Mittwoch, 07 Uhr 55
Es war noch nicht einmal acht, als ich im Polizeipräsidium ankam. Gregor war gegen sechs Uhr vom Fundort der Leiche abgehauen und vermutlich direkt ins Präsidium gefahren. Er hockte mit geröteten Augen an seinem Computer und studierte die Fotos, die seine Kollegen gemacht hatten.
Es waren vermutlich Hunderte, etliche klickte er so schnell weiter, dass ich praktisch nichts erkennen konnte. Dann kamen die Detailaufnahmen der Leiche. Das Gesicht mit den geschlossenen Augen, ein Bild wie von einer friedlich Schlafenden. Natürlich keine Überraschung, kein Entsetzen oder so etwas in ihrem Blick, denn im Moment des Todes erschlaffen alle Muskeln. Da gibt es keinen Gesichtsausdruck mehr, der dem Ermittler irgendeinen wichtigen Anhaltspunkt darüber gibt, was der oder die Tote im letzten Moment des zu Ende gehenden Lebens gedacht, gesehen oder empfunden haben könnte. Das ist alles Schwachsinn aus der Glotze oder aus Kriminalromanen, deren Schreiberlinge keine Ahnung von Rechtsmedizin haben und zu faul sind, sich zu informieren. Voll peino.
Ich hatte keinen Plan, was genau Gregor auf den Fotos suchte, und da ich Gregors Gedanken nicht lesen konnte (erinnern Sie sich, das funktioniert nur bei Martin!), kam ich auch nicht dahinter. Mist.
»Negativ«, brüllte plötzlich eine Stimme von der Tür her.
Ich hatte den Typ gar nicht bemerkt, Gregor offenbar auch nicht, denn er zuckte zusammen, als hätte ihm jemand ein Kabel an die Sitzfläche geklemmt.
»Was?«, fragte er irritiert.
»Die Vermisstenliste.«
»Danke.«
Der Türsteher verschwand.
»Wer bist du?«, flüsterte Gregor, während ein Pling auf seinem Bildschirm anzeigte, dass er eine Mail erhalten hatte. Aha, die Rechtsmedizin war fix gewesen, wie das bei anonymen Leichen sein muss, und hatte ein Foto von der Leiche mit offenen Augen geschickt. Gregor druckte das Bild aus, als Jenny im Türrahmen erschien.
»Worum geht’s?«, fragte sie.
»Hast du Frühstück mitgebracht?«
Kommissarin Jenny Gerstenmüller, Gregors noch relativ neue, junge Kollegin, die beim heiteren Beruferaten vermutlich als Bademeisterin, Floristin oder Saftschubse, aber bestimmt nicht als Bullentussi durchgehen würde, betrat das Büro mit zwei großen Kaffeebechern und einer riesigen Papiertüte. »Croissants, Frikobrötchen, Käsebrötchen, Eibrötchen und Schokomuffins.«
»Und was isst du?«, fragte Gregor. Das Lächeln, das er dazu probierte, rutschte ihm am linken Ohr vorbei in den Kragen. Er war wirklich in beschissener Verfassung.
»Du warst am Fundort?«, fragte Jenny, legte ihre Einkäufe auf den Tisch und fummelte einen Muffin aus der Tüte.
Gregor nickte.
»Und?«
»Ich denke, dass der Tatort ein anderer war. Identität unbekannt. Passt auf keine Vermisstenmeldung. Bisher haben wir wirklich gar nichts …«
Das Telefon klingelte, Jenny hob ab, hörte zu, angelte nach einem Stift, kritzelte etwas auf ein Stück Papier, gab ein Geräusch von sich, wie man es zustande bringt, wenn einem ein ganzer Schokomuffin die Sprachausgabe verstopft, und legte wieder auf. Dann griff sie mit rechts nach dem Zettel und ihrem Kaffeebecher, deutete mit dem linken Daumen über ihre Schulter und stürmte aus dem Zimmer.
»Was denn?«, rief Gregor, während er aufsprang, die Jacke von der Stuhllehne zog, das Foto in die Tasche steckte und hinter ihr herlief.
»Die Telefonnummer, die du angefragt hast …«, nuschelte Jenny um die Reste ihres Muffins herum, »… gehört einer gewissen Sibel Akiroglu. Ich hab die Adresse.«
»Das ist alles? Ein Name und eine Adresse?«
Jenny zuckte die Schultern.
Auch ich musste mich fürs Erste mit dieser Auskunft begnügen, was mir schwerfiel. War nun Sibel die Lehrerin? Ich hoffte auf baldige Aufklärung.
Sie fuhren über die Brücke, von der sie offensichtlich nicht wussten, dass sie im Leben der Lehrerin Akiroglu erst kürzlich eine dramatische Rolle gespielt hatte. Dann bogen sie ab, weiter ging es am Kioskplatz vorbei, über den Gregor eine Runde für Jenny drehte. Der Leichenfundort war noch mit Flatterband abgesperrt, die Umrisse des Opfers noch erkennbar. Sie stiegen nicht aus.
Die Adresse war ein Haus mit acht Parteien. Es war einer dieser Waschbetonkästen, von denen in der Straße noch ungefähr hundert andere standen. Auf dem Dach standen Satellitenschüsseln, deren Kabel außen an der Fassade entlang in die Wohnungen liefen.
»Akiroglu«, murmelte Jenny, während sie mit dem Finger an den Klingelschildern entlangfuhr. »Hier.«
»Hier und hier auch«, warf Gregor ein. Tatsächlich stand der Name dreimal an der Tür, auf einem Schildchen stand Akif dabei, auf einem ein S. Sie klingelten bei S. Keine Reaktion.
Gregor wählte Akif. Gleiches Ergebnis. Erst bei der dritten Klingel, auf der nur der Nachname stand, tat sich etwas. Der Türöffner summte.
Die beiden gingen in den zweiten Stock.
Der alte Mann, der die Tür öffnete, trug eine speckige Hose, ein kariertes Hemd mit abgestoßenem Kragen und eine Strickjacke darüber. Er war unrasiert und ungekämmt und blinzelte den Besuch aus rot geränderten Augen an. Er sagte keinen Ton.
»Herr Akiroglu?«, fragte Jenny.
Er nickte.
»Wir suchen Sibel Akiroglu.«
»Haben Sie sie gefunden?«, fragte er, plötzlich etwas wacher.
»Gefunden? Wird sie denn vermisst?«, fragte Jenny irritiert.
»Dürfen wir kurz hereinkommen?« Gregors Text.
Herr Akiroglu nickte müde, zeigte auf Jennys Schuhe und sagte: »Ausziehen, bitte.«
Sie zogen die Schuhe aus, stellten sie zu den ausgelatschten Herrenschuhen neben die Wohnungstür und traten ein.
Die Wohnung war im orientalischen Räuberhöhlenstil eingerichtet. Überall Nippes und Kitsch der grässlichsten Art. Hochkant im Regal stehende Teller mit wilden Mustern in bunten Farben und Gold. Megaschmalzige Bilder von blaugrünen Seen, von Frauen in schreiend bunten Trachten, die auf dem Boden hockten und Fladenbrote ausrollten, und von den berühmten Kalkschüsseln, die in jedem zweiten Dönerladen auf der ganzen Welt an der Wand hängen. Auf den Regalen standen tanzende Trachtenfigürchen, eine klitzekleine, von innen beleuchtete Plastikmoschee, Öllämpchen, Mokkakännchen und Krummsäbel aus billigem Blech.
Herr Akiroglu zeigte auf das Sofa, auf dem dicke Kissen lagen. Jenny und Gregor nahmen Platz. Herr Akiroglu verschwand, ich folgte ihm. Er ging in die Küche, wo er ein paar Worte zu einer kleinen, dicken Frau sagte, die sich gerade ein Kopftuch umband. Herr Akiroglu kehrte ins Wohnzimmer zurück, die Frau folgte kurz darauf. Sie trug ein Tablett mit drei Teegläsern und einem Schälchen mit Würfelzucker, stellte alles auf den Tisch und wollte wieder verschwinden.
»Es wäre schön, wenn Sie sich zu uns setzen würden«, sagte Jenny freundlich. Die Frau blickte ihren Mann an, und erst, als er genickt hatte, setzte sie sich auf die vordere Kante des zweiten Sessels. Herr Akiroglu verteilte die Teegläser und deutete auf den Würfelzucker.
»Nun«, Gregor räusperte sich, während er in seinem Tee rührte. Er trank zwar den Kaffee schwarz, aber hier hatte er vier Stück Würfelzucker genommen. Offenbar wusste er, dass das Zeug ohne Zucker ungefähr so genießbar ist wie Batteriesäure. »Wir sind auf der Suche nach Ihrer Tochter Sibel.«
Die Türken schwiegen. Klar, es hatte ja auch niemand eine Frage gestellt.
»Wissen Sie, wo wir sie finden können?«
Kopfschütteln bei dem Mann, Tränen bei der Frau.
»Warum weinen Sie?«, fragte Jenny.
Frau Akiroglu knetete die Hände im Schoß. Ihr dunkler Rock reichte ihr bis fast auf die Füße, der massige Oberkörper war in einen Pullover genudelt, über dem sie eine Strickjacke trug, das alles bei gefühlten siebenundzwanzig Grad Zimmertemperatur. Sie trug keinen erkennbaren Schmuck.
»Sibel nicht schlecht. Nicht weglaufen.«
Weglaufen?, konnte ich auf Jennys und Gregors Stirn lesen. Die beiden waren hergekommen, weil sie eine Frau suchten, deren Telefonnummer bei einer Toten gefunden wurde, und stellten plötzlich fest, dass die Tussi offenbar abgehauen war. Die Kripos waren mit einem Mal hellwach und rutschten auf der Couch nach vorn.
»Wann haben Sie Ihre Tochter zuletzt gesehen?«, fragte Gregor den Mann. Ich atmete auf. Vielleicht konnten die Herren der Schöpfung ja ein bisschen konkreter werden als die gefühlsduseligen Klageweiber.
»Gestern Morgen. Vor Schule.«
»Welche Schule?«, fragte Gregor.
»Mathilde-Franziska-Anneke-Grundschule. Sibel ist Lehrerin.« Der alte Mann streckte den Rücken. Er war sichtlich stolz auf sein Töchterlein – auch wenn es für den Ruf einer Lehrerin natürlich nicht so gut ist, wenn sie ein paar Grundschüler platt fährt und dann ihrem Schicksal überlässt.
»Und wann ist sie weggelaufen?«, fragte Gregor nach.
»Nicht weggelaufen«, wiederholte der Vater.
Mit viel Mühe und Not erfuhr die Staatsmacht, dass Sibel einen Unfall gehabt hatte, bei dem vier Kinder im Wagen saßen, die jetzt im Krankenhaus lagen.
»Und Ihre Tochter?«
»Nicht gefunden.«
Jenny und Gregor blickten immer noch verwirrt.
»Ist Ihre Tochter aus dem Wagen gestiegen, um Hilfe zu holen?«, fragte Jennymaus. Ob sie wirklich so naiv war oder die Eltern nicht mit dem bösen Wort Fahrerflucht schockieren wollte, konnte ich nicht erkennen.
»Wie haben Sie von dem Unfall erfahren?«, fragte Gregor den immer unruhiger werdenden Mann.
»Polizei war hier, suchen sie wegen Fahrerflucht.«
Aha, da war das böse Wort ja doch gefallen. Alles andere war auch unwahrscheinlich, das sollte eine Kriminalkommissarin eigentlich wissen.
»Warum haben Sie keine Vermisstenanzeige aufgegeben?«, fragte Gregor.
»Wozu?«, fragte die Mutter. Sie schüttelte den Kopf. »Alle suchen. Sohn sucht. Neffen, Cousins, Tanten, Onkel, alle suchen. Freunde. Alle. Sogar Polizei. Wozu noch eine Meldung machen?«
Gregor und Jenny saßen längst wieder zurückgelehnt in den weichen Kissen. Ich konnte mir denken, was sie durchmachten. Sie hatten eine anonyme Leiche mit einer Telefonnummer, erhofften sich Auskünfte von der Frau, der die Nummer gehörte, und stellten fest, dass sie selbst verschwunden war. Nach einem Unfall mit Fahrerflucht. Hatte das nun etwas mit dem Mord zu tun oder war es Zufall? Mir selbst war die Sache ähnlich unklar, allerdings wusste ich nun wenigstens, dass die Lehrerin Sibel hieß und durch die Telefonnummer in der Tasche der unbekannten Toten mit einem Mord in Verbindung gebracht werden musste. Klarer wurden die Zusammenhänge dadurch allerdings auch nicht.
»Kennen Sie diese junge Frau?«, fragte Gregor, während er das Foto der Toten herumzeigte. Sibels Eltern schauten darauf und schüttelten die Köpfe. Gregor steckte das Bild seufzend wieder ein.
»Ist das Ihre Tochter?«, fragte Gregor und deutete auf das goldgerahmte Foto einer jungen Frau auf dem Regal. Herr Akiroglu nickte und gab es Gregor auf seine Bitte hin mit. Ohne goldenen Rahmen.
»Wer ist Akif Akiroglu?«, fragte Gregor nach einer Weile, in der Jenny die Eltern animiert hatte, ihr etwas über ihre Tochter zu erzählen. Wie fleißig sie sei, wie beliebt sie an der Schule sei, wie gut sie ihr Studium abgeschlossen habe, wie schwierig die Ausbildung für Sibel gewesen sei, weil sie selbst ihr doch nie in der Schule hätten helfen können, blablabla.
»Akif ist Sohn«, sagte der Herr des Hauses.
»Wo ist er jetzt?«
»Suchen.«
»Würden Sie ihn bitten, mich anzurufen, sobald Sie ihn sehen?«
Nicken, Aufstehen, Verabschieden, Schuhe an, raus.
»Wo ist die Verbindung zwischen den beiden Frauen?«, murmelte Gregor. »Ich will eine Ortung von Sibel Akiroglus Handy, kümmere dich bitte darum.«
Jenny nickte. »Und du?«
»Ich fahre zur Schule dieser Lehrerin. Vielleicht ist unsere Tote dort bekannt.«
Ich überlegte blitzschnell. Vielleicht wäre es ganz sinnvoll, die Bonsais dabeizuhaben, wenn Gregor in ihrem Lernknast herumschnüffelte. Wäre ja möglich, dass ihnen etwas auffiel, was seltsam war. Wäre möglich, dass jemand log und sie die Lüge erkennen konnten, weil sie die Gegebenheiten kannten. Oder … Ach egal, Gründe gab es genug. Ich düste zur Uniklinik, um sie abzuholen.
Ich fand alle im Zimmer der beiden Jungen. Sie hingen um Niclas’ Bett herum, wo auch die Erwachsenen versammelt waren. Gleich als ich den Raum betrat, wusste ich, was los war. Mit diesem Scheiß kannte ich mich besser aus als mir lieb war.
»Hörst du mich?«, kreischte die Frau, die ich aufgrund der Feuermelderhaarfarbe für Niclas’ Mutter hielt. Sie zerquetschte fast die Hand des Söhnchens und hatte ihr Gesicht bis auf wenige Zentimeter an das seine herangebracht, sodass sie ihm beim Sprechen Sabbertröpfchen ins Gesicht spuckte.
Niclas düste zu dem EKG-Pflaster, das auf seiner Brust klebte, und zischte herum. Der Herzpieper machte ein paar Extraausschläge.
»Sehen Sie«, kreischte die Mutter, indem sie sich zum Arzt umwandte.
Der arme Mann war bleich wie die inkontinenzgelbe Bettwäsche und kontrollierte mit zitternden Fingern die Geräte.
»Niclas, komm sofort da weg«, brüllte ich. Immerhin mal was anderes als »Ruhe!«.
»Nein!«, schrie er hysterisch.
Gut, wenn er Stress will, kann er Stress haben, dachte ich mir. Also flog ich auch zu dem Gerät. Jetzt tickte der Zeiger völlig aus. Der Arzt bekam auf der bleichen Haut hektische rote Flecken, seine Hände zitterten so stark, dass er aus Versehen ein Kabel aus dem Gerät riss.
Ich hetzte zu Bülents Bett und zog dort dieselbe Show ab. Alle Erwachsenen drehten sich wie auf Kommando zum Kümmelchen um.
»Lass das sein, du Blödmann«, brüllte Bülent mich an.
»Dann lasst ihr jetzt den Quatsch bleiben«, brüllte ich zurück.
»Ich mach doch gar nichts«, brüllte Bülent.
»Ruhe!« Diesmal war es Jo, der kleine Lockenkopf.
Die vier Bonsais hatten sich zur Deckenlampe zurückgezogen. Ich gesellte mich zu ihnen. Das gleichmäßige Pieppiep an Bülents Bett klang beruhigend. Nur bei Niclas piepte nichts mehr, weil der Doc das Kabelende noch in der Hand hielt und voller Entsetzen darauf starrte.
»Sie haben ihn umgebracht«, kreischte Niclas’ Mutter. »Mörder! Mörder!« Sie wollte sich auf ihn stürzen, wurde aber von Bülents Mutter, die ein Kreuz wie ein Ringer hatte, resolut zurückgehalten.
»Was ist mit ihm?«, fragte Edi mit zittriger Stimme.
»Niclas ist völlig in Ordnung«, sagte ich.
»Aber da piept nichts mehr«, flüsterte sie.
Ich überlegte einen Moment. »Wenn der Tacho nicht angeklemmt ist, fährt das Auto trotzdem weiter.«
Sie blinzelte irritiert. Logo, Mädchen.
»Wenn die Uhr kaputtgeht, bleibt trotzdem die Zeit nicht stehen.«
»Ach so.«
Das kapierte die Kleine verdammt schnell. Vermutlich würde sie später mal Quantenmechanik oder Thermodynamik oder was ähnlich Aufregendes studieren.
Langsam entspannten die Kurzen sich und auch auf dem blank gewienerten Boden der körperlichen Tatsachen kehrte so etwas wie Besinnung ein. Der Arzt räusperte sich.
»Bitte warten Sie alle draußen, während wir die Geräte überprüfen und dieses hier …«, er ließ das zottelige Kabel schnell hinter dem Rücken verschwinden, »… ersetzen.«
Da niemand wusste, dass wir hier waren, fühlten wir uns auch von dem Rauswurf nicht angesprochen. Wir blieben, wo wir waren. Ich erklärte kurz, was dort unten gerade passiert war, denn ich hatte das schon häufig genug mitgemacht, als Martin auf der Intensivstation lag. Damals war ich noch nicht lange tot gewesen und hatte daher kaum Übung im Umgang mit mir selbst und keine Ahnung von Physik. Die hatte ich mir erst später angeeignet, um herauszufinden, welche Möglichkeiten ein elektromagnetisches Geistwesen hat. Um es kurz zu machen: verdammt wenige.
Unter uns wurden die Geräte aus- und wieder eingeschaltet, der Herzschlag manuell gemessen und mit den Anzeigen der Geräte verglichen. Das Gleiche mit dem Blutdruck. Ein Techniker kam und klemmte Niclas’ Gerät ab, nahm es aus der Halterung, brachte ein neues Gerät an und überließ das Einstellen der Schwester und dem Arzt. Endlich klangen wieder zwei gleichmäßige Pieptöne durch das stille Zimmer.
»Puh«, machte Jo endlich. »Mensch, Niclas, mach das bloß nicht noch mal.«
»Ich wollte meiner Mama doch nur sagen, dass ich sie höre«, jammerte Niclas.
»Ja«, flüsterte Edi. »Kann ich verstehen.«
Lieber Parkplatzwächter, was für ein Gefühlsbrei. Ich musste die vier unbedingt beschäftigen, damit sie nicht gleich wieder wie Heulsusen um mich herumschwirrten oder weitere Katastrophen auslösten.
»Wir haben Arbeit, Mädels«, sagte ich.
»Ich bin das einzige Mädchen«, korrigierte Edi mich.
»Wenn die Jungs sich wie Mädels aufführen, werden sie auch so behandelt«, konterte ich.
Edi kicherte, Bülent schmollte und Niclas begann gleich wieder zu heulen.
Jo verdrehte die Augen. »Was für Arbeit?«, fragte er.
»Ihr zeigt mir jetzt eure Schule und dann …« Weiter wusste ich selbst noch nicht, das würde sich wohl ergeben müssen.
Wir düsten gemeinsam durch den eiskalten Nieselregen, der uns eigentlich nichts ausmacht. Aber auch Geist sein ist bei blauem Himmel einfach geiler.
»Hier ist es.«
Jo und Edi hatten die Führung übernommen und hielten über einem leeren Schulhof an. Grundschulen und Kindergärten erkennt man immer an den beklebten Fenstern. Kindergärten sind meistens eingeschossig und haben nicht so lange Namen. Mathilde-Franziska-Anneke-Städtische-Grundschule stand auf einem Schild vor dem Schulhof.
»Was ist das denn für ein bekloppter Name?«, fragte ich.
»Mathilde Franziska Anneke war eine ganz mutige Frau, die für die Gleichberechtigung war und eine Schule gegründet hat. Sie hat in Köln gelebt und es gibt eine Figur von ihr am Rathausturm. Die ist aber so hoch oben, dass man sie nicht richtig erkennen kann.«
Aha, unsere Edipedia hat gesprochen. Trotzdem bescheuert, ein Schulname mit vier Bindestrichen.
Die Schule selbst sah gar nicht so übel aus, wie der Name erwarten lassen würde – bis auf den ganzen Müll, der an den Scheiben hing. Komische Angewohnheit, das Zeug, das der Hausmeister auf dem Schulhof zusammenfegt, an die Fenster zu kleben. Ob das heutzutage zur Umwelterziehung gehörte?
»Das ist die Herbstdekoration«, erklärte Edi. »Buntes Laub und Eicheln und …«
Vollgeschissene Vogelnester, gerupfte Federn von längst verspeisten Singvögeln, Stöcke in allen Längen, Dicken und Kompostierungsstadien, ein getrockneter Regenwurm, weiß der Geier, wo die Kammerjägerchen den aufgespießt hatten …
»Du bist doof«, sagte Edi.
Ansonsten sah aber alles ganz prima aus. Der Schulhof war sauber (klar, wir wussten ja, wo der Dreck jetzt klebte), es gab eine große Rasenfläche mit zwei Toren, einen kleinen Schulgarten, in dem ein paar grüne Halme so taten, als könnten sie gegen den Winter anstinken, eine große, gepflasterte Fläche, auf der Hüpfekästchen und solcher Schwachsinn aus Kreide aufgemalt waren, und viele Papierkörbe. Es lag tatsächlich kein Müll herum.
Eine Klingel ertönte und nur Sekunden später quollen brüllende Bonsais aus jeder Mauerritze. Der Lärmpegel war ungefähr so hoch wie direkt neben der Startlinie der Formel 1, aber Motorengeräusch ist natürlich ein geiles Geräusch, das einem das Glückshormon in den Adern brodeln lässt. Kindergeschrei ist dagegen reinster Trommelfellterror.
Das fand wohl auch Gregor, denn er hielt sich mit beiden Händen fest die Ohren zu, als er sich in dem Gewimmel und Gewusel gegen den Strom auf den Schulhof kämpfte. Er hatte sich für seinen Besuch die denkbar ungünstigste Zeit ausgesucht, aber als echter Bulle schob er sich unaufhaltsam zum Haupteingang vor und betrat das Schulgebäude.
»Das ist Kriminalhauptkommissar Kreidler, ein guter Freund von mir. Los, hinterher.«
»Hey, da sind Liliane und Jennifer …«, murmelte Edi und scherte aus der Formation aus.
»Lass sie, wir haben zu tun«, sagte ich, aber Edi gondelte bereits hinter zwei pausbäckigen Knuddelchen her, die grässliche rosa Tornister von offensichtlich erheblichem Gewicht auf den schmalen Schultern schleppten.
»Lili, Jenny«, rief Edi. »Ich bin hier!«
»Komm, Edi«, sagte Jo leise. »Sie können dich nicht hören.«
»Aber ich muss sie fragen, welche Schulaufgaben wir aufhaben«, jammerte Edi.
»Du hast ja wohl einen Furz gefrühstückt«, brüllte Niclas. »Ist doch geil, dass wir keine Schulaufgaben machen müssen. Und unterrichtsfrei haben wir auch!«
»Eure Lehrerin ist nicht da, also wird es auch keine Schulaufgaben geben, oder?«, sagte ich. »Nun komm schon, du wirst hier gebraucht.«
Edi löste sich nur widerstrebend von ihren Freundinnen, die mit gesenkten Köpfen durch das Mistwetter pudelten. Wir folgten Gregor durch die jetzt stillen Flure ins Sekretariat, warteten mit ihm, bis die Sekretärin ihn angemeldet hatte, und traten in Rektor Biebersteins Büro. Die Vorstellung lief ab wie üblich, Name, Name, Handschlag, Setzen, Kaffee? Ja, bitte. Natürlich, sofort.
»Sie sind von der Kriminalpolizei?«, fragte Bieberstein mit zittriger Stimme, sobald Gregor den ersten Schluck Kaffee genommen hatte. »Haben Sie Neuigkeiten von Frau Akiroglu?«
»Nein, leider nicht.«
Bieberstein sank in sich zusammen. Damit war er nur noch geschätzte zwei Meter sieben groß. Okay, das ist ein wenig übertrieben, aber er war wirklich riesig. Bieberstein hatte sich falten müssen wie eine chinesische Motorhaube beim Crashtest, um auf dem Schreibtischstuhl Platz zu nehmen. Gar nicht auszudenken, wie es aussähe, wenn er mal auf einem Kinderstuhl sitzen müsste. Oder waren Rektoren bei Elternabenden in der Grundschule nicht dabei?
»Nö«, antwortete Jo. Der Bengel bekam aber auch alles mit, was ich dachte. Ich musste in Zukunft vorsichtiger sein.
»Was hast du denn zu verbergen?« Das war natürlich Edi, die klugscheißernde Zahnspange.
Sie bleckte die Zähne und starrte mich mit blinkenden Edelstahlwürgeseilen an. Ich winkte ab.
»Warum interessiert sich denn die Kriminalpolizei …«, fragte Bieberstein leise.
»Gleich«, sagte Gregor. »Gehen wir den Ablauf des gestrigen Abends, bevor Frau Akiroglu verschwand, bitte der Reihe nach durch.«
Bieberstein sah aus, als wolle er noch etwas sagen, nickte aber nur und blickte Gregor mit großen Augen an. »Ich habe hier auf die Rückkehr des Busses gewartet. Das mache ich immer so, wenn eine Klassenfahrt ansteht, damit alles seine Ordnung hat.«
Gregor nickte.
»Erst kam die Nachricht, dass der Bus eine Panne hat, dann rief Frau Akiroglu noch einmal an und sagte, der Ersatzbus sei jetzt da. Sie bot an, die vier Kinder von hier aus in ihrem Auto mitzunehmen und nach Hause zu bringen.«
»Warum wollte sie das tun?«, fragte Gregor.
Bieberstein zuckte die Schultern. »Damit der Vater, der die vier abholen wollte, nicht mehr so lange warten musste.«
»Wessen Vater war das?«, fragten Gregor und ich gleichzeitig.
»Herr Dogan«, sagte Bieberstein, während Bülent »meiner« flüsterte.
»Warum …«
»Herr Dogan fährt Taxi. Er hat den anderen drei Eltern schon öfter angeboten, die Kinder zu fahren. Er hat auch immer ausreichend Kindersitze im Auto, genau wie Frau Akiroglu.«
Gregor runzelte die Stirn. »Und diese Eltern lassen einen fremden Mann …«
Herr Bieberstein nickte. »Ich weiß, was Sie meinen. Aber Frau Akiroglu hat den Eltern der zwei Jungs und des Mädchens ihr Wort gegeben, dass Herr Dogan vertrauenswürdig ist. Die beiden sind irgendwie miteinander verwandt, wenn mich nicht alles täuscht.«
Jo, Edi und Niclas starrten Bülent an, der mit leicht angespanntem Gesichtsausdruck die Szene an Biebersteins Schreibtisch beobachtete.
»Wusstest du …«, begann Edi, und Jo schüttelte den Kopf.
»Alles eine Brut«, murmelte Niclas. Ich starrte ihn an. Hatte er das wirklich gesagt? Jo und Edi schienen nichts gehört zu haben.
»Gut, weiter.«
»Herr Dogan sprach kurz am Telefon mit Frau Akiroglu, informierte mich dann über die Absprache und fuhr weg. Später kam endlich der Bus, die Eltern nahmen ihre Kinder mit, Frau Akiroglu machte sich mit den vieren auf den Weg und dann meldete sie sich nicht mehr.«
»Hätte sie das tun sollen?«, fragte Gregor.
»Ich hatte mit Frau Akiroglu vereinbart, dass sie mir telefonisch Bescheid sagt, sobald alle Kinder sicher zu Hause sind, denn solange sie in der Obhut der Lehrerin sind, ist die Schule für sie verantwortlich.«
Wieder legte er seinen Kopf in die Hände. »Ich habe versucht, sie auf ihrem Handy zu erreichen, aber da kam nur die Ansage. Irgendwann nach acht rief ihre Mutter bei mir an. Ich habe ihr geraten, die Polizei zu informieren. Das hat sie dann ja wohl getan.«
Bieberstein legte den Kopf wieder in die riesigen Hände. Seine Handflächen waren sicher so groß wie Topfdeckel. Warum war der Mann kein Basketballer geworden? Es musste doch total lächerlich aussehen, wenn er von lauter Winzlingen umgeben war, die ihm gerade mal bis zum Knie reichten?
»Er ist nett«, sagte Edi. »Und dafür, wie man aussieht, kann man nichts.«
Klar, dass eine, die aussah wie sie, so einen Spruch von der Rampe schießen konnte.
»Wie geht es den Kindern?«, fragte Bieberstein.
Die vier Betroffenen spitzten die Ohren.
»Sie wurden in ein künstliches Koma versetzt«, sagte Gregor brummig. Ich war nicht überrascht, dass er sich zwischenzeitlich nach dem Zustand der Zeugen erkundigt hatte – und auch nicht, dass ihre mangelnde Vernehmungsfähigkeit ihn ankotzte. Rein fachlich, natürlich. Als Mensch hatte er sicher Mitleid mit den Lütten und deren Eltern, aber als Bulle brauchte er Antworten.
Bieberstein bekreuzigte sich.
»Kennen Sie diese Frau?«, fragte Gregor, während er das Foto der Leiche auf Biebersteins Tisch legte. Bieberstein betrachtete das Foto aufmerksam, schüttelte dann aber den Kopf.
»Ist sie der Grund, warum die Kripo …«, murmelte er.
Gregor nickte kurz, steckte das Foto wieder ein, ließ seine Visitenkarte da mit dem üblichen Spruch, ihn bei jeder noch so kleinen Information oder Idee anzurufen, und ging hinaus, während Bieberstein am Schreibtisch sitzen blieb und ins Leere starrte. Als er sich auch eine Minute später nicht gerührt hatte, folgten wir Gregor, den wir mit dem Quatschkästchen am Ohr antrafen.
»Bist du mit der Obduktion fertig?«, fragte er. Aha, er telefonierte mit Martin.
»Gut, dann bis gleich.«
Prima, endlich bestand die Aussicht auf ein paar erhellende Fakten. Denn während Martin privat der absolut oberpeinliche Riesenproblemiker ist, beweist er als Rechtsmediziner regelmäßig, wie genial selbst Frotteeschlafanzugträger sein können. Wenn es einen Mord zu entdecken gab, entdeckte er ihn. Gut, im Fall von einem Dutzend Messerstichen war das nicht so schwierig, aber ganz so leicht machten es ihm ja nicht alle Mörder.
Wir düsten also in Richtung Rechtsmedizinisches Institut. Auf halbem Weg stoppte ich plötzlich, weil mir klar wurde, was wir hier gerade vorhatten. Die Kurzen flogen an mir vorbei, bevor auch sie bremsten und sich unsicher umdrehten.
»Ihr verkrümelt euch in die Klinik zu euren Eltern«, sagte ich streng. »Wo ich hingehe, kann ich euch nicht mitnehmen.«
»Wohin gehst du denn?« Die Frage kam natürlich von Edi.
»Ins Rechtsmedizinische Institut. Dort werden Leichen aufgeschlitzt, die Innereien rausgeholt …«
»Igitt«, sagte Niclas.
»Cool«, sagte Bülent. »Mein Onkel ist Metzger, dem habe ich schon mal beim Schlachten geholfen.«
Natürlich marschierte niemand ab. Ich musste sie persönlich den ganzen Weg zur Uniklinik bringen und hoffen, dass sie mir von dort nicht wieder folgen würden.
Ich kam gleichzeitig mit Gregor an, überhörte das übliche Begrüßungsblabla und konzentrierte mich wieder auf das Gespräch, als es anfing, interessant zu werden.
»Sie ist vermutlich zwischen sechzehn und Anfang zwanzig, aber das hatte ich, glaube ich, schon gesagt, außerdem gesund bis auf einen grippalen Infekt.«
»Schwanger?«
»Nein.«
»Das Wort auf dem Zettel bedeutet Schlampe«, erinnerte Gregor ihn. »Kannst du mir wenigstens sagen, ob sie noch Jungfrau war?«
»Es gibt keinen sicheren medizinischen Beweis für oder gegen eine Jungfräulichkeit, das solltest du doch inzwischen wissen, Gregor.«
»Anzeichen äußerer Gewalt?«
»Keine – wenn man von den Stichverletzungen und den Abwehrverletzungen an den Händen absieht.« Diese Bemerkung kam so ziemlich dem am nächsten, was Martin unter schwarzem Humor verstand. Gregor grinste nicht.
»Tätowierungen, besondere Merkmale, irgendetwas, das bei der Identifizierung hilft?«, fragte er müde.
Martin schüttelte den Kopf.
»Wann ist sie gestorben?«
»Keine Ahnung.«
Gregor stöhnte. »Martin!«
Martin zuckte die Schultern. »Sie wurde nicht am Fundort getötet. Wann sie dort abgelegt wurde, ist unbekannt. Wir kennen nicht die Temperaturbedingungen, unter denen sie dort lag. Befand sie sich in einem beheizten Raum bei zwanzig Grad oder draußen bei Bodenfrost? Die Rötung der Bronchialschleimhaut und eine Eitereinlagerung in die Bronchien weist darauf hin, dass sie eine Bronchitis hatte. Wenn diese Infektion mit Fieber einherging, könnten die Leichenerscheinungen schneller als üblich eingetreten sein, denn die höhere Körpertemperatur und die höhere Anzahl von Bakterien bewirken einen Schnellstart, wenn ich das mal so nennen soll. Lag sie aber draußen bei null Grad, kühlte der Körper schnell aus und die Bakterientätigkeit verzögerte sich entsprechend. Du siehst also, solange ich nichts über die Umstände weiß, denen sie nach dem Tode ausgesetzt war, kann ich dir nichts Genaues sagen.«
Gregor schüttelte den Kopf. »Okay, weiter.«
»Der erste Stich wurde etwa so ausgeführt.« Martin machte eine Bewegung, als wolle er Gregor in den Magen boxen. »Dieser Stich traf die Leber und die Pfortader. Damit war sie tödlich verletzt, aber noch lange nicht tot.«
»Das übliche Problem?«, fragte Gregor.
Martin nickte.
Für alle, die noch nie jemanden abgestochen haben, hier ein Schnellkurs über Vor- und Nachteile von Stichverletzungen: Der große Vorteil ist, dass es nicht knallt – so wird lästige Aufmerksamkeit von Nachbarn, Passanten oder Bullen vermieden. Nachteil: Die Manstop-Wirkung ist ziemlich mau. Das ist der Fachausdruck für die Reaktionsfähigkeit des Opfers. Wird es sofort in seiner Handlungsfähigkeit gestoppt (wie zum Beispiel durch die Explosion einer Granate in der Hosentasche), spricht man von einer hohen Manstop-Wirkung. Kämpft das Opfer aber fröhlich weiter, kann von Stopp eben keine Rede sein. Und hier vertun sich die meisten Täter. Der Stichling glaubt, dass das Opfer sofort tot zusammenbricht. Das ist aber meist nicht der Fall. Das angestochene Opfer steht noch doof in der Gegend herum und hat oft gar nicht gepeilt, dass das, was sich im Bauch so unangenehm anfühlt, mehr als ein fetter Fausthieb war. Der Angreifer wiederum ist perplex, braucht ein paar Sekunden, um zu kapieren, dass ein einziger Stich den Gegner nicht kampfunfähig gemacht hat, und denkt sich: Hoppla, da muss ich nachlegen. Dann erst sticht er wild drauflos.
»Ich bin ziemlich sicher, dass die folgenden Stiche relativ schnell hintereinander kamen«, fuhr Martin fort.
Na bitte, was sag ich?
»Das Opfer wurde nach dem Eintritt des Todes seitlich liegend transportiert, die rechte Seite weist die entsprechenden Muster der Leichenflecke und einige Abschürfungen auf.«
»In einem Kofferraum?«
»Kann sein. Die Kriminaltechniker können dir das bestimmt genauer sagen.«
Martin versprach Gregor, den schriftlichen Bericht über die medizinischen Befunde bis zum nächsten Tag fertig zu machen, und wünschte ihm viel Erfolg, als er ging.
Mich interessierte die tote Türkin eigentlich nur in dem Maße, in dem sie mit unserer Lehrerin zu tun hatte. Denn wenn es etwas gibt, das die Polizei erstaunlich gut aufklärt, dann sind es Morde. Von den jährlich ungefähr zweitausenddreihundert Tötungsdelikten, wie Mord und Totschlag im Amtsdeutsch heißen, werden über fünfundneunzig Prozent aufgeklärt. Gregor und Jenny waren also sicher auf einem prima Weg, den Mörder von Martins neuestem Zehenetikettenträgerchen zu finden.
Aber was war mit unserer Lehrerin? Kümmerte sich überhaupt jemand um sie? Vielleicht ein genervter Verkehrspolizist, der eine Frau suchte, die Fahrerflucht begangen hatte? Und wenn sie nun wirklich – ich konnte es mir nicht vorstellen, aber mal rein theoretisch – entführt worden war, wie Edi behauptete? Wer suchte sie unter dieser Voraussetzung? Wer bemühte sich darum, ihr Leben zu retten? Niemand. Also blieb mal wieder nur einer übrig, der die Sache in die Hand nehmen konnte: Ich, Pascha, der coolste Detektiv im Zwischenreich. Und jetzt hatte ich sogar noch vier Assistenten. Okay, die Bummelbrut war eigentlich keine Hilfe, sondern eher ein Klotz am Bein, genauer gesagt vier juckende Flöhe in den Sackhaaren, aber gerade in meiner Situation kann man nicht wählerisch sein, sondern muss nehmen, was man kriegen kann. Also wieder ab in die Uniklinik.
Ich traf alle vier in trauter Gemeinsamkeit in Zimmer eins an. Edis Mutter hockte im Schneidersitz am Fußende des Krankenbetts und las ihrer Tochter vor. Offenbar war die Geschichte spannend (es klang wie ein Krimi, in dem eine neunmalkluge Göre mit Hund ermittelte), denn die Zwerge waberten aufgeregt um sie herum.
»Hey, Leute, ich brauche eure …«
»Psssst!«, wurde ich niedergezischt.
»Es geht um die …«
»Pssssst!«
Ja, war das denn zu fassen? Ich starrte mit offenem Mund auf meine Assistenten, die mir den Gehorsam verweigerten. Dabei war ich derjenige, der sie gerettet hatte. Ohne mich wären die Blagen doch schon längst in alle Winde zerstreut …
»Seid ihr nicht viel zu alt, um euch so einen Scheiß vorlesen zu lassen?«, fragte ich mit einem, wie ich gern zugebe, gehässigen Unterton.
»Mensch, Pascha, nun sei doch nicht gleich beleidigt«, raunte Jo mir zu. »Ist doch total nett, dass Edis Ma hier bei uns ist und das nervtötende Piepen von den Geräten übertönt. Die Geschichte dauert auch bestimmt nicht mehr lang und dann …«
Der Kerl war ein echter Ghandi oder Mandela oder Jesus oder wie diese ganzen Typen heißen, die immer von Love und Peace und Strawberry Fields schwafelten, aber so leicht ließ ich mich nicht einlullen.
»Dann ist es zu spät«, ranzte ich ihn an, drehte ab und schaltete mich weg. Auf diesen Kindergarten war ich doch gar nicht angewiesen. Ich, Pascha, hatte doch schon ganz andere Fälle gelöst, und zwar allein. Na ja, manchmal mit ein bisschen Hilfe, aber bestimmt brauchte ich keine komatösen Kindsköpfe, um hinter das Geheimnis der verschwundenen Lehrerin zu kommen. Ein bisschen Observation und schwups, würde ich sie aus dem Teich zaubern. So lange konnten sich die Bambinis ja von der Mami mit Gutenachtgeschichten einschläfern lassen. Sowieso besser, wenn ich die Typen mal eine Weile los war.
Ich verließ die Klinik und hing einen Moment unschlüssig herum. Wohin nun? Warum nicht einfach mal einen Blick in die Wohnung der Lehrerin werfen? Das war eine gute Idee, und so zischte ich zu dem Haus, in dem Gregor und Jenny heute Morgen den Batteriesäuretee geschlürft hatten.
Die Wohnung war leicht zu finden, denn die Klingeln waren nicht nur an der Eingangstür, sondern auch im Treppenhaus ordentlich mit Namensschildchen versehen. S. Akiroglu war die Wohnung oben rechts unter dem Dach.
Der Einrichtungsstil war nicht ganz so gruselig wie bei Mama und Papa, aber immer noch ziemlich plüschig. Die Tapete war hellblau mit Flitterglitter, die Teppiche dick und flauschig und mittelblau, das Sofa im Wohnzimmer dunkelblau mit ungefähr zwanzigtausend Kissen in Weiß und Silber. Vor der Couch ein Glastisch, dessen Glas so sauber war, dass man meinen konnte, die Kerze darauf schwebe in der Luft. Eine ganze Wand voller Bücher und Ordner und ein ordentlich aufgeräumter Schreibtisch, auf dem ein Telefon und ein Laptop standen.
Im ganzen Wohnzimmer keine Glotze. Gut, die stand vermutlich im Schlafzimmer, also düste ich nach nebenan. Ein weißes Bett mit Sternchen-Bettwäsche, zwei schmale Kleiderschränke aus weiß lasiertem Holz, eine Kommode mit einem Spiegel drauf. Keine Glotze. Alles wieder plüschig und flauschig und himmlisch weiß und blau.
Ob ich mich überhaupt ins Badezimmer trauen sollte? Aber natürlich war ich ein unerschrockener Held, der sich vor nichts fürchtete, also schaltete ich mich rüber. Ich erwartete einen plüschigen Klobrillenpelz, aber da hatte ich mich getäuscht. Die Fliesen waren weiß, Dusche, Klo und Waschbecken auch, nur die Kunstpelzvorleger waren – richtig geraten – blau. Überall standen Flaschen und Dosen und Bürsten und Schälchen mit Haargummis, Haarklammern, Gesichtsfarben und Wattebällchen herum, aber alles war sauber und ordentlich. Keine Haarklammer bei den Wattebällchen, kein Wattebällchen in der Dusche, das Klopapier sauber aufgewickelt.
Die Küche war wie das Bad. Vollgestellt, aber supersauber und ordentlich. Ich hätte in den Kühlschrank fliegen können, um dort nachzusehen, ob die Tussi auf Joghurt oder Schweinemett stand, aber im Kühlschrank ist das Licht aus, wenn er zu ist, da sehe ich genauso wenig wie Sie.
Es gibt Selbstmörder, die ihre Wohnung nur ein einziges Mal im Leben aufräumen, nämlich bevor sie sich umbringen. Das tun sie nicht, weil sie lieber in einem aufgeräumten Zimmer von der Decke hängen, sondern damit die Nachwelt nicht schlecht von ihnen denkt.
Ob die Ordnung in dieser Bude denselben Grund hatte?
Ich hatte noch keine Antwort gefunden, als ich hinter der Wand ein Geräusch hörte. Kleine Orientierung: Hinter der Küchenwand musste die andere Dachgeschosswohnung sein. Ich zischte durch die Wand und landete in einer spiegelverkehrt baugleichen Küche, die allerdings anders eingerichtet war. Ganz anders. Als wäre sie aus einer anderen Galaxie anders.
In dieser Küche gab es keine waagerechte Fläche, auf der nicht etwas lag oder stand und sei es nur eine Scheibe Toastbrot, deren Ränder sich nach oben bogen. Bierflaschen (liegend oder stehend), aufgerissene Packungen Erdnüsse, Sonnenblumenkerne und Pistazien, dreckiges Besteck, halb leere Joghurtbecher, Pizzaschachteln, Alufolie, in der, dem Geruch nach, Döner eingepackt gewesen war. Chipskrümel knirschten unter jedem Schritt, den der Mann machte, während er vom Kühlschrank (grüne, pelzige Käsescheiben lagen neben einer verknautschten Packung Kaffeemehl) zum Tisch ging, eine Bierflasche an der Tischkante öffnete (der Tisch hatte einen Rand wie eine Briefmarke, was mich vermuten ließ, dass er regelmäßig als Flaschenöffner diente) und dann weiter zum Stuhl schlurfte, von dem er einen Haufen feuchter, stinkender Klamotten fegte, bevor er sich rittlings darauf fallen ließ.
Ich fühlte mich gleich richtig wohl. So hatte es bei mir zu Hause auch immer ausgesehen.
Der schwarzhaarige, schwarzäugige, leicht verfettete, unrasierte Kerl mit der Flasche im Gesicht telefonierte, wenn er nicht gerade an der Pulle saugte. Leider sprach er türkisch. Und der einzige Übersetzer, der mir hätte helfen können, lungerte in einer Vorlesestunde von Edeltrötchens Mama herum.
Da mich das türkische Gebrabbel nicht weiterbrachte, checkte ich schnell die anderen Zimmer. Wohnzimmer stilvoll mit Fußbodenmatratze, saubere Kleidung auf Sperrmüllsofa und dreckige Klamotten auf dem Boden, mehrere Kartons mit unsortiertem Plunder, ein paar fleckige Tittenheftchen und weitere nicht ganz restentleerte Fresstüten. Die zwei Dinge, die mein Interesse weckten, befanden sich am anderen Ende des Zimmers: ein Tresor der Marke Zwanzig-Stunden-schweißen-und-immer-noch-zu und ein Flatscreen-Fernseher, dessen Diagonale nah an die Körpergröße des Besitzers heranreichen dürfte.
Der Kümmelkloß war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit des Lehrerinnenfräuleins Bruder. Aber was, zum heiligen Turbolader, war mit diesem Typen los? Er wohnte bei Mama im Haus, ließ sich aber nicht von ihr die Bude putzen. Er lebte im Müll, besaß aber einen Tresor, der selbst Donald Duck Ehre gemacht hätte. Und er fraß nur Lebensmittel, die in Tüten, nicht in der Erde wuchsen, knabberte diese aber vor dem geilsten Home-Entertainment-Center, das ich je gesehen hatte – und da sind die Showrooms der einschlägigen Markenhersteller schon mit eingerechnet.
Der Kerl war ein einziges Rätsel. Und hörte nicht auf, in das Telefon zu sabbeln. Vielleicht bestellte er ja nur Pizza. Vielleicht heulte er sich bei Mama über die Hinterhältigkeit seiner neuen Freundin aus. Vielleicht verhandelte er gerade mit einem Scheich über den angemessenen Preis für seine zuckersüße Schwester.
Wer wusste das schon? Ich jedenfalls nicht. Und das war eindeutig Kacke.
Ich verließ die Wohnung genervt, ohne mir noch das Badezimmer anzusehen, denn ich bin zwar nie ein Putzteufel gewesen, aber fremder Leute Fußnägel im Waschbecken oder Sackhaare in der Dusche finde selbst ich eklig. Allerdings hatte ich jetzt ein anderes Problem: Ich hatte nicht den Schimmer einer Ahnung, wie meine Ermittlungen weitergehen sollten.