit einigen Unterstützern hatte er sogar Unterhaltungen begonnen, die überwiegend aus hin und her gesendeten Videobotschaften bestanden. Er hatte mit einem Sicherheitsbeamten auf der Ceres-Station gesprochen, der ihm bei der Suche nach den Bestellungen geholfen hatte und ein netter Kerl zu sein schien. Ein paar Videos hatte er mit einer Krisenberaterin auf dem Mars ausgetauscht, bis er das beunruhigende Gefühl bekommen hatte, dass sie ihn anbaggern wollte. Eine ganze Schule – oder jedenfalls mindestens einhundert Kinder – hatte ihm die Aufzeichnung eines Liedes geschickt, das sie auf Spanisch und Französisch gesungen hatten, damit Mei glücklich zu ihm zurückkehrte.
Nüchtern betrachtet wusste er, dass sich nichts verändert hatte. Nach wie vor war es sehr wahrscheinlich, dass Mei tot war oder dass er sie nie wiedersehen würde. Aber da ihm nun so viele Menschen beständig versicherten, alles werde gut ausgehen, und sich für ihn ins Zeug legten, schöpfte er neue Hoffnung. Wahrscheinlich war es eine Art Gemeinschaftsgefühl, das ihn stärkte. Gewisse Arten von Nutzpflanzen reagierten ganz ähnlich. Wenn man eine kranke oder leidende Pflanze in eine Gruppe gut genährter Artgenossen umsetzte, erholte sie sich wieder durch die Nähe der gesunden Exemplare, selbst wenn man die Erde und das Wasser getrennt hielt. Ja, es war ein chemischer Prozess, aber die Menschen waren soziale Wesen, und wenn ihn eine Frau vom Bildschirm anlächelte, ihm tief in die Seele zu blicken schien und ihm sagte, dass er durchaus erreichen konnte, was er sich wünschte, dann war es fast unmöglich, ihr nicht zu glauben.
Es war sehr selbstbezogen, das wusste er, aber es machte auch süchtig. Er hatte aufgehört, den Eingang der Spenden zu kontrollieren, sobald er sicher war, dass es ausreichte, um das Schiff bis Io fliegen zu lassen. Holden hatte ihm eine detaillierte Aufstellung der Ausgaben und Kosten gezeigt, aber Prax war nicht der Ansicht, dass Holden ihn betrügen würde, und hatte lediglich einen kurzen Blick auf die Gesamtsumme am unteren Ende der Liste geworfen. Seit genügend Geld vorhanden war, hatte er aufgehört, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.
Vielmehr erforderten die Kommentare seine Zeit und Aufmerksamkeit.
Alex und Amos unterhielten sich ruhig in der Messe. Ihre Stimmen erinnerten ihn daran, wie er auf der Universität in einer Gemeinschaftsunterkunft gelebt hatte. Andere Stimmen zu hören und die Gewissheit, dass andere Menschen in der Nähe waren, all die vertrauten Geräusche. Es unterschied sich gar nicht so sehr von den Kommentaren, die er gerade las.
VOR VIER JAHREN HABE ICH MEINEN SOHN VERLOREN UND KANN MIR IMMER NOCH KAUM VORSTELLEN, WAS SIE GERADE DURCHMACHEN. ICH WÜNSCHTE, ICH KÖNNTE MEHR FÜR SIE TUN.
Bis auf ein paar Dutzend Zuschriften hatte er die Liste abgearbeitet. In der willkürlich eingeteilten Welt des Schiffs war es Nachmittag, aber er war ungeheuer müde und überlegte, ob er ein Nickerchen machen und später weiterlesen sollte, entschied sich dann aber, die restlichen Zuschriften zumindest zu überfliegen, auch wenn er nicht sofort auf alle antwortete. Irgendwo lachte Alex, Amos stimmte ein.
Prax öffnete die fünfte Nachricht.
DU BIST EIN KRANKES, KRANKES, KRANKES SCHWEIN, UND ICH SCHWÖRE BEI GOTT, WENN ICH DIR JE BEGEGNE, DANN WERDE ICH DICH EIGENHÄNDIG TÖTEN. EINER WIE DU SOLLTE VERGEWALTIGT WERDEN, BIS ER TOT UMFÄLLT, NUR DAMIT DU WEISST, WIE SICH DAS ANFÜHLT.
Prax hielt den Atem an. Sein Bauch fühlte sich an, als hätte er gerade einen Boxhieb in den Solarplexus bekommen. Er löschte die Nachricht. Eine weitere ging ein, dann noch einmal drei. Dann ein Dutzend. Ängstlich öffnete Prax die neuen Botschaften.
ICH HOFFE, DU STIRBST.
»Das verstehe ich nicht«, sagte Prax zu dem Terminal. Der Hass brach unvermittelt und unablässig und aus völlig unerklärlichen Gründen über ihn herein. Wenigstens, bis er eine Nachricht öffnete, die einen Link auf einen öffentlichen Newsfeed enthielt. Prax forderte ihn an, und fünf Minuten später wurde sein Bildschirm leer, das glühende blaue Symbol eines großen irdischen Nachrichtenportals erschien, und dann tauchte auch der Name des Kanals auf: The Raw Feed.
Als das Logo ausgeblendet wurde, sah Nicola ihn an. Prax griff nach der Steuerung, weil er glaubte, er sei irgendwie in die privaten Botschaften hineingerutscht, obwohl er es längst besser wusste. Nicola leckte sich über die Lippen, wandte den Blick ab, sah wieder in die Kamera. Sie wirkte müde und erschöpft.
»Ich bin Nicola Mulko. Ich war mit Praxidike Meng verheiratet, der einen Aufruf veröffentlicht hat, um seine Tochter zu finden … meine Tochter Mei.«
Eine Träne kullerte ihr über die Wange. Sie wischte sie nicht weg.
»Was Sie nicht wissen – was niemand weiß –, ist, dass Praxidike Meng ein Ungeheuer in der Gestalt eines Menschen ist. Seit ich ihm entkommen bin, versuche ich, Mei zurückzuholen. Ich dachte zuerst, seine Übergriffe hätten sich nur gegen mich gerichtet. Ich hätte nicht gedacht, dass er auch ihr wehtut. Aber nachdem ich von Freunden auf Ganymed, die nach meiner Abreise dort geblieben sind, Informationen bekommen habe …«
»Nicola«, sagte Prax. »Nicht. Tu das nicht.«
»Praxidike Meng ist ein gewalttätiger und gefährlicher Mann«, behauptete Nicola. »Als Meis Mutter glaube ich, dass er sie, nachdem ich weggegangen war, emotional, körperlich und sexuell misshandelt und missbraucht hat. Ihr angebliches Verschwinden während der Unruhen auf Ganymed soll nur die Tatsache vertuschen, dass er sie schließlich getötet hat.«
Die Tränen strömten jetzt ungehemmt über Nicolas Wangen, doch ihre Stimme und die Augen waren kalt wie ein toter Fisch.
»Ich mache niemandem außer mir selbst irgendeinen Vorwurf«, sagte sie. »Ich hätte nicht weggehen dürfen, ohne mein kleines Mädchen mitzunehmen …«