1. Kapitel
1
Summend hielt der Lift im obersten Stockwerk des von der Deutschen Abwehr beschlagnahmten Pariser Hotels »Lutetia«. Ein Mann von vierunddreißig Jahren stieg aus. Mittelgroß und schlank, mit Walroßschnurrbart.
Der hagere Georg Raddatz aus Berlin ließ die neueste Ausgabe des französischen Aktmagazins »Regal« in die Tasche gleiten, sprang auf und knallte die Hacken zusammen: »Heil Hitler, Herr Sonderführer!«
»Die Gefreiten Raddatz und Schlumberger beim Funkdienst, Herr Sonderführer!« brüllte der Wiener und nahm dabei übertrieben zackig Haltung an.
Der ohne Zweifel seltsamste Sonderführer, den das Dritte Reich hervorgebracht hatte, antwortete grinsend: »Heil Hitler, ihr Armleuchter. Schon London gehört?«
»Jawohl, Herr Sonderführer!« meldete der Wiener stramm. »Grod jetzt.«
Die drei Männer sahen einander seit Wochen allabendlich – und allabendlich machten sie sich, bevor andere kamen, auf verbotene Weise die Empfangsgeräte eines hervorragend eingerichteten deutschen Funkraums zunutze. Sie hörten jeden Abend London. Der dicke Schlumberger sprach: »Churchill hat a Red’ g’halten. Wenn die Italiener jetzt, wo Mussolini im Oasch is’, noch weita mit uns mitmachen, werden s’ ihr Schmalz kriegen.«
Am 25. Juli, fünf Tage zuvor, hatte König Viktor Emanuel von Italien Mussolini verhaften lassen. Ebenfalls am 25. Juli: Tagesangriffe auf Kassel, Remscheid, Kiel und Bremen.
»Junge, Junge, jeht det schnell«, seufzte Raddatz. »In Rußland kriegen wir ’n Hintern voll am Ladogasee, und im Orel-Bogen loofen wa zurück. Die Italiener kriegen auf Sizilien die Fresse voll.«
Thomas setzte sich. »Und die Herren in Berlin riskieren noch immer die große Schnauze. Und hören nicht auf und hören nicht auf.«
Schlumberger und Raddatz, alte, gewiefte Barrasexperten, nickten trübe. Sie hatten einiges über Thomas Lieven in Erfahrung gebracht. Sie wußten, daß er von der Gestapo gefoltert worden war, bevor der Oberst Werthe ihn vor dem sicheren Tod in den Kellern des SD in der Avenue Foch errettete.
Von der Haft und den furchtbaren Verhören hatte er sich übrigens mittlerweile gut erholt. An verschiedenen Stellen wies sein Körper noch scheußliche Narben auf, aber die wurden verdeckt von einer erstklassigen Kleidung, welche Thomas nun wieder sein eigen nannte.
Thomas sagte: »Oberst Werthe und Hauptmann Brenner werden gleich kommen. Wenn ich euch bitten dürfte, inzwischen diesen Funkspruch zu chiffrieren.« Er legte einen Zettel vor Raddatz auf den Tisch.
Der Berliner las und staunte: »Junge, Junge, det wird ja imma bunta. So jewinnen wa ’n Krieg natürlich doch noch. Kiek mal, Karli.«
Der Wiener las und kratzte seinen Schädel. Sein Kommentar war kurz: »Ich geb’s auf.«
»Nicht doch«, sagte Thomas. »Chiffrieren Sie vielmehr den Spruch.«
Der Spruch lautete:
»an nachtigall 17 – raf-bomber wird 1 august zwischen 23 uhr und 23 uhr 15 über planquadrat 167 mt spezialbehälter mit plastiksprengstoff abwerfen – sprengen sie am 4 august genau o uhr oo die pont noir zwischen gargilesse und eguzon – zeitpunkt genau einhalten – viel glück – buckmaster.«
»Na los, meine Herren«, sagte Thomas Lieven. »Was sollen die fassungslosen Blicke?«
»Der Herr Sonderführer macht wieda an Schmäh, Schorsch«, sagte der Wiener. »Wird irgend so a klaane Schaßbrucken sein, vastehst?«
»Die Brücke, meine Herren«, sprach Thomas mit müdem Lächeln, »führt über die Creuze zur Route Nationale 20 und ist eine der wichtigsten Mittelfrankreichs. Sie liegt vor Eguzon. Dort befindet sich die Staumauer des E-Werkes, das den größten Teil Mittelfrankreichs mit Strom versorgt.«
»Und ausgrechnet dös Bruckerl soll in Oasch gehen?«
»Das walte Gott«, sagte Thomas. »Lange genug habe ich gebraucht, um dös Bruckerl aufzutreiben.«
2
Seine Suche nach einer Brücke hatte Thomas Lieven am 4. Juli 1943 begonnen. In einem hellen Sommeranzug, pfeifend und guter Dinge, ging er durch das sommerliche Paris. Ah, die Boulevards mit ihren blühenden Bäumen! Ah, die Trottoir-Cafés mit den schönen jungen Frauen in den kurzen bunten Kleidern. Die verrückten Hüte! Die hohen Korkschuhe! Der Geruch nach Abenteuer, Flirt, Parfüm und Jasmin …
Paris 1943: Eine Stadt, die immer noch wie im Frieden lebte. Wenn in den Wohnungen am Square du Bois de Boulogne vorzeitig das Licht erlosch, dann waren nicht Stromsperren daran schuld, und wenn Vorhänge rauschten, dann waren sie zärtlich und nicht aus Eisen.
Voll Charme hatten die Pariser sich mit der deutschen Besatzung abgefunden. Der »Marché noir«, der schwarze Markt, blühte. Die Moral der Landser hielt einem solchen Leben nicht stand. Der General von Witzleben seufzte einmal: »Die französischen Frauen, die französische Küche und die französische Mentalität haben uns den Rest gegeben. Im Grunde müßte ich die hier stationierten Truppen alle vier Wochen auswechseln.«
Der kleinste Zahlmeister aus dem Kohlenpott lebte in Paris wie ein Fürst! Er kannte die Unterschiede der feinsten Champagnermarken, verlangte in seinem Hotel »Poulet garni«, aß Austern zu Dutzenden und erfuhr in den sanften Armen seiner französischen Freundin, daß es nicht das süßeste war, fürs Vaterland zu sterben.
Das Hauptquartier des Generals von Rundstedt, Oberbefehlshaber West, war Thomas Lievens erstes Ziel. Hier sprach er mit drei Majoren, die er alle umständlich und feierlich zu Geheimnisträgern machte, bevor er mit seiner kleinen Bitte herausrückte.
Der erste Major verwies ihn an den zweiten. Der zweite verwies ihn an den dritten. Der dritte Major warf ihn hinaus und verfaßte eine Meldung an seinen General. Der General schickte die Meldung ins Hotel »Lutetia« mit dem Vermerk, daß er sich jede Einmischung der Abwehr in militärische Fragen – und die Sprengung einer Brücke wäre doch wohl eine solche – geziemend verbäte!
Mittlerweile war der hurtige Thomas bereits beim »Wehrmachtsführungsstab Technik« erschienen, um daselbst einem gewissen Major Ledebur seine kleine Bitte vorzutragen. Da war es 11 Uhr 18. Um 11 Uhr 19 klingelte auf dem Schreibtisch des pedantischen, ehrgeizigen Hauptmanns Brenner im Hotel »Lutetia« das Telefon. Der kleine Berufsoffizier mit dem schnurgeraden Scheitel und der goldgefaßten Brille hob ab und meldete sich. Dann verbeugte er sich stramm im Sitzen, denn er erfuhr, daß er mit einem gewissen Major Ledebur sprach.
Was der Ranghöhere sagte, ließ den Hauptmann rot anlaufen. Er bellte: »Immer so etwas erwartet, Herr Major! Völlig meine Meinung! Mir sind jedoch die Hände gebunden! Bedaure außerordentlich, Herrn Major mit Herrn Oberst Werthe verbinden zu müssen.«
Das tat er denn auch. Der Oberst wurde im Gegensatz zu seinem Hauptmann sehr bleich, als er hörte, was der Major zu sagen hatte. Zuletzt sprach er mühsam: »Ich danke für die Benachrichtigung, Herr Major. Sehr aufmerksam von Ihnen, wirklich. Aber ich kann Sie beruhigen: Sonderführer Lieven ist nicht verrückt. In keiner Weise! Ich komme und hole ihn selber ab.« Er hängte auf. Hauptmann Brenner war neben ihn getreten. Seine Brillengläser blitzten: »Gestatte mir ergebenst, darauf hinzuweisen, daß ich immer vor diesem Menschen gewarnt habe. Er ist wirklich nicht normal!«
»Der Mann ist so normal wie Sie und ich! Und Canaris hat nun mal einen Narren an ihm gefressen. Hand aufs Herz: War seine Idee der friedlichen Partisanenbekämpfung nicht die beste von allen? Mensch, Brenner, wachen Sie auf! In Frankreich verübten die Maquis im letzten Monat allein 243 Morde, 391 Eisenbahnüberfälle und 825 Sabotageakte in der Industrie! In einem einzigen Gebiet herrschte Ruhe: in Gargilesse. Das ist sein Gebiet!« Hauptmann Brenner preßte die Lippen zusammen und zuckte die Schultern. Oberst Werthe fuhr los und befreite Thomas Lieven, der sich ungemein darüber amüsierte, daß der Major Ledebur an seinem Geisteszustand Kritik geübt hatte. Werthe sagte zu ihm: »Ich brauche jetzt aber einen Schnaps, Mensch.«
Über den Pernod-Gläsern fragte Werthe dann kopfschüttelnd: »Warum sind Sie bloß so verrückt mit Ihrer Brücke, Lieven?«
Still antwortete Thomas: »Weil ich davon überzeugt bin, daß viele Menschen, die sonst sterben müßten, am Leben bleiben werden, wenn ich die Brücke finde. Deutsche und Franzosen, Herr Oberst. Darum.«
Oberst Werthe drehte den Kopf zur Seite: »Ach, Lieven, Sie sind ein netter Kerl.« Er sah aus der kleinen Bar hinaus auf den sommerlichen Boulevard mit seinen Blumen, Bäumen, jungen Frauen. Plötzlich ballte er eine Hand zur Faust: »Dieser verfluchte Krieg«, sagte Oberst Werthe.
3
Am nächsten Morgen irrte Thomas Lieven durch eine Dienststelle des Reichsarbeitsdienstes in Paris. Er verlief sich auf der Suche nach der Abteilung, die für Brücken zuständig war, vollkommen und landete in einem Büro, das er sofort fluchtartig wieder verlassen wollte. Zwei Gründe gab es für seine Panik: vier Bilder an der Wand und die Dame hinter dem Schreibtisch.
Die Bilder zeigten Hitler, Goebbels, Göring und den Reichsarbeitsführer Hierl. Die Dame war außerordentlich hager und groß, ihr Brust war platt, die Hände waren knochig. Das farblose Haar trug sie zu einem Knoten hochgenommen. An ihrer weißen Bluse saß über der linken Brust ein goldenes Parteiabzeichen und am Kragen eine schwere, gehämmerte Brosche. Sie trug einen braunen Rock, braune Wollstrümpfe und braune, flache Schuhe. Sie sah streng aus, sie war streng gekleidet, und es roch streng in ihrem Büro.
Thomas war schon wieder halb aus dem Büro entwichen, da traf ihn ihre harte, brüchige Stimme: »Einen Moment!«
Er drehte sich um und lächelte verzerrt. »Ich bitte um Verzeihung, ich habe mich verlaufen. Guten Tag!«
Mit drei Schritten war die Frau hinter ihrem Schreibtisch vorgeschossen. »Was heißt hier ›guten Tag‹? ›Heil Hitler‹ lautet unser Gruß!« Sie war fast zwei Köpfe größer als Thomas. »Ich verlange Antwort. Wer sind Sie? Wie heißen Sie?«
Er sagte gepreßt: »Sonderführer Lieven.«
»Was für ein Sonderführer? Zeigen Sie den Ausweis!«
»Wie komme ich dazu? Ich weiß ja auch nicht, wer Sie sind.«
»Ich«, antwortete die Hagere, die sich offenbar mit Lysolseife wusch, »bin die Stabshauptführerin Mielcke. Seit vier Wochen hier. Persönlicher Auftrag von Reichsarbeitsführer Hierl. Ich habe alle Vollmachten. Hier ist mein Ausweis. Wo ist Ihrer?«
Stabshauptführerin Mielcke studierte den Ausweis Thomas Lievens genau. Dann rief sie bei Oberst Werthe an und erkundigte sich, ob er einen Sonderführer Lieven kenne. Erst danach bot sie Thomas Platz an: »Der Feind steht überall. Man muß wachsam sein. Also, was wollen Sie?«
»Wirklich, Frau Mielcke –«
»Stabshauptführerin. Das ist mein Rang.«
»Wirklich, Frau Stabshauptführerin –«
»Nicht Frau. Nur Stabshauptführerin.«
Da hast du recht, Zimtzicke, nicht Frau, dachte er und sagte mühsam freundlich: »Wirklich, Stabshauptführerin, ich glaube nicht, daß Sie die richtige Instanz für mein Problem sind.«
»Bin ich. Reden Sie also nicht lange herum. Sprechen Sie!«
In Thomas kroch langsam eine Welle siedendheißer Wut hoch. Noch beherrschte er sich. »Mein Auftrag ist geheim. Ich kann darüber nicht sprechen.«
»Ich verlange es von Ihnen. Als Bevollmächtigte des Reichsarbeitsführers habe ich das Recht dazu. Ich lasse Sie festnehmen, wenn Sie nicht sofort …«
Thomas brüllte los: »Stabshauptführerin, ich verbitte mir diesen Ton …«
»Sie haben sich überhaupt nichts zu verbitten! Ich werde noch heute einen Bericht abfassen. Über frontfähige junge Leute, die sich hier unter dem Deckmantel ›Abwehr‹ im Pariser Sündensumpf herumdrücken. Ich werde persönlich dem Reichsarbeitsführer berichten!«
Jetzt hatte Thomas genug, jetzt konnte er nicht mehr. Er schrie sie an: »Und ich werde meinen Bericht abfassen! An den Admiral Canaris persönlich. Sie sind wohl wahnsinnig geworden? Wie reden Sie denn mit mir? Auf so was wie Sie haben wir hier gerade gewartet!« Er wurde tückisch: »Stabshauptführerin entspricht dem Rang eines Obersten, was? Da ist ein Admiral doch wohl immer noch ein bißchen mehr, wie?« Er schlug auf den Tisch und schrie: »Sie werden sich vor Admiral Canaris zu verantworten haben, verstanden?«
Sie starrte ihn mit schmalen Augen an, die wäßrig waren, blau und nordisch. Sie sagte langgedehnt und lächelnd und feige: »Was regen Sie sich denn so auf, Sonderführer? Ich tue doch nur meine Pflicht.« Sie schluckte.
Thomas dachte: Jetzt hat sie Angst. Jetzt will sie mich versöhnen. Aber ich kann nicht mehr. Ich ersticke, wenn ich hier noch eine Minute bleibe. Er sprang auf, riß den rechten Arm hoch und brüllte: »Heil Hitler, Stabshauptführerin!« »So warten Sie doch …«
Aber er war schon bei der Tür, riß sie auf und warf sie dröhnend hinter sich ins Schloß. Weg! Weg! An die frische Luft!
Am 11. Juli landete Thomas Lieven im Hauptquartier der Organisation Todt. Hier war er an einen Baurat namens Heinze verwiesen worden. HEINZE stand auch an der Tür des Büros, welche Thomas gegen 11 Uhr morgens an diesem Tage öffnete. Zwei große Zeichentische standen darin. Zwei große Männer stritten davor. Sie stritten so heftig, daß sie Thomas Lievens Erscheinen nicht zur Kenntnis nahmen. Die Männer trugen beide weiße Mäntel über ihren Uniformen und schrien.
DER EINE: »Ich lehne die Verantwortung ab! Jeder Panzer, der drüber rollt, kann das Ding zum Einsturz bringen!«
DER ANDERE: »Wie stellen Sie sich das vor, Mensch, die nächste Brücke geht bei Argenton über die Creuze!«
DER EINE: »Das ist mir piepegal, dann müssen die Herren eben den Umweg fahren! Ich erkläre: Die ›Pont noir‹ bei Gargilesse ist eine Gefahr! Meterlange Risse auf der Fahrbahnunterseite! Meine Statiker hat vor Schreck fast der Schlag gerührt!«
DER ANDERE: »Verstärken Sie die Konstruktion mit Bewehreisen!«
DER EINE: »Erlauben Sie – das ist doch der letzte Dreck!«
Thomas dachte: Brücke bei Gargilesse. Phantastisch. Absolut phantastisch. Es ist, als wäre die Wirklichkeit hinter meinen Wünschen und Träumen hergelaufen. Jetzt hat sie mich eingeholt …
DER ANDERE: »Denken Sie an das E-Werk! Die Staumauer! Wenn wir die Brücke sprengen, wird doch die Stromversorgung gestört!«
DER EINE: »Nicht, wenn wir sie sprengen! Dann können wir vorher Umschaltungen und Abschaltungen vornehmen. Aber wenn das Ding morgen von selber einstürzt – dann dürfen Sie von Stromstörungen reden! Ich – was wollen Sie hier?«
Thomas Lieven war endlich entdeckt worden. Er verneigte sich und sprach sanft: »Ich hätte gerne Baurat Heinze gesprochen.«
»Das bin ich«, sagte der eine. »Was gibt’s?«
»Herr Baurat«, sagte Thomas, »ich glaube, wir werden wundervoll zusammenarbeiten …«
Die Zusammenarbeit war tatsächlich wundervoll. Bereits am 15. Juli hatte man die Pläne der Organisation Todt und der Organisation Canaris betreffend der Zukunft der »Pont noir« südlich von Gargilesse völlig koordiniert. Nun erteilte Thomas dem »Maquis Crozant« als »Colonel Buckmaster, War Office, London« über Funk den Auftrag:
»stellen sie unverzüglich eine liste der wichtigsten brücken im gebiet ihres maquis zusammen – melden sie art und dichte der truppenbewegungen.«
Tagelang, nächtelang lagen französische Widerständler auf der Lauer. Sie hockten unter Brückenbögen, in Baumkronen, in den Dachböden alter Windmühlen und Bauernhäuser. Sie hatten Feldstecher, Papier und Bleistift bei sich. Sie zählten deutsche Panzer, Lastkraftwagen, Motorräder. Und allabendlich um 21 Uhr meldeten sie ihre Beobachtungen nach »London«. Da war die Brücke bei Feurs. Die Brücke bei Macon. Die bei Dompierre. Die bei Nevers. Und die große »Pont noir« südlich Gargilesse, vor der Staumauer des E-Werkes bei Eguzon.
Am 30. Juli um 21 Uhr saßen Yvonne Dechamps und Professor Débouché, Bürgermeister Cassier, Leutnant Bellecourt und Emile Rouff, der Töpfer, in der Wohnstube der alten »Moulin de Gargilesse«. Zum Schneiden dick lagerte Zigarettenrauch im Raum.
Yvonne trug Kopfhörer. Sie nahm die verschlüsselte Botschaft auf, die der leicht verfettete Gefreite Schlumberger in Paris durchgab:
»sv. 21 54 621 lhvhi rhwea riehr ctbgs twoee …«
Die Männer, die Yvonne Dechamps umstanden, atmeten flach und kurz. Professor Débouché putzte seine Brillengläser. Leutnant Bellecourt beleckte immer wieder seine Lippen.
» …sntae siane krodi lvgap«, morste Schlumberger im obersten Stockwerk des Hotels »Lutetia« in Paris. Die Männer, die ihn umstanden, Thomas Lieven, der kleine, pedantisch frisierte Hauptmann Brenner, der verschlossene Oberst Werthe, atmeten flach und kurz. Hauptmann Brenner nahm seine goldgefaßte Brille ab und putzte sie umständlich.
Zwanzig Minuten nach neun Uhr brach »London« den Funkverkehr ab. In der romatischen uralten Wassermühle am Ufer der Creuze dechiffrierten die Führer des »Maquis Crozant« die empfangene Botschaft, jene Botschaft, welche begann:
»an nachtigall 17 – raf-bomber wird 1. august zwischen 23 uhr und 23 uhr 15 über planquadrat 167 mt spezialbehälter mit plastiksprengstoff abwerfen – sprengen sie am 4. august genau o uhr oo die pont noir zwischen gargilesse und eguzon …«
Als die Meldung dechiffriert vorlag, redeten sie alle durcheinander. Nur Yvonne Dechamps schwieg. Still saß sie vor dem Funkgerät, die Hände im Schoß gefaltet. Sie dachte an diesen seltsamen Captain Everett, dem sie so sehr mißtraut hatte.
Professor Débouché sprach mit den Männern. Yvonne hörte es kaum. Widersinnig, unsinnig war, was sie dachte, was sie fühlte. Und doch, und doch: Mit einer Gewißheit, die schmerzte, wußte sie, daß sie diesen Captain Everett wiedersehen würde – irgendwann, irgendwo …
Die Stimmen um sie her wurden lauter. Yvonne schrak auf. Sie bemerkte, daß ein Streit zwischen dem Bürgermeister Cassier, dem Töpfer Rouff und Professor Débouché entbrannt war. Der eitle Cassier schlug auf den Tisch: »Das hier ist meine Gegend! Ich kenne sie wie meine Tasche! Ich bestehe darauf, daß ich die Sprengaktion leite!«
Ruhig sagte der Gelehrte: »Hier schlägt niemand auf den Tisch, mein Freund. Leutnant Bellecourt wird die Organisation leiten. Er ist Spezialist für Sprengungen. Sie werden tun, was er sagt.«
»Mich kotzt das an, daß alles dem Leutnant übertragen wird«, ereiferte sich der Bürgermeister. »Wer hat das ›Maquis Crozant‹ gegründet? Rouff, ich und ein paar Bauern.«
»Jawohl«, rief der Töpfer. »Leute aus der Gegend! Ihr andern seid alle erst später hinzugekommen.«
Yvonne zwang sich, nicht mehr an Captain Everett zu denken. Sie sagte kalt: »Hört auf zu streiten. Es geschieht, was der Professor sagt. Es stimmt, daß wir später zu euch stießen. Aber wir haben dies Maquis erst richtig aufgezogen. Durch uns habt ihr ein Funkgerät bekommen. Ich habe euch das Funken beigebracht.«
Der Bürgermeister und der Töpfer schwiegen. Aber über den Kopf Yvonnes hinweg sahen sie einander an, schlau und verschlagen, wie alte Bauern es tun …
4
Am 1. August 1943, um 23 Uhr 10, warf ein britischer Bomber, den die Deutschen erbeutet hatten, über dem Planquadrat 167 mt einen großen Spezialbehälter mit erbeutetem Plastiksprengstoff ab.
Am 2. August 1943 erschien im Kraftwerk Eguzon ein gewisser Baurat Heinze von der OT Paris und besprach mit den leitenden deutschen Ingenieuren in allen Einzelheiten die Folgen der notwendigen Maßnahmen, die sich aus einer Sprengung der Brücke nahe der Staumauer ergaben.
Am 3. August erschien Baurat Heinze beim Kommandanten eines Landesschützen-Bataillons, machte ihn zum Geheimnisträger und schärfte ihm ein, daß alle deutschen Wachmannschaften der »Pont noir« am 4. August zwischen 23 Uhr 15 und 0.30 Uhr fernbleiben sollten.
Am 4. August um 0.08 Uhr flog die »Pont noir« programmgemäß mit ungeheurem Getöse in die Luft. Kein Mensch wurde verletzt.
Am 5. August, um 21 Uhr, hockten die Gefreiten Schlumberger und Raddatz im Hotel »Lutetia« in Paris schwitzend vor ihren Apparaten. Hinter ihnen standen Thomas Lieven, Oberst Werthe und Hauptmann Brenner.
»Nachtigall 17« meldete sich pünktlich. Schlumberger murmelte, während er mitschrieb: »Heute morst nicht das Mädchen. Heute ist einer von den Kerlen dran …«
»Nachtigall 17« morste lange, so lange wie noch nie. Die Meldung nahm überhaupt kein Ende. Während Schlumberger noch aufnahm, begann Raddatz schon zu dechiffrieren. Der erste Teil der Meldung lautete so ähnlich, wie Thomas sie erwartet hatte:
»… mission pont noir auftragsgemäß erledigt – gesamte brücke durch sprengung zum einsturz gebracht – zwanzig mann an operation direkt beteiligt – leutnant bellecourt vor aktion bein gebrochen – liegt bei freunden in eguzon – hier sendet emile rouff – professor débouché und yvonne dechamps sind in clermont-ferrand …«
Werthe, Brenner und Thomas blickten dem dechiffrierenden Raddatz über die Schulter.
Dieser Vollidiot da unten, dachte Thomas erbleichend, warum nennt er Namen?
Ehe Thomas etwas tun konnte, fühlte er, wie der Gefreite Raddatz ihm auf den Fuß trat. Er sah zu dem Funker hinab. Ein Ausdruck des entsetzten Staunens stand in den Augen des Berliners. Gerade reichte Schlumberger ihm wieder einen Zettel herüber. Raddatz räusperte sich verzweifelt.
»Was ist da los?« rief Brenner, wieselschnell hinzutretend.
»Ick – ick – jar nischt!« erklärte der Berliner.
Brenner riß ihm das Papier aus der Hand: »Geben Sie her, Mann!« Er hielt es hoch. Seine Brillengläser blitzten. »Hören Sie sich das mal an, Herr Oberst!«
Thomas fühlte, wie eine Hand aus Eis nach seinem Herzen griff, als Brenner vorlas, was Raddatz soeben dechiffriert hatte:
»Wir bitten von Aktion General de Gaulle zu berichten und ihm unsere wichtigsten und tapfersten Mitglieder bekanntzugeben – Lob und Auszeichnung würden Kampfmoral fördern …«
O Gott, dachte Thomas, das kann doch nicht wahr sein!
»… Hauptverdienst an Sprengung kommt nach Ausfall Leutnant Bellecourts dem Bürgermeister Cassier, wohnhaft in Crozant, zu – ihm zur Seite Emile Rouff aus Gargilesse – ferner wirkten mit …«
Der Gefreite Schlumberger sah verstört von seinem Stenogrammblock auf.
»Sie nehmen weiter auf, Mann!« schrie Brenner ihn an. Dann drehte der Hauptmann sich zu Thomas um. »Herr Sonderführer, Sie sagten doch mal, man könne diese Brut nicht fassen, weil man keine echten Namen und Adressen kenne, was?« Brenner lachte metallen. »Jetzt werden wir sie gleich kennen!«
Um Thomas drehte sich alles. Diese Saukerle da unten. Diese eitlen Idioten. Ich dachte immer, nur wir wären so. Die Franzosen sind auch nicht besser. Umsonst. Alles umsonst.
Oberst Werthe hatte plötzlich keine Lippen mehr. Er sagte sehr leise: »Verlassen Sie den Funkraum, Herr Lieven.«
Menu • Paris, 5. August 1943
Beim Fisch kam die Idee,
die 65 Menschenleben rettete …
Hammelnierenschnitten
Seezunge nach Grenobler Art
Marillenpalatschinken
Hammelnierenschnitten: Man nehme kleine Hammelnieren, entferne Fett und Haut und halbiere sie der Länge nach. – Man schneide kleine Weißbrotscheiben, buttere sie leicht auf beiden Seiten und belege jede mit einer halben Niere, Schnittseite nach unten. – Man verrühre scharfen Senf mit saurer Sahne, einem Stückchen Butter, einem Eigelb, etwas Salz und Cayennepfeffer zu einem dicklichen Brei, streiche ihn über die Nieren. – Man gebe die Nierenschnitten für etwa 10 Minuten bei mittlerer Oberhitze in den Backofen. Man prüfe mit spitzer Gabel. Wenn kein roter Saft mehr aus den Nieren quillt, sind sie fertig. Man serviere heiß.
Seezunge nach Grenobler Art: Man lasse die Fische vorher vom Händler abhäuten und die Filets auslösen. – Dann mindestens eine halbe Stunde mit Zitronensaft, Pfeffer und Salz marinieren, damit das Fleisch fest und weiß bleibt. Man trockne gut ab und brate schnell auf beiden Seiten in sehr heißer brauner Butter; danach auf vorgewärmter Platte ablegen. – Dann kleine Zitronenwürfel mit einigen Kapern in der Bratbutter schnell heiß werden lassen. – Diese Sauce gieße man über die angerichteten Seezungenfilets, reiche mit Petersilie bestreute Salzkartoffeln dazu.
Marillenpalatschinken: Man backe feine, dünne mittelgroße Eierkuchen. – Man bestreiche sie auf einer Seite mit Marillenkonfitüre, rolle sie zusammen und drehe sie noch einmal in der heißen Butter um. Man serviere sie sofort und bestreue sie nach Geschmack noch mit geriebenen Mandeln. – Feine Eierkuchen geraten am besten, wenn man den Teig mindestens eine Stunde vorher zubereitet hat und ruhen ließ.
»Herr Oberst, ich bitte zu bedenken«, begann Thomas und brach ab, denn er sah in die grauen Augen Werthes und wußte: Nichts, was er sagte, konnte diesen Mann jetzt noch beeindrucken.
Umsonst. Alles umsonst wegen ein paar dämlichen Hunden, die nach dem Krieg ein paar Stückchen Blech auf der Brust tragen wollten …
Fünf Minuten später wurden die Gefreiten Schlumberger und Raddatz turnusgemäß abgelöst. Sie kamen in die Halle des Hotels herunter, wo Thomas auf sie wartete.
Schlumberger machte ein Gesicht, als wollte er weinen:
»Dös Schaf hört net auf und hört net auf. Siebenundzwanzig Namen bis jetzt.«
»Aus den siebenundzwanzig kriejen se die Namen von de’ andern raus wie nischt«, sagte Raddatz.
»Wollt ihr mit mir essen gehen, Kameraden?« fragte Thomas. Sie gingen – wie häufig in den letzten Monaten – zu »Henri«. Das war ein kleines Lokal in der Rue Clément Marot, das Thomas entdeckt hatte. Der Wirt kam selber an den Tisch und begrüßte sie herzlich. Wenn er Thomas sah, bekam er jedesmal feuchte Augen.
»Henri« hatte eine jüdische deutsche Schwägerin. Diese war mit Hilfe von falschen Papieren auf dem Land untergetaucht. Die falschen Papiere hatte Thomas ihr besorgt. Im Hotel »Lutetia« gab es viele und gute Gelegenheiten, an falsche Dokumente heranzukommen. Thomas benützte sie gelegentlich. Und Oberst Werthe wußte es und schwieg.
»Etwas Leichtes, Henri«, sagte Thomas. Es war schon spät, und er mußte sich beruhigen. Sie stellten das Menü zusammen.
Schlumberger bat: »Gehn S’, Herr Lieven, übersetzen S’ eahm, er soll a paar Palatschinken machen!«
Thomas übersetzte. Henri verschwand. Schweigen senkte sich über die drei Freunde, bleiernes Schweigen. Erst als die Hammelnierenschnitten kamen, murmelte der Wiener: »Brenner hat Berlin angerufen. Spätestens morgen in der Früh gibt’s da unten a Sonderaktion. Was mit die Leut g’schieht, is’ klar.«
Thomas dachte: Professor Débouché. Die schöne Yvonne. Leutnant Bellecourt. Viele, viele andere. Noch leben sie. Noch atmen sie. Bald wird man sie verhaften. Bald werden sie tot sein.
»Junge«, sagte Raddatz, »jetzt habe ick ma vier Jahre jedrückt. Noch nich eenen Menschen habe ick jetötet. Scheißjefühl, det wa uff eenmal mit schuld sind …«
»Wir sind nicht daran schuld«, sagte Thomas. Und dachte: Ihr nicht. Aber ich? Ich, ausweglos bereits eingesponnen in Lüge und Betrug, Täuschung und Arglist. Bin ich noch unschuldig?
Schlumberger sagte: »Herr Lieven, dös is doch ausg’schlossen, daß mir jetzt den Partisanen helfen, die wo unsere Kameraden umlegen!«
»Ja«, sagte Thomas, »das ist ausgeschlossen.« Und er dachte verzweifelt: Was kann man tun? Was soll man tun? Wie bleibt man ein anständiger Mensch?
»Karli hat recht«, sagte der Berliner. »Sehen Se mal, ick bin ooch keen Nazi. Aba Hand uffs Herze: Anjenommen, diese Partisanen kriejen mir in die Mache. Würden die mir jlooben, det ick keen Nazi bin?«
»Die scheißen da wos. Die legen di um. Für die is a Deutscher a Deutscher.«
Thomas stocherte gedankenvoll an seinem Fisch herum. Plötzlich stand er auf. Er sagte: »Eine Möglichkeit gibt es doch. Eine einzige.«
»Wat for ’ne Möjlichkeit?«
»Etwas zu tun – und doch ein anständiger Mensch zu bleiben«, sagte Thomas. Er ging in eine Telefonzelle, rief das Hotel »Lutetia« an und verlangte Oberst Werthe. Der meldete sich nervös.
Thomas hörte viele Stimmen. Der Oberst schien in einer Besprechung zu sein. Schweiß rann Thomas über das Gesicht. Er dachte: Anständig bleiben. Gegen die anständigen Menschen in meinem Land. Gegen die anständigen Menschen in diesem. Kein Verräter werden. Kein Phantast. Kein Sentimentalist. Nur Leben retten … Leben retten …
Thomas sagte heiser: »Herr Oberst, hier ist Lieven. Ich habe Ihnen einen Vorschlag von größter Wichtigkeit zu machen. Sie werden allein nicht darüber entscheiden können. Ich bitte, mich anzuhören und danach sofort Herrn Admiral Canaris zu verständigen.«
»Was ist das für ein Quatsch?«
»Herr Oberst, wann beginnt die Aktion da unten?«
»Morgen früh. Warum?«
»Ich bitte Sie, mich die Aktion leiten zu lassen!«
»Lieven! Ich bin durchaus nicht zu Späßen aufgelegt. Meine Geduld ist erschöpft!«
»Hören Sie mich an, Herr Oberst«, rief Thomas. »Bitte, hören Sie, was ich Ihnen vorzuschlagen habe …«
5
Es war 4 Uhr 45 am Morgen des 6. August 1943, als ein original britisches »Lysander«-Flugzeug Kurs auf die französische Stadt Clermont-Ferrand nahm. Aus brauenden Nebelmassen stieg eben der gleißende Ball der Sonne empor.
Der Pilot, von seinem Passagier durch eine Wand getrennt, griff nach dem Bordtelefon und sprach: »Landung in zwanzig Minuten, Sonderführer!«
»Danke«, sagte Thomas Lieven und klinkte den Telefonhörer neben sich ein. Dann saß er reglos in der winzigen Kabine und blickte hinaus auf den makellos reinen Himmel und auf die weißlich-grauen Nebelschleier, die noch die schmutzige Erde mit ihren Kämpfen und Intrigen, ihrer Niedrigkeit und Dummheit verdeckten.
Thomas Lieven sah elend aus. Eingefallen war sein Gesicht, die Augen lagen in dunklen Höhlen. Er hatte die schwerste Nacht seines Lebens hinter sich und den schwersten Tag seines Lebens vor sich.
Zehn Minuten später ging der Pilot tiefer. Die »Lysander« durchbrach die morgendliche Nebeldecke. Clermont-Ferrand, Sitz eines Bischofs und einer Universität, lag unter ihnen – schlafend noch, ohne Leben, mit leeren Straßen.
Um 5 Uhr 15 trank Thomas Lieven im Dienstzimmer des Tiroler Hauptmanns Öllinger heißen Kaffee. Der stämmige kleine Kommandeur der Gebirgsjägereinheit, die vor Clermont-Ferrand ihren Standort hatte, studierte Thomas Lievens Geheimdienstausweis genau.
Er sagte: »Ich habe ein langes Fernschreiben von Oberst Werthe bekommen. Er hat vor einer Stunde auch mit mir telefoniert. Sonderführer, meine Leute stehen zu Ihrer Verfügung.«
»Zunächst bitte ich nur um einen Wagen, der mich in die Stadt bringt.«
»Ich gebe Ihnen zehn Mann mit.«
»Danke, nein. Was ich zu tun habe, muß ich allein erledigen.«
»Aber …«
»Hier ist ein versiegelter Brief. Wenn Sie bis acht Uhr nichts von mir gehört haben, öffnen Sie ihn. Er enthält alle notwendigen Anweisungen von Oberst Werthe für das, was Sie dann tun müssen. Leben Sie wohl.«
»Auf Wiedersehen …«
»Ja«, sagte Thomas und klopfte auf Holz, »das hoffe ich.«
Ein Citroën, erbeutet zwar, aber ohne deutsche Kennzeichen, holperte über den menschenleeren Platz Blaise Pascal. Thomas saß neben dem verschlafenen, schweigsamen Fahrer. Er trug einen Trenchcoat über seinem grauen Flanellanzug und einen weißen Hut.
Sein Ziel an diesem frühen Morgen: Professor Débouché, geistiger Führer der Résistance in Mittelfrankreich. Er lebte in einer Dienstwohnung der ausgedehnten »Cité Universitaire«. Vor dem Hauptportal in der Avenue Carnot stieg Thomas aus. Er sagte: »Fahren Sie um die Ecke, und warten Sie auf mich.«
Dann ging er auf das Tor der Universität zu. Lieber Gott, hilf mir jetzt, dachte er. Hilf uns jetzt allen …
Es dauerte eine Ewigkeit, und Thomas mußte immer wieder läuten, bis endlich der alte Pedell fluchend auftauchte, in Pantoffeln und Nachthemd, einen Mantel übergeworfen. »Nom de Dieu, sind Sie wahnsinnig geworden? Was wollen Sie?«
»Professor Débouché sprechen.«
»Jetzt? Hören Sie mal …« Der Pedell brach ab. Eine Fünftausendfrancnote hatte den Besitzer gewechselt. »Na ja, es wird wohl dringend sein. Wen darf ich dem Herrn Professor melden?«
»Haben Sie Telefon in der Wohnung?«
»Ja, Monsieur …«
»Ich spreche selbst mit ihm.«
In der vollgeräumten Souterrainwohnung des Pedells trat Thomas Schweiß auf die Stirn, während er, Hörer am Ohr, vernahm, wie bei Professor Débouché das Telefon schrillte.
Die Frau des Pedells war aufgestanden, sie drückte sich neben ihren Mann und flüsterte mit ihm, und beide betrachteten Thomas erschrocken. Dann hörte Thomas eine Stimme, die er kannte: »Débouché. Was ist los?«
Krächzend sagte Thomas: »Everett.«
Er hörte den Professor Atem holen. »Everett? Wo – wo sind Sie?«
»In der Universität. In der Wohnung des Pedells.«
»Er soll Sie zu mir führen – augenblicklich … Ich – ich erwarte Sie …«
Thomas hängte ein. Der Pedell sagte: »Kommen Sie, Monsieur.« Im Hinausgehen nickte er seiner Frau zu, das sah Thomas noch. Er sah nicht mehr, daß die verblühte, ergraute Frau daraufhin zum Telefon trat und den Hörer abnahm …
6
»Was, um Himmels willen, hat Sie zu der Wahnsinnstat veranlaßt hierherzukommen, Captain Everett?« Der berühmte Physiker, der aussah wie Albert Einstein, stand Thomas in der Bibliothek seiner Wohnung vor einer riesigen Bücherwand gegenüber.
»Herr Professor, das ›Maquis Crozant‹ hat die Brücke bei Gargilesse gesprengt.«
»Weisungsgemäß, ja.«
»Haben Sie Ihre Leute seither gesehen?«
»Nein. Ich bin mit meiner Assistentin schon seit einer Woche hier. Ich hatte Vorlesungen zu halten.«
»Sie wissen aber, daß an Stelle von Leutnant Bellecourt der Bürgermeister Cassier und der Töpfer Rouff die Sprengung geleitet haben?«
»Gute Leute, brave Leute.«
»Schlechte Leute, dumme Leute«, sagte Thomas erbittert. »Eitle Leute, Herr Professor! Verantwortungslose Leute!«
»Mon capitaine, also hören Sie …«
»Wissen Sie, was diese gottverdammten Narren gestern abend getan haben? Sie setzten sich ans Funkgerät und gaben Namen und Adressen der Mitglieder des ›Maquis Crozant‹ durch! Cassier! Rouff! Professor Débouché! Yvonne Dechamps! Leutnant Bellecourt. Über dreißig Namen und Adressen …«
»Aber warum denn, um Himmels willen?« Der alte Mann war bleich geworden.
»Um sich anzupreisen. Damit General de Gaulle auch bestimmt weiß, wer die tapfersten Helden waren, die die größten Orden verdienen … Dummköpfe haben Sie da oben in den Bergen sitzen, Herr Professor!«
Der alte Mann sah Thomas lange an. Dann sagte er: »Gewiß, es war falsch, die Namen durchzugeben. Aber war es ein Verbrechen? Ist London dadurch in Gefahr gebracht worden? Doch wohl kaum … Das also kann nicht der Grund sein, weswegen Sie herkommen und Ihr Leben riskieren …« Nah, ganz nah trat Professor Débouché an Thomas heran. Groß und forschend waren die Augen des Gelehrten, als er heiser flüsterte: »Wofür riskieren Sie Ihr Leben, Captain Everett?«
Thomas holte tief Atem. Und wenn er mich umlegt, dachte er. Und wenn ich diesen Tag nicht überlebe. Dann bin ich wenigstens bei dem Versuch gestorben, in dieser schmutzigen Zeit ein anständiger Mensch zu bleiben. Er fühlte sich plötzlich ganz ruhig, wie damals, als er den Entschluß gefaßt hatte, sich weiteren Gestapo-Verhören durch Selbstmord zu entziehen.
Er sagte still: »Weil ich nicht Captain Everett heiße, sondern Thomas Lieven.« Der alte Mann schloß die Augen.
»Weil ich nicht für London arbeite, sondern für die Deutsche Abwehr.«
Der alte Mann öffnete die Augen wieder und sah Thomas an mit einem Ausdruck abgründiger Traurigkeit.
»Und weil das ›Maquis Crozant‹ seit Monaten nicht mit London in Funkverbindung steht, sondern mit den Deutschen.«
Danach blieb es still in der Bibliothek. Die Männer sahen einander an.
Endlich flüsterte Débouché: »Das wäre zu furchtbar. Ich kann es nicht glauben, ich will es nicht glauben.«
In diesem Moment flog die Tür auf. Débouchés Assistentin Yvonne Dechamps stand im Rahmen, außer Atem, ungeschminkt, unter einem blauen Regenmantel nur wenig bekleidet. Das blonde Haar fiel ihr lose und breit auf die Schultern. Entsetzt aufgerissen waren die meergrünen Augen. Der schöne Mund zuckte. »Es ist wahr … Captain Everett … Sie sind es wirklich …«
Mit drei Schritten war sie bei Thomas. Débouché machte eine heftige Bewegung. Sie starrte Thomas an. Ihre Worte überstürzten sich: »Die Frau des Pedells rief mich an … Ich wohne auch hier … Was ist geschehen, Captain Everett, was ist geschehen?«
Thomas preßte die Lippen zusammen und schwieg. Plötzlich griff sie nach seiner Hand und hielt sie fest mit beiden Händen. Und erst jetzt wurde ihr bewußt, daß Débouché gebrochen dasaß, greisenhaft, verzweifelt.
»Was ist geschehen, Professor?« rief Yvonne in jäh hochschießender Panik.
»Mein Kind. Der Mann, dessen Hand du hältst, ist ein deutscher Agent …«
Langsam, ganz langsam trat Yvonne Dechamps von Thomas zurück. Sie schwankte, als wäre sie betrunken. Nun sank sie in einen Sessel. Professor Débouché berichtete mit heiserer Stimme, was ihm Thomas erzählt hatte.
Yvonne lauschte, ohne den Blick von Thomas zu nehmen. Immer dunkler wurden ihre grünen Augen, Haß und Verachtung erfüllten sie zuletzt. Die Lippen bewegten sich kaum, als sie sprach: »Ich denke, Sie sind das Gemeinste und Schmutzigste, was es gibt, Herr – Lieven. Ich denke, Sie sind der größte Schuft, Sie sind wahrhaft hassenswert.«
»Es ist mir egal, was Sie von mir denken«, sagte Thomas. »Ich bin nicht schuld daran, daß es nicht nur bei uns, sondern auch bei Ihnen so eitle, selbstsüchtige Idioten wie diesen Rouff und diesen Cassier gibt. Monatelang ging alles gut …«
»Gut nennen Sie das, Sie Schwein?«
»Ja«, sagte Thomas. Er fühlte, wie er immer ruhiger wurde. »Das nenne ich gut. Es wurde niemand erschossen in dieser Gegend seit Monaten. Kein Deutscher. Kein Franzose. Es hätte so weitergehen können. Ich hätte Sie alle beschützen können bis zum Ende dieses verfluchten Krieges …«
Yvonne schrie plötzlich, hoch und hysterisch wie ein Kind, sprang taumelnd auf und spuckte Thomas ins Gesicht. Der Professor riß sie heftig zurück.
Thomas fuhr sich mit einem Taschentuch über die Wange. Er sah Yvonne schweigend an. Sie hat recht, dachte er. Von ihrem Standpunkt aus hat sie recht. Alle haben recht, von ihren Standpunkten aus – auch ich. Denn ich will gegen alle anständig sein …
Yvonne Dechamps wollte zur Tür stürzen. Thomas riß sie zurück. Sie flog krachend gegen die Wand. Die Zähne gefletscht, keuchte sie ihn an.
»Sie bleiben hier.« Thomas stellte sich vor die Tür. »Als gestern abend die Namen durchkamen, verständigte die Abwehr sofort Berlin. Einsatz der Gebirgsjägereinheit, die vor der Stadt liegt, wurde angedroht. Daraufhin habe ich noch einmal mit dem Chef der Abwehr Paris gesprochen …«
»Warum?« fragte Professor Débouché.
Thomas schüttelte den Kopf: »Das ist meine Sache.«
Der Professor sah ihn seltsam an. »Ich wollte Sie nicht verletzen …«
Dieser Mann, dachte Thomas, dieser bewunderungswürdige Mann, beginnt zu begreifen, beginnt mich zu verstehen … Wenn ich Glück habe – wenn wir alle Glück haben …
»Ich habe Oberst Werthe vor Augen geführt, daß die Aktion der Gebirgsjäger zweifellos Opfer kosten wird – Opfer auf beiden Seiten. Unsere Leute werden entschlossen vorgehen. Ihre Leute werden sich verzweifelt verteidigen. Blut wird fließen. Menschen werden sterben. Deutsche und Franzosen. Die Gestapo wird die Gefangenen foltern. Sie werden ihre Kameraden verraten.«
»Niemals!« rief Yvonne.
Thomas fuhr herum. »Halten Sie den Mund!«
Der alte Mann sagte: »Es gibt furchtbare Foltern.« Er sah Thomas plötzlich an, weise und traurig wie ein Prophet des Alten Testaments. »Sie wissen das, Herr Lieven – nicht wahr? Ich glaube, ich begreife nun vieles. Ich fühle, daß es immer noch stimmt. Erinnern Sie sich? Ich sagte einmal, daß ich Sie für anständig halte …«
Thomas schwieg. Yvonnes Atem kam rasselnd.
»Was haben Sie Ihrem Oberst noch gesagt, Herr Lieven?« fragte der Professor.
»Ich habe ihm einen Vorschlag gemacht. Der Vorschlag wurde inzwischen von Admiral Canaris gebilligt.«
»Wie lautet dieser Vorschlag?«
»Sie sind der geistige Führer des Maquis. Die Leute tun, was Sie sagen. Sie rufen die Gruppe bei der Mühle von Gargilesse zusammen und erklären das Unausweichliche der Lage. Dann können die Gebirgsjäger die Männer dort gefangennehmen, ohne daß ein Schuß fällt.«
»Und weiter?«
»In diesem Fall steht Admiral Canaris mit seinem Ehrenwort dafür ein, daß Sie alle nicht dem SD ausgeliefert werden, sondern als reguläre Kriegsgefangene in ein Wehrmachtslager kommen.«
»Das ist schlimm genug.«
»Unter den Umständen ist es von allen verbleibenden Möglichkeiten die beste. Der Krieg wird nicht ewig dauern.«
Professor Débouché antwortete nicht. Mit gesenktem Kopf stand er vor seinen Büchern.
Thomas dachte: Gib, Gott, daß dieser Krieg jetzt wirklich bald zu Ende geht. Es ist so furchtbar schwer, unter den Nazis ein anständiger Mensch zu bleiben. Laß diese Brut verrecken, endlich verrecken. Und laß mich in Frieden leben, endlich.
Es waren Wünsche, die noch lange, sehr lange nicht in Erfüllung gehen sollten …
Der Professor fragte: »Wie komme ich nach Gargilesse?«
»Mit mir im Wagen. Die Zeit drängt, Professor. Wenn Sie den Vorschlag nicht annehmen, beginnt um acht Uhr die Aktion der Gebirgsjäger ohne uns.«
»Und – Yvonne? Sie ist die einzige Frau der Gruppe … Eine Frau, Herr Lieven …«
Thomas lächelte traurig. »Mademoiselle Yvonne werde ich als meine persönliche Gefangene – bitte, lassen Sie mich ausreden – auf der Stadtpräfektur in eine Zelle setzen. Dort wird sie bleiben, bis die Aktion vorüber ist. Damit sie in ihrem patriotischen Drange kein Unheil anrichten kann. Dann werde ich sie holen, um sie nach Paris zu bringen. Und auf dem Weg dorthin wird sie mir entkommen.«
»Was?« Yvonne starrte ihn an.
»Es wird Ihnen gelingen zu fliehen«, sagte Thomas leise. »Das ist die zweite Vergünstigung, die ich von Oberst Werthe erhalten habe. Es ist sozusagen eine von der Deutschen Abwehr genehmigte Flucht.«
Yvonne trat dicht an Thomas heran. Sie keuchte vor Erregung: »Wenn es einen Gott gibt, wird er Sie bestrafen … Zugrunde sollen Sie gehen, langsam und elend … Ich werde nicht fliehen! Und Professor Débouché wird Ihren Vorschlag nie annehmen, nie! Wir werden kämpfen und sterben – alle.«
»Natürlich«, sagte Thomas müde. »Und jetzt setzen Sie sich wieder hin und halten endlich den Mund, Sie Heldenweib.«
7
geheim – 14.35 Uhr – 9 august – von abwehr paris an chef abwehr berlin – gebirgsjäger-bataillon raum clermont-ferrand unter sonderführer lieven nahm gegen 22 uhr am 7 august das maquis crozant gefangen – die mitglieder des maquis unter führung professor débouché leisteten keinen widerstand – verhaftet wurden 67 (siebenundsechzig) männer – die festgenommenen wurden weisungsgemäß in das wehrmachtskriegsgefangenenlager 343 gebracht – ende –
8
Am 27. September 1945 sagte Professor Débouché vor einem alliierten Untersuchungsausschuß in Paris wörtlich:
»Sämtliche Mitglieder des ›Maquis Crozant‹ wurden in dem Wehrmachtslager 343 human behandelt. Sie haben alle den Krieg überlebt und sind in ihre Heimat zurückgekehrt. Ich muß betonen, daß wir alle unser Leben wohl nur dem Mut und der Humanität eines Deutschen verdanken, der uns zuerst als britischer Captain täuschte und der mich am 6. August 1943 in Clermont-Ferrand aufsuchte. Er sagte damals, sein Name wäre Sonderführer Thomas Lieven …«
Beamte des alliierten Untersuchungsausschusses machten sich daraufhin auf die Suche nach diesem »Sonderführer Lieven«. Sie fanden ihn nicht. Denn im Herbst 1945 waren ganz andere Organisationen als ein alliierter Untersuchungsausschuß hinter Thomas Lieven her, und aus diesem Grunde hatte er gerade … Doch halt, wir wollen ordentlich der Reihe nach erzählen. Noch schreiben wir August 1943.
9
Am 17. August 1943 gab das Oberkommando der Wehrmacht die – natürlich planmäßige – Räumung der Insel Sizilien bekannt. Außerdem hieß es, am mittleren Donez wären die Sowjets nach heftiger Artillerievorbereitung zum – natürlich lang erwarteten – Angriff angetreten.
In einer Großkundgebung der Landesgruppe Frankreich der NSDAP sprach Gauleiter Sauckel am gleichen Tag in Paris. Er führte unter anderem aus, daß das deutsche Volk im Augenblick seine größte und strahlendste Epoche erlebe. Der Endsieg, erklärte Sauckel, sei gewiß. Deutschland stehe im vierten Kriegsjahr ganz anders da als seinerzeit im Ersten Weltkrieg. Eher stürze darum die Welt ein, als daß Deutschland diesen Krieg verlieren könne.
Zur gleichen Zeit, da Gauleiter Sauckel dem Führer mit einem dreifachen Sieg-Heil dafür dankte, daß er das deutsche Volk zu solch einsamer Höhe und Größe geführt hatte, rief Oberst Werthe in seinem Büro im Hotel »Lutetia« den Hauptmann Brenner und den Sonderführer Lieven zu sich.
»Meine Herren«, sprach der Oberst, »ich habe soeben aus Berlin die entsprechenden Weisungen erhalten. Hauptmann Brenner, für Ihre Verdienste um die Liquidierung des ›Maquis Crozant‹ werden Sie rückwirkend zum 1. August zum Major befördert. Im Namen des Führers und Obersten Befehlshabers verleihe ich Ihnen ferner das Kriegsverdienstkreuz Erster Klasse mit Schwertern.«
Das war des kleinen Hauptmanns Brenner große Stunde! Seine Augen leuchteten hinter den blitzenden Brillengläsern wie die eines glücklichen Kindes am Heiligen Abend. Er stand stramm, Bauch hinein, Brust heraus!
»Bravo!« sagte der Zivilist Lieven, der an diesem Tag einen hervorragend geschnittenen blauen Sommeranzug, ein weißes Hemd und eine matt grau-rosa gestreifte Krawatte trug. »Ich gratuliere, Herr Major!«
Der neugebackene Major Brenner sagte beschämt: »Natürlich verdanke ich das alles nur Ihnen.«
»Unsinn!«
»Nein, kein Unsinn, Ihnen allein! Und ich gestehe, daß ich oft gegen Sie gewesen bin bei dieser Operation, daß ich die ganze Sache für verrückt hielt, daß ich kein Vertrauen zu Ihnen hatte …«
»Wenn Sie von nun an Vertrauen zu mir haben, dann ist alles gut«, sagte Thomas versöhnlich. In der Tat: Von Stund an verfügte Thomas in Major Brenner über einen ergebenen Bewunderer, der vor den verrücktesten und gewagtesten Operationen seines seltsamen Sonderführers nicht mehr zurückschrecken sollte. Oberst Werthe hatte die Spange zum Eisernen Kreuz Erster Klasse erhalten. »Das Kreuz habe ich schon aus dem Ersten Weltkrieg«, erklärte er.
»Sehen Sie«, sagte Thomas zu dem frischgebackenen Major Brenner, »wir haben zwei Weltkriege so knapp nacheinander begonnen, daß ein kräftiger, gesunder Mensch durchaus das Glück haben kann, sie beide in ihrer heroischen Größe zu erleben.«
»Schnauze«, sagte der Oberst. »Was machen wir überhaupt mit Ihnen, Sie komischer Sonderführer? Sie sind Zivilist.«
»Das möchte ich auch bleiben.«
»Aber ich habe hier eine Anfrage aus Berlin. Sagen Sie mir, welche Auszeichnung Sie gerne hätten.«
»Mich kann man mit Orden nicht glücklich machen, Herr Oberst«, antwortete unser Freund darauf. »Aber wenn ich eine Bitte äußern darf …«
»Sprechen Sie!«
»… dann wünsche ich mir ein anderes Betätigungsfeld. Ich will nicht mehr zur Partisanenbekämpfung eingesetzt werden, meine Herren. Ich bin ein Mensch, der gerne lacht und fröhlich ist. In den letzten Wochen verging mir das Lachen. Ich möchte, wenn ich schon für Sie arbeiten muß, eine Arbeit, die kurzweiliger ist und amüsanter.«
»Ich glaube, da habe ich genau das Richtige für Sie, Sonderführer Lieven.«
»Nämlich, Herr Oberst?«
»Den französischen schwarzen Markt«, sagte Werthe. Und in der Tat waren von diesem Augenblick an – für eine Zeit wenigstens – alle dunklen Wolken von Thomas Lievens Lebenshorizont verschwunden, und kopfüber purzelte unser Freund hinein in einen Karneval grotesker neuer Abenteuer …
»Niemals in der Geschichte der Menschheit hat es einen so großen, so verrückten und so gefährlichen schwarzen Markt gegeben wie heute hier in Paris«, sagte Oberst Werthe. Staunend erfuhr Thomas, was sich hinter der heiteren Fassade der Lichterstadt an der Seine begab: »Hier kauft einfach alles ein: die Organisation Todt, die Marine, die Luftwaffe, das Heer, der Wehrmachtkraftfahrzeugpark – und jetzt hat sich auch noch der SD eingeschaltet.«
Reichsmarschall Göring, berichtete Werthe, hatte empfohlen, den »Marché noir« zu bekämpfen. Durch gegenseitiges Überbieten der deutschen Aufkäufer waren die Preise nämlich mittlerweile ins Astronomische geklettert. Auf dem Umweg über fünf oder sechs Agenten stieg der Preis für eine ordinäre Drehbank, die normalerweise 40 000 Franc kostete, auf eine Million!
Also richtete der SD eine »Schwarzmarkt-Bekämpfungsstelle« in der Rue des Saussaies ein, im Gebäude der »Sûreté«. Leiter der Stelle war ein SS-Untersturmbannführer. Referenten des SD aus allen Teilen Frankreichs wurden zur Schulung nach Paris geholt.
Allein – der SD hatte kein Glück mit seiner neuen Stelle. Die »Schwarzmarkt-Bekämpfungsreferenten«, einmal ausgebildet, kamen nämlich bald darauf, daß man sich an diesem »Marché noir« gesundstoßen konnte! Sie arbeiteten mit den Franzosen zusammen. Es gab die wüstesten Schiebungen.
50 000 Pullover wurden zum Beispiel nicht einmal, sondern – an einem einzigen Tag – viermal verkauft. Dann wurden drei der Aufkäufer abgeknallt. Der vierte war ohnehin mit von der Partie der Gauner. So konnte man die Pullover anderntags wieder anbieten. Das Geld für dreimal 50 000 Pullover hatte man im Kasten …
Menschen verschwanden. Lokomotiven verschwanden. Hunderttausende Kilogramm feinstes Zigarettenpapier verschwanden. Immer toller wurde das Treiben, das der SD mit seiner korrupten »Bekämpfungsstelle« ausgelöst hatte. Agenten verhafteten sich gegenseitig, legten sich gegenseitig um. Gestapo-Beamte traten als Franzosen auf, Franzosen als Gestapo-Beamte …
Dies alles erzählte Oberst Werthe dem staunend lauschenden Thomas Lieven. Abschließend sagte er:
»Wäre das was für Sie, Lieven?«
»Ich glaube, gerade das Richtige, Herr Oberst.«
»Nicht zu gefährlich?«
»Ach, wissen Sie, ich habe auf diesem Gebiet eine ganz ordentliche Ausbildung genossen, als ich in Marseille lebte«, sagte Thomas Lieven. »Außerdem bringe ich alle Voraussetzungen mit. Ich habe hier noch eine Villa am Square du Bois de Boulogne. Ich bin hier noch, aus der Zeit vor dem Krieg, an einer kleinen Bank beteiligt. Ich könnte außerordentlich vertrauenerweckend wirken.«
Sagte er. Und dachte: … und endlich wieder ein Privatleben haben. Und mich endlich ein wenig absondern, ein wenig entfernen von euch Lieben. Wer weiß, vielleicht schaffe ich es doch noch in die Schweiz …
10
Seine Bank fand Thomas Lieven wieder wie der Mann aus dem Märchen, der nach langem, verzaubertem Schlaf in sein Dorf zurückkehrt und feststellt, daß sieben Jahre vergangen sind. Im Falle von Thomas Lieven waren nur drei Jahre vergangen; der Seniorchef der Bank und die meisten älteren Angestellten waren noch da. Von den jüngeren fehlten viele.
Als Erklärung für sein langes Verschwinden gab Thomas den einleuchtenden Umstand an, daß er von den Deutschen aus politischen Gründen eingesperrt und endlich wieder freigelassen worden sei.
Sodann forschte Thomas nach seinem betrügerischen englischen Partner Robert E. Marlock. Doch niemandem war das geringste über diesen Schuft bekannt.
Thomas fuhr hinaus gegen den Bois de Boulogne. Er wurde richtig wehmütig angesichts der kleinen Villa, in der er so viele schöne Stunden mit der süßen Mimi Chambert verbracht hatte.
Mimi Chambert – Oberst Siméon … Ob sie in Paris waren? Jetzt wollte er sie suchen … Ach, und Josephine Baker und Oberst Débras … Von weit, weit draußen im großen Sandmeer der Zeit lächelten sie ihm zu: Bastian und »Pferdefuß« aus Marseille … Pereira, der geniale Fälscher, Lazarus Alcoba, der tote bucklige Freund, die hysterische Konsulin Estrella Rodrigues aus Lissabon … Am weitesten, unerreichbar weit entfernt, lächelte traurig die Frau, nach der Thomas sich immer noch sehnte …
Er schrak aus seinen Träumen auf. Er fuhr sich mit der Hand über die feuchten Augen und ging in den kleinen Garten der Villa, die er drei Jahre zuvor, in einem Cadillac mit amerikanischer Fahne auf dem Dach, fluchtartig verlassen hatte.
Ein junges, hübsches Stubenmädchen öffnete ihm. Er bat, den Herrn des Hauses sprechen zu dürfen. Das Mädchen führte ihn in den Salon. »Der Herr Stabszahlmeister wird gleich kommen.«
Thomas sah sich um. Seine Möbel waren das noch, seine Teppiche, seine Bilder. Ach Gott, verwohnt, verwahrlost, aber sein eigen … Dann kam der Herr Stabszahlmeister: selbstbewußt, vollgefressen, wichtigtuerisch. »Höpfner mein Name. Heil Hitler! Wie kann ich Ihnen dienen?«
»Thomas Lieven. Indem Sie hier umgehend ausziehen.«
Der Stabszahlmeister lief rot an. »Besoffen, was?«
»Keine Spur.«
»Blöder Witz?«
»Nein, nur meine Wohnung.«
»Quatsch! Die Wohnung gehört mir! Lebe seit einem Jahr hier.«
»Ja, das merkt man. Reichlich verdreckt das alles.«
»Hören Sie mal, Herr Lieven, oder wie Sie heißen, Sie verschwinden jetzt sofort, oder ich rufe die Polizei.«
Thomas stand auf. »Ich gehe schon. Im übrigen sind Sie nicht ganz korrekt angezogen.«
Er ging zu Oberst Werthe. Zwei Stunden später erhielt Stabszahlmeister Höpfner von seinem Vorgesetzten den Befehl, augenblicklich die Villa am Square du Bois de Boulogne zu räumen. Die Nacht verbrachte er bereits in einem Hotel. Er begriff die Welt nicht mehr.
Der ehemalige Stabszahlmeister Höpfner heißt zwar anders, aber er lebt unter uns. Er ist heute Generaldirektor eines großen Werkes im Rheinland. Vielleicht liest er diese Zeilen. Dann wird er nach überlanger Weile endlich erfahren, wer schuld daran war, daß er am 3. September 1943 so schnell aus der hübschen Villa am Square du Bois de Boulogne flog.
11
Verlor Stabszahlmeister Höpfner eine Villa, so verlor Oberst Werthe in diesen Tagen eine erstklassige Hausangestellte: die schwarzhaarige, hübsche Nanette. Die kleine Französin hatte Thomas Lieven kennen- und bewundern gelernt, als er, zusammengeschlagen und elend, von Oberst Werthe am 12. Dezember 1942 aus der Gestapo-Haft geholt worden war. Nun kündigte Nanette dem Abwehr-Oberst plötzlich. Ein paar Tage später traf er sie in der Villa von Thomas wieder.
»Nicht böse sein, Herr Oberst«, flötete sie, »isch ’aben immer schon wollen arbeiten in die Square du Bois de Boulogne …«
Anfang September 1943 hatte Thomas sich nach seinem Geschmack etabliert. Der Keller war gefüllt mit Schwarzmarkt-Spirituosen, die Küche mit Schwarzmarkt-Lebensmitteln. Die Bekämpfung des schwarzen Marktes konnte beginnen!
Menu • Paris, 10. September 1943
Mit einem Schinken beginnt
Thomas Lievens Schwarzmarkt-Karussell.
Schweineschinken in Rotwein
mit Selleriesalat und Salzkartoffeln
Savarin mit Früchten
Schweineschinken in Rotwein: Man nehme einen ganzen, frischen Schweineschinken, befreie ihn von der Schwarte und etwas vom Fett. – Man mache einen Brei aus geriebenen Zwiebeln, gestoßenem Pfeffer, Ingwer, Wacholderbeeren und Lorbeerblättern, reibe den Schinken mit der Hand fest damit ein, so daß er eine ganz braune Farbe bekommt. – Man lege den Schinken fünf bis acht Tage in einen Topf, übergieße ihn mit einer Flasche Rotwein und einer halben Flasche Essig, wende ihn öfters darin um. – Man reibe ihn vor dem Braten tüchtig mit Salz ein, setze ihn mit der Hälfte der Brühe aufs Feuer. Nach Einkochen der ersten Flüssigkeit stelle man den Schinken in den Bratofen, gebe dann den Rest der Brühe nach und nach zu. Man brate den Schinken zu schöner brauner Farbe, binde den Bratenfond zu einer sämigen Sauce und reiche Selleriesalat ohne Mayonnaise und Salzkartoffeln dazu. – Man rechne für den Schinken je nach Größe drei bis fünf Stunden Koch- und Bratzeit.
Savarin mit Früchten: Man nehme ein halbes Pfund Mehl, knapp ein achtel Liter Milch, 15 Gramm Hefe, 125 Gramm Butter, 30 Gramm Zucker, drei Eier und etwas Salz. – Man mache ein Hefestück mit einem Viertel des gewärmten Mehles und lasse es gehen. Man vermische es mit der geschmolzenen Butter und den übrigen Zutaten und schlage es, bis es Blasen wirft. – Man streiche eine Randform mit Butter aus, fülle sie zu drei Viertel mit dem Teig und lasse ihn aufgehen, bis sie voll ist, backe dann dreißig Minuten.
Inzwischen mache man eingemachte oder frisch geschmorte Pfirsichhälften (es können auch andere Früchte sein) heiß, ebenfalls ein achtel Pfund dicke Aprikosenmarmelade. Man stelle eine Flüssigkeit her aus: ein achtel Liter Saft der Früchte, zwei Eßlöffel Weißwein, je ein Eßlöffel Kirschwasser, Sherry, Maraschino und Zitronensaft, ein halber Teelöffel Rum und einem Stückchen gestoßener Vanille. – Man kippe den gebackenen Rand sofort auf eine vorgewärmte Schüssel, begieße ihn mit der heißen Flüssigkeit, bestreiche ihn mit der heißen Aprikosenmarmelade und bestreue ihn mit zwei Eßlöffel voll gewiegter Pistazien, richte die heißen Früchte in der Mitte hoch an. Man kann den Rand auch tags zuvor backen, muß ihn dann erwärmen, bevor man ihn begießt und verziert.
Die erste, einigermaßen mysteriöse Schlüsselfigur, auf die Oberst Werthe ihn ansetzte, war ein gewisser Jean-Paul Ferroud. Der weißhaarige Riese besaß, gleich Thomas, in Paris ein privates Bankhaus. Es schien, daß die größten und frechsten Schiebungen über ihn abgewickelt wurden.
Thomas lud den Bankier zum Essen ein.
Zweierlei taten Franzosen im Jahre 1943 nur unter ganz außerordentlichen Umständen: Deutsche besuchen und Deutsche einladen. Man traf sich in Restaurants, in Bars, im Theater – aber nicht zu Hause. Oder man hatte sehr, sehr gute Gründe dafür …
Die Affäre Ferroud begann denn auch gleich mit einer Überraschung für Thomas: Der Bankier sagte zu.
Fünf Tage bereitete Thomas Lieven mit Nanette dieses Abendessen vor. Ferroud kam um halb acht. Die Herren waren im Smoking.
Die sehr trockenen Martinis nahmen sie im Salon. Dann schritt man zu Tisch, auf dem Kerzen brannten.
Nanette servierte den Schinken.
Ferroud aß wie ein Kenner. Er beleckte dezent die Lippen: »Wirklich fabelhaft, Monsieur. Lag in Rotwein, wie?«
»Fünf Tage. Das Wichtigste war allerdings das Einreiben mit Wacholderbeeren, Ingwer, Lorbeerblättern, Pfefferkörnern und Zwiebeln. Sie müssen den Schinken einreiben, bis er fast schwarz wird.«
»Und Sie nahmen nur Rotwein?« Ferroud sah großartig aus, wie der Père noble eines französischen Theaters.
»Auch eine halbe Flasche Essig. Ich bin sehr glücklich, daß Sie meiner Einladung Folge geleistet haben.«
»Ich bitte Sie«, sagte der andere, Selleriesalat auf seine Gabel häufend, »man wird schließlich nicht jeden Tag von einem Agenten der Deutschen Abwehr eingeladen.«
Thomas aß ruhig weiter.
»Ich habe mich über Sie informiert, Monsieur Lieven. Eigentlich kann man Ihnen nur mißtrauen, soviel und gleichzeitig sowenig zeichnet sich aus den Informationen ab, wer Sie wirklich sind. Eines steht fest: Sie sind auf mich angesetzt, weil man mich für einen großen Drahtzieher des Schwarzmarktes hält! Stimmt’s?«
»Stimmt«, sagte Thomas. »Eine Scheibe Fleisch müssen Sie noch nehmen! Etwas verstehe ich nicht.«
»Was bitte?«
»Daß Sie, wenn Sie mir mißtrauen und wissen, was ich will, trotzdem zu mir kamen. Das muß doch einen Grund haben.«
»Natürlich hat das einen Grund. Ich wollte den Mann kennenlernen, der – vielleicht – mein Feind sein wird. Und ich möchte Ihren Preis erfahren, vielleicht können wir uns arrangieren, Monsieur …«
Thomas zog die Augenbrauen hoch. Er wirkte arrogant, als er sagte: »Sie sind doch nicht so gut über mich informiert. Schade, Monsieur Ferroud, ich hatte mich auf einen gleichwertigen Gegner gefreut …«
Der Bankier wurde rot. Er legte Messer und Gabel nieder. »Es gibt also kein Arrangement zwischen uns? Jetzt sage ich: Schade. Ich fürchte, Sie unterschätzen die Gefahr, in der Sie von jetzt an leben werden, Monsieur. Sie verstehen, daß ich niemanden in meine Karten schauen lassen kann. Schon gar nicht einen Unbestechlichen …«
12
Thomas Lieven hatte sich gerade auf die Couch gelegt, als in seiner Villa am Square du Bois de Boulogne zu Paris das Telefon klingelte. Es war 13 Uhr 46 am 13. September 1943 – ein historischer Augenblick! Denn dieser Telefonanruf sollte, auf längere Sicht betrachtet, eine Lawine von Ereignissen auslösen.
Er sollte Thomas Lieven das Wiedersehen mit einer Dame bescheren, das ihm, nach einer äußerst kurzen Periode der Seligkeit, schon bald beinahe das Leben kostete,
Thomas Lieven die Freundschaft eines Mannes bringen, der ihm wenige Monate später besagtes Leben rettete,
Thomas Lieven in die Lage versetzen, einen außerordentlich begreiflichen, wenn auch verwerflichen Mord und im Zusammenhang damit die größte Schwarzmarkt-Affäre des Jahres aufzuklären und unserem Freund schließlich die ewige Dankbarkeit einer verzweifelten Hausfrau und einer alten Köchin sichern, denen er in einer für Hausfrauen grauenvollen Situation hilfreich unter die Arme griff.
Ein recht gemischtes Programm, wie man sieht. Plus- und Minuspunkte. Trotzdem: Hätte Thomas geahnt, was ihn erwartete, er hätte das Telefon weiterklingeln lassen bis zum Jüngsten Tag. Aber er ahnte es nicht, und darum hob er den Hörer ab. »Ja?«
»Monsieur Lieven?«
Die Stimme kannte Thomas. Sie gehörte Jean-Paul Ferroud.
Liebenswürdig erkundigte sich Thomas nach dem Befinden des Bankiers. Es ginge ihm gut, sagte Ferroud.
»Und der Frau Gemahlin?«
»Gleichfalls, danke. Hören Sie, Herr Lieven, es tut mir leid, daß ich mich bei Ihnen so – hm, so kalt und aggressiv betrug …«
»Aber ich bitte Sie!«
»Nein, nein, nein! Bei einer so delikaten Schweinekeule noch dazu … Ich möchte das gern gutmachen.« Nanu? dachte Thomas. »Würden Sie meiner Frau und mir die Freude bereiten, heute abend bei uns zu speisen?«
Donnerwetter! dachte Thomas.
Mild ironisch meinte der Bankier: »Ich nehme an, daß Sie als Abwehragent genau wissen, wo ich wohne, oder?«
Kleine Scherze dieser Art brachten Thomas schon lange nicht mehr aus dem Gleichgewicht. Er erwiderte hurtig: »Aber gewiß, Monsieur. Sie wohnen in der Avenue Malakoff Nummer 24, ganz in meiner Nähe. Sie haben eine sehr schöne Frau. Vorname Marie-Louise. Mädchenname Kléber. Sie besitzt den wertvollsten Schmuck von Paris. Sie haben einen chinesischen Diener namens Shen-Tai, eine Köchin Thérèse, ein Mädchen Suzette und zwei Bulldoggen, Cicero und Caesar.«
Er hörte Ferroud lachen. »Sagen wir um acht?«
»Um acht, Monsieur.« Thomas hängte ein.
Ehe er noch über diese seltsame Einladung nachdenken konnte, klopfte es. Atemlos stürzte das bildhübsche Dienstmädchen Nanette herein. Nanette sprach deutsch. Sie sprach immer deutsch, wenn sie besonders aufgeregt war: »Monsieur … Monsieur … Die Radio melden gerade, daß man ’at befreit die Mussolini … Die Duce ist schon unterwegs nach Berlin – zu ’itleer, damit er kann weiterkämpfen mit ihm …«
»Benito wird sehr glücklich sein«, sagte Thomas.
Nanette lachte. Sie kam nahe heran, ganz nahe. »Oh, Monsieur … Sie sind so nett … Ich bin so glücklich, ’ier sein zu dürfen …«
»Nanette, denken Sie an Ihren Pierre!«
Sie zog eine Schnute. »Ach, Pierre – ist so langweilig …«
»Er ist ein sehr netter Junge«, sagte Thomas pädagogisch und stand auf, weil sie allzu nahe an ihn herangetreten war. »Marsch, in die Küche, Nanette!« Er gab ihr einen Klaps. Sie lachte, als würde sie gekitzelt. Dann zog sie enttäuscht ab.
Er grübelte: Was will der Bankier von mir?
13
Die Villa in der Avenue Malakoff erwies sich als ein unendlich kultiviertes Haus, angefüllt mit europäischen und fernöstlichen Kostbarkeiten. Ferroud mußte Millionär sein!
Der kleine chinesische Diener empfing den Besucher zwar mit dem ewigen Lächeln seiner Rasse, aber in Haltung und Stimme hochmütig und kühl. Kühl und hochmütig war auch das Stubenmädchen, dem Thomas einen Cellophankarton mit drei rosafarbenen Orchideen für die Hausfrau überreichte.
Und hochmütig und kühl schließlich war der Hausherr. Er ließ Thomas eine hübsche Weile – sieben Minuten, wie dieser an Hand seiner geliebten goldenen Repetieruhr stirnrunzelnd feststellte – in einem Salon warten. Dann kam er, elegant wie immer, reichte Thomas die Hand und begann Martinis zu mixen. »Meine Frau wird sofort erscheinen.«
Komisch, dachte Thomas, komisch. Er sah sich den Buddha an, die Schränkchen mit den Einlegearbeiten, die schweren, vielarmigen Leuchter, die Teppiche. Dieser Jean-Paul Ferroud ist unabhängig. Er kann auf mich pfeifen. Aber warum lädt er mich ein, wenn er auf mich pfeifen kann? Und wenn er mich schon einlädt, warum benimmt er sich dann so, daß mir langsam die Wut hochkommt?
Der weißhaarige Privatbankier ließ plötzlich zwei kleine Eiswürfel fallen. Er stand vor einer mit phantastisch bemalten Spiegeln verzierten Bar und füllte einen silbernen Shaker. Er räusperte sich und lachte verlegen: »Handzittern. Man wird alt. Der Suff!«
Plötzlich kam Thomas eine Erkenntnis: Dieser Mann war überhaupt nicht hochmütig, dieser Mann war nervös, fürchterlich nervös! Und auch der Chinese, das Mädchen … Er hatte sie alle falsch beurteilt. Nervös waren auch sie; in angstvoller Erwartung – wovor?
Die Dame des Hauses erschien. Marie-Louise Ferroud war groß, schlank und von makelloser Schönheit. Blau und langbewimpert waren die Augen, wundervoll frisiert war ihr blondes Haar. Sie trug ein schulterfreies schwarzes Kleid und an den Armen und am Halse ihren herrlichen Schmuck. Dagegen, dachte Thomas unwillkürlich, kommt die Sore, die wir dem Juwelier Pissoladière in Marseille rausholten, natürlich nicht auf. – Junge, Junge, ganz hübsch verkommen bin ich schon!
»Madame …« Er verneigte sich tief, küßte ihre Hand und stellte fest: Diese schlanke, weiße, fein duftende Hand zitterte.
Er richtete sich auf, sah in die kühlen blauen Augen und entdeckte auch in ihnen Panik, mühsame Beherrschung. Warum?
Madame dankte für die Orchideen. Madame freute sich, Thomas kennenzulernen. Madame nahm das Martiniglas zur Hand, das ihr von ihrem Gatten gereicht wurde. Madame stellte das Martiniglas plötzlich auf einen sechseckigen Bronzetisch, preßte die Faust gegen die Lippen und brach in Schluchzen aus.
Kinder, Kinder, dachte Thomas. Ich will ja gar nicht mehr von meinem Club reden. Aber wenn ich diesen Scheißkrieg überlebe, dann verkaufe ich meine Memoiren an einen Buchverlag. Mit allen Rezepten!
Er sah den weißhaarigen Ferroud zu seiner schönen Gattin eilen. »Um Gottes willen – Marie-Louise – was ist … Du mußt dich zusammennehmen, was soll Herr Lieven denken?«
»Ach«, schluchzte Madame Ferroud, »verzeih mir, Jean, verzeih mir …«
»Es sind die Nerven, chérie …«
»Nein, es sind nicht die Nerven … Es ist auch gar nicht deswegen … Es ist außerdem noch etwas passiert!«
Ferrouds Gesicht wurde hart. »Außerdem – was?«
»Das Essen – das Essen ist verdorben!« Aufschluchzend ergriff die Hausfrau ihr Taschentuch, schnaubte in dasselbe und rief: »Thérèse hat den Zander fallen lassen!«
Der Bankier Ferroud, von der Deutschen Abwehr dringend verdächtigt, eine der gefährlichsten Schlüsselfiguren des phantastischen französischen »Marché noir« zu sein, wurde jetzt unwillig. »Marie-Louise, ich muß doch bitten! Du weißt, worum es heute abend geht! Du weißt, was auf dem Spiel steht! Und da brichst du in Tränen aus wegen eines idiotischen Zanders? Da benimmst du dich wie …«
Menu • Paris, 13. September 1943
Thomas Lieven rettet einen Fisch und
ein blondes Mädchen …
Gekochter Schinken mit Sauce Cumberland
Fischspeise in der Form
Schokoladenkaffeecreme
Sauce Cumberland: Man verrühre einen viertel Liter Johannisbeergelee, ein achtel Liter Rotwein, den Saft von zwei Orangen, einen Teelöffel englisches Senfpulver und eine in feine Streifchen geschnittene, vom Weißen befreite Schale einer Orange. Man bewahre die Sauce kühl auf. – Man kann diese Sauce zu allen Arten von kaltem Fleisch geben, besonders gut eignet sie sich zu Wild.
Fischspeise in der Form: Man koche den Fisch im ganzen, lasse ihn dann gut abtropfen, entferne Haut und Gräten und zerteile ihn in Stücke. Man mache eine helle Schwitze aus Butter und Mehl, gebe saure Sahne, Weißwein, geriebenen Parmesankäse und etwas Fischwasser hinzu und verkoche dies zu einer dicken weißen Sauce. Man schmecke sie mit Salz und Pfeffer ab, füge gedünstete Champignons und einige Kapern hinzu. – Man lege die Fischstücke in eine gut gebutterte Auflaufform, gieße die Sauce darüber, bestreue dick mit Parmesankäse, geriebener Semmel und Butterflöckchen und backe dann im Ofen zu goldgelber Farbe. Man garniere vor dem Anrichten mit gebackenen Blätterteig-Halbmonden, »Fleurons«. – Man kann diese Speise aus allen festfleischigen Fischen, sehr gut aus Schellfisch und Kabeljau, zubereiten.
Schokoladenkaffeecreme: Man lasse einen Liter Milch mit 150 Gramm Kochschokolade und etwas Zucker aufkochen. – Man schlage in einer Schüssel drei Eigelb mit einem glattgestrichenen Eßlöffel Kartoffelmehl oder Maizena, gieße die kochende Flüssigkeit unter ständigem Rühren dazu. – Man gebe die Masse wieder in den Kochtopf und lasse sie auf kleinster Flamme unter ständigem Rühren dick werden, ohne daß sie zum Kochen kommt. – Man füge einen Suppenlöffel voll grobgemahlenem, keinesfalls pulverisiertem Kaffee und Eischnee zu der vom Feuer genommenen Creme und stelle sie sehr kalt.
»Monsieur Ferroud!« unterbrach ihn Thomas, sanft, aber bestimmt.
»Was wollen Sie? Ich meine: Ja, bitte?«
»Erlauben Sie, daß ich einige Fragen an Madame richte?«
»Ich … hrm … also … Nun ja, gewiß.«
»Danke. Madame, Sie sagen, Thérèse ließ den Zander fallen …«
»Ließ sie, ja. Sie ist schon so alt. Sie sieht so schlecht. Er fiel auf die Herdplatte, als sie ihn aus dem Wasser hob. Er zerbrach – mir wird übel – in lauter kleine Stücke!«
»Madame, es gibt nur eine Sünde im Leben: den Mut zu verlieren. Courage. Sie haben die Tollkühnheit besessen, einen deutschen Agenten zu Tisch zu laden. Soll ein französischer Zander Sie in die Knie zwingen?«
Ferroud hielt sich plötzlich den schönen Kopf mit beiden Händen und äußerte: »Das geht zu weit …«
»Aber woher denn«, sagte Thomas. Und zu der Dame des Hauses: »Verzeihen Sie die indiskrete Frage – was sollte es denn vor dem Zander geben?«
»Schinken mit Sauce Cumberland.«
»Hm. Hm.« Er machte ein Gesicht wie der große Sauerbruch beim Konsilium. »Und – hm, nachher?«
»Schokoladenkaffeecreme.«
»Jaja«, sagte Thomas und nahm eine Olive zu sich, »das geht ausgezeichnet.«
»Was geht ausgezeichnet?« flüsterte die Dame, die gut und gerne 70 Karat an sich trug. Thomas verneigte sich vor ihr. »Es will mir scheinen, daß Sie von zwei Sorgen gequält werden, Madame. Von der einen jedenfalls kann ich Sie leicht befreien, wenn Sie mir erlauben, Ihre Küche zu betreten.«
»Sie … Sie glauben, Sie können noch etwas mit dem zerbrochenen Zander anfangen?« Ein unirdischer Ausdruck von Bewunderung trat in Marie-Louises Augen.
»Aber gewiß doch, Madame«, sprach unser Freund. »Wollen wir vielleicht die Gläser und den Shaker mitnehmen? Es kocht sich leichter bei einem Schlückchen. Wirklich ausgezeichnet, der Martini. Echter britischer Gordon-Gin. Wo haben Sie den im vierten Kriegsjahr nur immer noch herbekommen, Monsieur Ferroud …«
14
Was war hier also wirklich los?
Das erfuhr Thomas auch in der riesigen, gekachelten Küche nicht. Eine Schürze vor den Smoking gebunden, schaffte er elegant die Zander-Katastrophe aus der Welt. Bewundernd sahen ihm dabei zu: die schuldbewußte, kurzsichtige alte Köchin, die bleiche Hausfrau, der bleiche Hausherr. Das seltsame Ehepaar vergaß – vorübergehend wenigstens – seine gewaltige Nervosität. Thomas dachte: Ich kann warten. Und wenn das Theater weitergeht bis morgen früh. Einmal werdet ihr ja wohl den Mund aufmachen!
Er nahm die Gräten aus dem Unglücksfisch, enthäutete ihn und schnitt ihn blättrig. Trank einen Schluck und sprach: »Schwierige Jahre, meine Damen, haben mich erkennen lassen, daß das Leben einem meistens noch eine Chance gibt. Ein zerbrochener Zander ist immer noch besser als gar keiner. Wir bereiten jetzt eine schöne Sauce. Haben Sie Parmesankäse, Thérèse?«
»Soviel Sie wollen, Monsieur«, flötete die alte Köchin. »Ach, ich bin ja so verzweifelt, daß mir das passieren mußte!«
»Fassen Sie sich, meine Gute. Trinken Sie einen Schluck, es beruhigt.« Der Hausherr goß der Köchin das Glas voll. Thomas sagte: »Weißwein, saure Sahne und Butter, bitte.«
Er bekam, was er verlangte. Alle sahen ihm zu, wie er die Sauce bereitete. Dann gab es plötzlich Lärm im Haus. Eine hohe Frauenstimme ertönte, eine hohe Männerstimme. Die Hausfrau erbleichte. Der Hausherr stürzte zur Tür. In dieser stieß er mit dem chinesischen Diener zusammen. Der hatte eine einfache Art, aus dem, was er hervorsprudelte, ein Geheimnis zu machen: Er sprudelte es chinesisch hervor.
Dazu wies er hinter sich, die Hausfrau, des Chinesischen offensichtlich mächtig, schrie auf. Der Hausherr herrschte sie chinesisch an. Sie sank auf einen Küchenhocker. Der Hausherr folgte Shen-Tai, ohne sich zu entschuldigen. Die Tür flog hinter ihm ins Schloß.
Na ja, dachte Thomas, so geht es also zu bei feinen Franzosen. Was soll man machen? Er beschloß, sich durch nichts mehr erschüttern zu lassen. »Haben wir Kapern, Thérèse?«
»O heilige Jungfrau, die arme gnädige Frau …«
»Thérèse!«
»Kapern – jawohl, sind da.«
»Und Champignons?«
»Au-auch … Madame, kann ich etwas für Sie tun?«
Die Hausfrau faßte sich. Sie sah auf: »Bitte, verzeihen Sie das alles, Herr Lieven. Shen-Tai ist seit zehn Jahren bei uns. Wir haben keine Geheimnisse vor ihm. Er kam in Shanghai zu uns … Wir lebten lange dort …«
Im Haus erklangen laute Stimmen. Dann fiel etwas um. Thomas dachte: Gor net ignorieren, würde mein Freund, der Gefreite Karli Schlumberger, sagen.
»Und in die Röhre damit, Thérèse.«
»Ich habe Kummer mit meiner Cousine, Herr Lieven.«
»Das tut mir leid, Madame. Und nun bei sanfter Hitze überbacken.«
»Sie soll mit uns essen, wissen Sie. Sie wollte aber eben fluchtartig das Haus verlassen. Shen-Tai hat das im letzten Augenblick verhindert.«
»Ein aufregender Abend, fürwahr. Warum wollte Ihre verehrte Cousine fliehen?«
»Ihretwegen.«
»Hr-rm. Meinetwegen?«
»Ja. Sie – sie wollte Ihnen nicht begegnen.« Die Hausfrau stand auf. »Mein Mann ist jetzt mit ihr im Salon. Bitte, kommen Sie. Ich bin sicher, Thérèse kennt sich nun aus.«
»Ordentlich mit Parmesan, Kapern und Champignons überstreuen, Thérèse«, sagte Thomas. Er nahm sein Glas und den Shaker. »Madame, ich bin begierig, Ihre Verwandte kennenzulernen – eine Dame, die vor mir schon fliehen will, bevor sie mich kennt. Was für ein Kompliment!«
Er folgte der Hausfrau. Als er den Salon betrat, passierte ihm dann etwas, was ihm noch nie passiert war: Er ließ sein Martiniglas fallen. Der Drink sickerte in den dicken Teppich. Thomas stand wie gelähmt. Er starrte die schlanke junge Frau an, die auf einem antiken Sessel saß. Ferroud stand neben ihr wie ein Leibwächter. Aber unser Freund sah nur diese junge, blasse Frau mit den zusammengepreßten Lippen und den schräggeschnittenen grünen Augen, den streng gekämmten blonden Haaren, den hohen Backenknochen. Heiser kam ihre Stimme: »Guten Abend, Herr Sonderführer.«
»Guten Abend, Mademoiselle Dechamps«, sagte er mühsam. Und dann verneigte er sich vor der ehemaligen Assistentin Professor Débouchés, der ehemaligen Partisanin des »Maquis Crozant«, dieser leidenschaftlichen Deutschenhasserin, die ihm in Clermont-Ferrand ins Gesicht gespuckt und den Tod gewünscht hatte, einen langsamen, qualvollen Tod …
Jean-Paul Ferroud hob das Glas auf, das Thomas fallen lassen hatte, und sagte: »Wir haben Yvonne nicht erzählt, wer heute abend zu Besuch kommt. Sie … Sie hörte Ihre Stimme, als wir in die Küche gingen – und erkannte Sie wieder – und wollte weglaufen … Sie können sich denken, warum.«
»Ich kann es mir denken.«
»Nun gut, wir haben uns in Ihre Hand begeben, Herr Lieven. Yvonne ist in Todesgefahr. Die Gestapo jagt hinter ihr her. Wenn man ihr nicht hilft, ist sie verloren.«
Yvonne Dechamps’ Augen verengten sich zu Schlitzen. So sah sie Thomas an. Und in ihrem schönen Gesicht waren zu erkennen: Scham und Zorn, Verwirrung und Haß, Angst und Aufbegehren.
Thomas Lieven dachte:
Ich habe sie zweimal verraten. Einmal als Deutscher und einmal als Mann. Dieses zweite Mal kann sie mir nicht vergeben. Darum der Haß. Wenn ich damals in der Mühle von Gargilesse in ihrem Zimmer geblieben wäre …
Er hörte Ferroud sagen: »Sie sind Bankier wie ich. Ich rede nicht von Sentiments. Ich rede von Geschäften. Sie wollen Informationen über den schwarzen Markt. Ich will, daß der Cousine meiner Frau nichts passiert. Klar?«
»Klar«, sagte Thomas. Seine Lippen waren plötzlich trocken wie Pergament. Er fragte Yvonne: »Wieso ist die Gestapo hinter Ihnen her?« Sie warf den Kopf zurück und sah zur Seite.
»Yvonne!« rief Madame Ferroud wütend.
Thomas zuckte die Schultern. »Ihre Cousine und ich sind gute alte Feinde, Madame. Sie kann mir nicht verzeihen, daß ich sie damals in Clermont-Ferrand laufenließ. Ich gab ihr noch die Adresse eines Freundes namens Bastian Fabre. Der hätte sie versteckt. Leider scheint sie ihn nicht aufgesucht zu haben.«
»Sie hat die Führer des Maquis von Limoges aufgesucht, um weiter in der Résistance zu arbeiten«, sagte Ferroud.
»Unsere kleine Patriotin, das Heldenweib«, sagte Thomas und seufzte.
Plötzlich sah Yvonne ihn an, offen und ruhig, und zum erstenmal ohne Haß. Sie sagte einfach: »Es ist mein Land, Herr Lieven. Ich wollte für mein Land weiterkämpfen. Was hätten Sie getan?«
»Ich weiß es nicht. Dasselbe vielleicht. Was passierte?«
Yvonne senkte den Kopf.
Ferroud sagte: »Es war ein Verräter in der Gruppe. Der Funker. Die Gestapo verhaftete 55 Maquisards. Sechs sucht sie noch. Einer der sechs sitzt hier.«
»Yvonne hat Verwandte in Lissabon«, sagte Madame Ferroud. »Wenn sie dorthin kommt, ist sie gerettet.«
Die beiden Männer sahen sich stumm an. Thomas wußte: Das war der Beginn einer erfolgreichen Zusammenarbeit. Aber, dachte er, wie ich das alles meinem Oberst verkaufe, weiß der liebe Himmel!
Der chinesische Diener erschien mit Verneigungen. »Das Essen ist fertig«, sagte Madame Ferroud.
Sie ging voraus in das Speisezimmer. Die andern folgten ihr. Dabei streifte Thomas Lievens Hand Yvonnes Arm. Sie zuckte zusammen, als hätte sie einen elektrischen Schlag erhalten. Er sah sie an. Ihre Augen wurden plötzlich dunkel. Das Blut schoß ihr zu Kopf.
»Das müssen Sie sich aber schleunigst abgewöhnen«, sagte er.
»Wa-was?«
»Dieses Erschrecken. Dieses Erröten. Als Agentin der Deutschen Abwehr müssen Sie sich besser beherrschen.«
»Als – als was?«
»Als deutsche Abwehragentin«, erwiderte Thomas Lieven. »Was ist denn los? Haben Sie gedacht, ich kann Sie als französische Widerstandskämpferin nach Lissabon bringen?«
15
Der planmäßige Nachtschnellzug nach Marseille, der Paris um 21 Uhr 50 verließ, führte drei Schlafwagen mit sich. Die nebeneinanderliegenden Mittelabteile eines dieser Wagen waren am Abend des 17. September 1943 für Angehörige der Deutschen Abwehr reserviert.
Zehn Minuten vor Abfahrt des Zuges erschien ein gutgekleideter Zivilist in Gesellschaft einer eleganten jungen Dame im Gang dieses Schlafwagens und winkte den französischen Schaffner herbei. Die Dame trug einen Kamelhaarmantel, dessen Kragen hochgestellt war, und einen Hut von männlicher Fasson mit breiter Krempe, wie er damals gerade modern war. Es war schwer möglich, der Dame ins Gesicht zu sehen.
Der Herr zeigte dem Schaffner seine Platzreservierung und drückte ihm eine sehr große Banknote in die Hand.
»Danke, Monsieur, ich bringe gleich die Gläser …« Der Schaffner öffnete die Türen der beiden für die Deutsche Abwehr reservierten Abteile. In dem einen stand ein Silberkübel voll Eis, in welchem eine Flasche Veuve Clicquot steckte. Auf dem Fenstertischchen stand eine Vase mit zwanzig roten Nelken. Die Verbindungstür der Abteile war geöffnet.
Thomas Lieven schloß die Gangtüren. Yvonne Dechamps nahm ihren großen Hut ab. Wieder errötete sie tief.
»Ich habe Ihnen doch verboten zu erröten«, sagte Thomas. Er zog die Lichtblende vor dem Fenster hoch und sah auf den Perron hinaus. Draußen marschierten gerade zwei Unteroffiziere der Wehrmachts-Zugkontrolle vorbei. »Hm.« Thomas ließ den schwarzen Glanzstoffvorhang wieder herab.
»Was ist? Warum sehen Sie mich so an? Habe ich schon wieder Frankreich verraten?«
»Der Champagner – die Blumen … Warum tun Sie das?«
»Damit Sie ein bißchen ruhiger werden. Herrgott, Sie sind ja nur noch ein Nervenbündel! Bei jedem Geräusch fahren Sie zusammen. Nach jedem Kerl sehen Sie sich um. Dabei kann Ihnen gar nichts passieren. Sie heißen Madeleine Noël und sind eine Agentin der Deutschen Abwehr. Sie haben einen deutschen Abwehrausweis!«
Um diesen Ausweis zu bekommen, hatte Thomas sich im Hotel »Lutetia« einen Tag lang den Mund heiß reden müssen. Oberst Werthe seufzte zuletzt kopfschüttelnd: »Lieven, Sie sind das Ende der Abwehr in Paris. So einen Kerl wie Sie haben wir gerade noch nötig gehabt!«
In diesem kritischen Moment hatte unser Freund Schützenhilfe von einer Seite erhalten, von der er keine erwartete. Major Brenner, vormals sein mißtrauischer Rivale, nun sein Bewunderer, mischte sich ein: »Wenn ich mir gehorsamst gestatten darf zu bemerken: Sonderführer Lieven hat auch im Fall ›Maquis Crozant‹ ungewöhnliche Methoden vorgeschlagen – und wir haben mit ihnen Erfolg gehabt.«
Der sorgsam gescheitelte kleine Brenner schielte über die Brille auf das linke seiner geflochtenen Majorschulterstücke, an deren Stelle sich vor kurzem noch einfache Hauptmannschulterstücke befunden hatten. »Wenn dieser Ferroud wirklich auspackt …«
»Und das wird er, wenn ich das Mädchen rausbringe«, sagte Thomas und blinzelte Brenner zu.
»… wer weiß, was für einen Coup wir dann landen können, Herr Oberst«, endete Brenner. Die Luft ging ihm aus, denn er dachte daran, daß bei einem neuen Coup – o du liebe Güte – für ihn vielleicht der nächsthöhere Rang eines Oberstleutnants drin war.
Schließlich gab Werthe auf. »Also schön, Sie kriegen Ihren Ausweis. Aber ich bitte mir aus, daß Sie die Dame bis Marseille begleiten. Sie bleiben an ihrer Seite, bis sie im Flugzeug sitzt, verstanden! Das fehlte mir noch, daß der SD sie in die Mache kriegt und es heißt, die Abwehr fliegt französische Widerstandskämpferinnen raus!«
Major Brenner sah Thomas bewundernd an. Ein Kerl. Ein Pfundskerl! Wenn man doch auch so sein könnte. Warum eigentlich nicht? Major Brenner beschloß insgeheim, bei nächster Gelegenheit zu beweisen, daß er auch ein Pfundskerl war …
Ja, das alles also war jenem Augenblick vorangegangen, in welchem nun, fünf Minuten vor Abfahrt des Nachtschnellzuges nach Marseille, der Schaffner Emile an die Tür des Abteils 17 klopfte, um den Herrschaften darin zwei Champagnergläser zu bringen.
»Herein!« rief Thomas Lieven.
Schaffner Emile öffnete die Tür. Er mußte sie ganz öffnen, um eine außerordentlich große und hagere Dame vorbeizulassen, die eine andere Dame zur Bahn gebracht hatte und sich nun anschickte, den Schlafwagen zu verlassen.
Die Dame, die nun das geöffnete Abteil 17 passierte, in welchem Thomas Lieven und Yvonne Dechamps nebeneinanderstanden, trug die Uniform einer Stabshauptführerin des Deutschen Arbeitsdienstes. Das farblose Haar hatte sie zu einem Knoten hochgenommen, an der Uniformjacke saß das goldene Parteiabzeichen, am Verschluß der strengen Bluse saß eine schwere, gehämmerte Brosche. Die Stabshauptführerin Mielcke, persönliche Referentin des Reichsarbeitsführers Hierl, trug braune Wollstrümpfe und flache braune Schuhe.
Eine unerforschliche Laune des Schicksals wollte es, daß sie just in jenem Moment an Thomas Lievens Abteil vorüberging, in welchem Schaffner Emile es geöffnet hatte. Sie hätte früher daran vorübergehen können, später, überhaupt nicht. Sie ging vorüber im unglückseligsten aller Augenblicke, sie sah und erkannte diesen Kerl, mit dem sie vor ein paar Wochen eine so ungeheuerliche Auseinandersetzung gehabt hatte, sie sah die schöne junge Frau an seiner Seite. Und eine weitere unerforschliche Laune des Schicksals wollte es, daß Thomas Lieven die Stabshauptführerin Mielcke nicht sah. Er wandte ihr das Profil zu. Im nächsten Augenblick war sie auch schon verschwunden …
»Ah, die Gläser!« freute sich Thomas. »Lassen Sie nur, ich mache die Flasche selber auf, Emile.« Er tat es, und sie tranken gerade das erste Glas, als zwei Minuten vor Abfahrt des Zuges die beiden Unteroffiziere der Zugkontrolle in ihrem Abteil erschienen.
Yvonne zeigte, daß sie nicht nur hysterisch sein konnte. Sie blieb vollkommen gefaßt. Die deutschen Soldaten waren sehr höflich. Sie ließen sich die Ausweise zeigen, grüßten, wünschten eine angenehme Reise und verschwanden wieder.
»Na, bitte!« sagte Thomas Lieven. »Geht doch wie am Schnürchen!«
Die beiden Soldaten verließen den Schlafwagen. Sie schritten auf die Stabshauptführerin zu, die auf dem Perron stand und sie ersucht hatte, die beiden Personen im Abteil 17 zu kontrollieren. Der eine Soldat sagte: »Die Leute sind in Ordnung, Stabshauptführerin. Abwehr Paris, alle beide. Ein gewisser Thomas Lieven und eine gewisse Madeleine Noël.«
»Madeleine Noël, sososo«, wiederholte die Stabshauptführerin, indessen Trillerpfeifen ertönten, Türen zuflogen und der Zug sich mit zischendem Dampf und ächzenden Achsen auf seine weite Reise machte. »Beide von der Abwehr Paris. Danke!«
Sie sah dem Zug nach, und ein böses Lächeln verzog plötzlich ihren strengen Mund. Das letztemal hatte die Stabshauptführerin Mielcke im August 1942 in Berlin so gelächelt, bei einem Empfang in der Reichskanzlei. Da hatte Heinrich Himmler einen Witz gemacht. Über die Polen.
16
Nach der ersten Flasche Veuve Clicquot verlor Yvonne ihre Angst. Ihre hysterische Verkrampftheit löste sich fast. Das Gespräch wurde fast lustig. Sie lachten beide – doch plötzlich hörte Yvonne auf zu lachen, rückte beiseite, stand auf, sah fort. Thomas begriff sie gut. Einmal hatte er ihre Liebe verschmäht. Keine Frau vergißt so etwas. Keine Frau will so etwas ein zweites Mal erleben.
Und so sagten sie sich gegen halb zwölf Uhr gute Nacht. Es ist das beste, dachte Thomas … Ist es das beste? Er war auch ein wenig beschwipst, und Yvonne erschien ihm sehr schön. Als er ihre Hand zum Abschied küßte, wich sie vor ihm zurück, lächelte verkrampft, versteinerte wieder.
Thomas ging in sein Abteil, zog sich aus und wusch sich. Als er eben die Pyjamahose angezogen hatte, bremste der Zug heftig und legte sich gleichzeitig in eine wüste Kurve. Thomas verlor das Gleichgewicht, taumelte durch sein Abteil und krachte wuchtig gegen die Verbindungstür, die aufsprang. Mehr stürzend als taumelnd, landete er in Yvonnes Abteil. Sie lag im Bett und fuhr erschrocken auf. »Um Gottes willen! –«
Er fand seinen Halt wieder. »Entschuldigen Sie. Ich habe es nicht absichtlich getan – wirklich nicht … Ich … gute Nacht …« Er ging zu der aufgesprungenen Tür zurück. Da hörte er ihre gehetzte Stimme: »Warten Sie!«
Er drehte sich um. Yvonnes Augen waren halb geschlossen und sehr dunkel. Der Mund stand halb geöffnet. Die Stimme klang atemlos: »Diese Narben …« Sie starrte seinen nackten Oberkörper an. Quer über seinen linken Brustkorb liefen drei häßliche, wulstig vernarbte Striemen einer besonderen Art, entstanden durch Schläge mit einem besonderen Instrument – einer gummiüberzogenen Spiralfeder.
»Das – das ist mir mal passiert …« Thomas drehte den Kopf fort. Unwillkürlich hob er einen Arm vor die Brust. »Ein Unfall …«
»Sie lügen …«
»Bitte?«
»Ich hatte einen Bruder. Er wurde zweimal von der Gestapo verhaftet. Beim zweitenmal wurde er aufgehängt. Beim erstenmal wurde er gefoltert. Als er …«, ihre Stimme brach, »… als er heimkam aus dem Krankenhaus, da hatte er … da hatte er – dieselben Narben … Und Sie habe ich beschimpft – verdächtigt … Sie …«
»Yvonne …«
Er trat zu ihr. Die Lippen einer schönen Frau trafen die Narben von Wunden, die ein brutaler Mann geschlagen hatte. Dann spürten sie einander. Zärtlichkeit schwemmte Scheu und Erinnerungen weg. Die Zugsirene schrie. Die Achsen schlugen gehetzt. Leise klirrte die Vase mit den roten Nelken.
17
Schneller und schneller jagte die zweimotorige Kuriermaschine mit den deutschen Hoheitszeichen über die Startpiste des Flughafens Marseille. Der Vormittag war trüb. Leichter Regen fiel.
An einem der Fenster des Flughafengebäudes stand ein Mann mit vielen falschen Namen. Sein richtiger Name lautete Thomas Lieven. Die Hände in den Taschen des weichen Flauschmantels, drückte er beide Daumen.
In der Kuriermaschine saß Yvonne Dechamps. Nun flog sie nach Madrid und von dort weiter nach Lissabon.
Eine einzige Nacht lang nur hatten sie einander geliebt – und doch kam Thomas sich nun, da die Maschine in den Wolken verschwand, einsam vor, verlassen, uralt.
Er fröstelte. Leb wohl, Yvonne, sagte er in Gedanken. In deinen Armen habe ich zum erstenmal seit Monaten nicht mehr an Chantal gedacht. Aber wir durften nicht zusammenbleiben. Dies ist keine Zeit für Liebe. Diese Zeit reißt die Liebenden auseinander, oder sie tötet sie. Alles Gute, Yvonne, wir werden wohl nie mehr voneinander hören. Aber da irrte er sich!
Am 22. September 1943 war Thomas Lieven wieder in Paris. Nanette, sein hübsches, schwarzhaariges Dienstmädchen, das ihn verehrte, berichtete: »Monsieur Ferroud ’at schon angerufen viermal. Er sagte, er Sie dringend sprecken müssen.«
»Kommen Sie heute um vier Uhr zu mir nach Hause«, bat Ferroud, nachdem Thomas ihn telefonisch in seiner Bank erreicht hatte.
Als unser Freund eintraf, umarmte der weißhaarige, elegante Geldmensch ihn mit Tränen in den Augen.
Thomas räusperte sich. »Monsieur Ferroud, Yvonne ist in Sicherheit. Sie sind es nicht. Sie sind es weniger denn je.«
»Bitte?«
»Bevor wir zu unserem Geschäft kommen – ich habe meinen Teil erledigt, jetzt sind Sie am Zuge –, will ich Ihnen schnell erzählen, was meine Untersuchung Ihrer Transaktionen bisher ergeben hat.«
Thomas hatte mittlerweile eruiert, daß dieser Jean-Paul Ferroud ein Gesetzesbrecher besonderer Art war: Er verschob, wie andere Schwarzhändler, riesige Mengen von kriegswichtigen Gütern – aber nicht, um sie an die Deutschen zu verkaufen, sondern um sie vor den Deutschen in Sicherheit zu bringen. Er war das Gegenteil der gewöhnlichen Schieber, die Frankreich ausverkauften.
Er versuchte, französischen Besitz zu retten. Zu diesem Zweck hatte Ferroud Bilanzen gefälscht, unrichtige Produktionszahlen der Betriebe angegeben, die unter der Verwaltung seiner Bank standen, und riesenhafte Warenmengen an die Deutschen scheinverkauft.
Das alles sagte Thomas ihm jetzt auf den Kopf zu. Ferroud wurde bleich. Er wollte protestieren, verstummte zuletzt und wandte Thomas den Rücken zu.
Der schloß: »… was Sie getan haben, ist einfach idiotisch, Monsieur. Was wird in Kürze die Folge sein? Man wird Ihre Fabriken enteignen. Und dann? Was Sie getan haben, verstehe ich vom Standpunkt des Franzosen. Darum ein privater Rat, bevor man Ihnen auf die Schliche kommt: Fordern Sie schleunigst deutsche Treuhänder an. Dann wird sich kein Mensch mehr um Ihre Fabriken kümmern … Na, und die Treuhänder zu umspielen, das wird Ihnen doch keine Schwierigkeiten bereiten – oder?«
Ferroud drehte sich um. Er nickte. Er schluckte zweimal. Dann sagte er: »Danke.«
»Keine Ursache. So. Und nun zum Geschäft. Aber ich warne Sie, Ferroud. Wenn Ihre Informationen nichts wert sind, dann lasse ich Sie hochgehen! Es ist nämlich nicht so, daß ich mich nur in Franzosen hineindenken kann. Yvonne ist schließlich mit deutscher Hilfe gerettet worden.«
»Das weiß ich. Das erkenne ich auch an.« Ferroud kam näher. »Und was ich Ihnen verrate, kann Ihnen helfen, einen der größten Schwarzmarktringe aller Zeiten zu zerschlagen. Eine Organisation, die nicht nur meinem, sondern auch Ihrem Land bereits den größten Schaden zugefügt hat. In den letzten Monaten sind in Frankreich deutsche Reichskreditkassenscheine in so ungeheuren Mengen wie noch nie aufgetaucht. Sie wissen, was Reichskreditkassenscheine sind?«
Thomas wußte es. Die RKKs waren eine Art Besatzungsgeld. Es gab sie in jedem von den Deutschen besetzten Land. Mit ihrer Hilfe sollte vermieden werden, daß richtige deutsche Banknoten in zu großen Mengen ins Ausland kamen.
Ferroud sagte: »Diese Reichskreditkassenscheine haben laufende Seriennummern. Zwei Zahlen der Serie – sie stehen immer an derselben Stelle – geben dem Fachmann bekannt, für welches Land die Scheine bestimmt sind. Nun, lieber Freund, im letzten halben Jahr wurden auf dem ›Marché noir‹ mit solchen Kassenscheinen französische Waren im Wert von annähernd zwei Milliarden aufgekauft. Scheine im Wert von über einer Milliarde aber wiesen nicht französische, sondern rumänische Kennzahlen in den Seriennummern auf!«
»Rumänische?« Thomas fuhr hoch. »Wie können rumänische Scheine in so riesigen Mengen nach Frankreich gekommen sein?«
»Das weiß ich nicht.« Ferroud ging zu seinem Schreibtisch und entnahm ihm zwei dicke Bündel mit speckigen Reichskreditkassenscheinen im Wert von jeweils 10 000 Mark. »Ich weiß nur, daß sie da sind. Hier bitte, sehen Sie, die rumänischen Kennzahlen. Und, Monsieur, ich glaube nicht, daß Franzosen in der Lage waren, diese für Rumänien bestimmte Sintflut auf ihr eigenes Land umzuleiten …«
18
»… Ferroud weiß nicht, wie die rumänischen Kassenscheine nach Frankreich gekommen sind«, berichtete Thomas Lieven zwei Stunden später im Büro des Oberst Werthe im Hotel »Lutetia«. Er sprach schnell, Jagdfieber hatte ihn gepackt. Es entging ihm, daß Oberst Werthe und der kleine, ehrgeizige Major Brenner, seine beiden Zuhörer, bisweilen seltsame Blicke miteinander tauschten. Er war zu sehr in Fahrt. »Aber fest steht für Ferroud, daß die Scheine nur von Deutschen ins Land gebracht werden konnten, daß also Deutsche die Leiter der gesamten Organisation sein müssen.«
»Davon ist Ihr Monsieur Ferroud also überzeugt«, sagte Oberst Werthe gedehnt und sah Brenner an.
»Was ist eigentlich hier los?« Jetzt bemerkte Thomas, daß etwas nicht stimmte. »Was sollen die Blicke?«
Oberst Werthe seufzte und sah Brenner an: »Sagen Sie es ihm.«
Major Brenner biß sich auf die Lippen: »Ihr Freund Ferroud hat große Schwierigkeiten zu erwarten. Seit einer halben Stunde steht er unter Hausarrest. Wenn Sie noch ein bißchen länger bei ihm geblieben wären, hätten Sie Ihren alten Freunden, dem Sturmbannführer Eicher und seinem Adjutanten Winter, guten Tag sagen können.«
Thomas wurde es kalt. »Was ist geschehen?«
»Vor zwei Tagen wurde in Toulouse ein gewisser Untersturmführer Erich Petersen ermordet. Erschossen. In seinem Hotel. Hotel ›Victoria‹. Der Täter entkam. Für den SD steht fest, daß es sich um eine politische Aktion handelt. Um eine Demonstration. Der Führer hat bereits ein Staatsbegräbnis angeordnet.«
»Himmler verlangt, daß schärfstens durchgegriffen wird«, sagte Oberst Werthe.
»Der SD Toulouse hat sich an die französische Polizei gewandt, und diese hat ihm eine Liste von 50 Kommunisten und 100 Juden übergeben«, sagte Brenner. »Aus ihren Reihen wird man die Geiseln auswählen, die für den Mord an Petersen erschossen werden.«
»Charmant von der französischen Polizei, dieses Entgegenkommen, Herr Lieven, nicht wahr?« sagte Oberst Werthe bissig. »Immer nur rein in die Gestapo-Fratze. Und wenn die eigenen Landsleute verrecken dabei.«
»Moment, Moment mal«, sagte Thomas. »Ich komme nicht mehr mit. Ich habe zwei Fragen. Erstens: Warum ein solches Theater um diesen Herrn Petersen?«
Brenner antwortete: »Weil dieser Herr Petersen Blutordensträger war. Darum ist im Reichssicherheitshauptamt der Teufel los. Darum ist Bormann persönlich zu Himmler gelaufen und hat nach blutiger Vergeltung verlangt.«
»Schön«, sagte Thomas, »das leuchtet mir ein. Frage zwei: Was hat mein Bankier Ferroud mit dem Mord in Toulouse zu tun?«
»Der SD Toulouse hat eine Reihe von Zeugen verhört. Darunter befindet sich auch ein V-Mann der Gestapo, ein kleiner Geldverleiher namens Victor Robinson. Dieser Robinson hat dem SD Beweise dafür geliefert, daß Ihr Jean-Paul Ferroud der geistige Urheber des Mordes an Untersturmführer Erich Petersen ist.«
Das Gehirn unseres Freundes arbeitete rasend: Blutordensträger Petersen ermordet. Ferroud unter Verdacht. Ich weiß viel von ihm. Aber er – er weiß jetzt auch viel von mir. Hat er mich hereingelegt? Hat er die Wahrheit gesagt? Was wird mit ihm geschehen? Mit mir? Mit den 50 Kommunisten? Mit den 100 Juden?
Thomas mußte sich räuspern, ehe er sprechen konnte: »Herr Oberst, Ferroud ist davon überzeugt, daß Deutsche die Organisation eines Riesenbetruges mit Reichskreditkassenscheinen leiten.«
Er sprach stockend, er suchte nach Worten. »Ist es nicht seltsam, daß der SD den Bankier Ferroud gerade in dem Moment kassiert, in dem er sich für uns interessant gemacht hat?«
»Ich verstehe kein Wort«, sagte der biedere Major Brenner.
»Das habe ich auch nicht angenommen«, sagte Thomas nicht unfreundlich. Und zu Werthe: »Ich kann das alles nicht beweisen, aber ich habe das Gefühl, wir dürfen Ferroud jetzt nicht fallenlassen! Die Abwehr muß in dieser Sache mit am Ball bleiben!«
»Wie stellen Sie sich das vor?«
»Herr Oberst, Sie wissen, ich habe in Marseille gelebt. In dieser Zeit lernte ich zwei Herren kennen, die in Toulouse zu Hause sind. Paul de la Rue und Fred Meyer …«
Fred Meyer und Paul de la Rue – der geneigte Leser wird sich erinnern, daß diese beiden ehedem verwilderten Ganoven von Thomas Lieven in einem aufreibenden Schnellkursus zu Gentlemen umgeschult wurden, ehe sie den Juwelier Marius Pissoladière um Schmuck im Werte von rund acht Millionen Franc erleichterten. Thomas Lieven umschrieb dezent die wahre Art seiner Beziehung zu den beiden Unterweltlern und sagte: »Ich werde also nach Toulouse fahren!«
»Nach Toulouse?«
»Nach Toulouse, jawohl! Ein Verbrechen in ihrer Stadt, von dem die beiden Herren nichts wissen, gibt’s nicht! Und mir sagen sie, was sie wissen.«
»Und der SD?«
»Sie müssen zu Eicher gehen, Herr Oberst. Sie müssen ihm klarmachen, daß Ferroud für uns im Augenblick außerordentlich wichtig ist. Sie müssen ihm die Mitarbeit der Abwehr bei der Aufklärung des Mordes an Untersturmführer Petersen anbieten.«
Der kleine Major Brenner nahm seine Brille ab und putzte sie umständlich. Er dachte, sich auf die Lippen beißend: Bei der verrückten Partisanengeschichte habe ich mir die Schnauze verbrannt. Und versucht querzuschießen. Und die große Lippe riskiert. Folge? Major Brenner blickte auf das linke seiner beiden geflochtenen Majorschulterstücke. »Nach reiflicher Überlegung komme ich zu Herrn Lievens Ansicht. Wir dürfen uns wirklich nicht aus der Partie spielen lassen. Wir müssen wirklich am Ball bleiben. Die Sache mit den RKKs ist zu wichtig …«
Thomas drehte den Kopf zur Seite. Er begann sanft zu grinsen.
Oberst Werthe regte sich auf: »Ich soll schon wieder zu diesen Schweinen laufen und Männchen machen?«
»Gar nicht Männchen machen, Herr Oberst!« rief Brenner. »Den alten Trick anwenden! Rübergehen im Großen Dienstanzug und eine Geheime Kommandosache vorlegen!«
»Ihr seid ja beide verrückt«, sagte Oberst Werthe. »Dieser Eicher kriegt schon einen roten Kopf, wenn er mich bloß sieht!«
»Herr Oberst, mit einer gefälschten ›Gekados‹ haben wir Herrn Lieven rausgekriegt! Da werden wir uns doch mit einer echten noch in den Petersen-Mord einschalten können!«
19
»Dieser dreimal gottverfluchte Scheiß-Lieven«, sagte der joviale, untersetzte und rotgesichtige Sturmbannführer Walter Eicher. Er saß in der zu einem Büro umgewandelten Bibliothek des Hauses 84 in der Avenue Foch. Vor ihm saßen sein Adjutant Fritz Winter und der Obersturmführer Ernst Redecker, ein blonder Ästhet, der Rilke und George liebte.
Es war gegen 19 Uhr am 23. September 1943. Sturmbannführer Eicher hatte seinen Dienst beendet. Häufig und gerne unterhielt er sich nach des Tages Mühen bei einem guten Schluck noch ein Stündchen mit seinem Adjutanten. Und nicht ungern sah er es, wenn Obersturmführer Redecker sich zu ihnen gesellte, denn dieser strebsame Mann hatte einen besonderen Vorzug: Er war ein leiblicher Schwager des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler. Von Zeit zu Zeit erhielt Redecker persönliche Briefe vom »Reichsheini«, die sehr herzlich gehalten waren und die er mit verständlichem Stolz herumzeigte. Einen solchen Mann mußte man sich warmhalten, fand Eicher – und tat es.
Doch zu Plaudereien am Kamin war diesmal nicht die richtige Stimmung. Der Sturmbannführer knurrte: »Jeden Tag neuer Ärger. Eben war Oberst Werthe von der Abwehr bei mir.« Noch einmal fluchte Eicher: »Dieser gottverdammte Scheiß-Lieven.«
»Den wir in der Mache hatten?« fragte Adjutant Winter mit glitzernden Augen.
»Leider haben wir ihn nicht genug in der Mache gehabt. Entschuldigen Sie, Obersturmführer, ist sonst nicht meine Art, so zu reden – aber mit dem Saukerl haben wir auch nur Ärger.«
»Was ist denn diesmal?« forschte Winter.
»Ach, der Mord an Petersen.«
Hart setzte der leibliche Schwager des »Reichsheinis« sein Kognakglas auf den Tisch. In seinem Gesicht zuckte es; er wechselte die Farbe. Allgemein war bekannt, daß den Obersturmführer Redecker große Freundschaft mit dem in Toulouse erschossenen Erich Petersen verbunden hatte. Seine Erregung war darum verständlich.
Eicher erklärte, Oberst Werthe sei bei ihm erschienen, um mitzuteilen, daß die Abwehr ein dringendes Interesse an dem unter Verdacht stehenden Bankier Ferroud habe, der wichtigsten Schlüsselfigur eines gewaltigen Devisenschmuggelringes, dem offensichtlich auch Deutsche angehörten.
Redecker trank. Er war plötzlich so nervös, daß er etwas Kognak verschüttete. Seine Stimme klang heiser: »Na und? Was hat Petersen mit Devisenschmuggel zu tun?«
»Nichts, selbstverständlich. Aber Werthe ersuchte mich, die Aufklärung des gemeinen Mordes an unserem Kameraden mit der Abwehr gemeinsam durchzuführen.«
Aufgeregt fragte Redecker: »Sie haben natürlich abgelehnt, Sturmbannführer?«
»Ich habe natürlich abgelehnt – zunächst. Aber dann kam Werthe prompt mit ›Gekados‹ und so und bestand darauf, von meinem Büro aus mit Canaris zu telefonieren. Der sprach offensichtlich mit Ihrem Schwager. Denn vor einer halben Stunde kam ein Fernschreiben aus dem Reichssicherheitshauptamt. Die Untersuchung ist mit der Abwehr gemeinsam durchzuführen.«
Aus unerklärlichen Gründen traten Redecker plötzlich Schweißtropfen auf die Stirn. Niemand bemerkte es. Er stand auf, wandte den beiden Herren den Rücken zu und wischte die Schweißtropfen fort. Dabei hörte er Eichers zornige Stimme: »Werthe ist schon runter nach Toulouse. Und wer begleitet ihn? Herr Lieven! Ein dreckiger Doppelagent! Ein Schweinehund, der unsere Leute übers Ohr gehauen hat! Ein Mann, der seit Jahren ins Massengrab gehört!« Eicher trank erregt seinen Kognak. »Wenn ich diesen Kerl noch mal in die Finger kriege … Was ist?«
Einer seiner Beamten war eingetreten: »Da wäre eine Frau. Sagt, sie möchte Sie sprechen.«
»Soll morgen wiederkommen. Vorher anmelden.«
»Verzeihung, Sturmbannführer, es ist eine Stabshauptführerin …«
»Was?«
»Ja … Stabshauptführerin Mielcke. Persönlicher Stab Reichsarbeitsführer Hierl. Will eine Anzeige erstatten …«
»Gegen wen?«
»Gegen einen gewissen Sonderführer Lieven.«
Redecker hustete kurz. Winter blinzelte. Eicher nahm einen tiefen Zug aus seiner Zigarre und blies den Rauch aus. Dann erhob er sich. »Ich lasse die Stabshauptführerin bitten!«