DREI

Mittwoch, 14 Uhr 00

Ich zischte zum Präsidium, um zu sehen, ob Gregor inzwischen die Identität der Leiche geklärt hatte. Zu wissen, wer das Opfer ist, macht eine Ermittlung um Lichtjahre einfacher, denn der Täter ist meist im direkten Umfeld des Opfers zu finden. Wenn man aber nicht weiß, wer das Opfer ist, kann man nicht in dessen Umfeld suchen. Logo. Ich hatte schon ganz schön viel gelernt, seitdem ich Martin und Gregor kannte. Das hätte mir vor einem Jahr einer sagen sollen, dass ich mal wie ein Bulle denken würde.

 

Und er wusste es. Ich fand Gregor in dem Besprechungsraum, der ihm für die Ermittlung zugeteilt worden war. An der Tür stand LAZY. Jeder ›Tatort‹-Zuschauer weiß natürlich, dass alle Bullen genetisch bedingt einen extrem schlechten Humor haben, trotzdem konnte ich mir diesen blöden Scherz nicht erklären, bis ich die Pinnwand sah. Dort hing das Foto des Opfers und darunter ein Blatt Papier mit dem Namen: Yasemin Özcan. LAZY bedeutete also nicht, dass die Mitglieder der Mordkommission hier faul auf dem Tisch lagen und chillten, sondern es war die Abkürzung für Lagezentrum Yasemin. Hahaha.

Gregor stand mit Jenny vor der Pinnwand und klebte weitere Fotos an. Detailaufnahmen von den Stichverletzungen, Weitwinkelaufnahme von der Auffindesituation, Detail des Zettels mit dem Wort »Schlampe«. Jenny reichte ihm ein bedrucktes DIN-A4-Blatt, auf dem die persönlichen Daten standen. Alter: sechzehn. Eltern: Mustafa und Aysegül Özcan. Adresse. Schule: Nelson-Mandela-Gesamtschule.

Gregor warf einen Blick zur Uhr. »Okay, wir müssen los. Ich will dabei sein, wenn sie ihre Tochter identifizieren.«

Damit wollte ich nichts zu tun haben. Identifizierungen von eigenen Nachkommen arteten meist in wahre Jahrhunderthochwasser von Tränen aus, was übrigens bei Ehepartnern nicht immer der Fall war. Natürlich war nicht jeder Hinterbliebene so happy wie der Kerl Anfang September, der Martin nach der Identifizierung seiner Frau die Hand schüttelte und sagte: »Sie haben mir heute die beste Nachricht des Jahres überbracht«, aber es waren immer einige dabei, die erschreckend wenig Trauer zeigten.

Anders die meisten Eltern, und da hielt ich mich fern.

 

Lieber flog ich zur Uniklinik zurück in der Hoffnung, dass die Märchentante endlich ihre Geschichte beendet hatte und meine Assistenten mir ein paar Fragen beantworten konnten. Zwei von ihnen, Jo und Edi, die Unzertrennlichen, hingen über Jos Bett herum.

»DU wolltest ja unbedingt, dass er auf diese Schule geht«, zischte gerade die Frau, die an Jos linker Seite saß, dem Mann an der gegenüberliegenden Seite des Bettes zu.

Der Mann entgegnete nichts, strich nur leicht über Jos rechte Hand.

»DU musstest es ja besser wissen als wir alle. Ich, meine Eltern, Dieter und Inge …«

Der Mann verdrehte die Augen.

»ALLE haben uns geraten, Jo auf die Privatschule zu schicken. Dort hätte er mit seinesgleichen …«

»Glaubst du, dass deine Zänkereien Jos Genesung fördern?«, fragte der Mann. Seine Stimme klang unendlich müde.

»Genesung, pah!« Sie stand auf und stellte sich mit dem Rücken zum Bett ans Fenster. »Glaubst du wirklich, dass Jo wieder aufwacht?«

Die vier Bonsais sandten Schockwellen aus, die mich wie Bienen umschwirrten.

»Und selbst wenn, wird er wahrscheinlich geistig zurückgeblieben sein. Ein sabbernder Idiot wie Elenas Junge.«

»Wer ist Elena?«, fragte Edi.

»Unsere Putzfrau«, flüsterte Jo mit tränenerstickter Stimme. »Ihr Sohn ist behindert. Aber er sabbert nur, wenn er sich aufregt.«

»Ja«, sagte der Vater ruhig. »Ich glaube, dass Jo wieder ganz gesund wird.«

»Genau«, hauchte Edi. »Ich auch.«

»Ich bereite mich lieber auf den worst case vor«, sagte die Frau und straffte die Schultern. »Ich habe schon einen Termin bei Doktor Kesselstein …«

»Sophie! Jo braucht keinen Anwalt. Was er braucht, sind Eltern.«

»Bitte, Bernd, sei realistisch! Für Johannes-Marius können wir nichts tun«, entgegnete die Frau in einem halb genervten, halb spöttischen Tonfall, »aber immerhin können wir die Lehrerin verklagen, die mit ihrem Auto gegen die Brücke gefahren und dann abgehauen ist, ohne Hilfe zu holen.« Sie schnappte Handtasche und Mantel vom Stuhl und verließ mit klackernden Stöckelabsätzen das Zimmer.

»Was für ein Geschoss«, rutschte es mir heraus, denn das war sie. Blond in einer Färbung, die der liebe Gott so nicht vorgesehen hatte, mit Wahnsinnshupen und einem runden, drallen Hintern im engen Businessrock, der sich mit jedem Schritt um feste Schenkel spannte.

»Sind die immer so?«, fragte Edi.

»Dauernd«, murmelte Jo. »Jedenfalls wenn sie meinen, dass ich sie nicht höre.«

Der Kerl tat mir echt leid. Seine Alte mochte zwar eine scharfe Blondine sein, aber als Mutter war sie eine krasse Fehlbesetzung.

»He, mach dich locker – wenigstens sind bei dir die Schöne und das Biest nur ein Teil der Eltern und der andere ist okay«, versuchte ich zu scherzen, um wieder Stimmung in die Trauergemeinde zu bringen. »Ich brauche eure Hilfe bei meinen Ermittlungen.«

Doch die Bonsais klebten weiter an Jos Bett, beobachteten, wie Jos Vater unbeholfen mit einer Hand ein Buch aus seiner Aktentasche fischte und es unter lächerlichen Verrenkungen aufschlug, während er die andere Hand nicht von Jos Arm nahm. Keine Millisekunde lang.

»Nicht schon wieder Vorlesestunde«, stöhnte ich. »Mitkommen!«

Jo schüttelte den Kopf. »Ich bleibe bei Pa.«

»Ich auch«, fügte Edi hinzu.

Hätte ich mir ja denken können. Die Klette hatte sich wie mit Tintenfischtentakeln an Jo förmlich festgesaugt. Na gut, dann war eben als Nächstes die Kümmelconnection dran. Ich zischte ein Zimmer weiter und traf Bülent an seinem Bett an. Vier Frauen, davon drei mit Kopftuch, tummelten sich an seinem Bett. Die Mutter (mit Kopftuch), saß auf dem Stuhl und hielt Bülents Hand, zwei vermutlich fünfzehnjährige Tussen (mit Kopftüchern) hockten am Fußende des Bettes und lasen bunte Promiblättchen, die vierte (ohne Kopftuch) lehnte an der Fensterbank und glotzte in die trübe Novembernebelsuppe. Sie war mindestens zwanzig, hatte knallrot geschminkte Lippen, schwarz umrandete Augen und schmollte. Schnuckeliges Schneckchen, wenn man auf den Businesslook in schwarzem Nadelstreifenanzug und weißer Rüschenbluse steht.

»Wer sind die Haremstanten?«, fragte ich Bülent.

»Ey, wieso Harem, Alter?«, fragte Bülent zurück.

Nanu, seit wann plauderte das Kümmelchen kanakisch?

»Du kannst mich mal«, blaffte er.

»Wenn du mich blöd anmachen willst, hast du dir den Falschen ausgesucht, denn ich bin hier der Chef.«

Ich konnte spüren, wie dem Kümmelchen die Luft ausging.

»Okay, Mann«, murmelte er. »Mein großer Bruder war eben hier, der macht mich immer ganz verrückt.«

»Zieht er diese Kanakennummer ab?«, fragte ich.

»Hm.«

Mein Kümmelchen stürzte sich schniefend in Richtung von Mamas wallenden Gewändern, und ich kam mir ziemlich überflüssig vor. Wie so oft in solchen Fällen zog es mich zu Martin und Birgit, die, obwohl die eine es nicht wusste und der andere es nicht wollte, meine Familie waren. Die beiden hatten sich, wie meistens, zum Mittagessen verabredet, das, wie ebenfalls meistens, deutlich nach Mittag stattfand.

Sie hockten in einem Restaurant, das ich zu Lebzeiten mit Sicherheit nie betreten hätte. Es war natürlich asiatisch, das war es bei Martin ja fast immer, weil er Vegetarier ist. Außerdem war es winzig klein, die Tische standen so eng zusammen, dass sich jeder problemlos aus dem Reisschälchen des Nachbarn bedienen konnte, und es gab kein normales Besteck. Auch nicht auf Nachfrage. Martin fand es super, ich fragte mich, warum ein Angehöriger einer zivilisierten, westlichen Industrienation, die schon vor Jahrhunderten das Besteck erfunden hat, sich in einer schmuddeligen Dritte-Welt-Kantine mit übergroßen Zahnstochern durchfrisst. Hatte er ein schlechtes Gewissen, weil er sich satt essen konnte, während woanders die ganzen kleinen Schlitzaugen verhungerten? Taten die das überhaupt? Waren die Kinder mit den Hungerbäuchen in den Nachrichten nicht immer schwarz?

Ich kapierte es nicht, aber noch viel weniger kapierte ich, dass Birgit diese Selbstkasteiung mitmachte. Heute schien sie allerdings nicht begeistert von dem, was auf ihrem Teller lag. Für mich sah es sowieso aus, als wäre das alles schon mal gefuttert, aber das ging mir bei diesem asiatischen Fraß immer so. Martin jedenfalls mampfte mit Begeisterung, bis er Birgits unglücklichen Gesichtsausdruck bemerkte. Sofort ließ er die Stäbchen sinken und legte seine Patschefinger auf Birgits Hand.

»Ist dir nicht gut?«, fragte er.

Birgit ist gut, dachte ich. Das Essen ist das Problem, Mann!

»Nein, ich weiß auch nicht, was los ist. Eben wäre ich fast gestorben vor Hunger, aber jetzt kann ich keinen Bissen davon herunterbekommen.«

Reiner Selbstschutz, liebe Birgit, rief ich ihr zu. Vertrau deinen Instinkten!

»Du bist auch ganz blass. Vielleicht ein Infekt?«, murmelte Martin.

»Keine Ahn–«, begann Birgit, dann sprang sie von ihrem klapprigen Stuhl auf und stürzte, mit der Hand vor dem Mund, in Richtung Damenklo. Martin hinterher. Vor der Tür mit dem wackelig aufgemalten D blieb er stehen. Da die Tür genau wie alles andere in dieser Bude so primitiv war wie Plastikspielzeug aus Taiwan, konnte er sich zumindest mit den Horchbrettern ein sehr genaues Bild davon machen, was im Damenklo vor sich ging: Birgit kotzte sich die Seele aus dem Leib.

 

Martin hob die Hand, um zu klopfen.

»Geh rein, Mann!«, forderte ich ihn auf.

»Aber wenn eine andere Frau …«

Ich zischte ins Damenklo. Birgit kniete vor einer Kloschüssel und würgte. In der Kabine daneben hockte eine alte, hutzelige Frau mit Schlitzaugen auf dem Pott und popelte in der Nase. Die Alte hatte Gesäßhusten der furchtbarsten Art. Kein Wunder, bei dem Fraß. Die Tür der Klokabine stand weit offen.

»Niemand drin …«

Martin drückte die Tür auf wie ein GSG9-Mann bei der Stürmung einer Terrorzelle, hechtete mit zwei langen Schritten zu Birgit und hockte sich neben sie. Die Alte zeterte in einem sirenenmäßig an- und abschwellenden Singsang los. Martin sprang auf, glotzte sie an, als wäre sie ein Feuer speiender Drache, und warf dann die Kabinentür zu. Das Zetern ging ungebremst weiter.

»… bis auf eine alte Frau mit rektaler Disharmonie«, ergänzte ich. »Dass du mich aber auch nie ausreden lässt.«

Martins Blick wurde kurz ärgerlich, obwohl ich mir so viel Mühe mit dem medizinischen Fachbegriff gegeben hatte, dann aber sofort wieder beunruhigt, als er sich erneut zu Birgit auf den Fußboden mit den zersprungenen Fliesen hockte.

Ich habe früher immer sofort mitreihern müssen, wenn in meiner Nähe jemand kotzte, und auch jetzt noch fühlte ich meinen Magen Purzelbäume schlagen, obwohl ich ja keinen mehr hatte. Ich schaltete mich besser weg.

 

Stattdessen suchte ich Gregor. Meiner Erfahrung nach würde er nach der Identifizierung der Toten mit ihren Eltern reden und sich Yasemins Zuhause ansehen wollen. Ich hatte mir die Adresse gemerkt, die ich an der Pinnwand im LAZY gesehen hatte. Es war ein Hochhaus mit mindestens sechzig Parteien, weshalb ich eine ganze Weile suchen musste, bis ich Gregor und Jenny in einer der Wohnungen entdeckte. Sie befanden sich in einem winzig kleinen, aber sehr aufgeräumten Mädchenzimmer, in dem nie wieder jemand in das mit Rüschen besetzte Bett kriechen, nicht mehr vor dem Spiegel in dem kitschigen Rahmen posieren und auch die Jungs der türkischen Boygroup, deren Poster über ihrem Bett hing, nie wieder anhimmeln würde.

Gregor stand mit Notizblock und Stift neben Yasemins Vater in der Tür, Jenny stöberte in den Schubladen des Schreibtisches.

»…seit Montagnachmittag, sagen Sie?«, fragte Gregor.

»Meine Frau sagt, Yasemin kam Montag nach der Schule nach Hause und ging wieder weg um vier Uhr.«

»Hat sie gesagt, wohin?«

»Zur Schule.«

»Was für ein Handy hat Ihre Tochter?«

»Nokia«

»Wissen Sie den Typ?«, fragte Gregor.

Der Vater schüttelte den Kopf.

»Und die Telefonnummer?«

Der Vater ratterte eine Handynummer herunter.

»Haben Sie eine Idee, wo es sein könnte?«

»Sie hat es immer bei sich gehabt. Immer.«

Jenny hatte den Schreibtisch durchgesehen und kniete sich neben das Bett, hob die Tagesdecke hoch und schaute darunter. Dann stand sie wieder auf und öffnete den Schrank.

»Kennen Sie diese Frau?«, fragte Gregor und zeigte dem Vater das Foto von Sibel Akiroglu.

»Ich glaube nicht«, sagte er.

»Bitte nennen Sie mir alle Namen, die Ihre Tochter jemals erwähnt hat«, bat Gregor.

»Was für Namen?«

»Alle. Lehrer, die sie besonders mochte oder nicht, Mitschüler, Freundinnen, Freunde …«

»Meine Tochter hat keine Freunde. Meine Tochter ist ein anständiges Mädchen.«

Gregor nickte nur. »Ich würde dann auch gern noch mit Ihrem Sohn sprechen.«

»Mehmet ist nicht hier.«

»Können Sie ihn erreichen?«

Der Vater zuckte die Schultern, ging zum Telefon, das in der winzigen Diele stand, und drückte eine Kurzwahltaste. Er bekam keine Verbindung.

»Wann erwarten Sie Ihren Sohn Mehmet zurück?«

Er zuckte wieder die Schultern.

»Er wohnt aber doch noch hier bei Ihnen, oder?«, fragte Gregor.

»Ja.«

»Dann kommt er heute Abend nach Hause?«

»Ich weiß nicht.«

Gregor ließ den Notizblock sinken und sah dem Vater ins Gesicht. »Was heißt das?«

»Ein Bruder muss auf seine Schwester aufpassen. Aber Yasemin ist tot.«

»Heißt das, dass Yasemin nicht ohne ihren Bruder ausgehen durfte?«

»Nicht abends.«

Gregor schloss kurz die Augen. »Haben Sie Ihren Sohn fortgejagt?«

Yasemins Vater steckte die Hände in die Hosentaschen, blickte auf seine billigen Hausschuhe und schüttelte den Kopf.

Keine Ahnung, ob Gregor ihm glaubte, ich jedenfalls glaubte ihm nicht. »Ich brauche ein Foto von ihm, seine Handynummer, die Namen von seinen Freunden und jeden noch so kleinen Hinweis, wo ich ihn finden kann.«

Der Vater gab ihm ein gerahmtes Foto mit, das im Wohnzimmer im Regal gestanden hatte, nannte ihm Mehmets Handynummer und buchstabierte den Namen Şükrü Bozkurt.

»Wie alt ist Ihr Sohn?«

»Ein Jahr älter als Yasemin. Siebzehn.«

»Haben Ihre Kinder sich gut verstanden?«

Herr Özcan nickte. Jenny, die ihre Untersuchung beendet hatte und zu ihnen in die Diele gekommen war, zog eine Augenbraue hoch. Gregor klappte seinen Notizblock zu, gab Herrn Özcan seine Karte und verließ mit Jenny die Wohnung. Yasemins Mutter, die im Wohnzimmer von mehreren heulenden Kopftuchtanten umgeben war, bekam ihren Abgang gar nicht mit.

 

Ich war inzwischen ziemlich durcheinander. Wir hatten eine tote Türkin mit einem verschwundenen Bruder und eine verschwundene Türkin mit einem chaotischen Bruder und die beiden Frauen hatten irgendetwas miteinander zu tun. Aber was? Vielleicht kannten die Kinder die Tote?

Andererseits war die viel wichtigere Frage, wo die Lehrerin abgeblieben war, denn um sie schien sich niemand so richtig zu kümmern. War die Lehrerin Zeugin des Mordes und hatte sich aus Angst nun versteckt? Oder war sie wirklich entführt worden, wie Edi glaubte? Oder … hatte die Lehrerin Yasemin umgebracht? Die beiden hatten sich telefonisch verabredet, sie hatten sich getroffen, und nur die Lehrerin war auf eigenen Beinen wieder weggegangen. Das war am Montag gewesen, denn seit Montag war Yasemin verschwunden. Dann hatte die Lehrerin eine Nacht drüber geschlafen, war mit ihrer Klasse ins Museum gefahren, dann mit einer Ladung Kinder im Auto gegen die Brücke gerauscht und anschließend geflohen, wobei sie sich trotz Schleudertraumas einfach in Luft aufgelöst hatte. Okay, das klang unwahrscheinlich. Aber was sonst hatten die beiden miteinander zu tun?

Alle diese Fragen konnte ich nicht selbst klären, und ich konnte Gregor nicht direkt fragen, weil ich ja nicht mit ihm quatschen kann. Also musste Martin sich dringend mal wieder mit seinem besten Freund treffen, um diese Fragen zu stellen. Ich würde ihn gleich mal auf die Spur setzen.

 

Bevor ich Martin nun allerdings in der Rechtsmedizin belästigte, wo er immer sehr kurz angebunden ist und mich oft mit irgendwelchen ekligen Dingen nervt, wie zum Beispiel Darmschlingen aufschlitzt, um irgendwelche Gegenstände zu suchen, die der Verstorbene verschluckt hat, machte ich lieber noch einen Abstecher zur Uniklinik. Natürlich in der Hoffnung, dass ausnahmsweise gerade mal keine Vorlesestunde war. In dieser Hinsicht hatte ich Glück.

Stattdessen war Visite. Ein ganzer Haufen Weißkittel stand im Zimmer von Niclas und Bülent und operte lateinisches Zeug. Sie gingen nicht gerade zimperlich mit den Kids um, denn sie hatten ihnen die Schlafanzughemden hoch- und die Hosen heruntergeschoben und drückten und klopften und horchten an allen möglichen Stellen herum. Sie rissen ihnen die Sehdeckel auf, leuchteten in die Augen, griffelten den ganzen Schädel ab, pieksten in die Zehen, hämmerten gegen die Knie und lauter solche Sachen, gegen die die Jungs sich ja nicht wehren konnten.

Die vier Seelchen hingen über dem medizinisch eingebildeten Schwarm und ärgerten sich gegenseitig.

»Boa, bist du fett«, sagte Niclas zu Bülent.

»Und du hast X-Beine«, giftete Bülent zurück.

»Du hast voll die Fettrollen. Du kannst bestimmt deinen Pipimann gar nicht sehen.«

»Das sagt man nicht«, rügte Edi, während Bülent in einer roten Wut- und Schamwolke um sich selbst kreiselte.

»Igitt, ein Mädchen«, schrie Niclas. »Hau ab, du darfst das hier gar nicht sehen!«

»Wäre das nicht eigentlich Bülents Text gewesen?«, murmelte ich.

»Mann, glaubst du, wir leben hinter dem Mond, du Weichei?«, brummte Bülent.

»Nein, ich dachte nur, bei euch dürften Jungs und Mädchen nicht …«

»Das passiert erst, wenn die Mädchen in die Pubertät kommen«, erklärte Edi ernst.

Die Jungs wurden knallrot.

»Ich will jedenfalls nicht mit dem da in einem Zimmer liegen. Immer sind tausend Weiber hier, die einen Lärm machen wie auf einem türkischen Basar«, maulte Niclas. »Meine Mama hat gesagt …«

»Deine Mama ist eine doofe Ziege«, unterbrach ihn Bülent. »Sie hat meine Mama angeschrien, dass sie nach Knoblauch stinkt.«

»Die stinkt ja auch.«

»Deine Mutter stinkt ja noch viel schlimmer nach dem klebrigen Zeug, das sie sich auf die Haare sprüht.«

»Das hat was mit Sauberkeit zu tun«, brüllte Niclas. »Aber davon versteht ihr ja nix.«

»Ruhe«, brüllte ich.

Niclas brach in Tränen aus, Edi presste die Lippen aufeinander, Bülent schwieg beleidigt und Jo schüttelte enttäuscht den Kopf. »Es hilft echt keinem, wenn wir uns hier auch noch streiten.«

Na super. Natürlich hatte ich gehofft, dass die Bonsais langsam aus ihrer Schockstarre erwachten, aber so hatte ich mir das nicht vorgestellt. Das Mamasöhnchen stellte sich als rassistisches Arschloch heraus, die klugscheißernde Zahnspange war zumindest verbal eindeutig frühreif, und Jo, der Schlichter, schwafelte schon wie ein Schulpsychologe, bevor er den letzten Milchzahn ins Klo gespuckt hatte. Nur das Kümmelchen schien seelisch einigermaßen stabil zu sein. Vielleicht lag das an der Fettschicht auf seinen Rippen, die nicht nur gegen Kälte, sondern auch gegen seelische Grausamkeiten isolierte?

»Kamelscheiße«, brummte Bülent.

Okay, er teilte meine Meinung offenbar nicht.

»Wenn ihr eure kindischen Ich-hab-die-meiste-Scheiße-in-der-Windel-Spiele jetzt mal für einen Augenblick vergessen könntet, könnt ihr mir bei meinen Ermittlungen helfen«, sagte ich streng.

»Scheiße sagt man nicht«, rügte Edi.

»Lass ihn«, flüsterte Jo ihr zu. »Der braucht das, um sich wichtig zu fühlen.«

»Also selber kindisch«, flüsterte Edi zurück.

Ich tat so, als hätte ich nichts gehört, sonst kämen wir nie voran. Die Bonsais raubten mir auch so den letzten Nerv.

 

Wir flogen zum Polizeipräsidium und direkt vor die Pinnwand im LAZY.

»Oh, Mann«, flüsterte Jo entsetzt, als er die Fundortfotos von Yasemins Leiche sah. Wenn er bei ein paar Fotos schon so in den Seilen hing, war es sicher eine gute Idee gewesen, die Bonsais nicht ins Rechtsmedizinische Institut mitzunehmen, um die Tussi in echt zu identifizieren. Vor allem, da sie mit dem riesengroßen Y-Schnitt vom Hals bis unter den Bauchnabel und mit dem Schnitt über die Kopfhaut von Ohr zu Ohr besonders mitgenommen aussah.

»Was hat die denn mit Frau Akiroglu zu tun?«, fragte Edi. Sie bemühte sich ganz offensichtlich um Fassung, wie die ganze Zeit schon, aber auch ihre Stimme hüpfte und kiekste.

»Das will ich ja von euch wissen. Habt ihr die beiden mal zusammen gesehen?«

Allgemeines Kopfschütteln.

»Bülent, du kennst doch sonst alle Türken.«

»Quatsch, doch nicht alle. Die jedenfalls nicht.«

Seine Stimme klang gepresst. Ich war mir nicht sicher, ob er die Wahrheit sagte, hätte aber auch keinen Grund gewusst, warum er lügen sollte.

»Diese Schülerin trug einen Zettel mit der Handynummer von Sibel Akiroglu mit sich herum«, erklärte ich. »Deshalb nimmt die Kripo an, dass die beiden sich kannten. Sie sind vielleicht zur selben Zeit verschwunden beziehungsweise ermordet worden. Auf jeden Fall ergibt sich die Vermutung, dass die beiden Fälle etwas miteinander zu tun haben.«

Bülent hatte inzwischen das Foto entdeckt, auf dem der Zettel mit dem Wort »Schlampe« deutlich zu erkennen war. Er wurde so blass, dass er praktisch durchscheinend war.

»Was ist?«, fragte ich.

»Das haben die auch zu meiner Schwester gesagt.«

»Zu der Hübschen ohne Kopftuch?«, fragte ich.

Bülent nickte.

»Was heißt das denn?«, fragte Edi, die hinter Bülent aufgetaucht war und nun auch auf das Foto starrte. Bülent schwieg.

»Wer?«, hakte ich nach.

»Jungs aus der Moschee.«

»Nun sag schon«, drängelte nun auch Jo. »Was heißt das?«

Bülent kniff die Lippen zusammen.

»Zeig mir die Jungs aus der Moschee«, forderte ich ihn auf.

»Übermorgen, zum Freitagsgebet. Dann sind alle da«, murmelte er.

Ich nickte. Wir suchten auf der Pinnwand nach weiteren Hinweisen, fanden aber nichts und wollten gerade abdüsen, als Jenny mit dem Foto von Mehmet hereinkam. Sie pinnte es schräg unter das Foto von Yasemin, schrieb »Bruder: Mehmet – verschwunden«, darunter und verließ den Raum.

»Der da, der war auch bei den großen Jungs aus der Moschee«, flüsterte Bülent.

 

Ach du dickes Rohr. Wie passte das jetzt alles zusammen? Ich musste unbedingt in Ruhe nachdenken, musste die Nervensägen loswerden, die einfach die Sabbel nicht halten konnten. Edi quengelte, weil sie wissen wollte, was auf dem Zettel stand, Niclas fand es cool, dass die ganzen doofen Türken sich gegenseitig umbrachten, und Jo versuchte zu schlichten. Ich brachte alle vier in die Klinik zurück, ließ mir das Versprechen geben, dass sie in ihren Zimmern und bei ihren Körpern bleiben würden, und schaltete mich weg.

 

Seit Ewigkeiten hatte ich nicht mehr so einen anstrengenden Tag gehabt. Da war meine Bitte um geistige Gesellschaft erhört worden, aber statt mir ein rassiges Weib oder einen coolen Kumpel zu schicken, hatte der liebe Gott oder das Schicksal (oder Marlene, ihr würde ich das auch zutrauen) mir vier quengelnde Rotznasen an den Arsch getackert. Das musste eine Strafe sein – ich wusste bloß nicht, wofür. Eins wusste ich aber ganz genau: Ich brauchte Ruhe. Noch nie hatte ich einen derartig überwältigenden Drang verspürt, mich in ein Körbchen mit flauschigen Decken zu verkriechen, zwischen die Falten zu schlüpfen und absolut nichts mehr zu hören und zu sehen. Natürlich hätte ich das überall haben können, aber zusätzlich sehnte ich mich nach meinem Zuhause. Nach der vertrauten Umgebung, von der ich wusste, dass mich dort die ewig gleiche, einschläfernde Routine erwartete, die Martins Privatleben prägte. Martin und Birgit kommen von der Arbeit nach Hause, kochen gemeinsam etwas, essen, setzen sich auf die Couch im Wohnzimmer und lesen oder schauen in die Glotze. Oder Birgit liest und Martin sortiert die Stadtpläne, die er sammelt. Gegen zehn Uhr kocht Martin seinen Schlaftee, trinkt ihn in kleinen Schlückchen, gibt Birgit ein Tässchen ab und spätestens um elf geht das Licht aus. Sterbenslangweilig – und genau das, was ich jetzt brauchte.

 

Natürlich hatte ich wieder Pech. Ich hörte Birgits Stimme schon, als ich noch im Landeanflug war, denn ich kam von Süden und zischte daher durch die riesigen Altbaufenster direkt ins Wohnzimmer hinein.

»Nein, ich rege mich nicht ab!«, schrie sie Martin an.

Martin stand mit hängenden Armen vor ihr und schien mit den Tränen zu kämpfen.

»Aber du weißt doch, dass Katrin nur eine nette Kollegin ist und mir ansonsten gar nichts bedeutet«, stammelte er.

Für diejenigen, die Katrin nicht kennen, muss gesagt werden, dass sie ein echt heißes Häschen ist – was Martin allerdings tatsächlich nicht bemerkt. Ich kann Ihnen versichern, er glotzt ihr nie auf die wohlgeformten Hupen oder auf die langen Beine oder den knackigen Arsch. Er wünscht sich auch nie, seine Finger in ihre lange Wuschelmähne zu graben oder in ihren dunklen Augen zu versinken. Stattdessen bewundert er ihre fachliche Kompetenz und ihre kollegiale Hilfsbereitschaft. Die geilen Sachen denkt Gregor, der Bulle, denn der ist Katrins Lover.

»Nein, das weiß ich eben nicht«, brüllte Birgit. »Seit ich nach Hause gekommen bin, höre ich nur: Katrin hier und Katrin da. Sie hat so tolle Arbeit gemacht, sie hat den winzigen Einstich gefunden, sie hat den Fall gelöst, blablabla.«

Martin presste die Lippen zusammen. »Entschuldige, ich wollte dich nicht mit den Geschichten von der Arbeit langweilen.«

»Langweilen?«, brüllte Birgit. »Ich bin SAUER, verdammt noch mal!« Dann brach sie in Tränen aus, drehte sich um, rannte ins Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Martin ließ sich kraftlos auf das Sofa sinken und stierte mit glasigen Augen Löcher in die Luft. Na super!

»Was hast du denn angestellt?«, fragte ich Martin ohne Begrüßung.

Martin zuckte zusammen. »Wie lang bist du schon da?«

»Für die letzten drei oder vier Sätze hat’s gereicht. Also?«

»Nichts. Ich habe nur von der Arbeit erzählt.«

»Von Katrin.«

Er nickte – und checkte natürlich mal wieder gar nichts.

»Weiber mögen es nicht, wenn man ihnen von anderen Weibern vorschwärmt«, erklärte ich.

»Aber ich habe doch nicht von Katrin geschwärmt, sondern nur …«

»Ich weiß«, sagte ich. »Aber das reicht schon.«

»Aber das habe ich auch früher schon getan, und Birgit mag Katrin, und sie weiß ganz genau, dass ich in ihr nur die Kollegin sehe und …«

»Und jetzt wohnt ihr zusammen und sie lässt die Zicke raushängen«, sagte ich. »Das ist normal.«

»Nein, ist es nicht«, patzte Martin mich an.

»Mit wie vielen Weibern hast du denn schon zusammengewohnt?«

Schweigen. Das war Antwort genug.

»Glaub mir, ich kenne die Weiber«, sagte ich. Auch wenn ich mir bei Birgit fast sicher gewesen war, dass sie keine Zickenterroristin werden würde. Aber da sieht man mal wieder: Bei Weibern gibt es echt keine Ausnahmen.

 

Birgit schlief schon tief und fest, als Martin eine halbe Stunde später nach ihr sah. Sie hatte sich nicht gewaschen, nicht die Zähne geputzt, nur ihre Klamotten ausgezogen und war in die Poofe gekrochen. Martin konnte die ganze Nacht nicht schlafen, während Birgit neben ihm ratzte wie ein Russe nach einem Wettsaufen mit achtzigprozentigem Selbstgebrannten. Ich machte mich aus dem Staub, bevor der Wecker losging. Auf Weiberzicken hatte ich im Moment echt keinen Nerv.