5 Avasarala


Chrisjen Avasarala, die Stellvertretende Untergeneralsekretärin, saß fast am Ende des Tischs. Ihr orangefarbener Sari bildete den einzigen Farbfleck in der von blauer und grauer Militärtracht dominierten Sitzung. Die sieben anderen Teilnehmer der Konferenz vertraten die verschiedenen Waffengattungen der UN-Streitkräfte, und alle waren Männer. Sie kannte die Namen, die Laufbahnen, die Persönlichkeitsprofile, die Gehälter und die politischen Verbindungen und wusste sogar, mit wem sie schliefen. An der hinteren Wand standen Adjutanten und Boten unbehaglich herum wie Jugendliche beim Ball. Avasarala klaubte eine Pistazie aus der Handtasche, knackte behutsam die Schale und schob sich den salzigen Kern in den Mund.

»Etwaige Treffen mit marsianischen Abgesandten müssen warten, bis die Situation auf Ganymed wieder stabil ist. Wenn wir uns vorher auf offizielle diplomatische Gespräche einlassen, erwecken wir nur den Anschein, wir hätten uns mit dem neuen Status quo abgefunden.« Diese Ansicht vertrat Admiral Nguyen, der jüngste Teilnehmer der Runde. Er war auf eine Weise von sich selbst überzeugt, wie es nur junge Männer sein konnten.

General Adiki-Sandoval nickte mit seinem mächtigen Haupt.

»Richtig. Wir dürfen hier auch nicht nur an den Mars denken. Wenn wir gegenüber der Allianz der äußeren Planeten den Eindruck erwecken, wir seien schwach, müssen wir mit einer Zunahme terroristischer Aktivitäten rechnen.«

Mikel Agee vom diplomatischen Corps lehnte sich zurück und leckte sich nervös über die Lippen. Mit dem glatt zurückgekämmten Haar und dem verkniffenen Gesicht sah er aus wie eine Mensch gewordene Ratte.

»Meine Herren, ich muss Ihnen widersprechen …«

»Natürlich müssen Sie das«, warf General Nettleford trocken ein. Agee ignorierte die Bemerkung.

»Eine Konferenz mit Vertretern des Mars ist ein notwendiger erster Schritt. Wenn wir Vorbedingungen und Hindernisse in den Raum stellen, wird der ganze Prozess viel länger dauern, und außerdem besteht die Gefahr, dass erneut Feindseligkeiten ausbrechen. Wenn wir dagegen den Druck verringern und etwas Dampf ablassen …«

Admiral Nguyen nickte mit versteinerter Miene, und seine Antwort klang fast beiläufig.

»Habt ihr Diplomaten eigentlich auch Metaphern, die etwas moderner sind als Dampfmaschinen?«

Avasarala kicherte genau wie alle anderen. Auch sie hielt nicht viel von Agee.

»Der Konflikt mit dem Mars ist bereits eskaliert«, berichtete General Nettleford. »Mir scheint, unsere beste Strategie wäre es jetzt, die Siebte von der Ceres-Station abzuziehen und mit vollem Schub beschleunigen zu lassen. Das hängt gewissermaßen eine tickende Uhr an die Wand, und dann können sich die Marsianer entscheiden, ob sie auf Ganymed nicht doch noch einlenken wollen.«

»Wollen Sie die Flotte ins Jupiter-System fliegen lassen, oder eher in Richtung Mars?«, fragte Nguyen.

»Wenn wir Schiffe zur Erde rufen, sieht es sofort so aus, als wollten sie zum Mars«, warf Nettleford ein.

Avasarala räusperte sich.

»Haben Sie neue Informationen über den ursprünglichen Angreifer?«, fragte sie.

»Die Techniker arbeiten daran«, erklärte Nettleford. »Aber das unterstützt ja gerade meinen Standpunkt. Wenn Mars auf Ganymed neue Technologien erprobt, dann können wir uns nicht von ihnen das Tempo diktieren lassen. Wir müssen eine eigene Drohung ins Spiel bringen.«

»Aber es war doch das Protomolekül, oder?«, fragte Agee. »Ich meine, war es das, was sich auf Eros befunden hat, als er abgestürzt ist?«

»Wir arbeiten daran«, sagte Nettleford noch einmal und etwas schärfer. »Es gibt einige erstaunliche Ähnlichkeiten, aber auch ein paar wichtige Unterschiede. Es hat sich nicht ausgebreitet wie auf Eros. Die Einwohner Ganymeds verändern sich nicht, wie es die Eros-Bewohner getan haben. Nach den Satellitenbildern sieht es so aus, als sei das Objekt auf marsianisches Gebiet vorgedrungen und habe sich dann selbst zerstört oder sei von den Marsianern beseitigt worden. Wenn es überhaupt mit Eros zu tun hat, dann ist es eine verfeinerte Version.«

»Also hat Mars sich eine Probe beschafft und baut damit Waffen«, überlegte Admiral Souther. Er redete nicht viel. Avasarala vergaß immer, wie hoch seine Stimme war.

»Das ist eine Möglichkeit«, entgegnete Nettleford. »Eine Möglichkeit, für die vieles spricht.«

»Hören Sie.« Nguyen setzte ein selbstzufriedenes kleines Lächeln auf wie ein Kind, das genau wusste, dass es seinen Willen bekommen würde. »Mir ist durchaus klar, dass wir einen Erstschlag ausgeschlossen haben, aber wir müssen über die Grenzen unserer Reaktionsmöglichkeiten beraten. Wenn dies ein Probelauf für eine größere Sache war, dann sollten wir nicht warten. Das wäre, als würden wir freiwillig durch eine Luftschleuse hinausspazieren.«

»Wir sollten das Gesprächsangebot des Mars annehmen«, erklärte Avasarala.

Es wurde still im Raum. Nguyens Gesicht verdüsterte sich.

»Ist das …« Er bekam den Satz nicht zu Ende. Avasarala beobachtete, wie die Männer Blicke wechselten. Sie nahm eine weitere Pistazie aus der Handtasche, aß sie und verstaute die Schale. Agee gab sich Mühe, nicht allzu zufrieden dreinzuschauen. Sie musste unbedingt herausfinden, wer seine Beziehungen hatte spielen lassen, um ihn als Vertreter des diplomatischen Corps einzuteilen. Er war eine schreckliche Wahl.

»Die Sicherheit ist ein Problem«, gab Nettleford zu bedenken. »Wir lassen ihre Schiffe natürlich nicht in unsere Sicherheitszone hinein.«

»Wir gehen sowieso nicht auf ihre Bedingungen ein. Wenn wir mit ihnen reden, dann wollen wir sie hierhaben, wo wir das Gelände kontrollieren.«

»Sie könnten in sicherer Entfernung anhalten, und dann holen wir sie mit unseren Transportern ab.«

»Darauf lassen sie sich im Leben nicht ein.«

»Dann wollen wir herausfinden, worauf sie sich einlassen.«

Ohne ein weiteres Wort stand Avasarala auf und ging zur Tür. Ihr persönlicher Assistent, ein europäischer Bursche namens Soren Cottwald, löste sich von der Rückwand und folgte ihr. Die Generäle taten so, als bemerkten sie nicht, dass sie ging, oder vielleicht waren sie auch mit den neuen Problemen, die Avasarala ihnen eingebrockt hatte, derart beschäftigt, dass sie es tatsächlich nicht bemerkten. Wie auch immer, die Militärvertreter waren mindestens ebenso erfreut wie sie selbst, als sie den Raum verließ.

Die Gänge des UN-Gebäudes in Den Haag waren sauber und weit, die Inneneinrichtung erinnerte ein wenig an die portugiesischen Kolonien um 1940. An einem Recycler für organische Abfälle blieb sie stehen und klaubte die Schalen aus der Handtasche zusammen.

»Was kommt jetzt?«, fragte sie.

»Nachbesprechung mit Mister Errinwright.«

»Und dann?«

»Meeston Gravis wegen des Afghanistan-Problems.«

»Sagen Sie das ab.«

»Was soll ich ihm mitteilen?«

Avasarala wischte sich über dem Abfallbehälter die Hände ab, drehte sich um und ging mit raschen Schritten zur zentralen Halle mit den Aufzügen.

»Er kann mich mal«, verkündete sie. »Sagen Sie ihm, die Afghanen haben sich schon gegen Fremdherrschaft gewehrt, bevor meine Vorfahren die Briten hinausgeworfen haben. Sobald ich weiß, wie ich das ändern kann, gebe ich ihm Bescheid.«

»Jawohl, Madam.«

»Außerdem brauche ich aktuelle Informationen zur Venus. Die neuesten Daten. Und ich habe keine Zeit, mir einen weiteren Doktortitel zu erarbeiten, um es zu lesen. Wenn es nicht in klarer, knapper Sprache abgefasst ist, werfen Sie den Mistkerl raus, und suchen Sie jemanden, der schreiben kann.«

»Jawohl, Madam.«

Der Aufzug, der von der Haupthalle und den Konferenzräumen nach oben in die Büros fuhr, glitzerte wie ein in Stahl eingefasster Diamant und war groß genug für ein Dinner zu viert. Der Lift erkannte sie, als sie eintraten, und stieg langsam auf. Draußen, vor den Fenstern der öffentlich zugänglichen Bereiche, versank der Innenhof. Dahinter erstreckte sich der riesige Ameisenhaufen von Gebäuden der Stadt Den Haag unter einem wolkenlosen blauen Himmel. Es war Frühling, und der Schnee, der seit Dezember die Stadt zugedeckt hatte, war endlich verschwunden. Unten auf den Straßen flatterten die Tauben hoch. Auf dem Planeten lebten dreißig Milliarden Menschen, aber die Tauben würden immer die Mehrheit bilden.

»Die Wichser sind alle Männer«, sagte sie.

»Verzeihung?«, sagte Soren.

»Die Generäle. Sie sind alle verdammte Männer.«

»Ja, natürlich, aber …«

»Ich meine, die verdammten Kerle sind allesamt Männer. Wie lange ist es her, dass eine Frau die bewaffneten Streitkräfte geleitet hat? Seit ich hier bin, war es noch nie der Fall. Und so geben sie uns dann wieder einmal ein Beispiel dafür, wie die Politik aussieht, wenn zu viel Testosteron im Raum ist. Da fällt mir gerade ein – setzen Sie sich mit Annette Rabbir von der Abteilung für Infrastruktur in Verbindung. Ich traue Nguyen nicht. Wenn zwischen ihm und irgendjemandem in der Generalversammlung der Datenverkehr stark zunimmt, will ich es erfahren.«

Soren räusperte sich.

»Verzeihung, Madam. Haben Sie mir gerade die Anweisung gegeben, Admiral Nguyen auszuspionieren?«

»Nein. Ich habe Sie um eine umfassende Einschätzung der Leistungsfähigkeit unseres Netzwerks gebeten, und dabei sind mir alle Resultate abgesehen von Nguyens Büro egal.«

»Selbstverständlich, Madam. Entschuldigen Sie meinen Irrtum.«

Die Aufzugkabine verließ den Bereich der Fenster und den Ausblick über die Stadt und fuhr auf der Ebene der Privatbüros in den dunklen Schacht hinein. Avasarala knackte mit den Knöcheln.

»Aber für alle Fälle sollten Sie es auf eigene Verantwortung tun.«

»Ja, Madam, daran dachte ich auch schon.«

Wer Avasarala nur flüchtig kannte, hätte ihr Büro für täuschend unauffällig gehalten. Es lag auf der Ostseite des Gebäudes, wo gewöhnlich die Karriere der unteren Beamten begann. Ihr Büro überblickte zwar die Stadt, befand sich aber nicht in einer Ecke. Der Videoschirm, der den größten Teil der Südwand einnahm, schaltete sich ab, wenn er nicht benutzt wurde, und zeigte sich als nackte, mattschwarze Fläche. Die übrigen Wände waren mit verkratztem Bambus verkleidet. Der robuste Kurzhaarteppich war gemustert, um Flecken zu verbergen. Der einzige Schmuck waren ein kleiner Schrein mit einer Tonfigur von Gautama Buddha neben dem Schreibtisch und eine Kristallvase mit den Blumen, die ihr Mann Arjun ihr jeden Donnerstag schickte. Der Raum roch nach frischen Blüten und altem Pfeifenrauch, obwohl Avasarala nie dort geraucht hatte und auch niemanden kannte, der es je getan hatte. Sie trat ans Fenster. Unter ihr breitete sich die Stadt aus Beton und altem Stein aus.

Am dunkelnden Himmel brannte die Venus.

In den zwölf Jahren, seit sie in diesem Raum am Schreibtisch saß, hatte sich alles verändert. Die Allianz zwischen der Erde und dem herangewachsenen Bruder war für die Ewigkeit geschmiedet worden. Der Gürtel war ein Ärgernis und eine Zuflucht für winzige Zellen von Abtrünnigen und Unruhestiftern gewesen, die häufig auf einem versagenden Schiff den Tod fanden, ehe sie überhaupt vor Gericht gestellt werden konnten. Die Menschheit war allein im Universum gewesen.

Dann die geheim gehaltene Entdeckung, dass Phoebe, dieser eigenwillige Saturnmond, eine Waffe war, die irgendwelche Aliens auf die Erde losgelassen hatten, als das Leben dort kaum mehr als eine interessante Idee in einer Lipid-Doppelschicht gewesen war. Danach war die Welt nicht mehr die alte gewesen.

Aber irgendwie war sie es trotzdem noch. Erde und Mars hatten sich noch nicht entschieden, ob sie ewige Verbündete oder Todfeinde sein wollten. Die AAP, die Hisbollah des Vakuums, entwickelte sich zwischen den äußeren Planeten zu einer echten politischen Macht. Das Ding, das die primitive Biosphäre der Erde umformen sollte, hatte einen Asteroiden gekapert und war in die Wolken der Venus gestürzt, um dort wer weiß was anzustellen.

Aber immer noch wurde es Frühling, und die Legislaturperioden kamen und gingen. Der Abendstern stand am indigofarbenen Himmel und überstrahlte sogar die größten Städte auf der Erde.

An manchen Tagen fand sie es beinahe beruhigend.

»Mister Errinwright«, erinnerte Soren sie.

Avasarala drehte sich zu dem Wandbildschirm um, der gerade zum Leben erwachte. Sadavir Errinwright hatte eine noch dunklere Haut als sie und ein rundes, weiches Gesicht. Er wäre im Punjab kaum aufgefallen, sprach aber mit der kühlen, analytischen Belustigung eines Briten. Er trug einen dunklen Anzug und einen eleganten schmalen Schlips. Wo er sich auch aufhielt – hinter ihm herrschte helles Tageslicht. Die Helligkeit schwankte stark, während die Elektronik versuchte, die Kontraste auszusteuern. Einmal war er ein Schatten in einem Regierungsbüro, dann ein von einer Halo umgebener Mann.

»Ich hoffe, die Sitzung ist gut verlaufen?«

»Recht gut«, berichtete sie. »Der Gipfel mit den Marsianern kann bald stattfinden. Sie arbeiten jetzt die Sicherheitsmaßnahmen aus.«

»War das denn der Konsens?«

»Ja, sobald ich ihnen gesagt habe, dass er es ist. Die Marsianer schicken ihre Spitzenleute zu einem Treffen mit Vertretern der UN, um sich persönlich zu entschuldigen und darüber zu reden, wie wir die Beziehungen normalisieren können, damit Ganymed wieder – blabla, blabla.«

Errinwright kratzte sich am Kinn.

»Ich bin nicht sicher, ob unsere Verhandlungspartner auf dem Mars die Sache ähnlich sehen«, erwiderte er.

»Sie können ja protestieren. Wir geben widersprüchliche Presseerklärungen heraus und drohen bis zur letzten Minute, die Konferenz abzusagen. Etwas Spannung und Drama kann nicht schaden. Das ist noch besser als eine wundervolle Lösung, weil es so schön ablenkt. Alles, damit der Klopskopf nicht über Venus oder Eros redet.«

Er zuckte fast unmerklich zusammen.

»Könnten wir bitte darauf verzichten, den Generalsekretär als Klopskopf zu bezeichnen?«

»Warum denn? Er weiß doch, wie ich ihn nenne. Ich sage es ihm sogar ins Gesicht, und es stört ihn nicht.«

»Er glaubt, Sie scherzen.«

»Das liegt nur daran, dass er ein Klopskopf ist. Lassen Sie ihn nicht über die Venus reden.«

»Und die Aufnahmen?«

Das war eine berechtigte Frage. Was auch immer auf Ganymed angegriffen hatte, es hatte im Bereich der Vereinten Nationen begonnen. Wenn man den Gerüchten trauen konnte – was aber meist nicht empfehlenswert war –, dann besaß Mars die Aufzeichnungen einer einzigen Anzugkamera. Avasarala besaß sieben Minuten hochauflösendes Videomaterial von vierzig verschiedenen Kameras, auf denen man sehen konnte, wie das Ding die besten Kämpfer der Erde abschlachtete. Selbst wenn man die Marsianer überreden konnte, die Sache unter den Tisch zu kehren, war die Angelegenheit nur schwer geheim zu halten.

»Lassen Sie mir Zeit bis zur Konferenz«, entschied Avasarala. »Lassen Sie mich hören, was sie sagen und wie sie es sagen. Dann werde ich wissen, was zu tun ist. Wenn es eine marsianische Waffe ist, dann werden sie uns dies begreiflich machen, sobald sie am Verhandlungstisch sitzen.«

»Ich verstehe«, sagte Errinwright und meinte das genaue Gegenteil.

»Sir, bei allem Respekt«, fuhr sie fort, »vorläufig muss dies eine Angelegenheit bleiben, die von Mars und Erde vertraulich behandelt wird.«

»Wollen wir wirklich eine dramatische Zuspitzung zwischen den beiden größten Militärmächten des Sonnensystems riskieren? Wie stellen Sie sich das vor?«

»Ich habe von Michael-Jon de Uturbé eine Meldung über erhöhte Aktivitäten auf der Venus in genau dem Augenblick bekommen, als die Schießerei auf Ganymed begann. Es war kein großer Energieausbruch, aber trotzdem deutlich messbar. Unruhe auf der Venus, wenn auf Ganymed etwas umgeht, das verdammt wie das Protomolekül aussieht? Das ist ein Problem.«

Sie ließ ihre Worte einen Moment einsinken, ehe sie weitersprach. Errinwrights Blick irrte ab, als wollte er die Luft um Rat fragen. Dies war bei ihm das Zeichen dafür, dass er angestrengt nachdachte.

»Säbelrasseln ist ja nichts Neues«, fuhr sie fort. »Das haben wir überlebt, das ist eine bekannte Größe. Ich habe einen Ordner mit neunhundert Seiten voller Analysen und Notfallplänen für einen Konflikt mit dem Mars, darunter vierzehn verschiedene Szenarien für unser Verhalten, sofern sie eine uns unbekannte neue Technologie entwickeln. Die Ideen zu etwas, das von der Venus kommt, sind drei Seiten lang und beginnen mit den Worten Erster Schritt: Suchen Sie Gott

Errinwright wirkte ernüchtert. Hinter ihr wartete Soren. Sein Schweigen war anders als sonst, ängstlicher als gewöhnlich, nachdem sie ihre eigenen Ängste offen angesprochen hatte.

»Drei Möglichkeiten«, fuhr sie leise fort. »Erstens: Mars hat es geschaffen. Das wäre ein Krieg, damit können wir umgehen. Zweitens: Jemand anders hat es geschaffen. Unangenehm und gefährlich, aber lösbar. Drittens: Es hat sich selbst geschaffen, und wir haben gar nichts in der Hand.«

»Wollen Sie ein paar neue Blätter in Ihre schmale Akte heften?«, fragte Errinwright. Es sollte belustigt klingen, kam aber keineswegs so heraus.

»Nein, Sir. Ich will herausfinden, welche der drei Möglichkeiten zutrifft. Wenn es eine der ersten beiden ist, löse ich das Problem.«

»Und wenn es die dritte ist?«

»Dann gehe ich in den Ruhestand«, erklärte sie. »Und Sie können einem anderen Idioten die Verantwortung übertragen.«

Errinwright kannte sie lange genug, um es als Scherz aufzufassen. Er lächelte und zupfte abwesend am Schlips. Auch diese Geste verriet, was in ihm vorging. Er war ebenso nervös wie sie. Wenn man ihn nicht sehr gut kannte, hätte man es nicht wahrgenommen.

»Es ist eine Gratwanderung. Der Konflikt auf Ganymed darf nicht eskalieren.«

»Ich sorge dafür, dass es eine Randerscheinung bleibt«, erklärte Avasarala. »Niemand beginnt einen Krieg, solange ich es ihm nicht erlaubt habe.«

»Sie meinen, solange der Generalsekretär nicht eine verbindliche Entscheidung trifft und die Generalversammlung die Entscheidung absegnet.«

»Und ich sage ihm, wann er das tun kann«, antwortete sie. »Aber Sie können ihn ja schon einmal informieren. Wenn er es von einer alten Schachtel wie mir hört, fällt ihm womöglich noch der Schniepel ab.«

»Das darf natürlich nicht passieren. Unterrichten Sie mich, sobald Sie mehr wissen. Ich nehme mir die Redenschreiber vor und sorge dafür, dass seine Verlautbarungen im Rahmen bleiben.«

»Und wer das Video über den Angriff durchsickern lässt, bekommt es mit mir zu tun«, fügte sie hinzu.

»Wer es durchsickern lässt, macht sich des Hochverrats schuldig, wird vor ein ordentliches Gericht gestellt und lebenslänglich in die Strafkolonie auf dem Mond geschickt.«

»Auch gut.«

»Lassen Sie von sich hören, Chrisjen. Es sind schwierige Zeiten. Je weniger Überraschungen wir erleben, desto besser.«

»Ja, Sir«, stimmte sie zu. Die Verbindung wurde unterbrochen, der Bildschirm schaltete sich ab. Auf der dunklen Fläche sah sie sich selbst als orangeroten Fleck, über dem ihre grauen Haare schwebten. Soren war eine verschwommene Fläche aus Kaki und Weiß.

»Brauchen Sie noch etwas Arbeit?«

»Nein, Madam.«

»Dann machen Sie, dass Sie rauskommen.«

»Jawohl, Madam.«

Seine Schritte entfernten sich.

»Soren!«

»Ja, Madam?«

»Besorgen Sie mir eine Liste aller Personen, die bei den Anhörungen zum Eros-Zwischenfall ausgesagt haben, und unterziehen Sie die Aussagen einer neuropsychologischen Analyse, falls das nicht schon geschehen ist.«

»Möchten Sie die Transkriptionen haben?«

»Ja, auch das.«

»Ich lasse sie Ihnen so bald wie möglich zukommen.«

Er zog die Tür hinter sich zu, und Avasarala sank auf den Stuhl. Ihr taten die Füße weh, und die leichten Kopfschmerzen, die sie seit dem Morgen plagten, machten einen energischen Vorstoß. Buddha lächelte ungerührt. Sie betrachtete ihn kichernd, als gäbe es einen Scherz, den nur sie beide verstanden. Am liebsten wäre sie nach Hause gefahren, hätte sich auf die Veranda gesetzt und Arjun bei seinen Klavierübungen zugehört.

Stattdessen …

Sie benutzte lieber das Handterminal als das Bürosystem, um Arjun anzurufen. Es war der abergläubische Wunsch, diese Bereiche getrennt zu halten, selbst wenn es dabei nur um kleine Äußerlichkeiten wie diese ging. Er meldete sich fast sofort. Er hatte ein markantes Gesicht, der kurz geschnittene Bart war inzwischen fast völlig weiß. Seine Augen strahlten immer etwas Fröhliches aus, selbst wenn er weinte. Sobald sie ihn auch nur ansah, entspannte sich irgendetwas in ihrer Brust.

»Heute komme ich wahrscheinlich spät nach Hause«, begann sie und bereute sofort den sachlichen Tonfall, den sie angeschlagen hatte. Arjun nickte.

»Ich bin unglaublich schockiert«, erwiderte er. Sogar der Sarkasmus des Mannes war mild. »Ist die Maske besonders schwer?«

Die Maske, so nannte er es. Als sei die Person, die sich der Welt stellte, nur eine Verkleidung, während diejenige, die mit ihm sprach oder mit den Enkeltöchtern spielte und malte, die echte war. Sie hielt das für falsch, fand aber diese Illusion sehr anheimelnd und wollte sie nicht zerstören.

»Heute ist sie wirklich sehr schwer. Was machst du gerade, Liebster?«

»Ich lese den Entwurf von Kukurris Diplomarbeit. Sie erfordert noch gewisse Nachbesserungen.«

»Bist du im Büro?«

»Ja.«

»Geh doch in den Garten«, schlug sie vor.

»Weil du dort gern wärst? Wir können auch zusammen in den Garten gehen, wenn du nach Hause kommst.«

Sie seufzte.

»Es kann wirklich sehr spät werden.«

»Dann weck mich, und wir gehen zusammen in den Garten.«

Sie berührte den Bildschirm, und er grinste, als spürte er die zärtliche Geste. Sie trennte die Verbindung. Aus alter Gewohnheit verabschiedeten sie sich nicht voneinander. Es war eine von tausend kleinen Eigenheiten, wie sie sich in einer Jahrzehnte dauernden Ehe entwickelten.

Avasarala wandte sich dem Schreibtischsystem zu und öffnete die taktische Analyse der Schlacht auf Ganymed, die Geheimdienstberichte über die wichtigsten militärischen Befehlshaber der Marsianer und die Planung für das Gipfeltreffen. Die Generäle hatten seit ihrer Konferenz schon einen Teil ihrer Aufgaben erledigt. Sie nahm eine Pistazie aus der Handtasche, knackte die Schale, nahm beim Knabbern die Informationen auf und ordnete sie ein. Im Fenster hinter ihr kämpften die Sterne gegen den Lichtsmog von Den Haag an. Venus war und blieb der hellste Himmelskörper.

Expanse 02: Calibans Krieg
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