3. Kapitel
1
Schöne und charmante Leserin, kluger und geistreicher Leser! Was unserem Freund zwischen Mai 1939 und Mai 1957 widerfuhr, haben wir Ihnen auf den vergangenen Seiten erzählt.
Ein großer, ein riesengroßer Kreis, der viele Menschen, Länder und Abenteuer, einen Weltkrieg und die Zeit danach umspannt, hat sich soeben geschlossen. Die Geschichte unseres Freundes aber ist noch nicht zu Ende.
Durchaus nicht! Und so berichten wir denn weiter, was sich noch begab …
Erst beim Frühstück begegnete Thomas der schönen Hélène wieder. Sie war blaß und nervös. Tiefe Schatten lagen unter den schönen Augen. »Kannst du mir verzeihen?«
»Ich will es versuchen, mein Kind«, sagte er mild.
»Und … und … und wirst du für uns arbeiten?«
»Auch das will ich versuchen.«
Sie stieß einen spitzen Freudenschrei aus. Als sie ihm um den Hals fiel, warf sie das Glas mit seinen weichen Eiern um. Er sagte: »Ich stelle natürlich meine Bedingungen. Ich will meinen Auftrag nicht von dir erhalten und nicht von deinem Chef, diesem Colonel Herrick, sondern vom ersten Mann des FBI.«
Sie begann zu lachen: »Von Edgar Hoover? Komisch, der will sich nämlich auch unbedingt mit dir unterhalten! Wir hatten den Auftrag, dich unter allen Umständen nach Washington zu bringen …«
Tja, wie es halt so geht im Leben!
Am 23. Mai 1957 saß Thomas Lieven im Restaurant des Rhein-Main-Flughafens. Er war reichlich unruhig. Seine Repetieruhr zeigte zwanzig Minuten nach sechs. Um dreiviertel sieben startete die Superconstellation, die ihn nach New York bringen sollte. Und dieser verdammte Agent namens Faber war immer noch nicht da! Diesen verdammten Agenten namens Faber hatte ihm Colonel Herrick beim Abschied in Zürich in Aussicht gestellt. – »Faber wird Sie zu Hoover geleiten.« – Und nun kam dieser Faber nicht! Wütend starrte Thomas zum Eingang des Flughafenrestaurants.
In diesem Augenblick trat eine junge Frau durch die Eingangstür. Thomas stieß ein leises Ächzen aus, eine heiße Woge brandete in ihm hoch, ein Prickeln zog über seinen ganzen Körper.
Die junge Frau kam direkt auf ihn zu. Sie trug einen roten Mantel, rote Schuhe und eine rote Kappe, unter der schwarzblaues Haar hervorquoll. Der Mund der jungen Frau war groß und rot, die Augen waren groß und schwarz. Die Haut des Gesichtes war sehr weiß. Indessen sein Herz rasend schlug, dachte Thomas: Nein, nein, nein! Barmherzigkeit! Das kann nicht sein, das gibt es nicht! Chantal kommt auf mich zu, meine gute, tote Chantal, die einzige Frau, die ich je geliebt habe. Da kommt sie und lächelt mich an. O Gott, aber sie ist doch tot, sie wurde doch erschossen in Marseille …
Die junge Frau trat an seinen Tisch. Thomas fühlte, wie ihm der Schweiß über den Rücken rann, als er sich schwankend erhob. Da stand sie, zum Greifen nah. »Chantal …« stöhnte er.
»Nun, Thomas Lieven«, sagte die junge Frau mit heiserer, rauchiger Stimme. »Wie geht’s?«
»Chantal …« stammelte er noch einmal.
»Was sagen Sie?«
Er holte Atem. Nein, sie war es nicht. Natürlich war sie es nicht. Was für ein Unsinn. Sie war kleiner. Zierlicher. Jünger. Ein paar Jahre jünger. Aber die Ähnlichkeit, diese phantastische Ähnlichkeit …
»Wer sind Sie?« fragte er mühsam.
»Ich heiße Pamela Faber. Ich fliege mit Ihnen. Entschuldigen Sie die Verspätung; mein Wagen hatte einen Defekt.«
»Sie … Sie heißen Faber?« Um Thomas drehte sich noch immer alles. »Aber Colonel Herrick sprach von einem Mann.«
»Colonel Herrick kennt mich nicht. Man sagte ihm etwas von einem Agenten. Da dachte er natürlich an einen Mann.«
Sie lächelte breit. »Kommen Sie nur, Herr Lieven. Unsere Maschine ist startbereit.«
Er starrte sie an wie eine Geistererscheinung. Und eine Geistererscheinung war Pamela Faber in der Tat. Eine süße, wehmütige Erinnerung, ein fernes Winken aus dem Reich der Toten …
In 6000 Meter Höhe über dem Atlantik sprachen sie dann miteinander, leise, vertraut, beinahe die ganze Nacht.
Pamela machte Thomas sentimental. Warum bewegte diese Frau ihn so? Bloß weil sie Chantal ähnlich sah? Was war es, das ihm das Gefühl gab, diese Pamela Faber seit Jahren zu kennen, mit ihr seit Ewigkeiten verbunden zu sein?
Sie hätte deutsche Eltern, berichtete Pamela, aber sie wäre in Amerika zur Welt gekommen. Seit 1950 arbeitete sie für den amerikanischen Geheimdienst. Wie sie dazu gekommen war? Pamela zuckte die Schultern. Sie antwortete ehrlich: »Hauptsächlich Abenteuerlust, glaube ich. Meine Eltern sind tot. Ich wollte reisen, fremde Länder sehen, etwas erleben …«
Thomas dachte: Etwas erleben. Fremde Länder sehen. Die Eltern tot. So hätte Chantal geantwortet, wenn man sie gefragt hätte, warum sie zur Abenteuerin wurde. Chantal, ach Chantal! Schrecklich, warum mußte diese junge Frau ihr bloß so ähnlich sein?
»Aber jetzt habe ich genug, wissen Sie. Das ist kein Leben für mich, ich habe mich geirrt. Oder ich bin schon zu alt.«
»Wie alt sind Sie denn?«
»Zweiunddreißig.«
»Ach Gott«, sagte er und dachte an seine achtundvierzig Jahre.
»Ich möchte aufhören. Heiraten. Kinder haben. Ein kleines Heim. Gut kochen für meine Familie.«
Heiser sagte Thomas: »Sie … Sie kochen gerne?«
»Es ist meine Leidenschaft! Warum sehen Sie mich so an, Herr Lieven?«
»Hrm! Nichts … nichts.«
»Aber Geheimdienste ziehen einen Teufelskreis, aus dem man nicht entlassen wird. Aufhören! Wer von uns kann aufhören? Können Sie es? Niemand kann es. Niemand darf es …«
2
Die Verzauberung, die in jener Nacht von Thomas Lieven Besitz ergriff, ließ ihn nicht mehr los. Sie wurde größer und größer, und er versank in ihr wie in einem Meer der Süßigkeit, in einer Wolke betäubender Düfte.
Von New York flog er mit Pamela Faber weiter nach Washington. Er beobachtete sie jetzt genau, mit klinischem Interesse geradezu. Sie besaß Chantals Ehrlichkeit, Gutmütigkeit, Tapferkeit. Sie besaß das Katzenhafte Chantals, ihre Wildheit, ihre Kraft. Aber sie war besser erzogen, sie war klüger. Thomas dachte: Warum tut mir das Herz bloß immer so weh, wenn ich sie ansehe?
Edgar Hoover, der 62jährige Leiter des amerikanischen Bundeskriminalamtes, empfing Thomas Lieven in seinem Amtssitz in Washington.
Die erste Begegnung dauerte nur wenige Minuten. Nach einer herzlichen Begrüßung meinte der untersetzte Mann mit den klugen, immer ein wenig melancholischen Augen: »Hier können wir nicht in Ruhe miteinander sprechen. Wissen Sie was? Miß Faber, Sie und ich machen uns ein schickes Wochenende. Ich habe in der Nähe ein Landhaus.«
Edgar Hoovers Landhaus lag im Staate Maryland, auf sanften, bewaldeten Hügelketten. Hier gab es viele gemütliche Häuser dieser Art. Das Refugium des ersten Kriminalisten Amerikas war mit schönen antiken Möbeln eingerichtet.
Händereibend meinte der FBI-Boß am Samstagmorgen beim Frühstück: »Ich denke, wir machen uns heute einen feinen Truthahn. Ist noch ein bißchen früh für Truthahn, aber ich habe unten im Dorf wunderschöne junge Tiere gesehen. Ich hole sie nachher. Preiselbeeren bringe ich auch mit.«
»Preiselbeeren?« Thomas runzelte die Stirn. Pamela – sie trug an diesem Morgen ein Holzhackerhemd und Blue jeans und sah aufregender aus denn je – erklärte Thomas lächelnd: »Hier ißt man Truthahn so, Mr. Lieven.«
»Pfui Teufel! Also, ich habe Truthahn immer …«
»… mit einer Füllung gemacht, nicht wahr?« Pamela nickte. »Meine Mutter auch. Die Füllung bestand aus durchgedrehter Truthahnleber und Gänseleber und …«
»… Kalbfleisch und Schweinespeck und Eigelb«, unterbrach Thomas sie aufgeregt. »Und dazu Trüffeln, die Schalen verrieben, die Trüffeln zerhackt, zwei Semmeln …«
»… und das Schweinefleisch muß fett sein!« Sie schwiegen plötzlich beide, sahen sich an und wurden rot.
Edgar Hoover lachte: »Na so etwas! Sie ergänzen sich ja phantastisch! Was, Mr. Lieven?«
»Ja«, sagte Thomas, »darüber denke ich schon die ganze Zeit nach …«
Zwei Stunden später standen sie dann in der Küche. Pamela half Thomas den Vogel reinigen und ausnehmen, sie half ihm bei der Zubereitung der Füllung. Wenn er nach dem Pfeffer greifen wollte, dann hatte sie den Pfeffer schon in der Hand. Wenn er zu der Ansicht kam, daß die Füllung zu dünn geriet, drehte sie bereits eine eingeweichte Semmel durch den Wolf.
Ach Gott, dachte Thomas. Ach, lieber Gott im Himmel!
Menu • Maryland, 25. Mai 1957
Thomas kocht für Amerika und
beschließt zu sterben …
Fleischbrühe mit Toast
Truthahn mit Trüffelfarce
Lemon Sponge Cake
Truthahn mit Trüffelfarce: Man nehme 150 Gramm mageres Schweinefleisch, 100 Gramm Kalbfleisch, 200 Gramm frisches Schweinefett, die Putenleber, 125 Gramm rohe Gänseleber, drehe alles durch den Wolf, bereite davon mit zwei eingeweichten, verrührten Semmeln und zwei Eigelb eine Farce. – Man gebe dazu die feingehackten Schalen von zwei Trüffeln, die zerschnittenen Trüffeln selbst, 125 Gramm geschnittene, in Butter angebratene Gänseleber, Salz, Pastetengewürz, einen Schuß Madeira. – Man fülle die Farce in den Truthahn, bestreue ihn mit Salz, umwickle die Brust mit nicht zu dünnen Scheiben frischem Speck, entferne sie eine halbe Stunde vor dem Fertigwerden, damit die Brusthaut bräunen kann. – Man gebe in eine Bratpfanne reichlich Butter und etwas kochendes Wasser, lege den Vogel auf der Seite liegend hinein, wende öfters von einer Seite auf die andere und begieße häufig, lege den Truthahn aber erst in der letzten halben Stunde auf den Rücken. Die Bratzeit richtet sich nach seiner Größe. – Man kann die Trüffelfarce auch nur in den Kropf füllen, für den Körper eine einfachere Farce verwenden, dabei statt der Gänseleber Kalbsleber nehmen. – Man reiche als Beilage kleinkörnigen gelben Büchsenmais, in Butter geschwenkt, eine Preiselbeersauce und einen Bratensalat. Man schneidet dazu rohe Äpfel, Apfelsinen und weichgekochten Sellerie in Würfel, vermischt sie mit Mayonnaise und geraspelter Kokosnuß.
Lemon Sponge Cake: Man nehme zwei Tassen Zucker, sechs Eier, eine halbe Tasse heißes Wasser, zwei Eßlöffel Zitronensaft, die abgeriebene Schale einer Zitrone und zwei Tassen Mehl. – Man rühre die Eigelb schaumig, füge Zucker, heißes Wasser, Zitronensaft und -schale und das Mehl hinzu, ziehe zuletzt den steifen Eischnee darunter. Man gebe die Masse in eine Springform und backe sie bei mittlerer Hitze 45–50 Minuten. – Man kann den Kuchen, kalt oder warm, mit einem Fruchtsaft servieren.
Pamela sagte: »Die Brust des Truthahns wickeln wir in Speck ein, das hat meine Mutter auch immer gemacht.«
»In frischen, fetten Speck hat Ihre Frau Mama die Brust gewickelt?« Thomas strahlte. »Meine auch! Und daran gelassen bis eine halbe Stunde vor dem Fertigbraten!«
»Damit die Brust nicht trocken wird, natürlich.«
Thomas hielt das Hinterteil des Truthahns hoch, während Pamela flink und geschickt jene natürliche Öffnung zunähte, durch welche die Füllung in das Innere des Tieres geraten war.
Hoover, der zusah, sagte langsam: »Mr. Lieven, Sie können sich natürlich denken, daß wir Sie nicht nach Amerika gebracht haben, bloß weil Sie so gut kochen.«
»Sondern?« fragte Thomas und drehte den Truthahnpopo hin und her.
»Sondern weil Sie Frau Dunja Melanin kennen.«
Thomas ließ den Truthahn auf den Tisch fallen.
»Na!« meinte Pamela.
»Pardon!« Thomas hob das Tier wieder auf. »Wo … wo ist die Dame?«
»In New York. Sie war doch Ihre Geliebte, nicht wahr?«
»Ja … das heißt …« Thomas fühlte Pamelas Blick auf sich ruhen; er starrte krampfhaft den Truthahnhintern an. »Sie bildete sich ein, mich zu lieben …«
Hoover stand auf. Er sprach jetzt sehr ernst: »Wir wissen, daß in New York seit langer Zeit ein mächtiger russischer Spionagering arbeitet. Wir wissen nicht, wie. Wir wissen nicht, wer ihm alles angehört. Vor drei Wochen aber hat sich ein Mitglied des Ringes bei unserer Pariser Botschaft gestellt. Ein gewisser Mr. Morris. Er war der letzte Geliebte von Frau Melanin …«
Vorsichtig legte Thomas den Truthahn wieder auf den Tisch. »Sie müssen nicht weitersprechen, Mr. Hoover«, sagte er freundlich. »Ich werde mein Bestes tun. Unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«
Thomas sah den melancholischen Kriminalisten an. Er sah den leckeren Truthahn an. Er sah Pamela an, die mit befleckten, nassen Händen dastand, erhitzt, wunderschön, begehrenswert. Freundlich sagte Thomas: »Die Bedingung wäre, daß ich nach Beendigung meiner Mission sterben darf.«
3
Am frühen Morgen des 21. November 1957 fanden spielende Kinder auf dem weißen Strand des Fischerdorfes Cascais vor Lissabon bunte Muscheln, Seesterne, halbtote Fische und einen toten Herrn. Er lag auf dem Rücken. Sein Gesicht trug einen erstaunten Ausdruck, sein Körper einen außerordentlich modischen, wenn auch schon arg aufgeweichten grauen Kammgarnanzug. Schwarze Halbschuhe und Socken, ein weißes Hemd und eine schwarze Krawatte besaß der tote Herr. Nahe dem Herzen wies das Hemd ein kreisrundes Loch und einen riesigen Blutfleck auf. Auch das Jackett hatte einiges abbekommen. Offensichtlich war der Herr mit Hilfe einer Kugel – und keiner zu kleinen – aus dieser Welt in eine andere, angeblich bessere, befördert worden.
Kreischend entflohen die Kleinen, nachdem sie die Leiche entdeckt hatten. Fünf Minuten später kamen Fischer und Fischerinnen herbeigeeilt. Sie umringten den toten Herrn erregt.
Ein alter Mann sprach zu seinem Sohn: »Sieh nach, José, ob dieser Herr einen Paß bei sich trägt.« José kniete neben dem Toten nieder und sah nach. Dieser Herr trug vier Pässe bei sich.
Ein anderer alter Mann sagte: »Den Kerl kenne ich!« Im September 1940, vor siebzehn Jahren, erzählte er sodann, hätte er gegen gute Bezahlung bei der Entführung eines eleganten Herrn durch deutsche Agenten mitgewirkt. Der alte Mann war damals Steuermann eines Fischkutters gewesen: »… sie haben den da irgendwo in der Stadt niedergeschlagen und bewußtlos hier runtergebracht, und dann haben wir ihn an Bord verstaut und sind aufs offene Meer rausgefahren. Vor der Dreimeilenzone, haben mir die Deutschen erzählt, würde ein deutsches U-Boot warten und den Herrn übernehmen. Es hat ihn nur nicht übernommen. Etwas ist dazwischengekommen.« Der alte Mann erzählte, was. Der geneigte Leser weiß es schon.
»Sie haben immer von ihm als einem ›Kaufmann Jonas‹ gesprochen«, erzählte der alte Steuermann.
Sprach der andere alte Mann: »Sieh nach, José, ob der tote Herr einen Paß auf den Namen Jonas bei sich trägt.«
José sah nach. Der tote Herr trug. Auf den Namen Emil Jonas, Kaufmann aus Rüdesheim.
»Wir müssen sofort die Polizei verständigen«, sagte José.
4
»Schreiben Sie, Fräulein«, sagte der Kommissar Manuel Vayda vom Morddezernat Lissabon zu seiner Sekretärin und diktierte: »Bei dem am Strand von Cascais aufgefundenen Toten handelt es sich um ein ausgesprochen männliches – hrm, streichen Sie ausgesprochen –, um ein männliches Wesen von 45 bis 50 Jahren. Der beiliegende polizeiärztliche Befund, hm, hm, erkennt auf Tod durch Erschießen mit einer amerikanischen 9-Millimeter-Armeepistole … Absatz.
In den Kleidern des Toten – haben Sie, Fräulein? – wurden gefunden: 891 Dollar und 45 Cent, zwei Rechnungen aus New Yorker Lokalen, eine Rechnung des New-Yorker Hotels ›Waldorf-Astoria‹, ein deutscher Führerschein, ausgestellt auf die Namen Thomas Lieven, eine altmodische goldene Repetieruhr sowie vier Pässe: zwei deutsche auf die Namen Thomas Lieven und Emil Jonas sowie zwei französische auf die Namen Maurice Hausér und Jean Leblanc … Absatz.
Fotografien von Jean Leblanc beziehungsweise Emil Jonas, die sich im Archiv der Kriminalpolizei befinden, stimmen miteinander überein. Sie entsprechen genau den Fotografien in den vier Pässen des Toten. Aus all dem kann wohl mit Recht der Schluß gezogen werden, daß es bei dem Ermordeten um den Agenten Thomas Lieven handelt, der in den letzten Jahren soviel von sich reden machte. Er ist ohne Zweifel einer Agentenrache zum Opfer gefallen. Die Aufklärung des Falles wird mit aller Energie vorangetrieben … So ein Quatsch. Als ob schon jemals ein Agentenmord aufgeklärt worden wäre! Der Mörder ist doch längst über alle Berge … Sagen Sie mal, Fräulein, Sie sind wohl wahnsinnig geworden? Was ist Ihnen denn eingefallen, meine letzten Sätze mitzuschreiben?«
5
»Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurz und ist voller Unruhe …«, sprach der Priester am offenen Grabe. Da war es 16 Uhr 30 am 24. November 1957. Es hatte ein bißchen lange gedauert, bis der Verblichene zur Beerdigung freigegeben worden war.
Am 24. November 1957 regnete es in Lissabon, und es war recht kühl. Die kleine Trauergemeinde fror. Es waren lauter Herren anwesend – und nur eine einzige junge Dame. Die Herren sahen aus wie das, was sie waren: Berufskollegen. Exmajor Fritz Loos vom weiland Wehrbezirkskommando Köln senkte das Haupt. Der quittengelbe britische Agent Lovejoy neben ihm nieste. Der tschechische Spion Gregor Marek verharrte in gebeugter Haltung. Nachdenklich waren die Obersten des französischen Geheimdienstes Siméon und Débras. Und traurig waren der deutsche Oberst der militärischen Abwehr Paris Erich Werthe und der kleine Major Brenner. Neben dem geistlichen Herrn stand die amerikanische Agentin Pamela Faber, die Thomas Lieven so sehr an seine tote Liebe, Chantal Tessier, erinnert hatte. »Die Erde möge dir leicht werden, Thomas Lieven. Amen«, sprach der Geistliche.
»Amen«, sprachen die seltsamen Trauergäste. Sie alle hatten Thomas Lieven gekannt. Sie alle hatte er hereingelegt. Nun waren sie von ihren Chefs losgeschickt worden, um festzustellen, ob der ver… Hund auch wirklich tot sei. Gott sei gedankt, er war es, dachten die Herren.
Das Grab wurde geschlossen. Thomas Lievens Kollegen von einst warfen jeder ihr Schäufelchen Erde in die Tiefe. Dann wuchteten Arbeiter den schlichten Marmorstein heran, welcher das Grab zieren sollte.
Man ging auseinander. Brenner und Werthe marschierten nebeneinander. Sie kannten ihren Landsmann Fritz Loos nicht, und er kannte sie nicht. Denn Fritz Loos arbeitete für einen neu entstandenen deutschen Nachrichtendienst, und Werthe und Brenner arbeiteten für einen anderen neu erstandenen deutschen Nachrichtendienst. Es gab 1957 schon wieder ein paar davon im deutschen Vaterland!
Vor dem Friedhof kletterten die Agenten in Taxis. Sie hätten auch einen kleinen Omnibus mieten können, denn sie wohnten alle im selben Hotel, im feinsten, versteht sich. Die respektiven Vaterländer bezahlten die Spesen. Von ihren Zimmern im wunderschönen Luxushotel »Palacio do Estoril-Parque« aus meldeten sie sodann Telefongespräche an nach England, Frankreich, Deutschland, ja sogar hinter den Eisernen Vorhang.
Als die Verbindungen hergestellt waren, sprachen sie unsinnige Sätze, beispielsweise diesen: »Der gelbe Haifisch wurde heute nachmittag serviert.« Das hieß: »Ich habe den Toten im Leichenhaus gesehen. Es ist Lieven.«
Und so wurden denn in verschiedenen Geheimdienstzentralen am Nachmittag des 24. November 1957 mehr oder weniger dicke Akten geschlossen und abgelegt. Auf allen stand derselbe Name: THOMAS LIEVEN. Und nun stand dahinter ein Kreuz …
Indessen ihre Agentenkollegen noch an den Telefonen hingen, saß Pamela Faber tatenlos in ihrem Hotelzimmer. Sie hatte Whisky, Eis und Soda bestellt. Sie hatte ihre hochhackigen Schuhe abgestreift und die schönen Beine auf einen Hocker gelegt. So saß sie entspannt in einem Lehnstuhl, rauchte und drehte ein großes Whiskyglas hin und her.
Ihre schwarzen Augen leuchteten wie Sterne, der große Mund schien unermüdlich bereit zu lachen, über einen gewaltigen, geheimen Spaß. So saß Pamela Faber da, rauchte, trank und lachte, indessen die Dämmerung eines regnerischen Herbstabends auf Lissabon herabsank. Und plötzlich hob sie ihr Glas und sagte laut: »Prost, geliebter Thomas! Auf daß du noch lange lebst – für mich!«
Da hatte sie natürlich schon einen Schwips. Sonst hätte sie es nicht gesagt. Denn Thomas konnte sie nicht hören; er war nicht im Zimmer, er war nicht im Hotel, er war nicht in Lissabon, er war nicht in Portugal, er war nicht in Europa, er war …
Na, wo war er denn? So fragen Sie mit Recht, verehrte Leser. Denn daß Thomas Lieven nicht an diesem Tag begraben wurde, das haben Sie längst dem fröhlichen Ton unserer Berichterstattung entnommen. Wenn er aber nicht tot war – wer wurde dann an seiner Stelle beerdigt? Wer wurde dann von internationalen Agenten als Thomas Lieven erkannt?
Geduld, verehrter Leser, wir wollen es sofort erzählen. Um uns ganz klar auszudrücken, ist es dabei allerdings notwendig, die Zeit zurückzudrehen und uns jenes Tages zu erinnern, an dem wir Thomas aus den Augen verloren haben: des 25. Mai 1957.
An diesem Tag war Thomas, wie wir berichtet haben, in einem Landhaus auf den sanften Hügelketten des Staates Maryland Gast des ersten Kriminalisten Amerikas. An diesem Tag äußerte er den überraschenden Wunsch, nach Beendigung seiner Mission zu sterben. »Aha«, sagte Hoover ungerührt. »Und wie stellen Sie sich Ihr Ende vor?«
Thomas Lieven sagte ihm und Pamela, wie er sich sein Ende vorstellte. Er schloß mit den Worten: »Es ist einfach unerläßlich, daß ich sterbe, damit ich endlich … endlich! … in Frieden leben kann!«
Darüber, und über Thomas Lievens projektierten Tod, lachten Hoover und Pamela herzlich.
»Die Einzelheiten wollen wir später besprechen«, sagte Thomas. »Jetzt können Sie mir vielleicht ein wenig mehr von meiner Dunja und diesem Mr. Morris berichten. Wo ist er denn?«
»In Paris«, sagte Edgar Hoover.
»Nanu – ich dachte in New York?«
»Er war in New York. Bis vor wenigen Wochen. Dann fuhr er nach Europa. In Paris stieg er im ›Crillon‹ ab. Da muß er dann die Nerven verloren haben. Denn am Nachmittag des 4. Mai verließ er sein Hotel und ging über den Place de la Concorde zur amerikanischen Botschaft. Mr. Morris verlangte den Botschafter zu sprechen und sagte: ›Ich bin ein sowjetischer Spion‹ …«
6
»Ich bin ein sowjetischer Spion. Ich kann Ihnen Informationen über den größten sowjetischen Spionagering in den Vereinigten Staaten geben«, sagte Victor Morris zu dem amerikanischen Botschafter in Paris.
Es war 17 Uhr 45 am 4. Mai 1957.
»Und warum wollen Sie das tun, Mr. Morris?« fragte der Botschafter.
»Weil ich Ihre Hilfe brauche«, antwortete Morris, ein Mann mit breitem, aufgeschwemmtem Gesicht und einer starken schwarzen Hornbrille. »Ich habe den Auftrag bekommen, Amerika zu verlassen und über Paris nach Moskau heimzukehren. Ich weiß, was das bedeutet. Sie wollen mich umlegen.«
»Und warum wollen die Sowjets Sie umlegen?«
»Ich … hm, ich denke, ich habe versagt«, antwortete Morris in akzentfreiem amerikanischem Englisch. »Weiber. Der Suff. Zuviel Gequatsche. Und dann auch noch Dunja …«
»Wer ist Dunja?«
»Dunja Melanin. Ehemalige Frau eines sowjetischen Offiziers. In New York Sprechstundenhilfe bei einem Arzt. Hatte mich mit ihr angefreundet. Aber es gab dauernd Streit. Wir fielen auf. Mark sagte mir, ich müsse sofort verschwinden.«
»Wer ist Mark?«
»Seit zehn Jahren das Haupt des größten Spionageringes in Amerika.«
Victor Morris, das stellte sich bald heraus, war ein Mann mit vielen Namen. In Wahrheit hieß er Hayhanem und war Oberstleutnant im sowjetischen Geheimdienst. Von 1946 bis 1952 wurde dieser Mann in Rußland darauf vorbereitet, als Spion nach Amerika zu gehen und mit dem legendären, fabelhaften »Mr. Mark« zusammenzuarbeiten.
Sechs Jahre Ausbildung! Man soll sich einmal vorstellen, was das bedeutet: Hayhanem, alias Morris, mußte seine alte Persönlichkeit vollkommen vergessen und in eine neue hineinschlüpfen. Er mußte lesen, sprechen, essen, gehen, denken und debattieren lernen wie ein Mann aus der Umgebung von New York. Und Auto fahren wie ein Amerikaner. Und tanzen und lesen und schreiben und rauchen und sich besaufen wie ein Amerikaner.
Oberstleutnant Hayhanem wurde ein neuer Mensch. Immerhin hatte ein anderer diese ungeheure Aufgabe schon vor ihm geschafft: »Mr. Mark«, der beste Spion, den der Kreml jemals in Amerika hatte und dem man zehn Jahre nicht auf die Spur kam.
Hayhanem, alias Morris, bestand alle Prüfungen. Am 14. April 1952 meldete er sich, mit einem hervorragend gefälschten amerikanischen Paß versehen, auftragsgemäß bei Michael Svirin, dem Sekretär der sowjetischen UNO-Delegation in New York. Der traf ihn unter allen erdenklichen Vorsichtsmaßregeln, gab ihm Geld und erklärte ihm: »Sie nehmen Kontakt mit Mr. Mark auf. Wir werden uns nie wiedersehen. Für mich existieren Sie von dieser Stunde an ebensowenig, wie für mich offiziell Mr. Mark existiert. Sie können nicht damit rechnen, daß ich Ihnen jemals helfe. Ich bin Diplomat, ich darf mit Ihnen nichts zu tun haben.«
»Und wie soll ich Mark erkennen?«
»Er wird Sie anrufen. In Ihrem Hotel. Ich gebe Ihnen hier eine kleine, geschnitzte Pfeife. Die tragen Sie als Erkennungszeichen im Mund, wenn Mark Ihnen den Treffpunkt mitgeteilt hat.«
Diesen Treffpunkt gab Mark drei Tage später in einem Telefongespräch bekannt: »Seien Sie pünktlich um 17 Uhr 30 im Klosett des RKO-Kinos in Flushing.«
Das Klosett! Wohl kein Agentendienst der Welt könnte ohne diese Örtlichkeit auskommen! Pünktlich um halb sechs Uhr an diesem Tag suchte Morris die erwähnte Lokalität auf. Aus einer Kabine trat ein Mann von etwa 45 Jahren: groß, beinahe kahl, mit skeptischem, geistreichem Gesicht, großen Ohren, schmalen Lippen und einer randlosen Brille. Er trug einen Flanellanzug und ein blaues Künstlerhemd, keine Krawatte. Er sah Morris an. Er sah die kleine, seltsam geformte Pfeife an, die Morris im Mundwinkel hing. Er nickte kurz und sagte: »Auf die Minute, Morris …«
7
»… Mark nickte kurz und sagte: ›Auf die Minute, Morris‹«, erzählte FBI-Chef Edgar Hoover dem aufmerksam lauschenden Thomas Lieven. Ernst saß Pamela Faber neben ihm. Alle drei rauchten und tranken schwarzen Kaffee und französischen Kognak. Das große Truthahnessen war vorüber.
Hoover zündete eine dicke, lange Zigarre an und blies eine Wolke süßen Rauch aus. »Lassen Sie mich weiterberichten: Morris und Mark vertrugen sich überhaupt nicht. Sie waren einander vom ersten Moment an unsympathisch. Aber sie mußten miteinander auskommen …«
Ja, auskommen miteinander mußten sie nun! Mark gab Morris an jenem Nachmittag im Waschraum des RKO-Kinos Geld, einen Code-Schlüssel und besprach die Tarnung: Morris sollte ein Fotostudio eröffnen, damit die Behörden sich keine Gedanken darüber machten, wovon er lebte. Ferner gab Mark bekannt, wo und auf welche Weise Morris seine geheimen Nachrichten deponieren und abholen mußte.
Die Nachrichten – Mikrofilme, nicht größer als ein Stecknadelkopf – sollten in Geldstücken, alten Papiertaschentüchern oder Orangenschalen verborgen werden. Mit Hilfe kleiner magnetischer Plättchen konnte man sie unter Bänken, öffentlichen Telefonapparaten, Abfallkübeln oder Briefkästen befestigen.
»Die Arbeit funktionierte klaglos«, berichtete Hoover. »Morris konnte, wie gesagt, Mark nicht leiden, aber er erfüllte seine Aufträge trotzdem erstklassig.«
»Was für Aufträge zum Beispiel?«
»Leider sehr wichtige«, sagte Hoover seufzend. »Nach allem, was Morris in Paris erzählte, dürfen wir uns keine Illusionen machen. Die Sowjets verdanken der ›Organisation Mark‹ ungeheure Kenntnisse! Zum Beispiel hat Morris, nach seiner eigenen Aussage, im Raketenzentrum New Hyde Park spioniert.«
»Und es gab niemals einen Zwischenfall, eine Panne?« fragte Thomas.
»Doch, einmal. Und diese Panne lieferte uns wenigstens den Beweis dafür, daß Morris mit dem, was er nun gestand, nicht lügt. Hier ist der Beweis.« Hoover legte ein abgegriffenes 5-Cent-Stück vor Thomas auf den Tisch. »Heben Sie es auf, und lassen Sie es fallen.«
Thomas hob das Geldstück auf und ließ es fallen. Es sprang entzwei. Die Münze war innen ausgehöhlt. Auf dem Boden der einen Seite klebte ein winziges Stück Film.
»Dieses Stück Mikrofilm«, sagte Hoover, »enthält eine Code-Mitteilung von Mark. Seit vier Jahren versuchen die besten Köpfe des FBI, diese Nachricht zu entschlüsseln – umsonst.«
»Wie kam diese Münze in Ihren Besitz?« fragte Thomas.
»Durch einen reinen Zufall«, sagte Edgar Hoover. »Ein kleiner Zeitungsjunge namens James Bozart fand sie 1953 …«
An einem heißen Abend im Sommer 1953 rannte ein kleiner, sommersprossiger Zeitungsjunge namens James Bozart, was haste, was kannste, durch das Treppenhaus einer Mietskaserne im New Yorker Stadtteil Brooklyn.
Wummmm!
Nun war er doch tatsächlich der Länge nach hingeschlagen. Das ganze Geld war ihm aus der Tasche geflogen. So ein Pech! Leise fluchend machte James sich daran, seine Habseligkeiten einzusammeln. Plötzlich bekam er dabei ein 5-Cent-Stück in die Finger, das sich komisch anfühlte – so komisch …
James drehte es ein bißchen hin und her. Da zerfiel es in zwei Teile. Auf der Innenseite des einen Teils erblickte James einen dunklen Punkt. Na so was! Erst vor ein paar Tagen hatte James einen Spionagefilm gesehen. Da waren Mikrofilmbotschaften in Zigarettenetuis versteckt worden. War das hier vielleicht ein Mikrofilm?
James Bozart – die amerikanische Nation weiß ihm heute ewigen Dank dafür – trug seinen Fund zunächst zur nächsten Polizeiwache. Postenchef Milley lachte den Jungen aus, aber Sergeant Levon sagte: »Laß mal, Joe. Schicken wir das Ding dem FBI. Wer weiß, vielleicht kommen wir alle in die Zeitung!«
Keiner von ihnen kam in die Zeitung – damals. Aber zwei Agenten des »Federal Bureau of Investigation« besuchten den kleinen James daheim. Sie fragten ihn aus. Wo war er hingefallen?
In der Fulton Street 252. Das war eine Riesenmietskaserne. Die unteren Lokalitäten waren zu Geschäften ausgebaut worden. Im ersten und zweiten Stock hatten sich Firmen etabliert. Weiter oben wohnten Junggesellen, Künstler und kleine Angestellte. Außerdem unterhielt das FBI in diesem Mammuthaus ein Büro.
Die Agenten des FBI durchleuchteten jeden Bewohner des Hauses Fulton Street 252 nach Strich und Faden. Es kam nichts heraus dabei.
Jahre vergingen. Die Botschaft auf dem Mikrofilm blieb unentziffert, ihr Verfasser unentdeckt. Immer deutlicher bekamen es die Männer, die für die nationale Sicherheit Amerikas verantwortlich waren, in diesen Jahren zwischen 1953 und 1957 zu spüren: Ein unheimlicher Spionagering umschloß ihr Land, bedrohte es mehr und mehr.
»In diesen Jahren«, berichtete Edgar Hoover in seinem stillen Landhaus Thomas Lieven, »muß Morris immer mehr verkommen sein. Nachdem er Dunja Melanin getroffen hatte, wurde es ganz schlimm mit ihm. Er prügelte sie, sie prügelte ihn. Mark muß einen Bericht nach Moskau geschickt haben, denn Morris wurde plötzlich abberufen. In Paris ging er zur amerikanischen Botschaft, bat um Schutz und erzählte alles, was er wußte.«
»Es scheint mir, trotz allem, nicht sehr viel zu sein«, sagte Thomas.
»Es ist nicht genug«, sagte Hoover. »Aber es ist eine ganze Menge. Denn obwohl dieser geheimnisvolle Mark alles tat, um vor Morris geheimzuhalten, wo er wohnte, gelang es diesem doch einmal, ihn heimlich zu verfolgen. Und nach seiner Aussage wohnt Mr. Mark – wissen Sie, wo?«
»Da Sie es so spannend machen, nehme ich an, in der Fulton Street 252.«
»Richtig«, sagte Edgar Hoover. »In dem Haus, in dem der kleine James Bozart vor vier Jahren hinfiel und die Münze fand …«
Danach war es eine Weile still im Zimmer. Thomas stand auf und trat ans Fenster. Er sah hinaus auf die weite, liebliche Landschaft.
Edgar Hoover sagte: »Ein Stab meiner Beamten, darunter Miß Faber, hat in den letzten Wochen jeden Bewohner des Hauses noch einmal unter die Lupe genommen. Die Beschreibung, die Morris von Mark gab, paßt genau auf den beliebtesten Mieter. Er ist Maler. Lebt ganz oben, unter dem Dach. Und heißt Goldfuß. Emil Robert Goldfuß. Amerikanischer Bürger. Seit 1948 wohnhaft in der Fulton Street 252. Erzählen Sie weiter, Miß Faber.«
Pamela sagte: »Seit Wochen beschatten wir diesen Maler Goldfuß. Ein Dutzend FBI-Autos mit Radar-, Funk- und Fernsehgeräten ist eingesetzt. Keinen Schritt kann Goldfuß mehr machen, ohne daß ihm unsere Leute folgen. Ergebnis: null.«
»Das verstehe ich aber nicht«, sagte Thomas. »Wenn er so dringend verdächtig ist, ein Spion zu sein, warum verhaften Sie ihn dann nicht?«
Pamela schüttelte den Kopf: »Wir sind nicht in Europa, Herr Lieven.«
»In den Staaten«, erklärte Edgar Hoover, »darf ein Mann nur festgenommen werden, wenn er ohne jeden Zweifel eine ungesetzliche Handlung begangen hat. Erst dann wird ein Richter einen Haftbefehl ausschreiben. Wir haben den Verdacht, daß Goldfuß ein Spion ist. Aber beweisen? Nein, beweisen können wir es nicht. Und solange wir das nicht unwiderlegbar können, wird uns kein einziger Richter dieses Landes gestatten, ihn festzunehmen.«
»Aber Morris? «
»Morris hat uns alle Informationen vertraulich geliefert. Mit Rücksicht auf seine Familie in Rußland wird er unter gar keinen Umständen öffentlich gegen Goldfuß in den Zeugenstand treten.«
»Und eine heimliche Hausdurchsuchung?«
»Natürlich könnten wir, wenn Goldfuß einmal fort ist, in seine Wohnung eindringen und sie durchsuchen. Ich bin sicher, daß wir einen Kurzwellensender und viele andere Dinge finden würden, die beweisen, daß er ein Spion ist. Aber dann würde er niemals verurteilt werden können!«
»Wieso nicht?«
»Seine Verteidiger würden verlangen, daß unsere Beamten unter Eid aussagen, woher sie ihr Belastungsmaterial haben. Angenommen, sie hätten es sich durch eine ungesetzliche Hausdurchsuchung verschafft – der Richter würde anordnen, daß nichts von all diesem Material gegen Goldfuß verwendet werden darf.«
»Ja, aber wie ist denn dieser Mr. Goldfuß dann überhaupt zu fassen?«
Edgar Hoover lächelte sanft. »Das fragen wir Sie, Herr Lieven. Darum haben wir Sie kommen lassen – Sie, einen alten Freund von Dunja Melanin.«
8
»In Rußland machen sie Schaschlik mit Zwiebeln!« schrie der fette Boris Roganow. »In Rußland machen sie Schaschlik nicht mit Zwiebeln!« schrie Thomas Lieven.
Sie standen sich wutbebend gegenüber. Ohrfeigen lagen greifbar nahe in der Luft. Man schrieb den 19. Juni 1957. Es war 13 Uhr 30 und entsetzlich schwül in New York. Der Schaschlikkrach fand in der Küche eines russischen Feinschmeckerlokals in der 41. Straße statt. Der fette Herr Roganow war der Besitzer dieses Lokals. Thomas verkehrte hier seit einigen Tagen, denn »Bei Roganow« pflegte Dunja Melanin zu Mittag zu essen. Sie arbeitete in der Nähe, in der Ordination eines gewissen Dr. Mason.
Es war ein trauriges Wiedersehen gewesen. Dunja, immer noch leidenschaftlich und reizvoll, jammerte Victor Morris nach. Immer wieder brach sie in Tränen aus, wenn sie von ihm erzählte – und sie erzählte ununterbrochen von ihm, teils aus eigenem Antrieb, teils, weil Thomas sie dauernd dazu animierte.
Heraus kam nichts dabei. Was Dunja auch erzählte, es half Thomas nicht weiter. Wenn er Dunja verließ, traf er Pamela, über die der Kontakt zu Hoover lief. Sie hatte eine kleine Wohnung in Manhattan. Thomas wohnte im Hotel »Waldorf-Astoria«.
Tag um Tag verstrich. Nichts geschah. Goldfuß gab sich keine Blöße. Thomas fiel eine wachsende Gereiztheit an Pamela auf, die er sich nicht erklären konnte. Und immer wieder traf er Dunja, versuchte etwas, irgend etwas zu finden, das Goldfuß belastete, zu ihm hinführte. Aber Dunja schien Goldfuß nie im Leben gesehen zu haben. Sie weinte nur immer wieder ihrem Morris nach.
Schaschlik hatte sie sich gestern gewünscht. Prompt hatte Thomas Hammelfleischstücke in eine Beize gelegt und sie zwölf Stunden darin ziehen lassen. Jetzt war das Fleisch richtig. Thomas wollte es gerade, mit Speck untermischt, auf den Spieß bringen, da begann dieser fette Boris Roganow doch wahrhaftig Zwiebeln in dicke Scheiben zu schneiden! Ein wilder Krach brach los. Dann versöhnten sich die Herren wieder. Aber der Ärger nahm an diesem Tag kein Ende.
Als Dunja – verspätet natürlich – endlich erschien und mit Thomas zu essen begann, legte auch sie eine gräßliche Gereiztheit an den Tag. Dauernd griff sie sich an den schmerzenden Kopf, dauernd mäkelte sie an Thomas herum. Dann faßte sie sich ein bißchen: »Entschuldige – diese wahnsinnige Arbeit, ich breche noch zusammen!«
»Was ist denn los?«
»Ich glaube, die halbe Stadt läßt sich impfen.«
»Impfen?«
»Mit diesem neuen Serum gegen Kinderlähmung. Doktor Salk. Sicherlich hast du davon gehört. Das Impfen wäre ja noch nicht einmal das schlimmste! Das schlimmste ist die Schreiberei!«
»Was für eine Schreiberei?«
»Jeder Patient muß seinen Geburtsschein vorlegen. Nicht den Paß, nicht den Meldezettel, nein, den Geburtsschein!«
»Warum?«
»Das verlangt das Gesetz! Und ich muß die Nummer von jedem Geburtsschein aufschreiben. Und die ausstellende Behörde. Und sie kommen zu Hunderten! Ich werde noch verrückt! Impfen! Impfen! Impfen!«
»Impfen, impfen«, wiederholte er blödsinnig, indessen sich sein Herz zusammenkrampfte. Denn eine junge Frau in einem gelben Sommerkleid hatte soeben das Lokal betreten. Er traute seinen Augen nicht. Wahnsinnig! Sie mußte wahnsinnig geworden sein! Streng verboten es die Gesetze des FBI, daß zwei Agenten, die miteinander arbeiteten, sich in der Öffentlichkeit trafen. Aber darauf schien Pamela Faber zu pfeifen. Direkt gegenüber von Thomas nahm sie Platz. Kreuzte die Beine. Lehnte sich zurück. Und starrte Dunja an …
Das konnte derselben natürlich nicht lange verborgen bleiben.
»Wer ist das?«
»Bi-bitte?«
»Die Person da drüben. Sie starrt mich an. Kennst du sie?«
»Ich? Wen denn überhaupt?«
»Die geschminkte Gelbe. Tu doch nicht so!«
»Herrgott, ich habe die Frau nie im Leben gesehen!«
»Du lügst! Du kennst sie! Und wie du sie kennst!«
So fing das an, und so ging das weiter durch das ganze Essen. Beim schwarzen Kaffee hatte Thomas sein Hemd durchgeschwitzt. Und immer noch starrte Pamela Faber herüber …
Und so ging das an diesem Tag lustig weiter!
Als Thomas Lieven ins »Waldorf-Astoria« zurückkam, wartete hier ein Herr namens Roger Ackroyd auf ihn. Mr. Ackroyd war im Hotel bekannt als Exportkaufmann, der oft mit europäischen Geschäftsleuten zusammenarbeitete.
Herr Peter Scheuner – so nannte sich Thomas derzeit – war im Hotel als einer dieser europäischen Geschäftsleute bekannt. Die beiden Kaufherren, die keine waren, setzten sich in die leere Bar. Mr. Ackroyd sagte leise: »Die Sache brennt uns mehr und mehr unter den Nägeln, Lieven. Sind Sie weitergekommen?«
Menu • New York, 19. Juni 1957
Dieses Essen verhilft Thomas zum Fang
des größten Sowjetspions.
Frühlingssalat
Schaschlik mit Risotto
Gebratene Bananen
Frühlingssalat: Man nehme eine geschälte junge Gurke, zarte Radieschen, hartgekochte Eier, schneide sie in Scheiben, gebe sie in eine Schüssel. Man streue wenig Pfeffer und Salz und viel feingehackten Dill, Schnittlauch und Petersilie darüber, mische dann reichlich dicken sauren Rahm darunter. – Man serviere den Salat sofort, damit die Gurkenscheiben keine Zeit haben, Wasser zu ziehen.
Schaschlik: Man nehme Filets von einem Hammelrücken, schneide sie in zwei Zentimeter dicke Scheiben. Man mariniere sie mindestens zwölf Stunden in Olivenöl, etwas Zitronensaft, Salz, gehackter Zwiebel, Petersilie, zerquetschten Wacholder- und Pfefferkörnern, einer zerdrückten Knoblauchzehe, einem Schuß Wein. – Man stecke das Fleisch abwechselnd mit Speckscheiben auf Grillspießchen, röste sie auf dem Grill oder im Bratofenrost, aber so, daß sie innen noch leicht rosafarben bleiben.
Risotto: Man lasse eine große, feingeschnittene Zwiebel in einer Kasserolle in Butter oder Olivenöl weich und hellgelb dünsten, schütte trockenen Reis dazu, lasse ihn unter ständigem Rühren etwa zehn Minuten leicht mitrösten, wobei er keinesfalls braun werden darf. – Man gieße dann die anderthalbfache Menge kochendes Wasser auf den Reis, salze ihn leicht und lasse ihn im fest verschlossenen Topf auf einer Asbestplatte über schwächster Flamme dreißig Minuten ziehen.
Gebratene Bananen: Man nehme reife, aber nicht zu weiche, geschälte Bananen, brate sie rasch rundherum in brauner Butter, gebe etwas flüssig gemachten, mit einem Schuß Rum verrührten Honig in die Pfanne, drehe die Bananen unter Begießen ein paarmal vorsichtig darin herum und serviere sie sofort auf vorgewärmten Tellern, mit geriebenen Mandeln oder Pistazien bestreut.
»Keinen Schritt.«
»Mist«, sagte Mr. Ackroyd. »Verschiedene Anzeichen sprechen dafür, daß Goldfuß unmittelbar vor der Flucht steht. Wir wissen nicht, wohin er abhauen wird. Australien. Asien. Afrika. Europa.«
»Die Grenzen bewachen. Flugplätze. Häfen. Und so weiter.«
»Wie wollen Sie das machen? So viele Beamte gibt es einfach nicht. Goldfuß wird selbstverständlich mit einem absolut echten falschen Paß reisen.« Ein »echter« falscher Paß, das wußte Thomas seit langem, war ein solcher, der auch einer Überprüfung in den Behördenregistern standhielt.
»Glauben Sie, daß er sich lauter echte falsche Papiere verschafft hat?«
»Das weiß ich nicht. In der Eile wohl kaum. Aber sicherlich einen Paß. Und der Paß genügt. Wenn nicht ein Wunder geschieht, geht uns der Mann durch die Lappen.«
Thomas seufzte tief. Und zu allem noch diese feine Mitarbeiterin Miß Faber, dachte er erbittert. Na, der werde ich aber was erzählen!
9
»Wissen Sie, was Sie verdienen? Prügel verdienen Sie!« schrie Thomas. Schwer atmend stand er an diesem Abend in Pamelas kleiner Wohnung vor der Besitzerin, die einen schwarzen Morgenrock und offenbar wenig darunter trug. »Was fällt Ihnen ein, zu ›Roganow‹ zu kommen?«
»Ich werde wohl noch das Recht haben, zu ›Roganow‹ zu gehen.«
»Aber nicht, wenn ich dort bin!«
»Das habe ich nicht gewußt!« schrie sie a tempo.
A tempo schrie er zurück: »Das haben Sie sehr wohl gewußt!«
»Also schön, ich hab’s gewußt!«
»Und warum sind Sie dann gekommen?«
»Weil ich mal Ihre Dunja sehen wollte, dieses süße Täubchen!«
Ihm fiel der Kiefer herunter. »Und deshalb gefährden Sie alles – die ganze Aktion?«
»Schreien Sie mich nicht an! Sie müssen ja fürchterlich verliebt sein in die Dame!«
»Halten Sie den Mund, oder ich ziehe Ihnen die Hosen stramm!«
»Tun Sie’s doch, wenn Sie’s wagen!«
»Na warte«, sagte er und stürzte sich auf sie. Mit einem geschickten Jiu-Jitsu-Griff legte die erfahrene Agentin ihn aufs Kreuz. Er krachte auf den Teppich. Sie lachte und rannte davon. Er kam auf die Beine und rannte ihr nach. Im Schlafzimmer erwischte er sie wieder. Ein kleiner Ringkampf folgte. Sie fielen beide auf das Bett.
Dann lag sie strampelnd und fauchend über seinem Knie. »Laß mich – laß mich – ich bringe dich um …«
Der Morgenrock fiel auf. Pamela trug tatsächlich nur wenig darunter. Ungerührt versohlte Thomas sie. Sie kreischte, schlug um sich und biß.
Wie Chantal, dachte er benommen, während das Blut in seinen Schläfen zu rauschen begann, genau wie Chantal ist sie – o Gott! Plötzlich fiel er über sie. Seine Lippen trafen die ihren. Sie biß. Dann öffneten sich ihre Lippen und wurden weich. Ihre Arme schlangen sich um ihn. Und beide versanken in der betäubenden Süße ihres ersten Kusses. Der Raum verschwamm vor Thomas Lievens Augen, die Zeit verlor ihren Sinn.
Als er wieder zu sich kam, sah er in zwei Augen voller Liebe. Pamela flüsterte: »Ich war so eifersüchtig – so fürchterlich eifersüchtig auf deine Russin …«
Plötzlich fiel Thomas etwas an Pamelas Oberarm auf. Er sah die kreisrunden hellen Stellen einer Impfung. Er wurde bleich im Gesicht. Und sagte lallend: »Impfen …«
Pamela, im Begriff, ihn zu küssen, erstarrte. »Was ist los?«
»Impfen«, wiederholte er blödsinnig.
»Bist du verrückt geworden?«
Er sah sie völlig abwesend an: »Goldfuß weiß, daß er in Gefahr ist. Er wird versuchen, Amerika zu verlassen und nach Rußland heimzukehren. Jeder Mensch, der nach Europa fährt, muß sich gegen verschiedene Krankheiten impfen lassen. Das verlangt das Gesetz. Und bei der Impfung muß er dem Arzt seinen Geburtsschein vorlegen, damit er die Nummer notiert …« Thomas stotterte plötzlich vor Aufregung: »Den Geburtsschein, nicht den Paß … Sein falscher Paß ist ein echter falscher Paß – aber ob sein falscher Geburtsschein auch echt falsch ist?«
Pamela wurde blaß: »Er ist verrückt geworden – ganz und gar verrückt.«
»Mitnichten! Wenn Goldfuß nämlich – geb’s Gott – einen falschen falschen Geburtsschein vorgelegt hat, dann können wir ihm endlich eine strafbare Handlung vorwerfen – und ihn hochnehmen – und seine Wohnung durchsuchen …«
»Thomas!«
»Stör mich jetzt nicht. Wie viele Ärzte gibt es in New York?«
»Herrgott, was weiß denn ich? Mindestens zehntausend!«
»Egal«, sagte Thomas Lieven, während Pamela Faber ihn entgeistert anstarrte. Er schlug auf das Bett. »Und wenn alle Agenten des FBI eingesetzt werden müssen! Und wenn alle wirklich verrückt werden dabei! Wir müssen es versuchen!«
10
Am Abend des 19. Juni 1957 gab es im Stadtgebiet von New York Alarm für 277 Mitarbeiter des FBI. Sie erhielten den Auftrag, schnellstens die insgesamt 13 810 Ärzte aufzusuchen, die in der Zehnmillionenstadt arbeiteten.
Jeder der 277 Mitarbeiter führte die Fotografie eines Mannes von etwa 45 Jahren mit sich, der ein geistreiches, skeptisches Gesicht, große Ohren und schmale Lippen besaß und eine Brille trug.
Vom Abend des 19. Juni 1957 an stellten 277 Männer anhand von 277 Fotos ungezählte Male die gleichen Fragen: »Doktor, kennen Sie diesen Mann? Gehört er zu Ihren Patienten? Haben Sie ihn vielleicht in letzter Zeit geimpft?«
Auch den ganzen 20. Juni 1957 hindurch wurden diese Fragen gestellt.
Im Luxushotel »Waldorf-Astoria« saß derweilen ein gewisser Peter Scheuner, deutscher Exportkaufmann, wie auf Kohlen. Von Zeit zu Zeit klingelte das Telefon. Es waren Leute vom FBI, die Thomas verschlüsselt mitteilten, daß die Operation weiterhin erfolglos verlief. Seufzend legte Thomas jedesmal wieder den Hörer in die Gabel.
Dieser Zustand änderte sich schlagartig am 21. Juni um 16 Uhr 35. Wieder schrillte das Telefon. Eine tiefe Stimme sprach: »Zero.«
Elektrisiert fuhr Thomas hoch. Er sagte nur ein Wort: »Wo?«
Die Stimme antwortete: »3145 Riverside Drive. Doktor Willcox.« Zwanzig Minuten später stand Thomas Lieven in dem kleinen Ordinationsraum von Dr. Ted Willcox, einem älteren Arzt, der seine Praxis im ärmsten Elendsviertel New Yorks aufgeschlagen hatte.
Dr. Willcox hielt eine Fotografie in der Hand. Er sagte: »Gewiß erinnere ich mich an diesen Mann. Vor allem deshalb, weil so selten gut angezogene Leute zu mir kommen.«
Da hast du also zuletzt doch noch einen Fehler gemacht, du sowjetischer Superagent, dachte Thomas. Möglichst weit von deiner Wohnung entfernt hast du dir einen Arzt ausgesucht. Ich verstehe, warum. Und doch war es verkehrt. Dr. Willcox sprach: »Dieser Herr suchte mich am Nachmittag des 16. Juni auf. Er ließ sich impfen. Ich stellte ihm einen sogenannten ›Internationalen Seuchenpaß‹ aus, wie man ihn benötigt, wenn man beispielsweise nach Europa reisen will.« Der alte Arzt humpelte zu seiner Kartei und suchte unter dem Datum des 16. Juni. Dann zog er ein Blatt hervor. »Der Herr heißt Martin Collins. Nach dem Geburtsschein wurde er am 7. Juli 1910 als amerikanischer Bürger im Stadtteil Manhattan geboren. Geburtsscheinnummer: 32027/7/71 897.«
Um 17 Uhr 15 zwangen Thomas Lieven und ein stämmiger FBI-Agent zwei Beamte, im Geburtenregisteramt von Manhattan Überstunden zu machen. Nach einer langen Weile kam einer der beiden angeschlurft, blies den Staub von einer vergilbten Registerkarte und knurrte: »Martin Collins … Collins, Martin – was ist das für ein Quatsch? 32 027, Strich, 7, Strich, 71 897, sagen Sie?«
»Sage ich, ja«, sagte Thomas.
Der Beamte sah auf: »Also hören Sie mal zu, mein Herr. Der Geburtsschein 32 027, Strich, 7, Strich, 71 897 wurde am 4. Januar 1898 für eine gewisse Emilie Woermann ausgestellt. Und die ist am 6. Januar 1902 im Alter von vier Jahren gestorben. An Lungenentzündung.« Thomas sah den FBI-Mann an. Er sagte leise: »Jetzt haben wir unsern Freund.«
11
An der Tür war eine Messingplatte festgeschraubt. Darauf stand:
EMIL ROBERT GOLDFUSS
Die Tür befand sich im obersten Stockwerk des gewaltigen Mietshausblocks Fulton Street 252. Zwei Männer standen am 21. Juni 1957 um 19 Uhr 06 vor dieser Tür. Der eine zog eine Pistole aus dem Schulterhalfter und entsicherte sie. Der andere zog eine altmodische goldene Repetieruhr aus der Tasche. »Komisch«, sagte Thomas Lieven. »Erst sieben, und ich bin derartig hungrig!« Dann klopfte der FBI-Mann an die Tür, trat zur Seite und hielt die Pistole vor …
Die Tür ging auf. Ein hagerer Mann in blauem Malerkittel, eine Palette in der Hand, stand in ihrem Rahmen. Er lächelte gewinnend, strahlte Sympathie und Klugheit aus. Auf die Pistole des FBI-Agenten blickend, sagte er: »Was soll das, mein Herr? Ist das ein Scherz? Eine Reklame? Ein Präsent?«
»Mr. Goldfuß oder Mark oder Collins«, sagte der FBI-Agent, »oder wie immer Sie sich nennen wollen – Sie sind verhaftet.«
»Verhaftet von wem?«
»Vom FBI.«
Der Maler sprach freundlich: »Sie können mich nicht verhaften, mein lieber Herr. Ich habe keine strafbare Handlung begangen, und Sie haben auch keinen Haftbefehl.«
»Doch, doch, Mr. Goldfuß, wir haben«, sagte Thomas und trat näher. Auch er lächelte gewinnend.
»Wer sind Sie?«
»Ein Freund des Hauses«, antwortete Thomas. »Des FBI-Hauses, meine ich. Sehen Sie, Mr. Goldfuß, für Sie lag seit Tagen ein Haftbefehl vor. Wir mußten nur noch einen hübschen Verhaftungsgrund finden und ihn einsetzen. Gestern haben wir einen sehr hübschen gefunden, einen falschen Geburtsschein …«
Aus dem Stockwerk unter dem Atelier kamen plötzlich zwei Männer herauf, weitere zwei Männer kamen vom Dachboden herab.
Thomas sagte: »Wir haben diese lieben Freunde mitgebracht, weil wir natürlich wissen, daß Sie nicht nur ein charmanter Geburtsscheinfälscher sind.«
»Sondern?«
»Sondern vermutlich der beste Agent, den die Sowjets jemals besaßen. Und ich mache nie übertriebene Komplimente«, sagte Thomas Lieven lächelnd.
Mr. Goldfuß erwiderte dieses Lächeln. Die beiden Herren sahen einander schweigend an. Der Blick hielt …
Die Atelierwohnung wurde sogleich durchsucht. Die Männer des FBI fanden den Geburtsschein auf den Namen Martin Collins, Papiere auf den Namen Goldfuß, 3545 Dollar in bar, eine Schiffspassage nach Europa auf den Namen Collins, gebucht für den 1. Juli 1957, und einen starken Kurzwellensender des Typs »Hallicrafter«, der völlig offen zwischen zwei Gemälden stand.
Die Männer des FBI halfen Mr. Goldfuß beim Packen eines kleinen Koffers. Dabei beobachtete Thomas, daß Mr. Goldfuß ein paar offensichtlich benutzte Papiertaschentücher fortwarf. Thomas nahm die zusammengeknüllten Tücher wieder aus dem Papierkorb. Leichenblaß wurde plötzlich Mr. Goldfuß. Thomas Lieven öffnete die Taschentücher behutsam. Kleine dunkle Punkte, unscheinbar wie Fliegendreck, befanden sich darauf.
»Hm«, machte Thomas. Zwanzig Jahre lang von Geheimdiensten der verschiedensten Länder sowohl ausgebildet wie am Leben bedroht, hatten ihn hellwach werden lassen. Das war kein Fliegendreck …
Zwei Tage später hatte Amerika eine Sensation. Der gefährlichste russische Agent aller Zeiten war dingfest gemacht worden. Mikrofilme, die er in alten Papiertaschentüchern versteckt hatte, verrieten seinen komplizierten Code-Schlüssel, seinen wahren Namen, seine wahre Geschichte.
Oberst im sowjetischen Geheimdienst war dieser Mann, der zehn Jahre lang ungestört und unbeargwöhnt in den Staaten hatte spionieren können. Und er hieß: Rudolf Iwanowitsch Abel.
Am Abend des 23. Juni 1957 tickten Fernschreiber die Meldung über seine Verhaftung und Bedeutung an Zeitungsredaktionen auf fünf Kontinenten und in alle Welt hinaus. Und auch in den folgenden Tagen und Wochen machten die Taten des Oberst Rudolf Iwanowitsch Abel Schlagzeilen. Viel über ihn erfuhr die Welt, jedoch bei weitem nicht alles. Zum Beispiel erfuhr sie niemals etwas von jenem Mittagessen, zu welchem sich ein heiterer Herr und zwei ernste Herren niedersetzten. Das war am 17. August 1957 in einem gemütlichen Blockhaus auf den idyllischen, bewaldeten Hängen des US-Staates Maryland …
»Meine Herren«, sprach Thomas Lieven heiter, »warum sind Sie so ernst?« Er sah Edgar Hoover an, den Chef der amerikanischen Bundeskriminalpolizei. Er sah den braungebrannten, 40jährigen James B. Donovan an, dessen Haar bereits völlig weiß leuchtete. Donovan war Verteidiger des Meisterspions Abel in dem bevorstehenden Prozeß.
Thomas kam aus der Küche. Er trug ein Tablett mit einem großen Tiegel und allerlei Utensilien. Während er das Tablett abstellte und einen Spirituskocher in Gang setzte, der neben der gedeckten Tafel auf einem kleinen Tischchen stand, beantwortete er seine Frage selbst: »Nun wohl! Sie sind wahrscheinlich so ernst, weil Sie sich an jene Zeit im Kriege erinnern, da Sie sich als Chefs von zwei konkurrierenden Spionageunternehmen dauernd in die Wolle bekamen, wie?«
Er schien ins Schwarze getroffen zu haben. Hoover grunzte, Donovan räusperte sich ärgerlich. In der Tat war der Strafverteidiger im Krieg Offizier in geheimer Mission des berühmten »OSS«, des »Office for Strategy Services«, gewesen. Bei verschiedenen Aktionen waren er und seine Leute mit Leuten von Hoovers FBI kollidiert.
Thomas setzte den Tiegel auf den Spirituskocher und blieb heiter. »Nehmen Sie Platz, meine Herren! In weiser Voraussicht Ihrer Gemütsverfassung habe ich mir erlaubt, ein Vorgericht zu erfinden und zuzubereiten, das die Nerven beruhigt, den Geist beschwingt, die Laune hebt.«
Thomas bewegte den Tiegel über der Flamme. Im Tiegel befanden sich kleine Kalbsnierenwürfel, leicht angebraten. »Möge uns diese Speise unserm Ziel näher bringen.«
»Was ist das für ein Ziel?« knurrte Donovan mißtrauisch.
Kognak über die Nieren gießend, antwortete Thomas bedächtig: »Ihrem Mandanten und den Vereinigten Staaten von Amerika zu helfen.«
Hoover sah Donovan an. »Abel kommt auf den elektrischen Stuhl, das ist klar. Wir haben mehr als genug Beweismaterial gegen ihn.«
Donovan zuckte die Schultern. »Da bin ich aber gespannt, wie Sie beweisen wollen, daß mein Mandant ein Sowjetspion ist.«
Thomas schüttelte den Kopf. »Ein Elend. Eine solche Verschwendung von einmaligem Talent. Ein Jammer. Wirklich ein Jammer!«
»Was?«
»Zu denken, daß ein Mensch wie Abel auf dem Stuhl verschmoren soll.«
»Wenn Sie freundlicherweise vor dem Essen ein bißchen taktvoller sein wollten, Mr. Scheuner.«
»O pardon! Aber mir blutet wirklich das Herz. Abel ist nicht nur begabt, er ist ein Genie!«
»Na, na, na …«
»Was heißt na, na, na? Darf ich Sie daran erinnern, Mr. Donovan, daß Sie als OSS-Agent während des Krieges in der Schweiz zu arbeiten versuchten? Schon nach sechs Monaten hatten die Schweizer das spitz und feuerten Sie hinaus. Und Abel? Zehn Jahre hat er in den Staaten gearbeitet, ohne entdeckt zu werden!«
»Halten Sie mal die Luft an.« Donovan sah von Thomas zu Hoover. »Ihr wollt doch was. Offiziell könnt ihr es mir offensichtlich nicht vorschlagen. Also kommt ihr hintenherum. Raus mit der Sprache, was ist es?«
»Und nun der Champagner«, sagte Thomas Lieven und goß Sekt in den erhitzten Tiegel. Sofort begann sich ein außerordentlich prickelnder und vielversprechender Wohlgeruch zu verbreiten.
Menu • Maryland, 17. August 1957
Lievens Champagnerniere betäubt selbst »hohe Tiere« …
Kalbsnieren in Champagner
Gespickter Zander
Ananasspeise
Kalbsnieren in Champagner: Man nehme zwei von Fett und Haut befreite Kalbsnieren, schneide sie in Würfel, brate sie drei Minuten in sehr heißer Butter an, pfeffere und salze. – Man bringe die Kasserolle auf einem Spiritusrechaud zu Tisch, gieße ein Gläschen Kognak über die Nieren, zünde an, lösche mit Champagner ab. – Man füge 100 Gramm geschnittene, in Butter gedünstete Champignons und einen Eßlöffel gehackte Petersilie hinzu, lasse alles heiß werden, aber nicht kochen. – Man fülle Nieren und Sauce in Tortelettes aus ungesüßtem Mürbe- oder Blätterteig.
Gespickter Zander: Man reibe den gereinigten Fisch mit Pfeffer und Salz ein, beträufle ihn mit Zitronensaft und lasse ihn eine Stunde stehen. – Dann trockne man ihn gut ab, spicke ihn auf beiden Seiten mit feinen Streifchen von fettem Speck, lege ihn mit dem Rücken nach oben in eine feuerfeste Form, begieße ihn mit brauner Butter, schiebe ihn in den vorgeheizten Bratofen. – Ohne umzuwenden, brate man etwa eine halbe Stunde unter fleißigem Begießen, gebe allmählich sauren Rahm, mit einem halben Kaffeelöffel Maizena verrührt, dazu. – Man serviere den Zander in der Bratform.
Ananasspeise: Man lege eine große, flache Glasschale dicht mit Löffelbiskuits aus, tränke diese mit Ananassaft, bedecke sie mit einer dicken Schicht schwach gesüßter Schlagsahne. – Man belege die Oberfläche mit einem dichten Muster von Ananasstückchen und eingemachten Sauerkirschen und serviere die Speise eisgekühlt.
»Aaaahhh«, machte Hoover und lehnte sich zurück. Sogar Donovans nervöses Gesicht entspannte sich, er lächelte kurz.
»Sehen Sie«, sagte Thomas, »es wirkt schon.« Er arbeitete weiter und redete wie nebenbei: »Der FBI hält die schwerwiegendsten Beweisstücke gegen Abel zurück. Abel wird nicht zum Tode verurteilt.«
»Sondern?«
»Bitte?« Thomas hob tadelnd die Augenbrauen. »Mr. Donovan, ich muß mich über Sie wundern! Was heißt: sondern? Sie könnten Ihrem Mandanten ruhig das bißchen Leben gönnen.«
»Drehen Sie mir nicht die Worte im Munde um! Mr. Hoover war es, der sagte, daß Abel auf den elektrischen Stuhl kommen müsse!«
»Von Rechts wegen, ja«, dozierte Thomas, indessen er die delikate Vorspeise verteilte. »Aber wenn der FBI nun seine eigenen Pläne mit ihm hätte …«
»Was dann?«
»Dann gäbe es natürlich noch andere Urteilsmöglichkeiten. Lebenslänglich zum Beispiel. Dreißig Jahre Zuchthaus. Zwanzig. Zehn …«
»Was ist mit dem Belastungsmaterial, von dem Mr. Hoover sprach?«
»Belastungsmaterial kann man zurückhalten. Wenigstens einen Teil davon. Den schlimmeren Teil. Essen Sie, Mr. Donovan, essen Sie um Himmels willen, Ihre Niere wird ja kalt.«
Der weißhaarige Verteidiger begann mechanisch zu essen. Er sah Thomas mit zusammengekniffenen Augen an. Kauend sprach Donovan: »Und was hätten Sie davon, wenn Sie …« Er verschluckte sich und mußte husten. Thomas klopfte ihm hilfreich auf den Rücken.
»Sehen Sie, sehen Sie. Ich wollte es Ihnen gleich sagen, aber es fehlte mir der Mut. Ich dachte, es sei ungehörig, einen so großen Mann wie Sie darauf hinzuweisen.«
»Wo-worauf?« ächzte Donovan echauffiert und rang nach Luft.
»Daß man mit vollem Mund nicht sprechen soll«, antwortete unser Freund schlicht. »Ich glaube, jetzt geht es wieder.«
James B. Donovan legte sein Besteck fort. Er hatte auf einmal keine Lippen mehr. Seine Stimme klang so, wie ein Eiszapfen klingen würde, wenn er sprechen könnte, was er nicht kann: »Lassen wir dieses Katz-und-Maus-Spiel. Ich frage: Was hätte das FBI davon, wenn es das schwerste Belastungsmaterial zurückhielte und damit das Leben Abels rettete?«
Thomas sah Hoover an. »Wollen Sie nicht die Frage beantworten, Sir?«
Hoover brummte etwas Unverständliches und neigte sich über seinen Teller.
»So ist es richtig«, sagte Thomas. »Immer läßt man mich die peinlichsten Fragen beantworten, das habe ich gerne. Also schön, Mr. Donovan. Das FBI hätte davon mit großer Wahrscheinlichkeit die Chance, früher oder später das Leben eines amerikanischen Agenten zu retten.«
»Eines amerikanischen Agenten?«
»Mr. Donovan, es ist mir wirklich wahnsinnig unangenehm, derart in den Interna des amerikanischen Geheimdienstes herumzustochern – aber Sie selber waren doch einmal bei diesem Verein, nicht wahr? Und damals, gegen Ende des Krieges, haben Sie doch mitgeholfen, die Abwehr gegen die Sowjetunion auszubauen. Oder etwa nicht?«
James B. Donovan schwieg.
»Ich mache Ihnen keinen Vorwurf daraus«, sagte Thomas mit einem Augenzwinkern. »Es war schließlich Ihre Aufgabe. Nun ja … Wer könnte es da paradox finden, daß ausgerechnet Sie heute einen Sowjetspion verteidigen?«
»Als Pflichtverteidiger. Das Gericht möchte seine Objektivität beweisen.«
»Bitte, bitte, es sollte kein Vorwurf sein!« meinte Thomas nachsichtig.
»Ich nehme an, jedes Land hat seinen Nachrichtendienst«, sagte Donovan leicht beleidigt.
»Man darf sich nur nie erwischen lassen«, knurrte Hoover undeutlich, über seinen Teller gebeugt.
»Eben«, sagte Thomas. »Allerdings sehe ich vor meinem geistigen Auge bereits – es ist dies eine reine Frage der Wahrscheinlichkeitsrechnung – den Tag voraus, an dem die Sowjets einen amerikanischen Agenten erwischen. Könnte doch schließlich vorkommen, oder? Nehmen Sie doch noch ein bißchen Niere, meine Herren.« Er servierte elegant. »Zum Beispiel ist mir zu Ohren gekommen, daß der Geheimdienst seit Jahren Spezialmaschinen zu Flügen losschickt, die über einem Land nicht nur die Wolken fotografieren.«
»Das ist natürlich ein völlig unsinniges Gerücht«, sagte Edgar Hoover, ohne den Kopf zu heben.
»Natürlich, natürlich«, sagte Thomas sanft. Donovan hörte plötzlich sehr aufmerksam zu. »Die sowjetischen Proteste über Verletzungen russischen Luftraums entbehren natürlich auch jeder Grundlage.«
Hoover sah auf und blinzelte mit einem Auge. »Es handelte sich stets um Wettererkundungsmaschinen, die zufällig von ihrem Kurs abgekommen waren.«
»Na klar. Aber was geschähe nun, wenn einer jener – hrm – Wetterpiloten zufällig abgeschossen würde?« erkundigte sich Thomas.
Donovan sagte langsam: »Diese Wettermaschinen kenne ich. Sie können von der Fliegerabwehr niemals abgeschossen werden, sie fliegen viel zu hoch.«
»Was nicht ist, kann noch werden. Außerdem gibt es, höre ich, seit einiger Zeit sehr präzise Raketen. Wenn eine solche Rakete nun einen solchen amerikanischen Wetterpiloten vom Sowjethimmel holt, und er überlebt dies und wird vor Gericht gestellt, und es handelt sich um einen Wetterpiloten, den Mr. Hoover gern wiedersehen würde … wäre es da nicht ein Jammer, wenn Mr. Abel dann schon das Zeitliche gesegnet hätte? Mit einer Leiche kann man keinen Handel treiben, meine Herren!«
»Wirklich, Mr. Scheuner«, sagte Edgar Hoover mit erstickter Stimme, »Ihr Zynismus geht zu weit.«
»Pardon, meine Herren. Ich sprach ja nur von einer Möglichkeit. Eine pure Hypothese …«
Sehr langsam sagte der Anwalt: »Und wenn nun keiner unserer Wetterpiloten abgeschossen wird?«
»Sehen Sie«, sagte Thomas freundlich, »jetzt verstehen wir uns endlich, Mr. Donovan. Ich könnte mir gut vorstellen, daß Mr. Abel sich dann aus purer Dankbarkeit entschließen würde, die Fronten zu wechseln und für den amerikanischen Geheimdienst zu arbeiten.«
James B. Donovan fixierte Edgar Hoover: »Ist das auch Ihre Ansicht?«
»Sie haben Mr. Scheuner gehört. Ich habe nichts hinzuzufügen.«
Das Gesicht des Anwalts lief tiefrot an. »Wofür halten Sie mich eigentlich, Mr. Scheuner? Wofür halten Sie meinen Mandanten? Soll das ein Wink mit dem Zaunpfahl sein?«
»Das«, sagte Thomas bescheiden, »ist ein Gebilde meiner Phantasie, Mr. Donovan, und sonst gar nichts.«
»Auf so etwas wird mein Mandant niemals eingehen!« rief James B. Donovan.
12
Am 24. August 1957 erschien ein gewisser Peter Scheuner beim Direktor des New Yorker Untersuchungsgefängnisses. Er hatte von höchster Stelle die Erlaubnis, unter vier Augen mit Rudolf Iwanowitsch Abel zu sprechen. Der Direktor persönlich geleitete diese offenbar »Very Important Person« durch endlose Gänge zum Sprechzimmer. Dabei berichtete er, daß der Sowjetspion sich bereits der Sympathien des ganzen Hauses erfreue: »Die Roten werden sonst in Gefängnissen sehr schlecht von ihren Mithäftlingen behandelt. Aber nicht dieser Abel!« Der Direktor verdrehte die Augen. »Ich sage Ihnen: absoluter Liebling von jedermann! Er hat für die Häftlinge musiziert, ihnen Kabarett vorgespielt, er hat ein neues Verständigungssystem eingerichtet …«
»Was hat er?«
Der Direktor lachte verlegen. »Na, Sie wissen doch, wie die Häftlinge miteinander verkehren, wenn sie in den Zellen sitzen.«
»Das gute alte Klopfsystem«, sagte Thomas, in sentimentale Erinnerung an eigene Zuchthauserlebnisse versinkend.
»Abel hat unseren Gefangenen ein neues, besseres System erklärt, das hundertmal so schnell funktioniert!«
»Und zwar wie?«
»Das will ich nicht unbedingt verraten. Ich sage nur: über die Lichtleitung!«
»Donnerwetter!« Thomas hob die Brauen. Er dachte: Die besten Geschäftspartner trifft man im Leben immer erst, wenn man mit ihnen absolut nichts mehr anfangen kann.
Sie hatten das Sprechzimmer erreicht. Thomas trat ein. Hinter einer feinmaschigen Drahtwand stand, in einem eleganten Zivilanzug, Rudolf Iwanowitsch Abel. Er sah seinem Besucher ernst entgegen. Der Direktor gab den Justizbeamten im Raum einen Wink. Sie zogen sich mit ihm zurück. Die schweren Eisentüren schlossen sich.
Durch eine Drahtwand getrennt, standen Thomas Lieven und der Sowjetspion Abel einander gegenüber. Lange blickten sie einander stumm an. Es war sehr still im Raum. Dann begann Thomas Lieven zu sprechen …
Wir wissen nicht, was er sagte. Wir wissen nicht, was Abel antwortete. Abel hat darüber niemals gesprochen, und Thomas hat darüber niemals gesprochen. Die Unterredung dauerte 49 Minuten.
Am 26. September 1957 begann der Prozeß gegen Rudolf Iwanowitsch Abel. Den Vorsitz führten Seine Ehren Richter Mortimer Byers. Die Verhandlung war hauptsächlich öffentlich.
Mit einem Trick hatte Abel sich des Beistandes eines der besten Anwälte Amerikas versichert. Als man ihn aufforderte, einen Verteidiger zu wählen, erklärte er: »Ich habe kein Geld. Die 3545 Dollar, die bei mir gefunden wurden, gehören mir nicht. Ich kann auch nicht erwarten, daß man mich umsonst verteidigt. Ich bitte daher das Gericht, mir einen Anwalt zu stellen.«
In einem Rechtsstaat wie Amerika bedeutet das nun, daß die Behörden einen Anwalt bestellen mußten, der in keiner Weise kommunistischer Sympathien verdächtigt werden konnte und der ein As auf dem Gebiet der Strafverteidigung war – eben einen Mann wie James B. Donovan!
Der Prozeß entwickelte sich zu einem Unikum. Der Angeklagte durfte sich im Gerichtsgebäude frei bewegen, in der Kantine mit den Geschworenen essen und mit Reportern reden. Auf der andern Seite ordnete Richter Byers an: »Keiner der 38 Zeugen soll vor seiner Aussage den Verhandlungssaal betreten, um den ganzen Prozeß zu verfolgen.«
Das hatten die meisten dieser 38 Zeugen auch gar nicht nötig, denn vom Nachmittag des ersten Verhandlungstages an konnten sie minutiös in den Zeitungen lesen, was sich im Verhandlungssaal zugetragen hatte …
Aus Sicherheitsgründen war angeordnet worden, daß FBI-Agenten und andere gefährdete Personen nur mit verdecktem Gesicht in den Zeugenstand treten durften. Sie trugen Kapuzen mit kleinen Löchern vor Mund und Augen und wirkten wie Ku-Klux-Klan-Delegierte.
Auch Thomas Lieven erschien mit einer derartigen Kopfbedeckung. Auf der Brust trug er, wie alle vermummten Zeugen, eine Nummer. Auszugsweise liest sich sein Verhör im stenographischen Protokoll so:
BYERS: »Nummer 17, Sie waren anwesend, als Mr. Abel verhaftet wurde. Schildern Sie sein Verhalten.«
NUMMER 17: »Mr. Abel war sehr gelassen. Nur während der Hausdurchsuchung wurde er hysterisch.«
BYERS: »Weshalb?«
NUMMER 17: »Weil in der Wohnung nebenan ein Radio losplärrte. Elvis Presley sang. Mr. Abel preßte beide Fäuste gegen die Ohren. Er rief wörtlich: ›Das ist das reinste Nervengift! Dieser Bursche ist der Hauptgrund dafür, warum ich nach Rußland zurückkehren will!‹«
Gelächter.
BYERS: »Ich bitte mir absolute Ruhe aus! Nummer 17, Sie haben mit Hausbewohnern gesprochen. Welchen Eindruck hatten diese von Mr. Abel?«
NUMMER 17: »Den denkbar besten. Sie hielten ihn allesamt für eine Seele von einem Menschen. Viele von ihnen hatte er im Lauf der Zeit porträtiert – auch Beamte des FBI-Büros, das sich im Gebäude befand.«
Unruhe.
BYERS: »Er hat FBI-Beamte gemalt?«
NUMMER 17: »Ein halbes Dutzend. Und sehr begabt, Euer Ehren.«
BYERS: »Aus den Akten geht hervor, daß Abel den Kurzwellensender, den er benutzte, völlig offen im Atelier stehen ließ.«
NUMMER 17: »Das ist so, Euer Ehren.«
BYERS: »Fiel das den FBI-Agenten nicht auf?«
NUMMER 17: »Doch. Manche ließen sich das Gerät genau erklären. Sie hielten Abel für einen Amateurfunker. Einmal begann der Apparat sogar zu arbeiten, während Abel einen FBI-Agenten malte. Abel funkte kurz zurück. Der Apparat verstummte. Der FBI-Agent fragte: ›Wer war denn das?‹ – Abel antwortete: ›Was glauben Sie denn, wer das war? Moskau natürlich!‹«
Lautes Gelächter.
BYERS: »Wenn sich eine solche Szene wiederholt, lasse ich den Saal räumen! Nummer 17, Sie waren es, der eine Reihe von alten Papiertaschentüchern sicherstellte, in denen Abel winzige Mikrofilme verborgen hatte. Einer dieser Filmpunkte enthielt den Dechiffrierschlüssel für einen komplizierten Code. Ist es Ihnen gelungen, die Nachricht zu entschlüsseln, die der Angeklagte unmittelbar vor seiner Verhaftung in Form vieler vierstelliger Zahlengruppen niedergeschrieben hatte?«
NUMMER 17: »Es ist mir gelungen, Euer Ehren.«
BYERS: »Was war das für eine Botschaft?«
NUMMER 17 (liest von einem Zettel ab): »Wir beglückwünschen Sie zu Ihren herrlichen Kaninchen. Vergessen Sie nicht, sich mit der Beethoven-Partitur zu beschäftigen. Rauchen Sie Ihre Pfeife, aber halten Sie das rote Buch in der rechten Hand.«
BYERS: »Das ist doch nicht der Klartext!«
NUMMER 17: »Natürlich nicht, Euer Ehren. Das ist der entschlüsselte Zifferncode. Abel scheint alle seine Botschaften zweimal verschlüsselt zu haben.«
BYERS: »Und der Schlüssel für den zweiten Code?«
NUMMER 17: »Wurde leider niemals entdeckt, Euer Ehren.«
Großes Gelächter. Unruhe. Richter Byers läßt den Saal räumen. Verhandlung unterbrochen um 11 Uhr 34 …
Der Prozeß dauerte fast vier Wochen. Dann war die Reihe an den Geschworenen, ihren Schuldspruch zu fällen. Stundenlang berieten sie. Immer unruhiger wurden Zuschauer und Reporter. Was gab es da noch stundenlang zu beraten?
Erst um 19 Uhr 45 am 23. Oktober kehrten die Geschworenen in den Saal zurück. Totenstill wurde es. Alle Anwesenden hatten sich erhoben, als Richter Byers fragte: »Nun, Herr Obmann, haben Sie Ihren Wahrspruch gefällt?«
»Ja, Euer Ehren.«
»Wie lautet er?«
»Unser einstimmiger Wahrspruch lautet: Der Angeklagte ist schuldig im Sinne der Anklage.«
Nicht ein Muskel zuckte in Rudolf Iwanowitsch Abels Gesicht.
Am 15. November erging das Urteil: 30 Jahre Zuchthaus und 2000 Dollar Buße.
30 Jahre und 2000 Dollar Buße für den größten russischen Spion aller Zeiten? Wie war so etwas möglich? Ein ganzes Land stand Kopf – aber nur ein paar Tage lang. Dann geriet die Affäre Abel, wie alles im Leben, in Vergessenheit …
Seltsames Spiel des Zufalls!
Zur Zeit, da diese Zeilen in Druck gehen – Sommer 1960 – hat die Weltgeschichte uns sozusagen eingeholt und die Prognosen unseres Freundes Thomas Lieven bereits Wirklichkeit werden lassen. Wir hoffen, daß der geneigte Leser einen kurzen Zeitsprung in die unmittelbare Gegenwart hinein verzeiht. Wir müssen ihn wagen, sonst wäre die Geschichte des Falles Abel unvollständig.
Am 1. Mai 1960 geriet nahe der sowjetischen Stadt Swerdlowsk ein amerikanisches Aufklärungsflugzeug vom Typ U-2 in die Hände der Sowjets. »Amerikanisches Flugzeug von russischer Rakete abgeschossen« stand in allen Zeitungen zu lesen. Der Pilot der Maschine hörte auf den Namen Francis G. Powers, war 30 Jahre alt, verheiratet, Bürger des amerikanischen Bundesstaates Virginia. Der Zwischenfall ereignete sich in einer Zeit politischer Hochspannung, unmittelbar vor Beginn der sogenannten »Pariser Gipfelkonferenz«, an welcher Eisenhower, Chruschtschow, Macmillan und de Gaulle über den Frieden der Welt beraten wollten. Er diente den Sowjets als Vorwand, die Konferenz noch vor ihrem Beginn auffliegen zu lassen.
Der Pilot wurde in Moskau vor ein Militärgericht gestellt. Die Sowjets inszenierten einen großen Propagandacoup. Der Generalstaatsanwalt Rudenko – einstmals sowjetischer Ankläger im Nürnberger Prozeß – erklärte in seinem Plädoyer: »Hier steht nicht allein der Flieger Powers vor Gericht, sondern auch die amerikanische Regierung, der wahre Inspirator und Organisator dieses ungeheuerlichen Verbrechens.«
Obgleich er das Verbrechen ungeheuerlich nannte, wurde der Staatsanwalt am Schluß seines Plädoyers von Milde ergriffen: »Ich stelle die Reue des Angeklagten in Rechnung und bestehe nicht auf der Todesstrafe.« Fünfzehn Jahre Freiheitsentzug forderte Rudenko. Das Gericht bemaß die Strafe noch milder: Der Pilot erhielt zehn Jahre Freiheitsentzug …
Der zu dreißig Jahren Zuchthaus verurteilte Sowjetspion Abel ließ in der Sowjetunion eine Frau, eine verheiratete Tochter und einen kleinen Sohn zurück. Sie durften an dem Prozeß gegen ihn nicht teilnehmen. Die Frau des Piloten Powers hingegen, seine Eltern und seine Schwiegermutter erhielten von den Sowjets Einreisegenehmigungen und wohnten dem Prozeß gegen den abgeschossenen US-Flieger auf Logenplätzen des Moskauer Gerichtssaales bei.
Oliver Powers, der Vater des Angeklagten, ein biederer Schuhmacher, erklärte Journalisten: »Ich hoffe, daß Chruschtschow meinen armen Jungen begnadigen wird. Er hat schließlich selbst einen Sohn im Krieg gegen die Deutschen verloren, in dem unsere Soldaten Seite an Seite mit den Russen gekämpft haben. Und wenn er ihn schon nicht begnadigen kann, dann gibt es vielleicht die Möglichkeit, ihn gegen einen sowjetischen Spion auszutauschen, der in den Staaten gefangen wurde. Ich denke da an den Agenten Abel …«
Und was wird nun geschehen?
Tja, was wohl?
13
Wir hoffen, wie gesagt, daß der geneigte Leser uns den kurzen Zeitsprung in die unmittelbare Gegenwart verzeihen wird. Aber kehren wir schleunigst zurück zum Herbst des Jahres 1957.
Und da müssen wir uns gleich noch einmal entschuldigen. Wir hoffen, daß auch das »Federal Bureau of Investigation« uns verzeiht, wenn wir nunmehr von der »Harper Clinic« berichten, die – so weit wollen wir dem FBI entgegenkommen – natürlich nicht »Harper Clinic« heißt. Wir verraten auch nicht, wo sie sich befindet. Aber sie existiert, wir wissen, wo, und wir wissen auch, unter welchem richtigen Namen.
Am 23. Oktober 1957 wurde Sowjetspion Abel schuldig gesprochen. Am 25. Oktober betraten zwei Besucher Edgar Hoovers Arbeitszimmer in seinem Amtssitz zu Washington: Thomas Lieven und Pamela Faber.
Die schöne junge Frau mit dem blauschwarzen Haar und dem großen, leuchtend roten Mund sah Thomas Lieven immer wieder verliebt von der Seite an.
Hoover war guter Laune; er begrüßte die beiden herzlich.
»Und was kann ich für Sie tun?« fragte er.
»Sie können Ihr Versprechen einlösen«, sagte Thomas freundlich. »Sie erinnern sich, daß ich seinerzeit um die Vergünstigung bat, nach Beendigung meiner Mission sterben zu dürfen.«
»Ich erinnere mich«, sagte Hoover langsam.
»Na also«, rief Pamela fröhlich, »und jetzt ist es soweit! Wir wollen danach möglichst schnell heiraten.«
Hoover biß sich auf die Lippe. »Ich stehe ja zu meinem Wort«, sagte er. »Aber Sie dürfen sich nicht vorstellen, daß dies ein Honiglecken ist, Mr. Lieven. So etwas tut weh, verdammt weh.«
»Was tut man nicht alles für seinen Tod«, meinte Thomas. »Außerdem haben Sie in der ›Harper Clinic‹ doch erstklassige Spezialisten, wie ich höre.«
(Er sagte nicht Harper.)
»Also gut. Ich arrangiere die Sache mit der Klinik. Sterben Sie schön, und werden Sie glücklich, sehr glücklich mit Pamela. Allerdings: Es kann sein, daß es Wochen dauert, bis Sie tot sind! Wir müssen auf die Leiche warten! Eine Leiche, die Ihnen ähnlich sieht, findet man nicht alle Tage.«
»Mr. Hoover, ich bitte Sie, in einem so großen Land wie Amerika wird sich doch noch etwas Passendes auftreiben lassen«, sagte Thomas Lieven.
Schöne Leserin, geistreicher Leser!
Es hilft nichts, wir sind soweit. Wir können auch nicht darum herumreden. Wir müssen es aussprechen. Es ist nicht fein, was wir auszusprechen haben, es ist nicht schön.
Eingedenk unseres Rufes, unserer vielen zartfühlenden Freunde und des guten Geschmacks sagen wir zuvor wenigstens mit allem Ernst: Nichts liegt uns ferner, als mit dem bekannten Entsetzen den bekannten Spott zu treiben! Gerne würden wir verschweigen, was geschah, aber – es geschah! Es geschah wirklich und wahrhaftig, und wenn wir uns alle auf den Kopf stellen.
Am 27. Oktober traf Thomas Lieven in Begleitung von Pamela Faber in der »Harper Clinic« ein, die weltabgeschieden, von hohen Mauern umschlossen und Tag und Nacht von FBI-Agenten bewacht, irgendwo in den Vereinigten Staaten liegt.
Thomas erhielt ein komfortables Zimmer, dessen Fenster in einen großen Park hinausging. Pamela bekam das Zimmer daneben. Gleich nach der Ankunft besuchte sie ihn. Sie sagten sich zwei Stunden lang guten Tag …
Zuletzt seufzte Pamela glücklich und müde: »Ach, ist das schön, endlich mit dir allein zu sein!«
»Wenn man uns läßt«, meinte er und streichelte sie zärtlich. »Es ist ein komischer Zustand, also wirklich! Wenn ich bedenke: Ich bekomme ein neues Gesicht, neue Papiere, einen neuen Namen, eine neue Nationalität – alles neu. Wer hat schon so ein Glück mit 48 Jahren?« Er küßte sie. »Wie willst du mich denn haben, Süße?«
»Was meinst du?«
»Na ja, schau: Wenn sie jetzt anfangen, an meinem Gesicht herumzuschnipseln, dann kann ich vorher doch bestimmt gewisse Wünsche äußern. Bezüglich der Ohren. Oder der Nase.«
Pamela mußte lachen. »Weißt du, als Kind habe ich so für die Griechen geschwärmt. Ich habe gedacht: Der Mann, den ich einmal heirate, muß ein griechisches Profil haben! Glaubst du … glaubst du …« Pamela wurde rot. »Es ist ja zu dumm«, sagte sie.
»Du meinst eine griechische Nase?« forschte er freundlich. »Wenn’s weiter nichts ist! Und meine Ohren sind in Ordnung?«
»Ganz bestimmt, Liebling. Sonst ist überhaupt alles in Ordnung.«
»Bist du sicher? Noch ist Zeit! Es geht bei der Operation in einem Aufwasch. Die Herren Ärzte hier können sicherlich alles an mir schöner machen – größer – kleiner – wie du es wünschst …«
»Nein«, rief sie hastig, »nein, sonst soll alles genauso bleiben, wie es ist!«
14
In den folgenden Tagen hatten drei Ärzte alle Hände voll mit Thomas Lieven zu tun. Sie fotografierten ihn, sie maßen seinen Schädel mit großen Zirkeln, sie untersuchten einfach alles an ihm. Dann durfte er nicht mehr rauchen. Dann durfte er nicht mehr trinken. Dann durfte Pamela – dann durfte Thomas überhaupt nichts mehr.
Am 7. November operierten sie ihn. Als er wieder zu sich kam, lag er in seinem Zimmer, und sein Kopf war eingebunden und schmerzte.
Am vierten Tag nach der Operation begann er, sich langsam besser zu fühlen. Die Ärzte wechselten die Verbände. Pamela saß den ganzen Tag an seinem Bett und unterhielt ihn, aber mit lauter ernsten Geschichten; denn wenn Thomas unter seinen Verbänden zu lachen versuchte, tat das immer noch weh.
Ein ungeduldig erwartetes Telegramm traf eines Tages für Mr. Grey – so nannte Thomas sich hier – in der Klinik ein. Der Text lautete:
tante vera glücklich gelandet stop alles liebe edgar
Pamela und Thomas lasen das Telegramm. Pamela stieß einen kleinen, glücklichen Schrei aus und drückte seine Hand: »Sie haben die Leiche gefunden, Liebling, sie haben die passende Leiche gefunden!«
»Jetzt kann nichts mehr schiefgehen«, sagte Thomas zufrieden. Aber da irrte er sich! Es ging etwas schief, leider. Am 13. November traf ein besorgter Herr mit schwermütigen Augen und einem Stockschnupfen in der Klinik ein. Er bat Mr. Grey um eine Unterredung unter vier Augen. Allein mit unserem Freund, stellte er sich als John Misaras, Agent des FBI, vor. Der erkältete Misaras brachte triste Nachrichten:
»Mit der Leiche ist etwas Ärgerliches passiert. Wir sind sehr unglücklich darüber, Mr. Grey, glauben Sie mir!« Er nieste donnernd.
»Was ist denn mit der Leiche geschehen?« forschte Thomas beklommen.
»Sie ist nicht mehr da.«
»Wo ist sie denn?«
»In Ankara.«
»Aha«, machte Thomas verdutzt.
»Man hat sie begraben.«
»Aha«, sagte Thomas zum zweitenmal.
»Sie müssen wissen, es gab an diesem Tag nämlich fünf Leichen. Und zwei davon wurden verwechselt. Die unsere und eine andere. Die andere Leiche haben wir noch. Ein türkischer Diplomat. Aber der sieht Ihnen leider nicht ähnlich. Es ist ein Jammer.«
»Aha«, sagte Thomas zum drittenmal.
»Sie verstehen nicht?«
»Zum Wohlsein! – Kein Wort.«
»Wir fanden in Detroit einen Toten ohne Angehörige. Der Mann hätte auch Ihr Zwillingsbruder sein können! Herzschlag. Wir präparierten ihn entsprechend –«
»Sie präparierten ihn?«
»Ja. Und dann verpackten wir ihn in einem Spezialsarg, um ihn nach Europa zu fliegen. Mein Chef wollte auf Nummer Sicher gehen. Um nicht die Aufmerksamkeit anderer Agenten zu erregen, ließ er unsere Leiche mit einer Maschine nach Europa fliegen, die noch vier andere Särge an Bord hatte. Eine Chartermaschine. Sie war von der türkischen Botschaft gemietet worden. Sehen Sie, dieser türkische Diplomat kam mit seiner Familie bei einem Autounfall ums Leben. Mit Frau und zwei großen Kindern. Stand in allen Zeitungen. Auch daß man eine Maschine für die Särge gemietet hatte. So fiel es überhaupt nicht auf, daß wir einen Sarg mehr an Bord brachten. Kein Mensch kümmerte sich darum.«
»Ich verstehe.«
»Leider ist dann in Paris eine Panne passiert. Da sollte unser Sarg ausgeladen werden. Die andern vier Särge sollten nach Ankara weiterfliegen. Den Sarg mit unserer Leiche hatten wir natürlich gekennzeichnet. Es schlich sich aber ein Übermittlungsfehler in das Code-Telegramm ein, und unsere Leute in Paris holten daher einen falschen Sarg aus der Maschine.«
»O Gott.«
»Ja, es ist sehr peinlich. Der türkische Diplomat lag darin, wir haben es inzwischen festgestellt.«
»Und … und … und die Leiche, die mir ähnlich sah?«
»Wurde gestern in Ankara beigesetzt. In einem Familiengrab. Es tut mir wirklich leid, Mr. Grey, aber es ist nichts mehr zu machen. Wir müssen warten, bis wir wieder etwas für Sie finden …«
Also warteten Thomas und Pamela. Am 19. November traf noch ein Telegramm für Mr. Grey ein:
onkel fred in sicherheit stop alles liebe edgar
»Sie haben wieder eine passende Leiche«, flüsterte Pamela.
»Wollen wir bloß die Daumen halten, daß nicht noch einmal etwas schiefgeht«, sagte Thomas. Diesmal ging nichts mehr schief.
Die zweite passende Leiche lag zur Zeit, da Thomas und Pamela die Daumen einwärts drehten und drückten, auf dem Operationstisch eines Vertrauensarztes des FBI in Chikago. Der Tote sah Thomas Lieven außerordentlich ähnlich. Nach Fotos von Thomas sorgte der Arzt mit Wasserstoffsuperoxyd, Paraffineinspritzungen und anderen schönen Dingen dafür, daß der Tote Thomas Lieven immer ähnlicher sah.
Mitarbeiter des FBI hielten unterdessen Kleidungsstücke und Utensilien bereit, die Thomas gehört hatten, so die goldene Repetieruhr und vier Pässe auf vier verschiedene Namen.
Ein FBI-Agent verfolgte mit Interesse die Arbeit des kosmetischen Chirurgen, der, während er ein wenig flüssiges Paraffin in die Nase des Toten schoß, fragte: »Wer ist denn das?«
»Lucky Campanello«, sagte der Agent. »Rauschgift, Erpressung und Mädchenhandel. Paar Kameraden von mir hatten vor zwei Stunden ein Feuergefecht mit ihm. Sie hatten Glück. Er hatte Pech.«
»Ja, das sehe ich«, sagte der Arzt und betrachtete die Stelle, an welcher eine Pistolenkugel direkt über dem Herzen in die Brust von Lucky Campanello eingedrungen war.
Dieser Campanello hatte in seinem 47jährigen Erdenleben stets nur Böses getan und vom Bösen gelebt. Niemandem war er zur Freude gewesen, niemand hatte ihn geliebt, viele hatten ihn gehaßt. Er war ohne Verwandte. Und das setzte ihn in die Lage, nach seinem Tode doch noch eine große positive Rolle zu spielen – seine erste.
Nachdem der Arzt in Chikago mit ihm fertig war, wurde Lucky in einem Spezialbehälter nach Malta geflogen. Hier ankerte ein amerikanisches Schiff. Der Spezialbehälter wurde schnellstens vom Flugplatz aufs Schiff gebracht. Minuten später lief das Schiff aus.
Um Mitternacht des 20. November schlingerte das Schiff sanft auf der Höhe von Lissabon außerhalb der portugiesischen Hoheitsgewässer. Ein Beiboot wurde zu Wasser gelassen. Drei lebende Herren und ein toter Herr nahmen in ihm Platz. Das Boot drehte auf die Küste zu.
Am frühen Morgen des 21. November 1957 fanden dann spielende Kinder auf dem weißen Strand des Fischerdorfes Cascais vor Lissabon bunte Muscheln, Seesterne, halbtote Fische und einen toten Herrn …