27 Prax
Als Eros starb, sahen alle zu. Die Station war zu einer wissenschaftlichen Datengewinnungsmaschine umgerüstet, und jede Veränderung, jeder Tod und jede Metamorphose wurden eingefangen, aufgezeichnet und ins System gesendet. Alles, was die Regierungen von Mars und Erde hatten unterdrücken wollen, war in den folgenden Wochen und Monaten durchgesickert. Die Art und Weise, wie die Menschen es betrachteten, hatte viel eher damit zu tun, wer sie waren, als mit den tatsächlichen Bildern. Für manche war es eine Neuigkeit. Für andere ein Beweis. Weitaus mehr Menschen, als es Prax lieb war, hatten in dem Vorfall eine schreckliche, dekadente Unterhaltung gesehen – eine Art Snuff-Film von Busby Berkeley.
Wie alle anderen Mitglieder seines Teams hatte auch Prax es verfolgt. Für ihn war es ein Rätsel gewesen. Der überwältigende Wunsch, die Logik der konventionellen Biologie auf das Wirken des Protomoleküls anzuwenden, hatte sich zumeist als fruchtlos erwiesen. Manche Details waren quälend – die Spiralen ähnelten den Häusern der Perlboote sehr stark, während die Wärmebilder der infizierten Körper in Rhythmen waberten, die an gewisse hämorrhagische Fiebererkrankungen zu erinnern schienen. Nichts hatte zusammengepasst.
Sicherlich bekam irgendjemand irgendwo Fördermittel, um zu untersuchen, was geschehen war, aber Prax’ Arbeit hatte nicht warten können. Er hatte sich wieder um seine Sojabohnen gekümmert. Das Leben war weitergegangen. Es war für ihn nicht zur Besessenheit geworden, sondern ein bekanntes Rätsel geblieben, das jemand anders lösen musste.
Prax hing gewichtslos an einem freien Pult in der Operationszentrale und beobachtete den Feed der Überwachungskameras. Das Wesen wollte nach Kapitän Holden greifen, worauf Holden schoss und schoss und schoss. Aus dem Rücken des Wesens lösten sich dunkle Fäden. Das kannte Prax natürlich, dies war auch auf den Aufnahmen von Eros deutlich zu sehen gewesen.
Das Monster taumelte umher. In morphologischer Hinsicht unterschied es sich gar nicht so sehr von einem Menschen. Es besaß einen Kopf, zwei Arme, zwei Beine und keine autonomen Körperteile. Keine Hände oder Brustkörbe, die umgebaut waren, um anderen Zwecken zu dienen.
Naomi, die an der Steuerung saß, keuchte auf einmal. Es war seltsam, das Geräusch direkt in dem Raum und nicht über den Com-Kanal zu hören. Irgendwie klang es zu intim, und er fühlte sich ein wenig befangen. Doch da war noch etwas Wichtigeres. Er war ein wenig benommen, als wäre sein Kopf mit einem Baumwollgespinst ausgefüllt. Das Gefühl kannte er. Gedanken, die ihm noch nicht richtig bewusst waren, formten sich gerade.
»Ich stecke hier fest«, sagte Holden. »Du musst die Magnete der Kiste abschalten.«
Das Wesen befand sich am hinteren Ende des Frachtraums. Als Amos hereinkam, stützte es sich mit einer Hand ab und warf mit der anderen eine große Kiste. Obwohl der Feed keine hohe Auflösung hatte, konnte Prax die mächtigen Trapez-und Deltamuskeln erkennen, die abnorm vergrößert waren. Außerdem saßen sie nicht ganz an den richtigen Stellen. Also arbeitete das Protomolekül unter gewissen Beschränkungen. Was das Wesen auch war, es tat nicht das Gleiche wie die Proben auf Eros. Das Wesen im Frachtraum benutzte zweifellos die gleiche Technologie, sie diente hier jedoch anderen Zwecken.
»Nein! Lass die verdammte Tür in Ruhe. Ich stecke jetzt hinter zwei verdammten Kisten fest.«
Das Wesen zog sich bis zu der Wand zurück, wo es zuerst geruht hatte, und kauerte nieder. Das Pulsieren der Wunden war deutlich zu erkennen. Es hatte sich nicht zufällig dort niedergelassen. Da der Antrieb abgeschaltet war, gab es keinerlei Schwerkraft, die das Wesen nach unten zog. Wenn es sich dort hingezogen fühlte, musste es einen Grund dafür geben.
»Nein!« Naomi hatte die Haltegriffe neben dem Pult gepackt. Ihr Gesicht war aschfahl. »Nein. Sieh doch nur, wie Holden da unter den Kisten eingeklemmt ist. Wenn wir stark beschleunigen, bricht er sich sämtliche Knochen, falls er nicht auch selbst durch die Tür geschleudert wird.«
»Ja, sie hat recht«, stimmte Amos zu. Es klang müde. Vielleicht war das seine Art, seine Sorge zum Ausdruck zu bringen. »Dabei käme der Käpt’n um. Das kommt nicht infrage.«
»Also, ein hoher Schub würde mich jetzt wahrscheinlich in kleine Stücke zerlegen. Aber das heißt nicht zwingend, dass es damit ausgeschlossen ist.«
Das Wesen bewegte sich vor der Wand. Keine starke Bewegung, aber eindeutig zu erkennen. Mit einer großen Hand mit Klauen – es waren Klauen, aber immer noch vier Finger und ein Daumen – hielt es sich fest, während die andere an der Wand herumzerrte. Die erste Schicht bestand aus faserigem Isolationsmaterial, das in gummiartigen Streifen abriss. Darunter lag gehärteter Stahl, den das Wesen jetzt bearbeitete. Kleine Späne schwebten im Vakuum davon und schimmerten im Licht wie winzige Sterne. Warum tat es das? Wenn es versuchte, das Schiff zu beschädigen, gab es bessere Möglichkeiten. Vielleicht wollte es auch durch die Wand brechen und etwas erreichen, vielleicht folgte es einem Signal …
Das Baumwollgespinst flog davon und wich dem Bild einer bleichen neuen Wurzel, die aus einem Samenkorn wuchs. Er lächelte. Das ist ja interessant.
»Was ist los, Doc?«, fragte Amos. Prax hatte gar nicht gemerkt, dass er laut gesprochen hatte.
»Äh …« Prax suchte nach den richtigen Worten, um seine Beobachtung zu erklären. »Es versucht, sich einer Strahlungsquelle zu nähern. Ich meine, die Version des Protomoleküls, die auf Eros losgelassen wurde, hat sich von Strahlung ernährt, also muss man annehmen, dass dieses hier ebenfalls …«
»Dieses hier?«, fragte Alex. »Was für eins?«
»Diese Version. Ich meine, dieses Exemplar hier ist offenbar so konstruiert, dass es die meisten Veränderungen unterdrückt. Es hat den Wirtskörper kaum verändert. Also ist es neu eingebrachten Einschränkungen unterworfen, benötigt aber anscheinend immer noch eine Strahlungsquelle.«
»Warum, Doc?«, fragte Amos. Er gab sich Mühe und zeigte Geduld. »Warum glauben wir, dass es Strahlung braucht?«
»Oh«, sagte Prax. »Wir haben den Antrieb heruntergefahren. Der Reaktor ist jetzt im Leerlauf, und nun will es sich bis zum Kern durchgraben.«
Es gab eine Pause. Alex stieß etwas Obszönes aus.
»In Ordnung«, sagte Holden. »Es gibt keine andere Möglichkeit. Alex, du musst das Wesen herausbekommen, ehe es durch die Wand bricht. Wir haben keine Zeit, uns einen neuen Plan zu überlegen.«
»Käpt’n«, wandte Alex ein. »Jim …«
»Ich gehe rein, sobald es weg ist«, erklärte Amos. »Wenn du nicht mehr da bist, war es mir eine Ehre, unter dir gedient zu haben, Käpt’n.«
Prax wedelte mit den Händen, als könnte er damit ihre Aufmerksamkeit erregen, und schwebte auf einmal frei durch das Operationsdeck.
»Warten Sie. Nein, hier ist der neue Plan«, warf er ein. »Es nähert sich der Strahlungsquelle. Es ist wie eine Wurzel, die dem Wasser zustrebt.«
Naomi hatte sich umgedreht und sah ihm zu, wie er im Raum schwebte. Sie schien sich zu drehen, und Prax’ Gehirn brauchte einen Augenblick, um sich auf die Frau einzustellen, die unter ihm davonwirbelte. Er schloss die Augen.
»Sie müssen uns das noch einmal ausführlich erklären«, verlangte Holden. »Aber schnell. Wie können wir es kontrollieren?«
»Ändern Sie die Strahlungsquelle«, schlug Prax vor. »Wie lange brauchen Sie, um einen Behälter mit ein paar nicht abgeschirmten Radioisotopen bereitzustellen?«
»Kommt drauf an, Doc«, sagte Amos. »Wie viel brauchen wir denn?«
»Etwas mehr, als jetzt aus dem Reaktor dringt«, erklärte Prax.
»Ein Köder.« Naomi packte ihn und zog ihn bis zu einem Handgriff. »Sie wollen ihm etwas anbieten, das nach einer besseren Nahrungsquelle aussieht, und das Biest damit aus der Tür locken.«
»Das habe ich doch gerade gesagt. Oder habe ich es nicht gesagt?«, erwiderte Prax.
»Nicht direkt«, meinte Naomi.
Auf dem Bildschirm war das Wesen inzwischen von einer Wolke kleiner Metallspäne umgeben. Prax war nicht sicher, weil die Auflösung des Bildes zu schlecht war, aber es kam ihm so vor, als veränderte sich die Hand beim Graben. Er fragte sich, inwieweit die Beschränkungen, die der äußeren Form des Protomoleküls auferlegt waren, Schäden und Heilprozesse beeinflussten. Regenerative Prozesse waren oft die Phasen, in denen beschränkende Systeme versagten. Krebs war letzten Endes nur ein außer Kontrolle geratenes Zellwachstum. Wenn bei diesem Wesen eine Veränderung einsetzte, war sie möglicherweise nicht mehr aufzuhalten.
»Egal«, sagte Prax. »Ich glaube, wir müssen uns beeilen.«
Der Plan war recht einfach. Amos wollte in den Frachtraum zurückkehren und den Kapitän befreien, sobald sich die Luke hinter dem Eindringling geschlossen hatte. Naomi sollte vom Operationsdeck aus die Türen schließen, sobald das Wesen den radioaktiven Köder angenommen hatte. Alex würde die Maschinen starten, sobald dies möglich war, ohne den Kapitän zu töten. Und der Köder – ein Zylinder von einem halben Kilo Gewicht mit einer dünnen Umhüllung aus Blei, damit das Wesen nicht zu früh aufmerksam wurde – sollte durch die Hauptluftschleuse nach draußen gebracht und ins Vakuum geworfen werden. Das war die Aufgabe des letzten noch freien Besatzungsmitglieds.
Prax schwebte in der Luftschleuse und hielt den Köder mit den dicken Handschuhen seines Schutzanzugs fest. Er bereute es und war sehr unsicher.
»Vielleicht wäre es besser, wenn Amos diesen Teil übernehmen könnte«, sagte Prax.
»Tut mir leid, Doc. Ich muss einen neunzig Kilo schweren Kapitän schleppen«, antwortete der Mechaniker.
»Können wir das nicht automatisieren? Ein Laborroboter könnte …«
»Prax«, fiel Naomi ihm ins Wort. Es war nur eine Silbe, die sie zudem sanft aussprach, aber die Bedeutung war klar: Setz endlich deinen Arsch in Bewegung. Noch einmal überprüfte Prax die Dichtungen seines Anzugs. Alles sah gut aus. Der Anzug war viel besser als jener, den er bei der Flucht von Ganymed getragen hatte. Von der Personenschleuse vorne im Schiff bis zur Frachtluke, die sich am Heck befand, waren es fünfundzwanzig Meter. Er musste nicht einmal die ganze Strecke zurücklegen. Er vergewisserte sich, dass das Kabel seiner Funkanlage fest in der Buchse der Luftschleuse steckte.
Noch eine interessante Frage: Waren die Funkstörungen eine natürliche Auswirkung des Monsters? Prax überlegte, wie so etwas biologisch machbar war. Würde die Störung verschwinden, sobald das Monster das Schiff verließ? Wenn es vom Rückstoßstrahl verbrannt wurde?
»Prax«, drängte Naomi. »Es wird Zeit.«
»In Ordnung«, antwortete er. »Ich gehe raus.«
Die äußere Schleusentür öffnete sich. Sein erster Impuls war, nach draußen in die Dunkelheit zu stürmen, als wäre sie nur ein großer Raum. Der zweite war, auf Händen und Knien zu kriechen und so viel Körperfläche wie möglich in Verbindung mit dem Schiff zu belassen. Prax nahm den Köder in eine Hand und benutzte die Halteschlaufen, um sich nach oben und hinauszumanövrieren.
Die Dunkelheit war überwältigend. Die Rosinante war ein Floß aus Metall und Farbe auf einem Ozean. Nein, das war mehr als ein Ozean. Die Sterne umgaben ihn ringsherum, und selbst die nächsten waren Hunderte Lebensspannen entfernt. Dahinter funkelten weitere, und hinter diesen noch mehr. Dann kippte das Gefühl, auf einem kleinen Asteroiden oder Mond zu stehen und zu einem viel zu großen Himmel hochzublicken, und er befand sich am höchsten Punkt des Universums und blickte in einen unendlichen Abgrund hinab. Es ähnelte jener optischen Täuschung, die zwischen einer Vase und zwei Gesichtern wechselte und wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrte. Prax grinste und hieß mit ausgebreiteten Armen das Nichts willkommen, während er hinten auf der Zunge schon die Vorboten der Übelkeit spürte. In Berichten hatte er gelesen, dass manche Menschen auf den freien Raum euphorisch reagierten, aber dieses Erlebnis war anders als alles, was er kannte. Er war das Auge Gottes, er trank das Licht einer unendlichen Zahl von Sternen, er war ein Staubkörnchen auf einem Staubkorn, haftete mit den Magnetstiefeln auf der Metallhaut eines Schiffs, das unendlich kraftvoller war als er selbst, und schwebte als unwichtiges Pünktchen über dem Abgrund. In den Helmlautsprechern knisterte die Hintergrundstrahlung, die von der Geburt des Universums zeugte, und im statischen Rauschen flüsterten gespenstische Stimmen.
»Äh, Doc?«, fragte Amos. »Gibt es da draußen ein Problem?«
Prax sah sich um und rechnete damit, den Mechaniker neben sich zu entdecken, erblickte jedoch nur das milchig weiße Universum der Sterne. Da es so viele waren, sollte eigentlich helles Licht herrschen. Die Rosinante war jedoch von einigen Positionslampen abgesehen völlig dunkel. Hinten am Schiff war ein kleiner, schwacher Nebel zu erkennen, wo die Atmosphäre aus dem Frachtraum entwichen war.
»Nein«, antwortete Prax. »Keine Probleme.«
Er versuchte, einen Schritt zu tun, doch der Anzug rührte sich nicht. Er zerrte und bemühte sich, den Fuß von der Metallfläche zu heben. Die Zehen schoben sich ein paar Zentimeter nach vorn und hielten gleich wieder inne. Er geriet in Panik. Mit den Magnetstiefeln stimmte etwas nicht. Mit diesem Tempo würde er es nie bis zur Frachtluke schaffen, ehe sich das Wesen zum Maschinenraum und dem Reaktor durchgegraben hatte.
»Äh, ich habe ein Problem«, sagte er. »Ich kann die Füße nicht bewegen.«
»Wie sind die Schieberegler eingestellt?«, fragte Naomi.
»Oh, richtig.« Prax verschob die Regler, bis die Einstellung zu seiner Körperkraft passte. »Jetzt geht es, alles in Ordnung.«
Er war noch nie mit Magnetstiefeln gelaufen. Es war ein eigenartiges Gefühl. Während eines Schritts bewegte sich das Bein frei und fast unkontrolliert, aber sobald er den Fuß absenkte, gab es einen kritischen Punkt, an dem die Magnetkraft einsetzte und den Fuß blitzschnell auf die Metallhülle zog. Zwischen Schweben und Heruntersausen arbeitete er sich Schritt für Schritt weiter. Die Frachtluke konnte er nicht ausmachen, doch er wusste, wo sie war. Von seiner Position aus zum Heck blickend, befand sie sich links von der Antriebsdüse, auch wenn sie eigentlich auf der rechten Seite des Schiffs war. Nein, das heißt steuerbord. Auf Schiffen nennen sie es steuerbord.
Unterdessen hockte das Wesen hinter dem dunklen Metallvorsprung, der die Ecke des Schiffsrumpfes darstellte, kratzte die Wand auf und bahnte sich durch das schützende Metall einen Weg zum Herzen des Schiffs. Falls es erfasste, was im Gange war, falls es genügend kognitive Fähigkeiten besaß, um einigermaßen vernünftig zu denken, stürzte es möglicherweise gleich aus der Frachtluke und fiel über ihn her. Das Vakuum konnte ihm nichts anhaben. Prax malte sich aus, wie er unbeholfen mit den Magnetstiefeln zu fliehen versuchte, während das Wesen ihn in Stücke riss. Dann holte er tief Luft, schauderte und hob den Köder.
»In Ordnung«, meldete Prax. »Ich bin in Position.«
»Dann geht es los.« Holdens Stimme klang gepresst vor Schmerzen, obwohl er sich bemühte, unbefangen zu sprechen.
»Alles klar.«
Er drückte auf den Zeitzünder, schmiegte sich dicht an die Schiffshülle und schleuderte den kleinen Zylinder ins Nichts. Er flog weg, fing das Licht aus dem Frachtraum ein und verschwand. Prax hatte das ungute Gefühl, etwas Wichtiges vergessen zu haben, und dass die Bleifolie sich nicht wie geplant ablösen würde.
»Es bewegt sich«, sagte Holden. »Es hat den Köder gewittert. Es geht raus.«
Und da war es auch schon. Lange schwarze Finger erschienen, zogen den dunklen Körper nach außen, als wäre das Weltall die heimische Umgebung des Wesens. Die Augen glühten blau. Prax hörte nichts außer dem eigenen panischen Atem. Wie ein Tier auf den alten Prärien der Erde folgte er dem uralten Impuls, still und stumm zu bleiben, obwohl das Wesen im Vakuum nicht einmal den lautesten Schrei gehört hätte.
Das Monster wiegte sich hin und her, die gespenstischen Augen schlossen sich, öffneten sich wieder, schlossen sich. Dann sprang es. Einige Sterne verdunkelten sich, als es vorbeiflog.
»Es ist raus.« Prax erschrak über seinen energischen Tonfall. »Schließen Sie die Frachtluke.«
»Alles klar«, bestätigte Naomi. »Ich schließe die Tür.«
»Ich komme rein, Käpt’n«, kündigte Amos an.
»Ich werde gleich ohnmächtig, Amos«, stöhnte Holden. Es klang jedoch scherzhaft, und Prax war sicher, dass es nicht ernst gemeint war.
In der Dunkelheit blinkte ein Stern und erschien wieder. Dann noch einer. Prax verfolgte im Geiste den Kurs. Ein weiterer Stern verschwand.
»Ich heize sie schon mal auf«, sagte Alex. »Sagt mir Bescheid, wenn ihr in Sicherheit seid.«
Prax beobachtete und wartete. Der Stern blieb, wo er war. Hätte der Stern nicht dunkel werden sollen wie die anderen vorher? Hatte er den Kurs falsch eingeschätzt? Oder war das Wesen im Bogen geflogen? Konnte es im leeren Raum manövrieren und hatte bemerkt, dass Alex den Reaktor hochfuhr?
Prax wandte sich zur Hauptluftschleuse.
Die Rosinante war ihm klein vorgekommen – ein Zahnstocher, der in einem Ozean voller Sterne trieb. Jetzt war die Entfernung bis zur Luftschleuse ungeheuer groß. Prax bewegte einen Fuß, dann den anderen, und versuchte zu rennen, ohne beide Füße gleichzeitig von der Schiffshülle zu heben. Die Magnetstiefel ließen sowieso nicht zu, dass er hochsprang, denn der zweite Fuß war blockiert, solange der vordere keinen Kontakt hatte. Ihm tat der Rücken weh. Unwillkürlich sah er sich um. Dort war nichts, und wäre dort etwas gewesen, dann hätte ihm das Umdrehen nicht geholfen. Das Kabel für die Funkverbindung entspannte sich von einer geraden Linie zu einer Schleife, die hinter ihm herflog, während er sich bewegte. Er holte es ein, damit es sich nicht verhedderte.
Die winzigen grünen und gelben Lichter der offenen Luftschleuse zogen ihn an wie ein verschwommenes Ziel in einem Traum. Er wimmerte leise, doch das Geräusch verlor sich in einer Reihe von Flüchen, die Holden auf einmal ausstieß.
»Was ist da unten los?«, fauchte Naomi.
»Der Käpt’n ist ein bisschen neben der Spur«, erklärte Amos. »Ich glaube, er hat sich was verrenkt.«
»Mein Knie fühlt sich an, als hätte es gerade jemanden zur Welt gebracht«, verkündete Holden. »Das wird schon wieder.«
»Können wir Schub geben?«, wollte Alex wissen.
»Noch nicht«, warnte Naomi. »Die Frachtluke kann ich von hier aus so dicht verschließen, wie es nur geht, bis wir die Werft erreichen, aber die vordere Luftschleuse ist noch offen.«
»Ich bin fast da«, schaltete sich Prax ein. Lasst mich nicht hier zurück. Lasst mich nicht hier draußen mit dem Ding allein, dachte er.
»In Ordnung«, antwortete Alex. »Sagt mir Bescheid, wann ich uns hier wegbringen kann.«
In der Tiefe des Schiffs gab Amos ein kleines Geräusch von sich. Prax erreichte die Luftschleuse und zog sich so heftig hinein, dass die Gelenke seines Anzugs quietschten. Er riss an seiner Nabelschnur, um sie ganz hereinzuziehen. Dann warf er sich gegen die hintere Wand und hämmerte auf die Steuerung ein, bis sich die äußere Luftschleuse schloss. Im trüben Licht der Luftschleuse rotierte Prax langsam um drei Achsen. Die Außentür blieb geschlossen. Nichts kam und brach sie auf, keine glühenden blauen Augen verfolgten ihn. Er prallte leicht gegen die Wand, als das ferne Arbeitsgeräusch einer Pumpe ihm verriet, dass die Atmosphäre hergestellt war.
»Ich bin drin«, meldete er. »Ich bin in der Luftschleuse.«
»Ist der Kapitän stabil?«, wollte Naomi wissen.
»War er das schon jemals?«, gab Amos zurück.
»Mir geht es gut. Mir tut nur das Knie weh. Bring uns hier weg.«
»Amos?«, fragte Naomi nach. »Wie ich sehe, bist du noch im Frachtraum. Gibt es ein Problem?«
»Könnte sein«, antwortete Amos. »Unser Freund hat etwas zurückgelassen.«
»Nicht anfassen!«, bellte Holden aufgebracht. »Wir holen einen Brenner und zerlegen es in die Atome, aus denen es besteht.«
»Ich glaube, das wäre keine gute Idee«, meinte Amos. »So was hier habe ich schon einmal gesehen. Auf Schneidbrenner reagiert es gar nicht gut.«
Prax richtete sich auf, bis er stand, und stellte die Regler der Stiefel nach, damit er nur noch leicht am Boden der Luftschleuse haftete. Die innere Schleusentür zirpte, um ihm zu zeigen, dass er den Anzug ausziehen und das Schiff betreten konnte. Er ignorierte es und aktivierte ein Wanddisplay, das er auf den Frachtraum einstellte. Holden schwebte neben der Frachtluke. Amos hing an einer in der Wand verankerten Leiter und untersuchte etwas Kleines und Glänzendes, das an der Wand haftete.
»Was ist das, Amos?«, fragte Naomi.
»Da klebt Dreck von dem Monster dran«, erklärte Amos. »Aber es sieht mir nach einer ziemlich normalen Brandbombe aus. Nicht sehr groß, aber ausreichend, um zwei Quadratmeter zu verdampfen.«
Darauf herrschte Schweigen. Prax löste die Dichtungen seines Helms, nahm ihn ab und atmete die Luft des Schiffs tief ein. Dann schaltete er auf eine Außenkamera um. Das Monster schwebte hinter dem Schiff. Im schwachen Licht, das aus dem Frachtraum fiel, tauchte es kurz auf und verschwand wieder. Es hatte sich um die radioaktive Beute gewickelt und entfernte sich langsam.
»Eine Bombe?«, sagte Holden. »Willst du mir sagen, das Biest hat eine Bombe zurückgelassen?«
»Und eine verdammt eigenartige, wenn du mich fragst«, bestätigte Amos.
»Amos, komm zu mir in die Frachtschleuse«, sagte Holden. »Alex, was müssen wir noch tun, ehe wir das Monster verbrennen können? Ist Prax wieder drinnen?«
»Seid ihr in der Luftschleuse?«, fragte Alex.
»Inzwischen sind wir beide drin. Los jetzt.«
»Das lass ich mir nicht zweimal sagen«, antwortete Alex. »Achtung, wir beschleunigen.«
Der biochemische Rausch, der durch Euphorie, Panik und das Gefühl der Sicherheit erzeugt wurde, verzögerte Prax’ Reaktionen. Als der Schub einsetzte, stand er noch nicht richtig. Er stolperte gegen die Wand und stieß sich an der inneren Tür der Luftschleuse den Kopf. Es war ihm egal. Es fühlte sich wundervoll an. Er hatte das Monster vom Schiff gelockt. Es verbrannte im feurigen Raketenschweif der Rosinante, und er konnte sogar zusehen.
Dann trat ein wütender Gott in die Seite des Schiffs, und es drehte sich hilflos in der Leere. Prax wurde endgültig von den Füßen gerissen. Der sanfte magnetische Zug der Stiefel konnte es nicht verhindern. Die äußere Schleusentür stürzte auf ihn zu, und dann wurde es schwarz um ihn.