Freitag, 14 Uhr 05
Fast hätten wir das Freitagsgebet verpasst, aber Bülent erinnerte mich daran, dass wir uns die Pöbelclique ansehen wollten, die seine Schwester eine Schlampe genannt hatte, und so zischten wir los.
Die Moschee war ein unscheinbarer Bau im Hinterhof eines Gewerbegebietes. Keine goldenen Kuppeln, keine Minarette, nichts Auffälliges, außer der Ansammlung von dunkelhaarigen Männern, die aus dem flachen Gebäude strömten. Natürlich bildete sich in der Tür ein Stau, weil erst noch alle ihre Schuhe wieder anziehen mussten.
»Da drüben, das sind sie«, rief Bülent.
Er zeigte auf eine Gang von fünf Typen, die alle ganz in Schwarz gekleidet waren. Sie trugen Jeanshosen, Lederjacken, hatten bleistiftdünne Kinnbärtchen und dicke Uhren an den Handgelenken. Ihre Haare klebten ihnen am Kopf wie Entenfedern nach einem Tankerunglück, und sie rauchten grässlich stinkende Zigaretten, die sie mit silbernen Zippos anzündeten.
Der, den ich für den Anführer hielt, sabbelte irgendwas Türkisches.
»Was sagt er?«, fragte ich Bülent.
»Er fragt, ob jemand Mehmet gesehen hat.«
Allgemeines Kopfschütteln, begleitet von diversen Ös und Üs und Zischlauten der Ölvögel.
»Er sagt, dass Yasemin den Tod verdient hat«, übersetzte Bülent. »Und Mehmet ist ein Held.«
»Das denkst du dir aus«, sagte ich.
Bülent schüttelte den Kopf. Er zitterte. »Und er will meinem Bruder sagen, er soll sich ein Beispiel an Mehmet nehmen.«
Niclas kicherte irre. »Die killen sich gegenseitig. Geil.«
»Der hat ja nicht alle Zündkerzen am Start«, versuchte ich Bülent zu beruhigen. »Wer ist das überhaupt?«
»Şükrü Bozkurt.«
Bei dem Namen klingelte was. Logo, das war Mehmets Freund, den Jenny nach Mehmets Verbleib gefragt hatte. Ein Fanatiker. Nette Freunde hatte Yasemins Bruder.
»Sein Vater hat eine Dönerfabrik«, murmelte Bülent. »Er ist ein wichtiger Mann. Viele Leute arbeiten für ihn.« Er war den Tränen nahe. »Şükrü studiert, er wird die Firma übernehmen.«
»Wir müssen herausfinden, ob er uns zu Mehmet führen kann«, sagte ich. »Wir bleiben an ihm dran.«
Die letzten Worte musste ich förmlich schreien, denn weiter vorn war ein Tumult entstanden. Dort stand der Vater von Yasemin mit einigen Männern zusammen. Bei ihnen stand der Cordanzug. Er war voll wie ein Formel-1-Tank vor der Regeländerung und schwankte bedenklich. Ich war hin und her gerissen zwischen weiteren Enthüllungen über Heldentaten zur Familienehre und einem besoffenen Lehrer und entschied mich für die Action.
Der Cordanzug palaverte schwankend auf Yasemins Vater ein. »… Leben versaut und jetzt ist sie tot«, bekamen wir gerade noch mit, als wir uns näherten.
»Bitte gehen Sie«, sagte einer der Männer neben Yasemins Vater. »Herr Özcan trauert um seine Tochter.«
Tristan spuckte Herrn Özcan vor die Füße. »Puah«, lallte er, und ich fürchtete, dass er ihm gleich einen Schwall Korn auf die Schuhe kotzte. »Dass ich nicht lache! Sie haben sie eingesperrt. Auf eine Eliteschule hätte sie gehört.«
Der Mann nahm Tristan am Arm, wurde aber von dem wild um sich schlagenden Pädagogen abgeschüttelt.
»Sie prä-, prä-, prähistorischer Hinterwäldler. Eine Frau wie Yasemin …«
Zwei Männer nahmen Tristan nun gleichzeitig mit festem Griff zwischen sich und führten ihn vom Moscheegelände. Bülent, Niclas und ich starrten ihnen hinterher, wollten aber lieber zu unseren Ölmachos zurück. Trotz intensiver Suche fanden wir sie aber nicht mehr. Megadämlich. Wir hatten die Spur zu Mehmet, dem Rächer der Familienehre, verloren.
Ich entließ die Jungs mit dem Auftrag, sofort und auf direktem Weg in ihr Krankenzimmer zu fliegen und bis auf weitere Anweisung dort zu bleiben. Sie gehorchten widerspruchslos. Vielleicht war es für Bonsais in dem Alter doch ein bisschen heftig, Gespräche über Ehrenmorde an der eigenen Schwester zu belauschen, aber ich konnte nichts dafür. Ich hatte das Thema nicht ausgesucht.
Endlich allein, beeilte ich mich, zu Martin zu kommen.
»Du musst Doktor Seiler von der Straße retten und ihm ein paar Fragen stellen«, forderte ich.
»Wer ist Doktor Seiler?«, fragte er unkonzentriert.
»Der Lehrer von Yasemin, der scharf auf sie war.«
»Ein Lehrer war scharf auf sie?«, fragte Martin schockiert.
In welcher Galaxie lebte der Mann?
»Amelie meint, er hätte sie gekillt, aber danach sah es gerade gar nicht aus. Er hat vor einer ganzen Horde von Zeugen Yasemins Vater angepöbelt und sitzt jetzt besoffen auf dem Bürgersteig und heult.«
Martin ließ immer noch nicht von seinem Bericht ab.
»Martin, der Mann ist erstens in Lebensgefahr und zweitens sehr verdächtig.«
»Dann wird Gregor sich ja um ihn kümmern.«
Fing das jetzt wieder an.
»Ruf Gregor an und frag ihn.«
Endlich hatte ich ihn genug gestört, er hatte den Faden seines Berichts verloren, seufzte und griff nach dem Telefon. Na bitte, geht doch. Hätten wir auch gleich haben können.
»Ich habe gehört, dass ein Verdächtiger in deinem Fall den Vater des Mordopfers angepöbelt hat und jetzt auf dem Bürgersteig vor der Moschee sitzt und heult.«
Gregor ließ sich die Details geben, dankte und legte auf. Ich vermute, dass er lieber nicht nach der Herkunft dieser Information fragte, weil er Angst vor der Antwort hatte. Mir egal – Hauptsache, er ging der Sache nach.
Was er nicht tat. Aber er schickte Jenny. Ich traf gleichzeitig mit ihr vor der Moschee ein und fand Doktor Seiler nach wie vor auf dem Bürgersteig, wo sie ihn zurückgelassen hatten. Ich erkannte ihn am Cordanzug, der allerdings einige hässliche Flecken aus Kotze, Blut und Straßendreck aufwies. Das Gesicht war total verbeult, neben seiner Wange lagen fünf Zähne auf dem Bürgersteig, und der rechte Ärmel des Cordjacketts war ausgerissen. Er war bewusstlos.
Jenny holte den Krankenwagen und Martin, und so landete Tristan nun doch bei ihm. Die zweite schwere Körperverletzung, die Martin in unseren verzwickten Fällen dokumentierte, und zwar mit einem Patienten, der noch weniger mitteilsam war als der erste. Was man diesem hier angesichts seiner Bewusstlosigkeit allerdings kaum vorwerfen konnte. Ich war gespannt auf seine Geschichte. Sofern er sich überhaupt an etwas erinnern konnte.
Martin hatte die Verletzungen fotografiert, den Abdruck eines Ringes vom Wangenknochen genommen, die Zähne gezählt und katalogisiert. Einer fehlte, aber niemand machte sich die Mühe, zur Moschee zurückzugondeln und die Nummer dreiundzwanzig des Zahnschemas im Schneematsch suchen zu gehen. Er packte seine Sachen zusammen, als Gregor eintraf.
»Spricht er?«
Martin schüttelte den Kopf.
»Nie wieder?«
»Doch. Vermutlich lispelt er wegen der riesigen Zahnlücke, aber die Verletzungen sind nach Aussage des Notarztes nicht gefährlich.«
»Aber es war schwere Körperverletzung?«
»Eindeutig.«
»Schön.«
Es klingt für den Laien vielleicht komisch, wenn sich ein Kriminaler über die schwere Körperverletzung freut, wo dem Opfer die harmlosere Variante vermutlich lieber gewesen wäre, aber bei der leichten Körperverletzung muss das Opfer Anzeige erstatten, bevor die Staatsmacht einschreiten darf. Bei schwerer Körperverletzung hingegen darf die Bullerei von sich aus aktiv werden. Angesichts der Undurchsichtigkeit des Falles war Gregor sicher glücklich, einen weiteren Ansatzpunkt für seine Ermittlungen zu haben.
»Hoffentlich ist er bald so weit, denn der Bruder deiner verschwundenen Lehrerin, für den ich eigentlich hergekommen bin, war eine glatte Niete.«
»Er hat mir aber versprochen …«, sagte Martin.
Gregor stieß ein meckerndes Lachen aus. »Tja, dein Patient ist ein Dealer und kein Ehrenmann.«
»Woher …«
»Wenn der Bruder einer Frau, die in einen Mord verwickelt ist, mit einer Schusswunde im Krankenhaus landet, ist wohl eine Überprüfung in unserer Datenbank angebracht. Er hat gesessen – und hatte offenbar keine große Lust, die Bekanntschaft mit der Polizei zu erneuern. Er hat sich verpisst.«
»Das ist nicht schön«, murmelte Martin.
»Das ist ganz übel«, brüllte ich dazwischen. »Rückt ihm zu Hause auf die Pelle. Weit kann er doch mit dem angefressenen Oberschenkel nicht sein.«
»Hm«, brummte Martin, »du kannst ihn doch sicher zu Hause …«
»Ich habe Jenny auf ihn angesetzt. Vielleicht ist er einer netten jungen Frau gegenüber etwas aufgeschlossener.«
Mir fiel die Autonummer ein, die ich mir von dem Schützen gemerkt hatte, also forderte ich Martin auf, sie Gregor zu geben, damit er wenigstens von dieser Seite aus ermitteln konnte. Martin druckste herum wie immer, wenn er eine Information, die er eigentlich nicht haben kann, weitergeben soll.
»Sag ihm, der Dealer hat die Autonummer auf den Unterarm gekritzelt«, rief ich.
Martin wand sich weiter. Das Problem ist, dass er nicht lügen kann.
»Nicht lügen will, im Gegensatz zu dir«, ranzte er mich gedanklich an.
»Wegen deiner Herumzickerei wird die Lehrerin am Ende noch draufgehen. Dann hast du zwar nicht gelogen, aber einen Mord auf dem Gewissen«, gab ich zurück.
»Du, Gregor …«, nuschelte Martin, als habe er einen Riesenlolli im Mund.
»Ja?« Gregor drehte sich an der Tür noch einmal um.
»Dieser Dealer, der hatte eine Autonummer auf den Unterarm gekritzelt.«
Gregor kniff die Augen zusammen.
»Vielleicht hat das was mit der Schießerei zu tun.«
»Und du hast dir gleich die Nummer gemerkt, als du seine Verletzungen untersucht hast, aber in deinen Bericht hast du sie nicht aufgenommen«, stellte Gregor in einem Ton fest, als habe Martin ihm die Sichtung eines ausgewachsenen Feuerdrachens im Besucherklo des Krankenhauses gebeichtet.
»Na ja …«
»Also, wie ist die Nummer?«
Martin gab sie weiter, ich seufzte erleichtert auf. Endlich wurde mein Beitrag in diesem Fall ernst genommen.
»Ich sehe mal, was sich machen lässt«, sagte Gregor. Er hatte die Nummer nicht notiert, aber die Buchstaben JB und die Ziffern Null-Null-Eins würde er sich ja wohl noch merken können.
Ich sah meine Chance bei Sibels Bruder und düste zu seiner Wohnung. Jenny stand vor der Haustür und hielt den Finger auf die Klingel. Akif stand in seiner Wohnung mit schmerzverzerrtem Gesicht und fummelte im Sicherungskasten herum. Endlich hörte das Schrillen der Haustürglocke auf. Akif seufzte auf, humpelte zurück in die Küche, wo er sich einen erstklassigen Kaffee mit Filterpapier zubereitet hatte, und verklebte das Koffein mit einem halben Paket Zucker. Er füllte die Jauche in einen gesprungenen und mit schwarzen Rändern verzierten Kaffeebecher und humpelte damit zurück ins Wohnzimmer. Der Blick auf den Flatscreen-Fernseher überraschte mich. Hauptdarstellerin des handlungsarmen Filmchens war Jenny, deren Finger wieder die Klingel drückte. Diesmal blieb die schrillende Lärmbelästigung in Akifs Bude allerdings aus.
Der Kerl hatte eine Kamera an der Eingangstür. Das wurde ja immer besser. Ich checkte noch mal schnell den Blickwinkel und düste runter. Jenny verließ gerade frustriert die Stufen vor der Tür. Tatsächlich. Oben rechts in der Verkleidung des Vordachs war eine winzige Kamera. Nicht größer als eine Fliege, und genau so sah das Ding auch aus. Ich würde sagen: Nix Baumarkt, nix Aldi. Hier war echtes Profimaterial verbaut worden. Ich flog zurück in die Gammelbude unterm Dach und erlebte die nächste Überraschung.
Akif hatte inzwischen das Programm gewechselt. Jetzt war der Bildschirm geteilt und zeigte sechs verschiedene Kamerabilder aus sechs Perspektiven. Die Hauptdarsteller waren: die Eingangstür, die Straße vor dem Haus nach rechts und links und die Rückseite des Hauses aus drei Winkeln.
Entweder war Akif ein TV-Junkie oder paranoid oder eine ganz große Nummer in der Drogenszene. Dann war diese abgeranzte Bude ein super Versteck, denn den Drogenpaten von Köln hatte ich mir eher in einer irren Luxusvilla als im westdeutschen Zwilling eines ostdeutschen Plattenbaus vorgestellt. Geile Verkleidung.
Akif beobachtete, wie Jenny in das Auto stieg und losfuhr. Er wählte eine Nummer, brabbelte etwas auf Türkisch hinein und legte auf. Dann erhob er sich mit großer Anstrengung, holte einen Karton aus dem Kühlschrank und stellte ihn auf den Küchentisch. Er öffnete den Deckel.
In dem Karton lag etwas, das aussah wie eine Ecke von einer extra dicken Scheibe Fleischwurst. Es gab eine gerade Schnittkante, die runde Kante bog sich stark nach oben. Die Wurst hatte wohl schon etwas länger in der Fleischertheke gelegen. Erst als ich den Blickwinkel änderte, kapierte ich, dass das keine Fleischwurst war, sondern ein menschliches Ohr. Ein linkes. Ohne den Rest des Menschen daran. Akif betrachtete es sehr intensiv, dann schlich ein fieses Grinsen über sein Gesicht. Er legte den Deckel auf den Karton, packte das Ding in den Kühlschrank und ging pennen. Nur Sekunden nachdem sein Ohr das Kopfkissen berührt hatte, schnarchte er laut und gleichmäßig.
»Sie ist eindeutig an illegalen Drogen gestorben, vermutlich ein Wirkstoff aus der Klasse der ß-Phenylethylamin-Derivate.«
»Häh?«, fragte Gregor.
Katrin lächelte nicht. »Amphetamine.«
Sie hockten zusammen im LAZY und gingen den Obduktionsbericht über Zeynep Kaymaz durch.
»Absichtliche Überdosierung oder ein Unfall?«, fragte Gregor.
»Auf jeden Fall Überdosierung, also kein Zusammenwirken mit anderen Faktoren wie anderen Medikamenten, Herzproblemen oder Ähnlichem. Ob Absicht oder Unfall kann ich dir natürlich nicht sagen.«
»War sie regelmäßige Konsumentin?«
»Auch das kann ich dir noch nicht sagen, aber die Haaranalyse wird uns Auskunft darüber geben.«
»Wann?«
Jetzt seufzte Katrin. »Es ist das alte Lied, wir sind wie immer überlastet. Anfang der Woche, hoffe ich.«
Das Telefon klingelte und Gregor meldete sich mürrisch mit einem einfachen »Ja?«. Dann hörte er kurz zu, grunzte und legte den Hörer wieder auf.
»Die Schule von Yasemin und Zeynep veranstaltet ein ›offenes Gedenken‹ mit seelsorgerischer Begleitung. Ich glaube, da sollten wir mal nach dem Rechten sehen. Zumal die Schüler, die auf Klassenfahrt waren, auch wieder da sind.«
Ich hatte keinen Bock auf offenes Gedenken, was auch immer das war. Vermutlich einfach ein Treffpunkt für die heulenden Schülerinnen und Schüler, die ihren Eltern zu Hause auf den Sack gingen. In der Schule konnten sie zusammen heulen. Grässliche Vorstellung. Stattdessen machte ich mich mal wieder auf den Weg zu meinen Assistenten. Ich musste endlich mehr über die Lehrerin erfahren. Sie war seit Dienstagabend verschwunden, inzwischen war der Freitag fast vorbei. War es nun ein gutes Zeichen, dass ihre Leiche noch nicht aufgetaucht war, oder ein schlechtes? Die Bonsais mussten etwas wissen, was mir weiterhelfen könnte. Vermutlich hatte ich bisher einfach die falschen Fragen gestellt.
Ich traf Edi, Jo und Bülent an Bülents Bett. Seine Mutter sang. Es klang wie ein Kassettenrekorder mit Bandsalat, aber Bülent grinste selig.
»Leute, wir sollten eure Lehrerin finden, bevor sie verhungert oder verdurstet ist.«
»Ja, später«, nuschelte Bülent, während er gleichzeitig versuchte, die Melodie mitzusummen.
»Stimmt!«, rief Edi. »Frau Akiroglu hatte ich ja ganz vergessen. Mein Gott, wie schrecklich!«
»Hast du auch schon eine Idee, wo wir nach ihr suchen sollten?«, fragte Jo.
»Nein«, musste ich zugeben. »Deshalb brauche ich euch ja.«
Inzwischen war es dunkel. Ich sammelte die Kids und Niclas ein, der auf der Kinderstation herumhing und einen Trickfilm im Fernsehzimmer glotzte, und zog mit ihnen zum Unfallort. Es war kalt, es war windig, und der leichte Nieselregen des Tages ging in Schnee über. Da am Freitag die Rushhour früher einsetzt und früher zu Ende ist, herrschte auch jetzt bereits abendliche Ruhe, insgesamt also ungefähr die gleichen Bedingungen wie am Unglücksabend.
»So, jetzt denkt mal ganz intensiv darüber nach, was am Dienstag hier los war, als der Unfall passiert ist.«
Stille.
»Wir sind hier gefahren, und dann war plötzlich das Auto neben und dann vor uns, und dann hat es geknallt.«
»War das Auto schwarz oder blau oder braun oder was?«
»Auf jeden Fall dunkel«, sagte Edi.
»Rot«, sagte Niclas.
»Hey, du hast geschlafen, du kannst das gar nicht wissen«, sagte Edi.
»Blödsinn, ich habe nicht geschlafen. Ich saß hier am Fenster und habe die Farbe genau gesehen«, motzte Niclas zurück.
»Im Dunkeln sehen die Farben doch alle gleich aus«, sagte Jo.
»Rot«, wiederholte Niclas.
»Okay. Wie groß?«
»So groß«, sagte Edi und machte eine Geste, die einen Schulbus oder einen Zwanzigtonner beschreiben konnte. Damit war nichts anzufangen, aber was wollte man von einem Mädchen auch erwarten?
»Konntet ihr auf das Dach sehen?«, fragte ich.
»Nö«, sagte Niclas. »Das Dach war mindestens so hoch wie das Dach von Frau Akiroglus Auto. Und die Reifen waren riesig.«
»Konntest du die Reifen im Fenster sehen?«, fragte ich. Wenn er jetzt Ja sagte, wusste ich, dass er geträumt hatte, denn dann hätte die Karre mindestens ein Bigfoot sein müssen, und der wäre auf jeden Fall aufgefallen.
»Nö«, sagte Niclas. »Das war ja kein Trecker.«
»Aber schmutzig war er«, sagte Edi aufgeregt.
Als ob eine dreckige Karre im November ungewöhnlich wäre.
»Nein«, protestierte sie. »Da war richtiger Schlamm dran.«
»Stimmt«, erklärte jetzt auch Jo. »Das sah aus wie das Auto von dem Förster, den wir auf dem Schulausflug besucht haben.«
»Ja«, rief Bülent. »Genau so.«
»Dann war die Farbe doch vielleicht Grün?«, fragte ich.
Peinliches Schweigen.
Okay, immerhin hatte ich eine relativ klare Idee von dem Auto. Vermutlich redeten wir von einem Geländewagen in einer dunklen Farbe. Davon gab es, seit Großstadtbewohner die wilde Bedrohung schief sitzender Gullideckel entdeckt hatten, höchstens hunderttausend in der Stadt. Vielleicht war ja einer davon auf Akif Akiroglu zugelassen. Wenn er seine Schwester verschleppt hatte, müssten die Bonsais sich an die geringe Größe des Kidnappers erinnern.
»Wie groß war der Mann, der eure Lehrerin gekidnappt hat?«, fragte ich also.
»Groß«, sagte Edi. »Größer als das Auto.«
Schade. Nicht Akif.
»Woran kannst du dich sonst noch erinnern?«, fragte ich Edi.
Sie zuckte unentschlossen die Schultern.
»Hat er was gesagt? Wie war seine Stimme? Hat er nach Rauch gerochen oder nach Gras? Nach Alkohol oder einem Deo oder …«
»Ja«, rief sie. »Er roch nach Kreide.«
Ich überließ die vier sich selbst, und drei zischten sofort zurück zur Uniklinik, während Niclas sich allein verpisste. Ich hatte keine Ahnung, wohin, und es juckte mich auch nicht. Der Typ war sowohl ein Jammerlappen als auch ein Rassist, und wenn er in irgendeine Scheiße rutschen sollte, hatte er sich das selbst zuzuschreiben.
Ich jedenfalls hatte mir eine lange Kinonacht verdient und genoss sie mit den angesagten Krachbumm-Filmen in vollen Zügen. Erst nach der letzten Spätvorstellung schaute ich noch kurz in der Uniklinik vorbei, fand aber keine Bonsais. Vielleicht glotzten auch sie auf der Kinderstation die Endlosschleife des Kinderkanals und ließen sich regelmäßig von einem vorlauten Kastengebäck anranzen, dass sie jetzt ins Bett gehen sollten. Der Humor von Kinderfernsehmachern ist schon unterirdisch schräg.
Schräg war auch der Anblick, den Edis Ma und Jos Pa im Krankenzimmer boten: Sie hatten die Besucherstühle eng nebeneinander an die Rückwand des Zimmers gestellt, sodass sie die Köpfe an die Wand lehnen konnten. Sie schliefen – Hand in Hand, der Kopf von Edis Mutter an der Schulter von Jos Vater.
Oho, dachte ich mir, wenn das Jos Mutter sehen würde, läge der Papi demnächst auch im Koma.