»Drogen«, sagte Gregor.
»Drogen«, sagte Jenny.
Dann sagte lange Zeit keiner etwas.
Gregor war der Erste, der wieder den Mund aufmachte. »Yasemin wusste etwas, obwohl sie keine nahm. Zeynep nahm sie, wusste also auf jeden Fall etwas, nämlich mindestens den Namen ihres Dealers. Beide Mädchen sind tot. Sibel Akiroglu, deren Telefonnummer Yasemin bei sich trug, als sie ermordet wurde, ist verschwunden. Und Sibels Bruder ist ein verurteilter Dealer.«
Jenny hatte die Augen geschlossen und nickte. »Alles deutet auf Akif Akiroglu.«
»Oh, Mann«, flüsterte Bülent neben mir.
Hey, das Dickerchen hatte ich ja ganz vergessen.
»Mann, der bringt doch nicht seine eigene Schwester …«, murmelte Bülent.
»Meinst du Mehmet oder Akif?«, fragte ich.
Bülent begann unkontrolliert zu zittern. Ich hatte den Eindruck, dass er jetzt erst realisierte, dass vielleicht seine geliebte Lehrerin auch von ihrem Bruder abgeschlachtet worden war. Jede türkische Frau ist eine Schwester, wenn ich das mal so formulieren darf.
»Bülent, das Leben ist nicht witzig«, erklärte ich ihm. »Selbst ich wurde ermordet, obwohl ich dem, der mich umgebracht hat, gar nichts getan hatte. Was soll man dann erwarten von einem Bruder, der mit Drogen dealt und dessen Schwester ihn auffliegen lassen will? Soll er sie bitten, doch lieber nichts zu sagen?«
Bülent fing an zu flennen.
Auch das noch! Aber irgendwie – und das sage ich jetzt ganz im Vertrauen – tat er mir leid. Es ist schon ein ziemlicher Schock festzustellen, dass praktisch jeder der Mörder seiner Schwester sein kann. Besonders bei den Kanaken.
»Sag nicht noch mal Kanaken, du Doofmann«, stammelte Bülent zwischen seinem Geschluchze.
»Hey, jetzt lass deinen Frust nicht an mir aus«, ranzte ich ihn an. »Ich kann nix dafür, wie ihr mit euren Weibern umgeht.«
»Arschloch.«
Na, wo blieb denn da der Respekt vor dem Alter? Ich setzte gerade zu einer Erwiderung an, als ich Gregor sagen hörte: »… Doktor Seiler auch.« Mist, jetzt hatte ich was verpasst. »Immerhin hat er als Lehrer Zugang zu vielen Schülern und damit eine ideale Position als Verteiler.«
Jenny nickte, aber ihr Gesichtsausdruck zeigte, dass sie nicht einverstanden war. »Du solltest da nicht allein hingehen …«
»Du kannst nicht mitkommen, Jenny, du bist noch nicht lang genug dabei. Wenn der Boss mir in den Arsch tritt, weil ich mich seiner Anweisung widersetze, ist das nicht so schlimm. Bei einem Frischling wie dir wäre es verheerend.« Damit verließ der Held das Büro.
Bülent hatte sich inzwischen auch beleidigt weggeschaltet, daher konnte ich Gregor ganz allein und ganz in Ruhe folgen. Wir genossen unsere gemeinsame Fahrt bei brüllend lauter Musik in Gregors Karre. Solche Momente braucht der Mann.
Erst als Gregor den Wagen parkte, bemerkte ich, dass Bülent uns doch gefolgt war. Der Kleine hatte mehr Stehvermögen, als ich dem Pummel zugetraut hätte. Ich tat so, als hätte ich ihn nicht bemerkt, immerhin hatte er mich eben Arschloch genannt. Er pudelte in einigen Metern Abstand hinter mir her.
Ich behielt recht, Gregor wollte zu Akif. Und diesmal traf er ihn an. Aber von vorn, sonst glaubt mir ja keiner. Gregor klingelte, Akif, der aussah, als sei er gerade (um halb neun am Montagabend) aufgestanden, und mal wieder nackt in der Küche Kaffee soff, ging hinüber ins Wohnzimmer, betrachtete Gregor auf seinem Home-Entertainment-Center und stellte die Klingel ab. So weit wie gehabt. Gregor klingelte weiter. Akif brüllte auf Türkisch seinen Flatscreen an.
Ich schluckte meinen Ärger auf meinen Assistenten hinunter und wollte Bülent fragen, was Akif brüllte, aber als ich mich zu ihm umdrehte, war Bülent derartig rot geworden, dass ich mir den Inhalt der freundlichen Ansprache gut vorstellen konnte.
Gregor klingelte. Akif tat so, als interessiere ihn der Typ da unten nicht mehr, und ging duschen. Gregor klingelte. Akif tropfte durch die Wohnung, sah Gregor vor seinem Flatscreen und wurde wütend. Dann drückte er die Tür auf.
»Wer zum Teufel bist du, Arschgesicht, dass du mich hier mitten in der Nacht stundenlang belagerst?«, brüllte Akif, als Gregor oben an der Treppe erschien. Akif war immer noch nackt bis auf die dicken Mullpflaster, mit denen die beiden Schussverletzungen bedeckt waren und die er kunstvoll abgedichtet hatte: Aldi-Tüte nehmen, Rechteck aus der Plastikfolie ausschneiden, festtapen – fertig.
»Gregor Kreidler, Kripo Köln.«
Gregor nickte. »Später. Erst hätte ich da mal ein paar Fragen.«
»Ich bin keine Auskunftei.«
»Darf ich eintreten?«
»Nein.«
Gregor nickte, trat einen Schritt zurück und sprintete dann plötzlich los. Er rempelte Akif aus dem Weg und hechtete mit drei langen Sätzen in die Wohnung. Akif gewann das Gleichgewicht wieder und raste brüllend hinter ihm her. Gregor war, weil das der gerade Weg war, ins Wohnzimmer gelaufen und stand nun mitten im Raum mit einem ungläubigen Blick auf den Flatscreen-Fernseher, auf dem immer noch die Kameraeinstellung an der Haustür zu sehen war. Dann wanderte sein Blick zum Tresor und über das Chaos im Rest des Zimmers. Akif stand hinter ihm und kochte vor Wut, hatte aber die Hände nicht etwa auf dem Weg zu Gregors Hals, um ihn zu würgen, sondern grimmig vor der Brust verschränkt.
Gregor drehte sich zu ihm um. »Ich will wissen, warum der Polizeipräsident mir verbietet, einen wegen Rauschgifthandels vorbestraften Zeugen in einer Mordermittlung zu vernehmen.«
Akif schwieg.
»Sie wissen vielleicht, dass Yasemin Özcan die Telefonnummer Ihrer Schwester bei sich trug, als sie erstochen wurde.«
Akif schwieg.
»Kannten die beiden sich näher?«
Akif schwieg.
»Außerdem haben wir eine zweite Tote. Zeynep Kaymaz. Sie war mit Yasemin zusammen auf der Schule.«
»Wurde sie auch erstochen?«
In Gregors Augen war wieder dieses klitzekleine Funkeln. »Nein. Sie starb an Drogen. Wir wissen allerdings noch nicht, ob es eine Selbsttötung oder …«
»Nein.«
Die beiden standen sich gegenüber wie zwei Steinzeitjäger, nur dass der eine aussah wie einer (Akif, nackt, mit vorgeschobenem Unterkiefer und bereit zum Sprung), während der andere sich nur so verhielt (Gregor, in Bullenzivil, mit seiner Knarre unter der linken Achsel und vermutlich mit Adrenalin vollgepumpt bis unter die Haarwurzeln).
»Wie bitte?«
»Gehen Sie davon aus, dass es keine Selbsttötung war.«
»Schön. Was war es dann?«
Die beiden belauerten sich wie Tom und Jerry. Ich konnte nicht erkennen, ob Gregor den Wandel von Akifs Ausdrucksweise wahrgenommen hatte, aber er ist nicht blöd, also musste auch ihm aufgefallen sein, dass das Steinzeitgelaber in Form von »Du Arschgesicht, verpiss dich« einem stolperfrei vorgetragenen, ganzen deutschen Satz mit dem Wort Selbsttötung gewichen war.
»Also?«, fragte Gregor nach.
»Wir sind einem dicken Fisch auf der Spur. Neuer Typ, passt in keine Schublade, hat keine Kontakte zur alten Garde, ist noch nie aufgefallen, gehört nicht zu den üblichen Verdächtigen. Wir kommen ihm näher und ihr stört dabei.«
Gregor schaffte es, ein absolut unbewegliches Pokergesicht beizubehalten, und betrachtete Akif, der inzwischen deutlich entspannter, aber immer noch mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihm stand, durch leicht zusammengekniffene Augen. Den Blick kannte ich inzwischen. Er bedeutete Unheil.
»Wer ist wir?«, fragte Gregor.
»Mehr kann ich nicht sagen, und jetzt verlassen Sie bitte meine Wohnung.«
»Ist Gina Bengtsfors der zweite Teil von wir?«
Akif explodierte ohne Vorwarnung, machte einen Schritt auf Gregor zu und hatte ihm schneller beide Arme auf den Rücken gedreht und ihn in die Knie gezwungen, als ich »Vorsicht« hätte rufen können.
Natürlich hätte Gregor mich sowieso nicht gehört.
»Woher hast du den Namen?«, zischte Akif.
Au Kacke, dachte ich bei mir. Wenn er brüllt, ist er ja schon unangenehm, aber wenn er zischt, wirkt er richtig gefährlich.
»Hat mein Boss vom Polizeipräsidenten, und der hat’s vermutlich von deinem Boss«, quetschte Gregor hervor. Er musste Schmerzen haben, so, wie Akif seine Arme in den Schultergelenken verdreht hatte, aber er hielt sich tapfer.
»Dieser dämliche Sack!«, brüllte Akif und gab Gregor einen Stoß, dass er nach vorne fiel. Der nackte Fleischberg nahm die nächste erreichbare Bierflasche vom Tisch und schmetterte sie an die Wand. Die Scherben spritzten durch das ganze Zimmer. Akif blickte auf seine nackten Füße und verdrehte die Augen.
»Also, Kollege …«, begann Gregor, nachdem er sich etwas Blut von der Lippe und der Augenbraue gewischt hatte.
»Nix Kollege«, begann Akif, dann schimpfte er auf Türkisch weiter. Ich wollte Bülent um eine Übersetzung bitten, war mir aber nach einem Blick in sein Gesicht sicher, dass er für die meisten Wörter gar keine Übersetzung gekannt hätte. Und wenn doch, sie niemals laut aussprechen würde.
Gregor kämpfte sich auf die Füße und betrachtete die herumliegenden Glasscherben. Dann zuckte er mit den Schultern und ging in die Küche. Unter seinen Sohlen knirschte Glas.
»Hör auf deinen Boss und verschwinde einfach«, rief Akif ihm hinterher.
Gregor reagierte nicht. Er ging schnurstracks zum Kühlschrank und öffnete das 3-Sterne-Kühlfach. Er nahm eine Kühlkompresse heraus. Ich versuchte verzweifelt, beide Hirnis gleichzeitig im Blick zu behalten, denn ich ahnte, was gleich kommen musste. Endlich brachte Akif das Geräusch der Kühlschranktür mit dem Karton in Verbindung, der darin stand, und riffelte, dass Ungemach drohte. Er drehte sich um und wollte in die Küche stürzen, besann sich dann aber anders. Überall lagen Glasscherben.
»Raus jetzt«, sagte er mit mühsam unterdrückter Wut. Oder Angst?
Gregor hatte hinter einigen Tiefkühlpizzen und gefrorenen Dönern eine Kalt-Warm-Kompresse entdeckt und zog sie heraus, um den sich bildenden Bluterguss am linken Auge zu stoppen, als er das Gesicht verzog. Schnüffelte. Das Gefrierfach nochmals durchwühlte, aber nichts Verdächtiges fand. Dann glitt sein Blick tiefer. Im Kühlschrank befanden sich einige Gegenstände undefinierbarer Art, bei denen es sich um Lebensmittel oder Seife oder gebrauchte Zipfeltüten handeln konnte, sowie eine halb leere Flasche Ketchup ohne Deckel, ein halb volles Glas eingelegte Oliven und zwei Flaschen Bier. Daneben stand der Karton, aus dem es so widerlich roch. Akif machte einen vorsichtigen Schritt in Richtung Küche und einen langen Hals.
Gregor griff nach dem Karton.
»Finger weg«, drohte Akif.
»Sonst was?«, murmelte Gregor. Seine gesamte Aufmerksamkeit galt dem Karton mit dem dunkelroten Fleck an der rechten unteren Ecke.
Akif machte einen weiteren Schritt, hielt aber fluchend inne. Er war in eine Scherbe getreten.
Gregor öffnete den Karton. Darin lag noch ein Ohr, offenbar das Gegenstück zu dem, das er bereits aus dem Müll gefischt hatte.
»Scheiße«, flüsterte Gregor.
»Ach, du Scheiße«, brüllte Bülent mir ins Ohr. »Mir wird schlecht!«
»Das Ohr ist ein Scherz«, rief Akif aus dem Wohnzimmer.
»Gibt es auch noch eine Nase, Fingerglieder – oder vielleicht ein Herz?«, fragte Gregor.
Bülent hyperventilierte.
»Es ist nicht das, wonach es aussieht. Mach den Kühlschrank zu und verschwinde.« Akifs Tonfall war lässig, etwas müde, freundlich.
»Sie haben zwei Minuten Zeit, sich etwas anzuziehen, dann begleite ich Sie aufs Präsidium«, sagte Gregor, der deutlich angespannter klang.
»Schwachsinn«, erwiderte Akif, jetzt leicht genervt. »Ein Anruf von mir und du bist bis Ostern beurlaubt.«
»Dann will ich jetzt die ganze Geschichte hören«, sagte Gregor.
»Okay.« Eindeutig resigniert. »Gib mir einen Stuhl, die Pinzette aus dem Badezimmerschrank und meine Latschen.«
Was macht man mit einem hyperventilierenden Geist? In eine Tüte atmen geht nicht. Ihn durchschütteln auch nicht. Also ließ ich Bülent weiter die Schnappatmung ausprobieren und konzentrierte mich wieder auf das Gespräch unter Männern.
Gregor holte die angeforderten Utensilien, Akif zog sich einen Splitter aus dem Fuß, latschte ins Bad, zog sich ein paar Klamotten über und ließ sich endlich in der Küche auf den zweiten Stuhl fallen. Gregor blieb stehen.
»Wir sind bei der Drogenfahndung. Undercover. Ich bin allerdings hier aufgewachsen, mich kennt also jeder im Viertel, daher habe ich keine falsche Identität, sondern nur einen gefälschten Lebenslauf. Die Ausbildung habe ich auswärts gemacht, in der Szene hieß es, ich säße im Knast. Damit das glaubhaft ist, steht es auch in deiner offiziellen Datenbank. Das ist mein Leumund. Wer gesessen hat, ist vertrauenswürdig.«
Gregor nickte.
»Bei Gina ist das anders. Selbst ich kenne ihren richtigen Namen nicht. Bei ihr ist es besonders wichtig, dass sie nicht auffliegt.«
»Warum hat mein Boss mir verboten, Gina weiter zu belästigen, wo ich sie doch noch nie im Leben gesehen habe?«, fragte Gregor.
»Da war so ein Buchhaltertyp, der ihr Samstagnacht im Chilling Chili blöde Fragen gestellt hat«, sagte Akif. »Gehört der nicht zu dir?«
Gregor brauchte ungefähr drei Sekunden, bis sein Hirn auf Grün sprang, aber er zog es vor, keine Antwort zu geben. Stattdessen fragte er: »Und deine Schwester?«
Akif seufzte. »Sie will die Welt retten. Und falls das nicht klappt, dann doch wenigstens jede junge Frau, die von der Gesellschaft, einem Mann, der herrschenden Meinung, Traditionen oder einfach nur dem schlechten Wetter an ihrer Persönlichkeitsentwicklung gehindert wird. Sie ist bekannt wie ein bunter Hund, und jede Tussi, die ein Swarovski-Steinchen aus ihrem Handy verliert, wendet sich an Sibel. Die hat für jede ein offenes Ohr.«
Bei dem Wort Ohr stockte Akif, dann grinsten beide.
»Sibel rief mich am Montag an. Eine Schülerin hatte ihr erzählt, sie habe den Verdacht, dass jemand, den sie kenne, mit Drogen handle.«
Bingo! Gregor konnte seine Aufregung nicht verbergen.
»Sibel war aber zu dem Zeitpunkt, äh …« Akif blinzelte, schaute auf seine Füße, zögerte.
»Im Kirchenasyl«, vervollständigte Gregor.
»Ach, das kennst du schon? Genau. Sie bot der Schülerin an, sie dort zu treffen, aber das Mädchen sagte, das sei ihr zu weit und sie müsse pünktlich nach Hause. Sie haben vereinbart, dass sie am Dienstag telefonieren und sich am späten Nachmittag treffen.«
»Aber da war Yasemin mit größter Wahrscheinlichkeit schon tot«, murmelte Gregor.
Akif nickte. »Ich habe am Dienstagabend darauf gewartet, dass Sibel kommt und mir von ihrem Treffen mit der Schülerin erzählt, aber sie kam nicht nach Hause. Stattdessen lief bei meinen Eltern irgendwann das Telefon heiß, weil alle Welt Sibel suchte. Und dann kam die Polizei und erzählte diesen Quatsch von wegen Fahrerflucht. Da fing ich an, mir Sorgen zu machen.«
»Wann kam das Ohr?«, fragte Gregor.
»Das erste kam am Donnerstag. Ich hatte einen Verdacht und bin losgezogen, um dem Vogel seinen Kopf in den Arsch zu schieben …«
Bülent bekam Schluckauf.
»… aber er wusste von nichts.«
Aha, daher kam der coole Akif am Donnerstag mit seinen Knarren und dem Messer.
»Bei dem ersten Ohr war ein freundlicher Hinweis, dass sie mit einer asymmetrischen Frisur noch alles verdecken könne, und die Ankündigung, dass die andere Seite folgen werde, wenn ich nicht für längere Zeit in Urlaub führe.«
Gregor wurde blass.
»Das zweite Ding kam vorgestern. Mit Sibels Brille und dem Hinweis, dass die ja nun sowieso nicht mehr hält.«
Bülents Zustand verschlechterte sich. Zu dem Schluckauf kam jetzt auch noch ein ausgewachsenes Zittern, sodass ich ihn nur noch verwackelt sah.
Akif grinste kurz. »Aber mir war klar: Diese Elefantenohren sind nicht von Sibel. Sie hat ganz zarte, kleine Ohren. Wie ein Kind. Das hier, uäh …«
Gregor öffnete den Karton noch mal, wenn auch mit deutlichem Abscheu. Akif hatte recht. Dieses Ohr hier war riesig, mit einem langen, hängenden Ohrläppchen und Haaren auf dem äußeren Rand.
»Aber woher wusste derjenige überhaupt, dass Sibels Bruder bei der Drogenfahndung …«
Akif seufzte. »Meine Eltern denken, dass ich wirklich der Junkie bin, für den ich mich ausgebe. Das ist schwer zu ertragen, aber es muss sein. Sibel hingegen hat jahrelang täglich versucht, mich zu bekehren. Das war nicht auszuhalten, also habe ich ihr eines Tages die Wahrheit gesagt. Ich bin sicher, dass sie niemals jemandem etwas verraten hätte – es sei denn unter Todesangst.«
Gregor nickte.
Akif seufzte. »Vermutlich ist meine Karriere damit beendet, aber ich kann ihr beim besten Willen keinen Vorwurf daraus machen.«
Bülent ließ einen Schwall heiße Luft gemischt aus Unverständnis, Bewunderung und Zweifel entweichen.
Sie schwiegen einen Moment.
»Wo sind die Nachrichten, die bei den Ohren waren?«, fragte Gregor.
»Die bekommst du nicht.« Der kollegiale Ton war vorbei. »Du hältst dich von jetzt an von mir fern. Und von Gina. Und wegen meiner Schwester unternimmst du auch nichts, sonst richtest du mehr Schaden an, als ich in einem Leben rächen kann.«
Bülent verschluckte sich und röchelte, als ob er ersticken würde. Offenbar verkraftete er die schnellen Wechsel zwischen verständnisvoller Bruderliebe und prähistorischer Vendetta nicht. Ich machte mir aber keine Sorgen um ihn. Wir Geister können nicht ersticken, ertrinken, verbrennen … Die Liste ließe sich vermutlich unendlich fortsetzen.
»Ich muss die Nachrichten kriminaltechnisch untersuchen«, sagte Gregor.
»Und ich muss dafür sorgen, dass meine Schwester lebend zurückkommt.«
Die beiden starrten sich wieder an, als wollten sie sich gegenseitig mit Blicken töten.
»Scheiße«, sagte Gregor nach einer Weile. »Und die Schüsse auf dich?«
Akif sah ihn lange und nachdenklich an. Dann seufzte er und nickte. »Okay, damit du endlich Frieden gibst: Das hat mit diesem Fall hier nichts zu tun. Ich bin jemandem auf die Füße getreten in einer meiner Ermittlungen. Mehr kann ich nicht sagen, mehr geht dich auch nichts an. Nur solltest du deine Zeit nicht mit diesem Mist verschwenden.«
Nach dieser Ansprache schaltete Akif auf stur und sagte kein Wort mehr. Gregor verließ die Wohnung mit einer gehörigen Portion Frust – und einem schon leicht vergammelten Ohr in einem Karton.
Dienstag, 8 Uhr 10
»Es sind definitiv Männerohren«, sagte Katrin.
Sie und Gregor standen wieder mal am Edelstahltisch, zwischen sich die beiden Ohren.
Bülent hatte sich im Verlauf der Nacht, die er an seinem Krankenbett verbracht hatte, ganz gut erholt, wurde aber jetzt angesichts der Horchlappen wieder blass.
»Beide Teile gehören zu ein und derselben Person. Die Person war tot, als ihr die Ohren abgeschnitten wurden.«
»Wie eklig«, flüsterte Bülent.
»Die Ohren sind, äh, ungepflegt.«
»Ein Obdachloser?«
»Das war zumindest meine spontane Idee. Wir haben niemanden hereinbekommen, dem zwei Ohren fehlen, aber du könntest bei deinen Kollegen rheinabwärts fragen, ob dort jemand aufgetaucht ist. Bei dem Hochwasser wäre es ein Leichtes, eine Leiche loszuwerden.«
»Und?«, fragte Jenny, als Gregor ins Büro kam. »Hast du Akif Akiroglu mitgebracht?«
Gregor ließ sich auf seinen Stuhl fallen und legte den Kopf in die Hände. »Er ist Undercover-Ermittler bei den Drogenfahndern.«
Jenny starrte ihn mit offenem Mund an.
»Aber seine Schwester wurde definitiv entführt. Der Kidnapper hat ihm die Ohren geschickt, die aber nicht von ihr, sondern von einem Mann, vermutlich einem Penner, stammen.«
Ich finde Gregor schon allein deshalb cool, weil er politisch unkorrekte Ausdrücke benutzt, wenn er inoffiziell redet. Er gab den Inhalt seines Gesprächs mit Akif wieder.
»Die Nachrichten des Kidnappers bekommen wir nicht, weil Undercover-Akif nicht will, dass wir ihm seinen Fall und seiner Schwester die Überlebensaussicht versauen«, schloss er. »Damit sind wir ziemlich am Arsch. Was hast du inzwischen herausgefunden?«
»Du wolltest, dass ich Doktor Christian Seiler noch mal checke, und das habe ich getan. Dass er nie rechtskräftig verurteilt wurde, wussten wir ja bereits. Er wird außerdem in keinem aktuellen Fall als Verdächtiger geführt oder beobachtet und wurde nie in irgendeinem Zusammenhang erwähnt. Er hat noch nicht einmal einen Punkt in Flensburg.«
»Wen hast du gefragt?«, fragte Gregor.
»Alle Kommissariate hier im Haus, das LKA, den Zoll, das BKA und die Steuerfahndung.«
Gregor überlegte einen Moment. »Gut, das muss aber nichts heißen. Akif sagte, dass sie einem neuen Spieler auf der Spur sind. Niemand aus der Szene. Jemand, der ganz neu im Geschäft ist. Da wäre es sogar unwahrscheinlich, dass er eine Vorstrafe hätte.«
»Dann sollten wir schnellstens das Alibi von Doktor Seiler checken, oder?«
Gregor nickte. »Wir treffen uns gleich bei ihm im Krankenhaus. Aber erst schaust du, ob du statistische Daten über diese neuen Drogenfälle findest. Dass das Alter erfasst wird, hat Katrin uns schon gesagt. Ich will auch wissen, auf welche Schule diese Leute gehen oder an welcher Uni sie studieren oder wo sie wohnen oder was auch immer du herausfinden kannst. Vielleicht gibt uns diese Verteilung einen Hinweis darauf, dass wir in der richtigen Richtung suchen.«
»Und was tust du derweil?«, fragte Jenny.
»Ich plaudere noch mal mit meiner besonderen Freundin Amelie Görtz.«
Da Jenny sich über Statistiken beugen würde und ich Gregor sowieso viel cooler fand, begleitete ich ihn. Er fand Amelie Görtz in der Schule, wo er sie von einem toten Frosch wegholte.
Bülent würgte.
»Wenn du mal ein cooler Bulle werden willst, solltest du dich an den Anblick von aufgeschlitzten Leichen, abgeschnittenen Ohren und platzenden Froschaugen aber langsam gewöhnen«, sagte ich.
Bülent nickte tapfer.
»Wusstest du, dass Zeynep Drogen nahm?«, fragte Gregor Amelie.
Puh, manchmal fiel er ganz schön mit der Tür ins Haus.
Amelie betrachtete Gregor eine ganze Weile schweigend und nachdenklich. Sie trug dieselbe Jeans wie vor einigen Tagen, wieder eine unförmige, sackartige Jacke, aber etwas war anders an ihr. Ihre Haare … das war’s. Heute waren ihre Haare orangerot. Blond hatte ihr besser gestanden.
»Was verstehen Sie unter Drogen?«, fragte sie endlich.
»Upper, Downer, Ecstasy, Speed, Crystal, GHB, Hasch, Koks …«
»Also illegale Drogen.«
Gregor verdrehte die Augen. »Genau.«
»Die Lehrerin, aus deren Klasse Sie mich gerade rausgeholt haben, ist Alkoholikerin. Sie kann sich manchmal kaum auf den Beinen halten, aber sie kommt jeden Tag mit dem Auto und fährt auch selbst wieder nach Hause. Warum interessieren Sie sich nicht dafür?«
»Was ist das denn für eine Lehrerin?«, stammelte Bülent. Sein Weltbild geriet gerade ordentlich ins Wanken.
»Glatter Durchschnitt«, entgegnete ich.
Gregor seufzte. »Ich bin ganz deiner Meinung, Amelie, aber«, und jetzt beugte er sich mit gerunzelter Stirn vor, »ich habe keine Zeit für diesen Scheiß. Ich suche einen Mörder. Vielleicht sogar einen Doppelmörder. Über die Unterscheidung von Drogen in legale und illegale können wir gern ein anderes Mal diskutieren.«
Amelie schmollte nicht. Ungewöhnliches Perlhuhn, das sich von Gregor eine derartige Abfuhr bieten lässt und nicht sofort aufsteht und türenschlagend abhaut. »Zeynep nahm mit Sicherheit irgendwelche Pillen. Ich sag Ihnen was: Meine Ma ist an dem Scheiß krepiert, deshalb fasse ich das nicht an. Ich nehme noch nicht mal Kopfschmerztabletten, obwohl ich oft genug welche brauchen könnte, wenn ich hier rauskomme. Aber Zeynep – ja, mit Sicherheit. Und inzwischen wohl auch ganz, ganz viele andere.«
»Wie kommst du darauf?«, fragte Gregor.
»Ich bin nicht doof, okay? Ich achte auf so was. Bei meiner Mutter musste ich immer erst checken, in welchem Zustand sie war, bevor ich wusste, wie ich mit ihr umgehen musste. Also habe ich das gelernt.«
»Und du meinst, dass viele andere Schüler auch solches Zeug nehmen?«
»Yep.«
»Warum?«
»Mann, weil das Leben die Leute überfordert. Hören Sie sich hier an der Schule um, dann wissen Sie, was ich meine. Wenn man heute was werden will, und dabei ist es inzwischen schon völlig egal, was, dann muss man zu den Besten gehören. Es gibt Studienfächer mit einem Numerus clausus von eins Komma null. Wir gehören zu den Jahrgängen, die nach der verkürzten Oberstufe in doppelter Stärke an die Unis drängen. Die Wehrpflicht wurde abgeschafft und in Deutschland fehlen unendlich viele Studienplätze.«
Sie machte eine Pause, holte tief Luft und fuhr dann mit belegter Stimme fort. »Selbst wenn Sie nicht studieren wollen, müssen Sie ein erstklassiges Zeugnis einschließlich Belobigung im Sozialverhalten haben, um einen Termin für ein Vorstellungsgespräch als Gebäudereinigungslehrling zu bekommen. Diesen Druck hält doch kein Schwein aus. Da kommen die schönen bunten Pillen gerade recht.«
Ich konnte sehen, dass Gregor angestrengt nachdachte. Ich hätte zu gerne gewusst, worüber.
»Die meisten Eltern sind auch keine Hilfe gegen den Druck, sie erhöhen ihn, wenn auch vielleicht ungewollt«, fuhr Amelie fort. »Mein Pa sagt mir, dass er mich lieb hat, egal, wie ich bin. Aber dann hat er mich zu diesem IQ-Test geschickt, weil meine Noten schlecht waren. Er wollte einfach nicht glauben, dass ich so doof bin, wie meine Schulnoten zeigten, denn ein Mann wie er zeugt keine Idioten. Dann kommt der Klopper: Plötzlich stellt sich raus, dass ich schlauer bin als Einstein, und jetzt erzählt der stolze Herr Papa überall herum, dass ich entweder Medizin oder Jura oder Kernphysik studieren werde. Gleichzeitig schickt er mich jeden Monat zum Drogentest, damit ich mir meine Zukunft nicht kaputt mache. Was er meint, ist allerdings seine Zukunft, denn genauso wenig, wie er eine Idiotin als Tochter will, will er einen Junkie. «
Mir kam die Geschichte irgendwie bekannt vor – bis auf den Teil mit der Hyperintelligenz.
»Und du wusstest schon vor dem IQ-Test, dass du nicht doof bist, oder?«
Amelie nickte.
»Warum hast du dann bei dem Test nicht einfach die falschen Antworten angekreuzt?«, fragte Gregor.
Amelie lachte gequält. »Das frage ich mich auch. Aber natürlich gibt es nur einen Grund: Eitelkeit. Pure, blöde Eitelkeit.«
Weiber, ich sag’s doch.
Gregor grinste. »Was würdest du denn lieber machen als Kernphysik?«
»Gärtnerin«, murmelte sie.
»Und die anderen leiden auch so unter diesem Druck?«
Amelie hatte sich wieder gefangen und sah ihn nur spöttisch an.
»Wer verteilt hier in der Schule die Drogen?«, fragte Gregor.
Was für ein Glück, dass er wieder zum Thema zurückkam. Ich hatte schon befürchtet, er würde sich als Nächstes mit Amelie darüber unterhalten, welche Blümchen sie am liebsten pflanzen würde.
Amelie sah auf ihre Füße und zuckte die Achseln. »Ich weiß es nicht. Ehrlich. Ich habe mich das auch schon gefragt, aber …«
»Was ist mit Doktor Seiler?«, fragte Gregor.
»Tristan …« Amelie wurde rot.
»Warum hast du uns erzählt, dass er in Yasemin verknallt ist?«
Amelie betrachtete höchst interessiert ihre Hände.
»Ist er nicht?«, murmelte sie.
Gregor schwieg.
»Warum sonst hätte er sich so für sie einsetzen sollen?«, schwallte es dann aus ihr heraus. »Sie war schließlich nicht das einzige Superhirn, das Probleme mit der Familie hat.«
Mein Gott, schon wieder dieses Mir-tut-man-Unrecht-Gejammer. Die Tussi war längst nicht so cool, wie sie tat.
»Aber sie erfüllte das Klischee, nicht wahr?«, sagte Gregor leise. »Das arme türkische Mädchen aus einem streng patriarchalischen Umfeld, das von der Tradition an der freien Entfaltung gehindert wurde, richtig?«
Amelie nickte.
»Was macht dein Vater?«
»Er ist Unternehmer. International, weltoffen, modern. Um die Tochter von so jemandem muss man sich keine Sorgen machen, die hat ja alles, was sie braucht.«
Die Heulsuse verkniff sich die Tränen nur mit Mühe.
»Heulsuse sagt man nicht«, quengelte Bülent.
»Du hast zu viel mit Edi herumgehangen«, blaffte ich ihn an.
»Hast du je mitbekommen, dass Doktor Seiler bunte Pillen verkauft?«
Amelie bekam sich wieder in den Griff und setzte ihr Pokerface auf. »Nein. Aber er ist Vertrauenslehrer, deshalb hat er ein eigenes Büro, wo ihn viele Schüler besuchen. Er hätte die ideale Gelegenheit.«