2. Kapitel

1

Die Rue des Bergères mit ihren Bistros, winzigen Restaurants und kleinen Bars lag in der malerischen Altstadt von Toulouse. Thomas Lieven lächelte traurig, als er in die kleine Straße einbog. Genau wie vor drei Jahren, als er auf der Flucht vor den Deutschen mit seiner Freundin, der Schauspielerin Mimi Chambert, und dem Heldendummkopf Oberst Siméon hierhergekommen war, trippelten auch jetzt noch sehr viele hübsche Mädchen hier umher, alle ein wenig zu grell geschminkt und alle ein wenig zu offenherzig angezogen.

Thomas hatte schon erfahren, daß Jeanne Perrier, die löwenhaarige Besitzerin jenes diskreten Hotels, nicht in der Stadt war. Zu gerne hätte er sie und ihre Mädchen besucht. Natürlich nur, um alte Erinnerungen zu tauschen …

Er blieb stehen. Das Haus war schäbig. Der Flur war schäbig. Er erreichte eine Tür im dritten Stock.

An der Tür stand:

PAUL DE LA RUE – FRED MEYER

IMMOBILIEN

Thomas Lieven grinste, als er klingelte. Thomas dachte: Immobilien. Als ich sie kennenlernte, waren sie noch Bilderfälscher, Hoteldiebe und Kassenschränker. Voilà, eine Karriere.

Schritte näherten sich von jenseits der Tür, sie wurde geöffnet. Paul de la Rue, Hugenotten-Nachfahre, stand in ihrem Rahmen. Er war mit Geschmack gekleidet und vorzüglich frisiert.

Seine hohe Figur und der schmale Schädel gaben ihm etwas ergreifend Aristokratisches. Er begann fein: »Guten Tag, mein Herr, womit kann ich dienen?«

Dann stieß er einen Schrei aus: »Nom de Dieu, es ist Pierre!«

Krachend schlug er Thomas, den er unter dem Namen Pierre Hunebelle kennengelernt hatte, auf die Schulter. Für Sekunden vergaß er seine gute Erziehung: »Mensch, ich beiß’ mir in den Allerschönsten! Du lebst? Mir haben sie erzählt, die Gestapo hat dich gekillt!«

»Hübsch habt ihr es hier«, sprach Thomas, sich der Umarmungen Pauls erwehrend und in die Wohnung hineingehend. »Mein Unterricht hat wirklich Früchte getragen. Nur die Nippesfiguren da drüben, das Rehlein, das Elflein und die Tänzerin, die müssen natürlich raus!«

Paul starrte ihn an: »Wo warst du bloß? Wie kommst du hierher?«

Thomas erklärte seine Situation. Paul lauschte schweigend. Von Zeit zu Zeit nickte er. Zuletzt sagte Thomas: »… ich bin also mit meinem Oberst erschienen, weil ich hoffe, daß ihr mir helfen könnt. Feine Pinkel seid ihr geworden …«

»Feine Pinkel, Quatsch! Immobilien, das steht doch nur an der Tür! Wir schieben natürlich – wie alle. Aber eben intelligenter – dank dir, mein Alter. Hast uns damals einen großen Gefallen getan mit deinem Kursus.«

»Ja«, sagte Thomas, »und jetzt könnt ihr mir einen großen Gefallen tun. Ich muß wissen, wer diesen Untersturmführer Petersen umgelegt hat. Ich muß wissen, ob das ein Résistance-Mord war.«

»Es war bestimmt kein politischer Mord.«

»Das beweise mir mal. Erzähle mir, wer Petersen erschossen hat. Und wie. Und warum.«

»Aber Pierre, ich werde doch keinen Landsmann verraten, der einen Nazi umgelegt hat. Das kannst nicht mal du von mir verlangen.«

»Ich will dir mal was sagen, Paul. Die Nazis haben hundertfünfzig Leute verhaftet, Landsleute von dir. Sie werden Geiseln erschießen. Mehr als eine! Das können wir nur verhindern, wenn wir beweisen, daß dies kein politischer Mord war, daß dieser Petersen Dreck am Stecken hatte! Geht das in dein Idiotenhirn hinein?«

»Mensch, schrei mich doch nicht so an. Ich will ja gerne mal ein bißchen herumhören …«

2

Drei Tage später, am 27. September 1943, nahmen drei Herren an Paul de la Rues Mittagstisch Platz: der Hausherr, Thomas Lieven und Fred Meyer.

Paul hatte Thomas in dessen Hotel angerufen: »Ich glaube, wir haben etwas für dich. Komm doch zu mir. Fred kommt auch. Kannst du uns nicht was Schickes kochen? Von den Jungens in Marseille hörten wir, du hättest mal so ein prima Essen für sie gemacht!«

»In Ordnung«, hatte Thomas geantwortet. Drei Stunden lang hatte er an diesem Vormittag in Paul de la Rues Küche gearbeitet. Nun saß man bei Tisch. Die beiden Ganoven trugen dunkle Anzüge zur Feier des Wiedersehens, weiße Hemden, silberne Krawatten. Sie waren so gut erzogen, daß sie versuchten, die Vorspeise – gefüllten Staudensellerie – mit Messer und Gabel zu nehmen, was ihnen große Schwierigkeiten bereitete.

»Im Gegensatz zu den meisten anderen Gelegenheiten«, sprach Thomas, »ist es durchaus legitim, ja richtig, diese Stangen in die Hand zu nehmen.«

»Dem Himmel sei Dank«, sagte Fred. »Was ist denn das für Käse?«

»Roquefort«, sagte Thomas. »Wer hat also Petersen umgelegt?«

»Ein gewisser Louis Monico war es. Ein Korse. Sie nennen ihn ›Louis le rêveur‹, ›Ludwig den Träumer‹.«

»Wer ist dieser Träumer? Widerstand?«

»Aber woher denn! Richtiger Gangster. Ganz jung. Hat es schwer auf der Lunge. Schon Jahre Gefängnis wegen Totschlag. Mensch, ich fress’ mich tot an den Stangen!«

»Damit das nicht geschieht«, sagte Thomas, »werde ich eilends das Hauptgericht bringen.« Er ging in die Küche und kehrte gleich darauf mit einem Wasserbad wieder, dem er eine verdeckte Puddingform entnahm.

»Ooch, Pudding!« maulte Fred enttäuscht. »Das ist aber ’ne Schei …, das ist aber nichts Rechtes. Ich dachte, es gibt Fleisch!«

»Wirklich«, sagte Paul und betupfte dazu fein die Mundwinkel mit der Serviette, »ich muß sagen, ich bin auch ein wenig enttäuscht, lieber Freund!«

»Abwarten!« Thomas stürzte den Inhalt der Puddingform auf eine große Porzellanplatte. Ein delikater Geruch nach Fleisch und Zwiebeln verbreitete sich. Die beiden Gangster schnupperten. Harmonie und Beruhigung malten sich auf ihren Gesichtern.

Thomas sagte: »Jetzt erzählt mir vom Träumer. Warum hat er Petersen umgelegt?«

»Nach dem, was wir herausbekommen haben«, sagte Fred, »und unsere Informationen sind erstklassig, war dieser Petersen eine ganz große Sau. Von wegen Blutordensträger! Von wegen SD! Daß ich nicht lache! Petersen kam hier runter als Zivilist, verstehst du, und weißt du, was er machte? Er kaufte Gold.«

»Schau mal einer an.«

»Jede Menge. Zu guten Preisen. Muß ein mächtiger Schieber gewesen sein. Der Träumer hat ihm schon ein paarmal was verkauft. Immer nur kleine Mengen.«

Thomas dachte: Herr Petersen vom SD – ein Goldschieber. Und der Führer ordnet ein Staatsbegräbnis an. Und Geiseln sollen erschossen werden. Und Deutschland hat einen Helden verloren. Heil!

Menu • Toulouse, 27. September 1943

Bei pikanter Speise platzt eine Millionenschiebung.

 

Gefüllter Staudensellerie

Spanisch-Fricco

Flambierte Pfirsiche

Gefüllter Staudensellerie: Man nehme feste Stangen von Bleichsellerie und wasche sie gut. Man mische frische Butter und Roquefort oder Gorgonzola zu gleichen Teilen und verrühre sie gründlich. – Man schneide die natürliche Einbuchtung der Selleriestangen der Länge nach etwas ein, fülle sie mit der Käsemasse und stelle sie recht kalt. – Man serviere die Stangen aufrechtstehend mit dem kleinen Blattpuschel nach oben, in einem vasenähnlichen Glasgefäß, etwa einem Traubenspüler, und fülle die Zwischenräume mit Eisstückchen aus.

Spanisch-Fricco: Fleisch vom Rinderfilet forme und klopfe man zu kleinen Beefsteaks, bestreiche sie mit Senf, Salz und Pfeffer. Dann schneide man geschälte rohe Kartoffeln in dünne Scheiben, lasse reichlich gehackte Zwiebeln in Butter hell dünsten. – Man gebe in eine mit Butter bestrichene, mit geriebener Semmel ausgestreute Puddingform zuunterst eine Lage Kartoffelscheiben, darüber Butterflöckchen, etwas Salz und Pfeffer, dann eine Lage Fleisch, mit geschmorten Zwiebeln bedeckt, dann wieder Kartoffeln und so fort. Als oberste Lage wieder Kartoffeln, mit Butterflöckchen belegt. – Man rühre je einen halben Tassenkopf Rotwein, Sahne und Fleischbrühe durcheinander, gieße dies über die Speise, lasse dann die gut verschlossene Puddingform eine bis eineinhalb Stunden im Wasserbad kochen, rühre sie nicht um, sondern stürze sie direkt auf eine große Schüssel.

Flambierte Pfirsiche: Man lasse drei Butterröllchen mit feinem Zucker und gestiftelten Mandeln hell karamelisieren, lösche mit frisch gepreßtem Orangen- und Zitronensaft, im Verhältnis 1 zu 2, ab. – Man gebe je einen Guß von Cointreau, Maraschino und Kognak dazu, lege schöne, abgetropfte Hälften von eingemachten Pfirsichen hinein. – Man begieße die Pfirsiche dauernd mit der Flüssigkeit, bis sie heiß geworden sind, gieße dann noch einmal Kognak darüber und stecke sie in Brand. – Man lege die heißen Pfirsiche auf die Teller über eine Kugel von Vanilleeis, gieße die Sauce darüber und verziere mit etwas Schlagsahne.

(Man braucht für diese Nachspeise, die man bei Tisch zubereitet, eine sehr saubere, innen vernickelte Pfanne auf einem Spiritusrechaud.)

»Na, mit der Zeit gewann Petersen das Vertrauen des Träumers. Und an dem gewissen Tag kam Louis mit einer sehr großen Menge Gold zu Petersen ins Hotel …«

3

Zwei schwere Koffer voller Goldmünzen und Goldbarren stellte der schmale, bleiche Louis Monico auf den Rokokotisch im Salon des Appartements 203 im Hotel »Victoria«. Die Anstrengung ließ ihn keuchen. Pfeifend rasselte sein Atem. Fiebrig glänzten seine Augen.

Ein kleiner Mann in einem grauen Flanellanzug stand dem »Träumer« gegenüber. Wäßrige Augen hatte dieser Mann, einen fast lippenlosen Mund, einen mathematisch exakten Scheitel, der das kurze Blondhaar teilte. Louis wußte, daß er Petersen hieß. Und daß er Gold aufkaufte. Sonst wußte er nichts von ihm. Aber das genügt ja auch – dachte er.

»Wieviel ist es diesmal?« fragte Petersen.

»300 Louisdor und 35 Goldbarren.« Der »Träumer« öffnete die beiden Koffer. Gold glänzte auf im Licht des elektrischen Lüsters.

»Wo ist das Geld?«

Petersen griff in die Brusttasche. Als er die Hand wieder hervorzog, hielt sie einen Ausweis. Eiskalt kam Petersens Stimme: »Ich bin Untersturmführer Petersen vom SD. Sie sind verhaftet.«

Louis Monico hatte die rechte Hand in der Jackentasche gehalten, als Petersen sprach. Er nahm sie nicht mehr heraus. Aus der Tasche schoß er. Drei Kugeln trafen den Blutordensträger Erich Petersen in die Brust. Er war sofort tot. Mit gebrochenen Augen starrte er zur Decke empor.

Der »Träumer« sagte zu dem Toten: »Mit mir machst du nicht solche Scheißtricks, du Hund.« Dann ging er, über den Toten hinwegtretend, zum Ausgang und öffnete die Doppeltür. Der Gang war leer. Da nahm der »Träumer« seine beiden Goldkoffer und ging. Niemand beachtete ihn in der Halle.

4

»… niemand beachtete ihn in der Halle«, berichtete Fred Meyer.

»Und woher wißt ihr das alles?« fragte Thomas.

»Vom Bruder des Träumers.«

»Der hat euch das alles so freimütig erzählt?«

»Ja. Weil es nämlich inzwischen egal geworden ist. Ich habe dir doch gesagt, daß der Träumer lungenkrank ist. Vor drei Tagen hatte er einen Blutsturz. Er liegt im Hospital. Wird das Ende der Woche nicht mehr erleben.«

»Du kannst mit deinem Oberst hingehen«, sagte Paul. »Er ist bereit, eine Aussage zu machen …«

27. September 1943, 16 Uhr 15.

Auf dem Schreibtisch des kleinen Majors Brenner schrillte das Telefon. Er griff nach dem Hörer und vernahm die Stimme seines Vorgesetzten: »Hier ist Werthe. Ich spreche aus Toulouse. Hören Sie mir genau zu. Was ich Ihnen sage, ist von äußerster Wichtigkeit!«

»Jawohl, Herr Oberst!«

»Wir haben den Mörder Petersens gefunden.« Werthe berichtete von dem lungenkranken Louis Monico und seinem Geständnis. »Lieven, zwei SD-Beamte und ich waren an seinem Krankenbett.«

»Donnerwetter, Herr Oberst!« rief Brenner. Sein Herz klopfte stürmisch. Dieser Lieven! Dieser Teufels-Lieven! Gott sei Dank habe ich mich gleich für seine Idee ausgesprochen!

Brenner fiel etwas ein: »Aber dieser Geldverleiher – dieser Victor Robinson … Der hat doch Ferroud belastet!«

»Das haben wir inzwischen auch geklärt. Robinson schob mit Petersen zusammen. Er war einmal ein Angestellter Ferrouds. Der warf ihn hinaus. Robinson wollte sich jetzt rächen. Das ist aber noch nicht alles, Brenner. Die Hauptsache kommt noch. Soweit Lieven erfahren konnte, hat Petersen mit dem Gold in einer Riesenschiebung mit Reichskreditkassenscheinen dringehangen … Brenner, hören Sie mich?«

Brenner beleckte die trockenen Lippen. Mensch, die Reichskreditkassenscheine! Das wird ja immer bunter! Das wird ja … Himmel, und ich bin mit dabei! Er rief stramm: »Ich höre, Herr Oberst!«

»Wir wissen noch nicht, wie alles zusammenhängt, aber jetzt ist keine Sekunde zu verlieren, Brenner! Wenn es stimmt, daß Petersen bei den RKKs mitschob, dann wird es einen Skandal allererster Güte geben! Der SD wird natürlich versuchen, alles zu vertuschen! Wir sind ihm voraus – allerdings um ein paar Stunden höchstens. Major Brenner, nehmen Sie fünf zuverlässige Leute –«

»Jawohl!«

»Petersen hatte eine Wohnung in der Avenue de Wagram 3. Seine Dienstwohnung. Die durchsuchen Sie zuerst.«

»Jawohl, Herr Oberst!«

»Lieven hat herausbekommen, daß Petersen auch noch eine geheime Absteige hatte, in der Avenue Mozart 28. Von der weiß anscheinend der SD nichts … Da gehen Sie auch hin …«

»Jawohl, Herr Oberst!«

»Stellen Sie die Wohnungen auf den Kopf. Tun Sie, was Sie wollen! Lieven ist schon auf dem Heimweg zu Ihnen. Sichern Sie alles verdächtige Material, bevor der SD es verschwinden läßt! Verstanden?«

»Jawohl, Herr Oberst!« rief Brenner.

Und also stürzte der kleine Major mitten hinein in ein Abenteuer, das ihm die Schamröte in die ehrlichen Pausbacken treiben sollte, ein skandalöses, ein richtig pariserisches Abenteuer. Hoffentlich werden wir jene zarten Worte finden, die es gestatten, das Abenteuer des Majors Brenner auch zu erzählen.

5

Auf kreischenden Pneus hielt der Wehrmachts-Mercedes vor dem Haus Avenue de Wagram 3. Heraus sprang der kleine Major Brenner, straffte sich, rückte entschlossen an der goldgefaßten Brille.

Hinter dem Mercedes hielt ein grauer Wehrmachtslastwagen. Fünf Männer in Uniform kletterten auf die Straße herab, die im letzten Sonnenglanz eines schönen, milden Herbsttages leuchtete. Es war 16 Uhr 46 am 27. September 1943.

»Mir nach!« befahl der kleine Major, indem er die Pistole am Koppel nach vorne rückte. Und dann stürmte er mit seinen ausgesuchten fünf Männern ins Haus, doch – die Dienstwohnung des toten Petersen war leer. Die Türen standen offen. Die Teppiche, die Möbel, alles war verschwunden. Die dicke Concierge erklärte achselzuckend: »Das ist heute früh alles abgeholt worden.«

»Abgeholt? Von wem?«

»Na, von den Möbelpackern – und einem deutschen Offizier, einem Freund von Herrn Petersen … Der war schon oft hier … Redecker heißt er …«

»Redecker?« Der kleine Major Brenner hatte seine Beziehungen zum SD. Er kannte den Obersturmführer Redecker, diesen leiblichen Schwager des Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei, Heinrich Himmler.

Jetzt wurde es Brenner unheimlich zumute. Sollte Redecker mit Petersen unter einer Decke stecken? Dann ging es aber wirklich um Sekunden! Hier, in der Dienstwohnung, war er zu spät gekommen. Von der Absteige in der Avenue Mozart wußte der SD angeblich nichts. Also nichts wie hin!

Fünf ausgesuchte Männer stürmten hinter ihrem Major die Treppen wieder hinab und auf die Straße hinaus. Motoren jaulten auf. Vorwärts schossen die Wagen. Stürmisch klopfte das Herz von Major Brenner. Und er empfand ein echtes Hans-Albers-Gefühl: Hoppla, jetzt komm’ ich!

In der vornehmen Avenue Mozart versuchte Brenner wenige Minuten später, der Concierge des Hauses 28 in seinem Schulfranzösisch klarzumachen, daß er die Wohnung des Herrn Petersen im zweiten Stock durchsuchen müsse. »Aber Monsieur«, antwortete die Portierfrau, »die Damen sind doch oben!«

»Damen? Was für Damen?«

»Madame Lilly Page und ihre Zofe.«

»Wer ist Madame Page?«

»Nun, die Freundin von Monsieur Petersen natürlich. Er ist verreist, seit ein paar Tagen schon.«

Daraus schloß Brenner messerscharf, daß hierorts von der Ermordung des Blutordensträgers und Goldschiebers noch nichts bekannt war, und stürmte mit seinen fünf Mann neuerlich los – in den zweiten Stock hinauf diesmal.

Eine ausnehmend hübsche Zofe öffnete ihm, nachdem er geläutet hatte. Brenner erläuterte seine Mission, ohne jedoch (Köpfchen!) ein Wort über des Blutordensträgers tristes Schicksal zu verlieren. Die hübsche Zofe geriet in Konfusion und rief nach Madame.

Madame Page erschien in einem Kleidchen, das man sogar noch im Dämmerlicht des Vorzimmers als verwirrend durchsichtig bezeichnen mußte. Sie war etwa 33 Jahre alt, sehr reizvoll und von einer leichten Üppigkeit. Eine aufregende Person mit Mandelaugen und schneeweißer Haut.

Der Major bemerkte, daß seine fünf ausgesuchten Männer Stielaugen bekamen. Es gab eine Art von Damen, mit denen Fritz Brenner in seinem Leben nie zu tun gehabt hatte. Madame Page gehörte zu dieser Art. Er räusperte sich und erklärte höflich, aber bestimmt seinen Auftrag.

Dann ging er, das reine Pflichtbewußtsein, in den Salon voraus, der außerordentlich elegant und kostbar eingerichtet war. An den Wänden gab es ein paar außerordentlich unanständige Bilder zu betrachten. Brenner betrachtete sie natürlich nicht.

Derweilen schritt Lilly Page graziös zum Fenster und zog den Sonnenvorhang herab, obwohl das zu dieser Tageszeit wirklich nicht mehr nötig war.

Ich bin ja kein Idiot, dachte Brenner, das ist doch ein verabredetes Zeichen für irgend jemanden auf der Straße da unten! So trat er denn neben die üppige Lilly, zog den Sonnenvorhang wieder hoch und äußerte mit gußeiserner Galanterie: »Ich bitte, die Schönheit Madames bei vollem Tageslicht bewundern zu dürfen.«

»Charmant«, sagte die leichtbekleidete Lilly, ließ sich in einen tiefen, weichen Fauteuil fallen und kreuzte die Beine. »Bitte, Herr Major, beginnen Sie mit der Durchsuchung.«

Brenners fünf Männer hatten mit derselben offenbar bereits begonnen. Der Major hörte sie nebenan rumoren und mit der Zofe schäkern. Diese verfluchten Kerle! Kein Ernst, kein Pflichtgefühl! Eine Dienstauffassung war das …

Ärgerlich, zudem durch die Nähe Lillys verwirrt, öffnete Brenner ein großes Mahagonikästchen. Was er darin erblickte, trieb ihm die Schamröte ins Antlitz. Er rang nach Luft. Die schwarze Lilly lächelte sardonisch. Mit einem Knall schloß der Major das Kästchen wieder. Es wurde ihm zum zweitenmal unheimlich zumute.

Major Brenner hatte zwar schon einmal gehört, daß es angeblich Bücher, Zeitungen, Fotos, Gegenstände gab, die das Licht der Öffentlichkeit zu scheuen hatten. Aber er hatte sich diese Bücher, Zeichnungen, Fotos, Gegenstände niemals auch nur vorzustellen vermocht. Nun, da beim Öffnen des Kästchens sein ahnungsloser Blick auf solcherlei Unrat gefallen war, empörte sich sein Innerstes zutiefst! Ungeheuerlich. Monströs. Entartet. Verderbt. Kein Wunder, daß eine solche Nation den Krieg verlor …

Mühsam unterdrücktes Gegröle und Gewieher ließen den Major zusammenfahren. Madame mit den Mandelaugen sagte sanft: »Ihre Herren scheinen die Bibliothek entdeckt zu haben.«

Brenner stürzte ins Nebenzimmer. Vier seiner ausgesuchten Männer hatten sich über einen Bücherschrank hergemacht. Der Major erschauerte, als er sah, was sie erheiterte. Er forschte nach dem fünften ausgesuchten Mann. Er war im Zimmer der Zofe.

Brenner verbot den vieren den Bücherschrank, suchte den fünften und verbot ihm die Zofe. Die Situation begann ihm über den Kopf zu wachsen. Denn die Wohnung erwies sich als ein absolutes Museum des Unaussprechlichen.

Das Gesicht des Majors nahm permanent die Farbe einer überreifen Tomate an. Schweiß stand ihm auf der Stirn. In verzweifeltem Entschluß rannte er ans Telefon und meldete über die Wehrmachtsvermittlung Leander 14 ein Blitzgespräch nach Toulouse an.

Gott sei Dank. Werthe war noch da. Brenner stöhnte vor Erleichterung, als er seines Obersten Stimme hörte. Atemlos berichtete er, in welchen Sumpf er gestürzt war.

In Toulouse stöhnte auch Oberst Werthe über seinen biederen Major, aber das entging diesem. Er hörte Werthe nur fragen: »Und Material … Kassenscheine und so weiter … nichts zu finden?«

»Nichts, Herr Oberst.«

»Hören Sie zu, Brenner: Lieven muß bald in Paris eintreffen. Sie dürfen die Wohnung nicht verlassen. Sie dürfen auch niemandem etwas von Toulouse erzählen …«

»Verstehe, Herr Oberst. Rühre mich hier nicht weg, schweige wie das Grab.«

»Rufen Sie im ›Lutetia‹ an und in der Privatwohnung von Lieven. Sobald er in Paris eintrifft, soll man ihn zu Ihnen schicken.« Brenner hängte ein. Lieven! Thomas Lieven! Ach, wie eine lichte Hoffnung schien der Sonderführer ihm. Wenn er nur kam, bald kam …

Irgendwo kreischte die Zofe, als würde sie gekitzelt. Zornig stürzte der Major los, um den Übeltäter zu suchen. Herrgott, was für eine widerwärtige Situation!

6

Was der Major Brenner und seine Männer bisher in des Blutordensträgers geheimer Absteige gefunden hatten, waren – außer den unaussprechlichen Sammlungen – wertvolle Schmuckstücke, große Mengen von Goldmünzen, fernöstliche Liebhaberdrucke und Schnitzereien, aber keineswegs Beweise für Petersens Teilnahme an der Reichskreditkassenschein-Schiebung.

Immer wieder versuchte Madame Page, sich am Sonnenvorhang eines der Fenster zu schaffen zu machen, bis Major Brenner ihr dies strikt verbot.

Anderthalb Stunden waren seit dem Beginn der Haussuchung vergangen. Plötzlich schrillte die Wohnungsglocke. Lilly wurde leichenblaß.

Brenner zog seine Pistole. »Kein Wort«, zischte er. Rückwärts gehend, bewegte er sich durchs Vorzimmer. Fuhr herum. Riß die Tür auf. Und packte den Mann, der draußen stand.

Der Mann war jung, hübsch, olivenfarben. Er trug glattes, schwarzes Haar, einen kleinen Schnurrbart, langbewimperte Augen und zwei Narben an der rechten Wange, wie von Messerschnitten. Jetzt war er leichenblaß.

»Idiot!« schrie die üppige Lilly ihn an. »Warum kommst du herauf?«

»Warum soll ich nicht heraufkommen?« schrie er zurück. »Der Sonnenvorhang war oben!«

»Aha!« rief Brenner triumphierend. Dann durchsuchte er den Mann nach Waffen. Der Mann hatte keine. Sein Paß wies ihn als Prosper Longtemps aus. Beruf: Schausteller. Alter: 28. Brenner nahm ihn ins Verhör. Der junge Mann schwieg verbissen.

Plötzlich schluchzte Lilly verzweifelt auf: »Monsieur le Commandant, ich will alles sagen! Prosper ist meine – meine große Liebe; ich habe Petersen mit ihm betrogen, immer schon … Glauben Sie mir?«

»Kein Wort«, sagte Brenner eiskalt und dachte: So eiskalt würde auch Lieven reagieren. Dann sperrte er Prosper Longtemps ins Badezimmer.

Es war bereits dunkel draußen, halb acht Uhr. Der Major rief wieder im »Lutetia«, dann in Lievens Privatwohnung an. Nein, Thomas Lieven war noch nicht aufgetaucht.

Brenner wagte nicht, auch nur einen seiner fünf ausgesuchten Leute etwa an den Bahnhof zu schicken, um dort Lieven direkt vom Zug abholen zu lassen. Wer wußte, ob nicht der SD anrücken würde? Dann mußte er diese Wohnung wie eine Festung verteidigen – alleine?

Was konnte er nur noch tun? Major Brenner zergrübelte sich den Kopf. Alles hatte so forsch und vielversprechend begonnen – und jetzt? Jetzt saß er in einer schwülen Wohnung, angefüllt mit unaussprechlichen Dingen, doch leer an Beweisen. Einen Gefangenen hatte er gemacht, jawohl. Aber was war das für ein Mensch? Wie sollte er, Brenner, jemals die Wahrheit erfahren?

Und zu allem noch diese verwirrende Madame Page mit ihrer bildhübschen Zofe und fünf Männer, die nur mühsam von den unaussprechlichen Sammlungen und von der Zofe zurückzuhalten waren. Ach, wäre er doch bloß am Schreibtisch seiner Dienststelle im Hotel »Lutetia« geblieben! Theoretische Generalstabsarbeit – das war seine Stärke, nicht aber Taktik und Strategie im unmittelbaren Einsatz …

Brenner schrak auf. Madame hatte angeregt, ihre Zofe könnte doch wohl ein paar belegte Brote für die hungrigen Männer zubereiten …

Major Brenner zögerte. Durfte er das zulassen? Waren Madame und die Zofe nicht der Feind? Andererseits: Die Männer waren hungrig, und er wollte ein verständnisvoller Vorgesetzter sein. Er ließ also die Zofe in die Küche gehen, stellte einen Mann zu ihrer Überwachung ab und schärfte ihm ein, sich absolut korrekt zu verhalten.

Bald kauten die Männer mit vollen Backen und tranken dazu Sekt, der sich im Eisschrank gefunden hatte. Brenner lehnte erst mannhaft alles ab. Später aß er doch ein Häppchen, trank ein Schlückchen …

Es wurde neun Uhr, zehn Uhr. Und immer noch keine Spur von Thomas Lieven. Die Damen meinten, sie würden es vorziehen, ins Bett zu gehen.

Brenner gestattete es ihnen. Er organisierte den Wachdienst. Ein Mann vor dem Zimmer der Zofe, ein Mann vor dem Zimmer der Hausfrau, ein Mann vor dem Badezimmer. Zwei Mann an der Haustür. Er selber blieb im Salon, neben dem Telefon.

Er würde nicht schlafen, dachte er. Er kam sich vor wie ein Fels in der Brandung. Nicht zu korrumpieren. Nicht zu unterhöhlen. Nicht zu …

Dann war er doch eingeschlafen!

Als er erwachte, war es dunkel im Salon. Er spürte, wie weiche Hände sanft über seinen Leib tasteten …

»Still«, flüsterte Lilly Page, »sie schlafen alle … Ich tue, was Sie wollen, aber lassen Sie Prosper laufen …«

»Madame«, sagte Brenner fest, und seine Hände umklammerten ihre Arme wie Schraubstöcke, »nehmen Sie sofort Ihre Hände von meiner Pistole!«

»Ach«, seufzte Lilly in der Dunkelheit, »ich will doch nicht deine Pistole, du Narr …«

In diesem Augenblick schrillte die Türglocke.

7

Thomas Lieven kehrte um 22 Uhr 10 nach Paris zurück. Im Hotel »Lutetia« teilte man ihm aufgeregt mit, daß Major Brenner ihn schon seit Stunden dringend in der Avenue Mozart 28 erwarte. Der Major sei mit einem ganzen Kommando ausgerückt.

»Hm«, sagte Thomas und dachte: Was, um Gottes willen, tut Brenner seit Stunden in der geheimen Absteige dieses Schiebers Petersen?

In der Halle des Hotels erblickte er seine beiden alten Freunde, die kriegsmüden, barrasschlauen Funkgefreiten Raddatz und Schlumberger, die er im Verlaufe seines Abenteuers mit dem »Maquis Crozant« kennen- und schätzengelernt hatte. Der Berliner und der Wiener begrüßten ihn strahlend. Sie waren eben abgelöst worden.

»Möönsch«, freute sich der hagere Berliner mit der Vorliebe für französische Magazine, »kiek mal, Karli, det is ja unsa Herr Sondaführa!«

»Kommen S’ mit, Herr Sonderführer?« fragte der leicht verfettete Wiener. »Mir gehn noch in die Rue Pigalle, a poar fesche Katzerl aufreißn.«

»Hört mal zu, Kameraden«, sagte Thomas Lieven, »verschiebt eure löblichen Absichten ein wenig und kommt mit mir. Vielleicht brauche ich euch.«

Und so standen die drei gegen 23 Uhr dann vor der Wohnung in der Avenue Mozart 28. Thomas klingelte. Danach ertönten mehrere Stimmen. Danach gab es einiges Gepolter. Dann kamen Schritte heran. Dann flog die Tür auf. Major Brenner stand in ihrem Rahmen, dunkelrot, außer Atem, mit verwirrtem Haar, Lippenstiftspuren am Halse. Hinter ihm sahen Thomas und seine Freunde eine Dame, die einen Traum von Nachthemd trug – und sonst gar nichts.

Major Brenner stammelte: »Herr Lieven … Gott sei Dank, daß Sie endlich kommen …« Galant küßte Thomas Lieven der Dame im Nachthemd die Hand.

Dann erklärte Major Brenner die Gesamtsituation, berichtete von dem, was er leider in dieser Wohnung vorgefunden und was er leider in dieser Wohnung nicht vorgefunden habe. Zuletzt kam er auf seinen Gefangenen zu sprechen.

»Prosper ist mein Geliebter«, warf Lilly Page, inzwischen mit einem Morgenmantel etwas mehr bekleidet, ein. Sie sah Thomas tief in die Augen. »Er weiß von nichts, was Petersens Geschäfte angeht.«

»Anging«, verbesserte Thomas. »Erich Petersen ist nämlich erschossen worden. In Toulouse, von einem seiner Geschäftspartner …«

Lillys schöne Lippen schürzten sich zu einem schönen Lächeln. Sie sagte mit einem unirdischen Ausdruck des Glücks: »Endlich hat’s ihn erwischt, den elenden Schuft.«

»Lassen Sie sich nicht von Ihrem Schmerz überwältigen, Madame«, bat Thomas.

Der kleine Major begriff nichts mehr. »Aber«, sagte er, »aber ich dachte …«

»Mensch Meier«, unterbrach ihn in diesem Moment die sonore Stimme des Gefreiten Raddatz. »Det is ja ’n Ding, muß ick ja sajen …«

»Was fällt Ihnen ein, mich zu unterbrechen«, rief der Major Brenner. Er drehte sich um. Er sah den hageren Gefreiten vor dem großen Mahagonikästchen stehen, das er am Nachmittag geöffnet und danach wieder voll Abscheu geschlossen hatte.

Der Gefreite Raddatz hatte das Kästchen gleichfalls geöffnet, jedoch durchaus nicht mehr voll Abscheu geschlossen. Mit beiden Händen holte er hervor, was in den Schubladen des Kästchens lag, schaute, staunte, guter Laune. Schließlich nahm er alle Schubladen heraus und leerte sie auf den Boden aus. Er lachte noch immer dabei. Plötzlich hörte er auf zu lachen. Und er sagte verblüfft: »Mir laust der Affe. Wat machen denn Reichskreditkassenscheine in so ’ne Umjebung?«

Und dann war es auf einmal still im Salon, totenstill. Bis Thomas leise sagte: »Na also.« Er verneigte sich vor Madame Lilly Page. »Erlauben Sie, daß wir noch einmal zu suchen beginnen?«

Die schöne Frau lächelte müde. »Mit Vergnügen. Ich sage Ihnen auch gerne, wo Sie suchen müssen. Überall dort, wo der Herr Major seinen Leuten verboten hat zu suchen …«

Fünf Millionen in Reichskreditkassenscheinen der Ausgabe Rumänien förderten sie zutage: in Rosenholzkästchen, in denen sich seltsame Gegenstände aus dem erfindungsreichen Orient befanden, hinter den verbotenen Büchern der Bibliothek, unter den unaussprechlichen Sammlungen, hinter den unanständigen Bildern im Salon.

Nun schickte Thomas die Hausfrau in ihr Zimmer und nahm sich den bleichen, verschreckten Prosper Longtemps vor. Zehn Minuten später ging er zu Madame ins Schlafzimmer.

Sie lag im Bett. Ihre Augen brannten. Thomas setzte sich auf den Bettrand. Sie flüsterte: »Ich sage die Wahrheit … Prosper ist meine Liebe. Nur seinetwegen habe ich es hier ausgehalten, bei Erich – bei diesem Ferkel … Aber Sie glauben mir ja doch nicht.«

»Ich glaube Ihnen«, sagte Thomas Lieven. »Ich habe mich mit Prosper unterhalten. Er hat mir erzählt, daß er Sie schon seit zwei Jahren kennt. Vor einem Jahr hat der SD ihn verhaftet …«

Eine Menge ausgefressen hatte Prosper Longtemps, der Tunichtgut, der die Damen so glücklich machte. Als er vor einem Jahr vom SD verhaftet wurde, verhörte ihn ein gewisser Untersturmführer Petersen. Bei dem erschien eine gewisse Lilly Page und bat für Prosper. Petersen gefiel diese Dame. Er versprach, milde zu Prosper zu sein, wenn … Lilly Page wurde notgedrungen die Geliebte Petersens, und Petersen ließ Prosper laufen.

Jetzt sagte Thomas: »Hören Sie zu, Madame, ich bin bereit, Prosper zu schützen. Unter einer Bedingung –«

»Ich verstehe«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln und bewegte sich träge.

»Ich glaube nicht, daß Sie mich verstehen«, antwortete Thomas freundlich. »Petersen war in eine Schiebung mit Reichskreditkassenscheinen verwickelt. Ich muß wissen, wie die nach Frankreich kamen. Wenn Sie uns da helfen, will ich Ihren Prosper schützen.«

Langsam richtete Lilly sich im Bett auf. Sie ist sehr schön, dachte Thomas, dabei liebt sie einen solchen Strolch – und tut alles für ihn … Das Leben ist komisch!

Lilly Page sagte: »Da drüben hängt ein Bild, die Leda mit dem Schwan. Nehmen Sie es von der Wand.«

Thomas tat, was sie sagte. Hinter dem Bild erblickte er einen kleinen Wandsafe mit einem Nummernschloß.

»Stellen Sie die Zahl 47 132 ein«, sagte die Frau auf dem Bett. Er stellte die Zahl 47 132 ein. Die Safetür öffnete sich. Ein Buch aus schwarzem Leder lag in dem Stahlfach, sonst nichts.

»Erich Petersen war ein widerwärtig pedantischer Mensch«, sagte die Frau auf dem Bett. »Er führte über alles Buch. Über Männer, über Frauen, über Geld. Sie sehen sein Tagebuch. Lesen Sie es. Dann werden Sie alles wissen.«

 

In dieser Nacht fand Thomas Lieven nur wenig Schlaf. Er las das Tagebuch des Untersturmführers Erich Petersen. Als der Morgen graute, wußte er Bescheid über eine der größten Schiebungen des Krieges.

Übernächtigt erstattete er am Vormittag dem heimgekehrten Oberst Werthe Bericht: »In dieser Sache hängt einfach alles drin! Höchste Beamte im Reichssicherheitshauptamt Berlin. Höchste SD-Leute in Rumänien. Wahrscheinlich sogar Manfred von Killinger, der deutsche Gesandte in Bukarest. Und hier in Paris – Obersturmführer Redecker, der Schwager Heinrich Himmlers!«

»Allmächtiger«, sagte Oberst Werthe schwach, indessen der Major Brenner auf seinem Sessel wetzte, unruhig, erwartungsvoll, gespannt.

»Mit Redecker fing überhaupt alles an«, berichtete Thomas. »1942 arbeitete er beim SD in Bukarest …« Zu dieser Zeit mußten die Rumänen Reichskreditkassenscheine als Zahlungsmittel akzeptieren, aber sie waren selig, wenn sie jemanden fanden, der ihnen dafür Dollars, Pfund oder Gold gab. Zu den schlechtesten Kursen. Egal! Egal! Nur wieder weg mit dem Dreckpapier!

Redecker wurde nach Paris versetzt. Hier lernte er den Untersturmführer Petersen kennen. Die beiden entdeckten eine große Seelenverwandtschaft. Redecker erzählte von seinen rumänischen Erfahrungen. Zusammen zogen sie das Geschäft ganz groß auf. Petersen fuhr in Frankreich herum. Er kaufte, stahl, erpreßte und requirierte Gold. Das Gold wurde mit Kuriermaschinen des SD nach Berlin geflogen. Hier saßen zuverlässige »Mitarbeiter« im Reichssicherheitshauptamt. Das französische Gold flog mit SD-Kuriermaschinen weiter nach Bukarest. Auch hier saßen zuverlässige Mitarbeiter.

Nun kauften SD-Leute in Bukarest mit dem französischen Gold zu schlechtesten Kursen Reichskreditkassenscheine der Serie Rumänien auf. Diese wurden als »Geheime Kommandosachen« verpackt und deklariert und über Berlin nach Paris geflogen.

»… es verhält sich genauso, wie der Bankier Ferroud vermutete«, beendete Thomas Lieven seinen Bericht. »Nur Deutsche konnten diese Riesenschiebung aufziehen. Mit den so billig erschacherten Scheinen kauften Redecker und Petersen in aller Seelenruhe Frankreich aus. Aber Petersen traute Redecker niemals ganz. Das hat mir Lilly Page erzählt. Darum führte er ein Tagebuch über alle Operationen, an denen Redecker beteiligt war. Er wollte ihn in der Hand haben.« Thomas hob das schwarze Buch auf. »Nicht nur Redeckers Name steht auf diesen Seiten. Viele Namen stehen darauf. Mit diesem Buch, meine Herren, können wir den ganzen Ring auffliegen lassen.«

»Aber hören Sie mal, Lieven«, knurrte Werthe gereizt, »ist Ihnen klar, mit wem wir uns hier anlegen? Mit dem Schwager Himmlers! Mit einem Gesandten! Mit höchsten SD-Beamten. Sie sagen es selber!«

»Darum wollen unsere nächsten Schritte reiflich erwogen sein, Herr Oberst! Und wo lassen sich schwerwiegende Schritte reiflicher überlegen als bei einem guten Essen? Ich habe zu Hause bereits alles Nötige veranlaßt. Ich erwarte Sie in einer Stunde bei mir.«

Ach, so viel kann geschehen in einer Stunde …

8

Bleich und verstört erschienen Oberst Werthe und Major Brenner sechzig Minuten später in Thomas Lievens reizender kleiner Villa am Square du Bois de Boulogne. Der Major sah aus, als wollte er in Tränen ausbrechen. Der Oberst starrte verbissen vor sich hin, während die hübsche Nanette die Vorspeise servierte.

Thomas wartete, bis sie verschwunden war, dann erkundigte er sich: »Was soll die Trübsal, meine Herren? Fühlen Sie vielleicht ein menschliches Rühren, weil es dem Reichsheinischwager an den Kragen geht?«

»Wenn es nur dem an den Kragen ginge«, sagte Werthe dumpf.

»Wem denn noch?« fragte Thomas und steckte ein Stückchen Melone in den Mund.

»Ihnen«, sagte Werthe.

Weil man mit vollem Mund nicht spricht, schluckte Thomas erst hinunter, bevor er sagte: »Kleiner Scherz?«

Menu, Paris, 28. September 1943

Beim Dessert plant Thomas Lieven, selbst einen

Reichsführer zur Räson zu bringen.

 

Melonenscheiben

Parmesankoteletts

Schokoladenpalatschinken

Melonenscheiben: Man serviere eisgekühlte Scheiben einer schönen, festen Melone, die sich jeder Gast nach seinem Geschmack mit Pfeffer und Salz bestreut.

Parmesankoteletts: Man nehme Schweinekoteletts mittlerer Größe, am besten von dem etwas durchwachsenen Stück zum Halsgrat zu, klopfe, pfeffere und salze diese. Man lege sie in eine gut mit Butter ausgestrichene, flache, feuerfeste Form, bestreue sie dick mit geriebenem Parmesankäse und begieße sie mit dicker saurer Sahne, die aber nicht überstehen darf. Man backe die Speise im Bratofen in zwanzig bis dreißig Minuten hellbraun, serviere sie in der Form und reiche Salzkartoffeln und grünen Salat dazu.

Schokoladen-Palatschinken: Man backe feine, dünne Eierkuchen, deren Teig man mindestens eine Stunde vorher angerührt hat. Man schlage in einer Schüssel zwei Eigelb mit drei Eßlöffel feinem Zucker schaumig, lasse drei Riegel Schokolade mit einem Glas Milch auf dem Herd schmelzen und mische alles nebst etwas Vanillezucker und einer Prise Salz gut durcheinander. Man rühre diese Masse auf kleinster Flamme zu einer dicken Creme, streiche sie auf die Eierkuchen, die man zusammenrollt, mit grobem Kristallzucker und geriebenen Mandeln oder Pistazien bestreut und sofort sehr heiß serviert.

»Leider nein, Lieven, der SD will Ihnen an den Kragen. Sie wissen doch, daß Brenner so seine Beziehungen zum SD hat, nicht wahr. Also, nachdem wir uns trennten, ging er noch rüber in die Avenue Foch. Schließlich haben wir den Petersen-Mord in Toulouse aufgeklärt. Und so redete er mit Winter. Zunächst stellte er etwas sehr Beruhigendes fest: Von der Reichskreditkassenschein-Schiebung hat der SD in Paris keine Ahnung. Aber dann begann Winter von Ihnen zu sprechen, Herr Lieven.«

»Soso, und was sagte er?«

»Er sagte … hm, er sagte, jetzt wären Sie endlich drin.«

Die Tür ging auf.

»Ach, da kommt ja schon wieder die süße Nanette«, rief Thomas händereibend, »und bringt die Parmesankoteletts.«

Das Mädchen errötete bis unter die Haarwurzeln. »Monsieur Lieven, isch bitten Sie, nischt zu sagen ›süße Nanette‹, wenn isch tragen Geschirr. Isch lassen sonst alles fallen und machen kapütt!« Sie servierte und bemerkte zu Werthe: »Monsieur ist die charmanteste Mann von die ganze Welt!«

Der Oberst nickte stumm und nahm Salat. Nanette ging wieder. Thomas sagte: »Nicht zu sehr gepfeffert, die Koteletts? Nein? Gut. Also ich bin drin? Und wieso, bitte?«

Brenner fragte leidend: »Kennen Sie eine Stabshauptführerin Mielcke?«

Thomas verschluckte sich. »Und ob ich diesen Drachen kenne, diesen widerlichen!«

»Na also«, sagte Brenner, »wegen der Mielcke stecken Sie drin.«

»Und kein Mensch kann Ihnen helfen, Lieven«, sagte Werthe und schnitt an seinem Kotelett herum. »Kein Mensch. Ich nicht. Canaris nicht. Niemand. Erzählen Sie weiter, Brenner.«

Der kleine Major erzählte weiter, was er von Winter erfahren hatte. Danach war die Stabshauptführerin Mielcke vor etwa einer Woche bei Sturmbannführer Eicher erschienen. Sie hatte angegeben, seinerzeit einen heftigen Zusammenstoß mit Sonderführer Lieven gehabt zu haben. Ferner hätte sie ihn in der Nacht des 21. September in einem Schlafwagenabteil des Schnellzuges nach Marseille gesehen. In Begleitung einer äußerst schönen und äußerst verdächtigen Frauensperson. Bei einer Kontrolle hätte sich herausgestellt, daß sie einen Ausweis der Abwehr Paris auf den Namen Madeleine Noël besaß.

»Riecht das nicht sauer?« hatte die Arbeitsführerin gefragt und dem Sturmbannführer Eicher empfohlen, doch einmal herumzuhören …

Das tat Eicher, der Thomas haßte, mit Freuden. Rasch stellte er fest, daß eine deutsche Kuriermaschine am 22. September eine gewisse Madeleine Noël von Marseille nach Madrid gebracht hatte. Von hier war sie nach Lissabon weitergeflogen. Eicher gab seinen Leuten in Lissabon die entsprechenden Weisungen. Die machten sich auf die Socken und stellten fest, daß eine Madeleine Noël am 23. September in Lissabon eingetroffen war. Sie lebte noch in der Stadt. Aber sie nannte sich nun Yvonne Dechamps.

Yvonne Dechamps … Irgendwann hatte Eicher den Namen gehört. Er sah in den Suchlisten nach. Und dann verzog ein triumphierendes Grinsen sein Gesicht. Yvonne Dechamps, Assistentin von Professor Débouché, wurde seit Wochen als gefährliche Widerstandskämpferin von der Gestapo gesucht. Und Thomas Lieven hatte sie in Sicherheit gebracht – mit einem Ausweis der Deutschen Abwehr!

»Winter erzählte mir, daß sich Eicher bereits mit Berlin in Verbindung gesetzt hat«, sagte Brenner und zerschnitt eine Salzkartoffel mit dem Messer, was man nicht tun soll. »Mit Himmler.«

»Mit dem Schwager von Herrn Redecker«, sagte der Oberst. »Und Himmler wandte sich an Canaris. Und Canaris hat mich vor einer halben Stunde angerufen. Er ist wütend. Sie wissen, wie gespannt unsere Beziehungen zum SD sind! Jetzt noch so was! Es tut mir leid, Lieven, Sie sind ein netter Kerl. Aber ich bin mit meinem Latein zu Ende. Der SD erhebt Anklage gegen Sie. Sie kommen vor ein Kriegsgericht, da ist nichts zu machen, und …«

»Doch, doch«, sagte Thomas.

»Bitte?«

»Ich glaube, da ist noch eine Menge zu machen, Herr Brenner. Ich warne Sie, essen Sie nicht zuviel Fleisch. Es gibt noch eine Delikatesse: Schokoladenpalatschinken.«

»Machen Sie mich nicht wahnsinnig, Lieven!« schrie Werthe. »Quatschen Sie nicht dauernd vom Essen! Was ist da noch zu machen?«

»Der SD will mich hochgehen lassen. Wohlan, dann werden wir Herrn Redecker hochgehen lassen. Was haben wir heute? Dienstag? Gut. Dann werde ich mich für morgen nachmittag bei Sturmbannführer Eicher ansagen und die Peinlichkeit mit dem falschen Ausweis aus der Welt schaffen.«

»Sie … Sie wollen zu Eicher gehen?«

»Ja, natürlich. Es tut mir wirklich leid, daß ich Herrn Canaris solche Unannehmlichkeiten bereite.«

»Aber warum – warum wollen Sie zu Eicher auch noch hingehen?«

»Weil morgen Mittwoch ist, meine Herren«, sagte Thomas freundlich. »Und nach meinem kleinen schwarzen Buch ist Mittwoch der Tag der Woche, an dem immer Reichskreditkassenscheine von Bukarest nach Berlin geflogen werden. Wir müssen uns nach dem Essen nur noch einen genauen Zeitplan zurechtlegen. Aber eigentlich kann überhaupt nichts mehr schiefgehen …«

9

Mit hingebungsvollem Lächeln half das bildhübsche schwarzhaarige Dienstmädchen Nanette ihrem geliebten Herrn in den Kamelhaarmantel. Thomas Lieven warf einen Blick auf seine Repetieruhr. Es war 16 Uhr 30 am 29. September 1943.

Thomas sah aus dem Fenster. »Glauben Sie, daß wir heute noch Nebel bekommen werden, schönes Kind?«

»Nein, Monsieur. Isch glauben nischt …«

»Möge es so klar bleiben«, sagte Thomas. »Dann werden ein paar Herren heute abend schon im Kittchen sitzen.«

»Pardon, Monsieur?«

»Nichts, nichts, Nanette. Ich veranstalte gerade ein kleines Wettrennen. Ich möchte es gerne gewinnen.«

Ein Wettrennen in der Tat hatte Thomas Lieven arrangiert – jetzt mußte er mitlaufen. Eine Lawine hatte er in Bewegung gesetzt – jetzt mußte er verflucht aufpassen, daß sie ihn nicht überrollte. Denn eben machte er sich auf den Weg zur SD-Dienststelle Paris in der Avenue Foch, zu Sturmbannführer Eicher …

Die Operation, deren Ende Thomas nun als Sieger mitzuerleben hoffte, hatte 24 Stunden zuvor begonnen. Im aufrichtigen Bemühen, seinem verrückten Sonderführer das Leben zu retten, hatte Oberst Werthe über Fernschreiber einen langen Bericht an Admiral Canaris gesandt.

Bereits eine Stunde später erschien der weißhaarige Chef der militärischen Abwehr zu einer einstündigen Unterredung bei Heinrich Himmler. Böse Nachrichten hatte er dem Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei zu überbringen …

»Ich werde ohne Erbarmen durchgreifen«, tobte Heinrich Himmler.

Um 18 Uhr 30 am 28. September fing eine Sonderkommission, bestehend aus hohen SS-Führern, zu arbeiten an. Drei Mitglieder dieser Gruppe flogen in der Nacht über Wien nach Bukarest.

Am 29. September um 7 Uhr 15 verhafteten diese drei SS-Führer auf dem Flughafen von Bukarest einen SD-Kurier, der gerade nach Berlin fliegen wollte – den Unterscharführer Anton Linser. In seinem umfangreichen Gepäck führte er mehrere »Geheime Kommandosachen« bei sich, die man nun öffnete. Für Rumänien bestimmte Reichskreditkassenscheine im Wert von zweieinhalb Millionen Mark wurden gefunden.

Um 8 Uhr 30 erschienen die drei SS-Offiziere in den Räumen des SD Bukarest, die sich in einem unscheinbaren Seitentrakt der Deutschen Gesandtschaft an der Hauptstraße Calea Victorei befanden. Hier konnten große Mengen von französischen Louisdor-Stücken und Riesenbeträge von Reichskreditkassenscheinen sichergestellt werden. Zwei Personen wurden verhaftet.

Um 13 Uhr 50 am 29. September landete die Kuriermaschine aus Bukarest auf dem Flughafen Berlin-Staaken. Mitglieder der Sonderkommission verhafteten einen Untersturmführer namens Walter Hansmann, der sich mit allen Anzeichen großer Unruhe bei der Flugzeugbesatzung nach dem Kurier aus Bukarest erkundigte. Nach einem kurzen Verhör brach Hansmann zusammen und gab zu, in der Reichskreditkassenschein-Affäre mitgeschoben zu haben. Er nannte die Namen von vier hohen SD-Leuten, die in Berlin in die Affäre verwickelt waren. Um 14 Uhr saßen diese vier Männer bereits hinter Gittern …

»Dann können wir jetzt ja in Ruhe Mittag essen gehen«, sagte in Paris Thomas Lieven zu Oberst Werthe. Sie standen vor einem Fernschreiber, über welchen der Admiral seinen Oberst stündlich informieren ließ.

»Sie scheinen Glück zu haben, Sie verfluchter Hund«, sagte Werthe grinsend.

»Unberufen.« Thomas klopfte auf Holz. »Wann sind die Herren losgeflogen, die da zu rächen und zu richten haben werden?«

»Vor einer halben Stunde. Ein SS-Richter, zwei Kriegsgerichtsräte. Sollen zwischen 16 Uhr 30 und 17 Uhr hier landen.«

Um 16 Uhr 30 ließ Thomas sich von der bildhübschen Nanette in den Kamelhaarmantel helfen und dachte, als er auf die Straße hinaustrat: Mach, daß es wirklich keinen Nebel gibt, lieber Gott. Denn bei Nebel können meine drei Richter nicht landen. Und meine Rache wäre unvollkommen an den Bluthunden in der Avenue Foch, die mich einmal fast totgeschlagen haben …

Die SD-Führer in der Avenue Foch empfingen Thomas ernst und streng. Er merkte sofort: Sie hatten keine Ahnung von dem, was auf sie zukam. Der »Reichsheini« hatte sie nicht gewarnt.

Der rotgesichtige Sturmbannführer Eicher und sein Adjutant, der blasse Fritz Winter, sprachen gefaßt und markig mit Thomas. Sie verhielten sich wie manche jener Generäle, Kriegsgerichtsräte und Offiziere, die in den letzten Kriegsjahren oft aus geringsten Anlässen deutsche Soldaten zum Tode verurteilten. Vor der Hinrichtung ihrer Opfer erschienen sie, um den Delinquenten gefaßt und markig zu erklären, warum es unumgänglich war, daß sie erschossen würden.

Worte dieser Art fanden die Herren Eicher und Winter nun auch für Thomas Lieven, der ihnen in einem grauen Freskoanzug (weißes Hemd, schwarze Krawatte, schwarze Schuhe und Socken) mit übergeschlagenen Beinen gegenübersaß.

Eicher: »Sehen Sie mal, Lieven, persönlich haben wir nichts gegen Sie. Im Gegenteil! Es gefällt uns, daß Sie den Mut hatten herzukommen. Aber es geht um das Reich, um die Gemeinschaft …«

Winter: »Grinsen Sie ruhig, Lieven. Das Grinsen wird Ihnen vor dem Kriegsgericht vergehen.«

Eicher: »Recht ist, was dem deutschen Volke nützt. Unrecht, was ihm schadet. Sie haben Ihrem Volke geschadet. Ich will, daß Sie dies einsehen …«

»Darf ich eine Frage stellen?« sagte Thomas mit höflicher Verbeugung. »Ist es wirklich erst zehn Minuten nach fünf, oder geht meine Uhr nach?«

In dem Blick, den ihm Eicher gab, lag haßvolle Bewunderung. »Warum konnten Sie nicht ein anständiger Mensch bleiben und zu uns kommen? Sturmbannführer könnten Sie heute sein. Ihre Uhr geht richtig.«

Thomas stand auf, schlenderte zum Fenster und sah in einen herbstlichen Garten hinab und zu einem herbstlichen Himmel empor. Keine Spur von Nebel.

»Erzählen Sie doch, wie Sie mir auf die Schliche gekommen sind, meine Herren«, sagte Thomas Lieven.

Sturmbannführer Eicher und sein Adjutant erzählten selbstgefällig, wie sie dank der Stabshauptführerin Mielcke darauf gekommen waren, daß Thomas Lieven eine gefährliche französische Widerstandskämpferin namens Yvonne Dechamps mit einem Ausweis der Abwehr als deutsche Geheimagentin nach Lissabon gebracht hatte.

Lieven hörte ihnen freundlich zu, dann schaute er wieder auf seine Uhr.

Eicher grunzte: »Haltung bis zuletzt? Gefällt mir, Mann, gefällt mir sehr.«

Winter: »Alle Beweise gegen Sie liegen bereits dem Reichsführer SS vor. Das Kriegsgericht gegen Sie tritt in den nächsten Tagen zusammen.«

Eicher: »Und jetzt kann Ihnen kein Mensch mehr helfen. Oberst Werthe nicht. Admiral Canaris nicht. Niemand!«

Thomas schaute wieder auf die Uhr.

Aus dem Stiegenhaus drang gedämpfter Lärm ins Zimmer: Befehle, Stiefelgepolter. Thomas fühlte, wie sein Herz schneller klopfte. Er sagte: »Ich hoffe, die Herren werden mir die Ehre geben, bei meiner Hinrichtung anwesend zu sein.«

Jetzt horchte Eicher auf: »Was ist da draußen los?«

Die Tür flog auf. Eine Ordonnanz erschien erschreckt, salutierte und meldete mit belegter Stimme: »Drei Herren aus Berlin, Sturmbannführer, äußerst dringend … Sonderkommission Reichssicherheitshauptamt …«

Na also, dachte Thomas. Zum letztenmal an diesem Tag sah er aus dem Fenster und zum Himmel empor. Danke, lieber Gott! – Eicher und Winter saßen erstarrt. Eicher stotterte: »Son … Son … Sonderkommission?«

Da kamen sie schon herein. Der SS-Richter im Rang eines Gruppenführers trug eine schwarze Uniform und Stiefel und sah unheimlich aus. Die beiden Kriegsgerichtsräte waren kleiner, trugen Brillen und salutierten militärisch.

Der SS-Richter hob die Hand zum sogenannten deutschen Gruß. Seine Stimme klang kalt: »Heil Hitler! Sturmbannführer Eicher? Angenehm. Gebe Ihnen sofort alle nötigen Erklärungen. Wie heißen Sie?«

»Untersturmführer Winter …«

»Und Sie?«

Eicher kam etwas zu sich: »Das ist nur ein Besucher. Sie können jetzt gehen, Herr Lieven …«

Der SS-Richter horchte auf: »Sonderführer Thomas Lieven?«

»In der Tat«, sagte unser Freund.

»Ich bitte Sie hierzubleiben.«

Eicher ächzte: »Aber wieso …?«

»Sturmbannführer, rufen Sie den Obersturmführer Redecker in dieses Zimmer. Aber kein Wort der Warnung, verstanden?«

Der Schwager Heinrich Himmlers kam gleich darauf, ein Lächeln auf den schmalen Lippen. Das Lächeln erstarrte, als er die Besucher sah.

Der SS-Richter sagte zu Winter: »Durchsuchen Sie diesen Menschen nach Waffen!«

Winter gehorchte verständnislos.

Redecker begann zu schlucken, taumelte und fiel schwer in einen Sessel.

Der SS-Richter sah angeekelt zu ihm nieder: »Obersturmführer, Sie sind verhaftet.«

Schluchzen schüttelte den Reichsheinischwager, heftiges Schlucken den bleichen Winter.

Eicher schrie plötzlich mit sich überschlagender Stimme: »Aber weshalb?«

Eisig antwortete der Riese in Schwarz: »Der Obersturmführer ist in eine Millionenschiebung mit Reichskreditkassenscheinen verwickelt. Zusammen mit dem in Toulouse erschossenen Untersturmführer Petersen hat er das Reich in niedrigster und gemeinster Weise geschädigt. Die Untersuchung wird ergeben, wer vom SD Paris noch in die Affäre verwickelt ist.«

Eicher starrte die Richter an: »Ich verstehe kein Wort … Wer hat diese ungeheuerliche Anklage erhoben?«

Der Richter in Schwarz sagte, wer.

Eichers Unterkiefer fiel herab. Mit glasigen Augen starrte er Thomas Lieven an und lallte: »Sie … Sie … Sie …«

Danach geschah etwas, was Sturmbannführer Eicher beinahe den Verstand kostete: Der SS-Richter trat vor Thomas Lieven hin, schüttelte ihm die Hand und sprach diese Worte: »Sonderführer, im Namen des Reichsführers SS spreche ich Ihnen Dank und Anerkennung aus.«

»Nicht nötig«, sagte Thomas bescheiden. »Ist doch gern geschehen.«

»Der Reichsführer SS läßt Ihnen sagen, daß er sich bereits mit Admiral Canaris in Verbindung gesetzt hat. In der bewußten Sache wird nichts gegen Sie unternommen werden.«

»Das ist aber nett von Herrn Himmler«, sagte Thomas Lieven.

10

In der Reichskreditkassenschein-Affäre wurden insgesamt 23 Verhaftungen vorgenommen. Unter den Schuldigen befanden sich nur zwei Franzosen und drei Rumänen.

Der Prozeß fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Zwei Franzosen, ein Rumäne und Untersturmführer Hansmann wurden zum Tod verurteilt, die anderen Angeklagten zu hohen Zuchthausstrafen. Obersturmführer Redecker erhielt acht Jahre. A tempo bewies Heinrich Himmler seinen Familiensinn: Nur ein halbes Jahr saß Obersturmführer Redecker hinter schwedischen Gardinen. Dann wurde er auf persönliche Weisung des Reichsführers SS entlassen und nach Berlin gerufen. Hier arbeitete er in untergeordneter Stelle bis zum Ende des Krieges.

Er hat alles gut überstanden. Heute ist er ein prominentes Mitglied einer deutschnationalen Partei im Norden seines Vaterlandes …

11

Am 13. Oktober 1943 erklärte Italien Deutschland den Krieg. Am 6. November eroberten die Russen Kiew.

In diesem Winter wurde die Widerstandsbewegung in Frankreich immer stärker. Zusehends verloren die deutschen Behörden die Kontrolle über die Lage. Mit grimmigem Humor beobachteten Thomas Lieven und seine Freunde im Hotel »Lutetia« die Haltung der französischen Schieber und Kurtisanen. Hatten sie bislang noch mit den Deutschen paktiert, so bewiesen sie nun Patriotismus. Die ältesten Angehörigen der Unterwelt entdeckten in sich plötzlich vaterländische Triebe und stellten ihre »Spezialdienste« der Widerstandsbewegung zur Verfügung. Dafür erhielten sie schon jetzt »Persilscheine« für die ungewissen Zeiten, die da kamen. Und die erfolgreichsten Kokotten der Stadt deponierten ihren schwer erworbenen Schmuck zugunsten der Résistance …

Besetzer und Besetzte lebten wie im Fieber. Mehr und mehr verloren Geld, Anstand und Moral ihren Wert und Sinn. Immer hektischer wurde das Leben, das dem Tanz auf einem Vulkan glich. In absurder Weise vergeudeten die Neureichen ihre zusammengerafften Vermögen. Übler und übler wurden die Machenschaften dunkler Zirkel – auf französischer Seite und auf deutscher.

Die Abwehr hatte Hochbetrieb. Von den Fällen, die Thomas Lieven in diesen Wintermonaten zu bearbeiten hatte, erwähnen wir hier nur vier:

1. Zu etwa jener Zeit, da Roosevelt, Churchill und Stalin sich auf der Konferenz von Teheran trafen, gelang Thomas Lieven der Nachweis, daß ein gewisser Werner Lamm, persönlicher Freund Hermann Görings, ein übles Subjekt war.

Dieser Lamm hatte sich eine hübsche Idee ausgedacht, um seinen Schiebergeschäften ein wirtschaftspolitisches Mäntelchen umzuhängen. Mit dem sogenannten »Teppich-Pool« beherrschte England seit Jahren den Weltmarkt. Herr Lamm erklärte seinem Freund, dem Reichsmarschall: »Diesen Pool werde ich den Engländern kaputtmachen!«

Das imponierte Göring. Er gestattete Lamm, etwa 6000 Teppiche aus Holland nach Paris zu bringen. Die Teppiche stammten zum größten Teil aus jüdischem Besitz. Lamm hatte sie gestohlen oder beschlagnahmt. Nun richtete er sich auf den Champs-Elysées einen schönen Laden ein und – verkaufte die Teppiche. Nebenbei aber stahl und requirierte er in Frankreich weiter. Kein Mensch hatte den Mut, den Göring-Freund zur Rechenschaft zu ziehen.

Kein Mensch?

Zusammen mit Oberst Werthe und dem kleinen Major Brenner legte Thomas Lieven dem Teppich-Lamm eine Fußangel! Er spielte ihm die Adresse eines Landhauses vor Paris zu, das einem Juden gehörte und in welchem herrliche Smyrna- und Perserteppiche lagen.

Die Villa gehörte tatsächlich einem Juden – aber einem südamerikanischen. Das wußte Lamm nicht. Er ließ die Teppiche beschlagnahmen, und das brach ihm den Hals.

Die südamerikanische Gesandtschaft protestierte prompt beim Doyen des Diplomatischen Corps, dem schwedischen Generalkonsul Nordling.

Der sprach beim Militärbefehlshaber Frankreichs, dem General Karl-Heinrich von Stülpnagel, vor.

Der Skandal beschäftigte neutrale Diplomaten in Paris so sehr, daß auch Göring seinen Freund nicht mehr zu schützen wagte. Herr Lamm verlor seine gesamte Habe und wanderte ins Gefängnis.

2. Ähnlich verfuhr unser Freund mit den Professoren Dienstag und Landwend um Weihnachten 1943, etwa zu jener Zeit, da die Briten an der nordnorwegischen Küste das Schlachtschiff »Scharnhorst« versenkten. Diese Herren kauften im Auftrage des munteren Reichsmarschalls in Frankreich Kunstgegenstände und Gemälde auf – und zwar mit falschen französischen Franc-Noten, die in der Nähe von Stuttgart hergestellt worden waren.

Thomas Lieven erbrachte den lückenlosen Nachweis, daß vier Gemälde, welche die Herren Professoren in Paris angekauft hatten, aus dem Besitz des Schweizer Diplomaten Egon Treumer stammten. Dem waren sie gerade gestohlen worden.

Wiederum schaltete sich der Militärbefehlshaber in Frankreich ein. Der Skandal nahm so ungeheure Formen an, daß Göring zu Hitler gerufen wurde.

Ach, jetzt hätten wir aber fast die Pointe vergessen: Die beiden Berufseinbrecher, welche die vier Bilder in der Wohnung Egon Treumers gestohlen und den beiden Professoren zugespielt hatten, waren alte Freunde von Thomas Lieven. Er bezahlte sie gut für diesen bestellten Einbruch. Die Polizei kam den beiden niemals auf die Spur …

3. Am 4. Januar 1944 überschritten die Russen die alte polnische Grenze. Am 22. Januar landeten in Italien, bei Anzio, alliierte Truppen im Rücken der deutschen Stellung. Etwa zur gleichen Zeit kam es zu »Lievens Zitronengeschäft«.

Anfang des Jahres hatte unser Freund einen Wink aus Bordeaux erhalten. Der Wink stammte von einem alten Kassenschränker, den Thomas seinerzeit in Marseille als Mitglied von Chantal Tessiers Ganovenbande kennengelernt hatte, und lautete, auf schlechtem Papier unorthographisch geschrieben, in der unorthographischen Übersetzung so:

Liber Freund! Hir giebt es im Hafen ein Lager, wo von der deutschen Kriegsmarine bewacht wird. Da ligen 420 Tohnen Zigaretenpapier, fersandfertich. Weil Amerika in den Krieg eingetreten ist, ist dieses Papier nicht mer versand worden. Es handelt sich, liber Freund, um feinstes Schiffonpapier, Marktpreis 190 Schweitzer Franken das Kilo. Also eine Wucht. Der SD ist hinter dem Lager hehr und will es beschlacknamen. Als »feindliches Eigentum«. Darum beeile Dich, liber Freund.

Thomas Lieven beeilte sich. Er wußte: Was der SD beschlagnahmte, kam immer einigen wenigen, niemals vielen zugute. Er fuhr nach Bordeaux. Hier kannte der brave Major Brenner einen Kapitänleutnant der Kriegsmarine. Mit diesem verstand Thomas sich sofort ausgezeichnet.

Seit der Bilderaffäre war Thomas mit dem Schweizer Diplomaten Egon Treumer befreundet. Dank Treumer konnte Thomas dem Kapitänleutnant sogleich einen Mann in Basel vorschlagen, der fähig und willens war, das amerikanische Chiffonpapier zu kaufen. Preis: 760 000 Schweizer Franken.

Vor einer solchen Summe kapitulierte auch die deutsche Kriegsmarine. In einer Zeit, da Menschentrauben an jedem Waggon hingen, da es für Truppentransporte nicht mehr genug Züge gab, rollten 420 Tonnen amerikanisches Zigarettenpapier, in Kisten verpackt, mit Wehrmachtsfrachtbriefen quer durch Frankreich in die Schweiz. Ziel: Basel, Deutscher Bahnhof.

Dafür, daß die Waggons dann des Nachts vom Deutschen zum Schweizer Bahnhof hinübergeschoben wurden, hatte Thomas Lieven gleichfalls gesorgt. 760 000 Franken! Da wurde der schwächste Mann stark!

Die deutsche Kriegsmarine profitierte bestens an der Sache: Von den 760 000 Schweizer Franken wurden in Spanien vitaminreiche Zitronen für skorbutgefährdete Schiffsbesatzungen, vor allem für U-Boot-Leute, gekauft. Thomas Lieven erhielt als Anerkennung und Provision 30 000 Reichsmark.

4. Am 4. März 1944 erreichten russische Truppen die rumänische Grenze. Am selben Tag erschien Thomas Lieven in Begleitung von Oberst Werthe und Major Brenner in der Stadt Poitiers. Sie waren von einer gewissen Charlotte Régnier, einer neuen Agentin der Abwehr Paris, alarmiert worden.

Charlotte Régnier, 40jährig, blond, vollbusig, wenig hübsch und sehr nervös, galt seit einiger Zeit als Starerwerbung der Abwehr in diesem Raum. Dem kleinen Major Brenner war es gelungen, diese alleinstehende französische Schriftstellerin für deutsche Dienste anzuwerben. Beinahe täglich hatten ihre sensationellen Berichte das Hotel »Lutetia« in Aufregung versetzt.

Zuletzt hatte Charlotte Régnier die Bildung eines gewaltigen neuen Maquis in der Nähe von Poitiers gemeldet. Damit erreichte sie, daß die Abwehr Paris zu einer Großaktion im Raum Poitiers ansetzte.

Über zweihundert Franzosen wurden verhaftet und tagelang verhört. Dann wurden über zweihundert Franzosen plötzlich wieder freigelassen …

Sonderführer Lieven war nämlich mittlerweile der Nachweis gelungen, daß Major Brenner sich mit der blonden Charlotte doch keine Superagentin eingehandelt hatte. Sonderführer Lieven stellte fest, daß die blonde Charlotte erst vor einem halben Jahr aus der Irrenanstalt entlassen worden war. Die Ärzte bezeichneten sie als ungefährlich. Aber sie war noch immer entmündigt. Und sie war – natürlich – noch immer verrückt …

12

Am 23. März 1944 war Thomas zu einer großen Gesellschaft eingeladen, die ein französischer Geschäftsfreund gab. Auf dieser Gesellschaft langweilte er sich mächtig bis zu dem Moment, da eine Dame in einem grünen Abendkleid auftauchte. Da fand er die Party plötzlich hochinteressant!

Die Dame in Grün war etwa 28 Jahre alt. Sie trug das blonde Haar hochgesteckt. Die Augen waren kastanienbraun. Sie sah aus wie die Filmschauspielerin Grace Kelly.

»Wer ist das?« fragte Thomas Lieven sofort den Gastgeber. Der sagte ihm, wer die Dame war.

Vera Prinzessin von C. – so werden wir die Dame nennen. Sie lebt nämlich noch unter uns, und sie hat unsere Sympathie. Darum wollen wir ihren Familiennamen nicht verraten.

»Uraltes deutsches Adelsgeschlecht«, verriet Thomas Lievens Geschäftsfreund. »Mit Fürstenhäusern in aller Welt verwandt, mit dem alten Wilhelm, mit den Windsors, dem Grafen von Paris, mit – was weiß ich!«

»Würden Sie wohl so freundlich sein, mich vorzustellen?« fragte Thomas. Der Hausherr war so freundlich.

Die Prinzessin dagegen war alles andere. So etwas Abweisendes, Kühles und Hochmütiges hatte Thomas noch nicht erlebt!

Er versprühte ein ganzes Charmefeuerwerk. Die Prinzessin sah durch ihn durch, lächelte mechanisch, und nach seiner allerbesten Pointe sagte sie: »Wie meinten Sie eben, Herr – Lieven?«

Ein solches Verhalten reizte unseren Freund. Die Person gefiel ihm! Ihre aristokratische Herkunft war ihm piepegal. Er hatte keine Snobambitionen. Er brauchte keine Prinzessin in seiner Sammlung. Nein, die Person war es … Die Person gefiel ihm so gut!

Und so bemühte er sich weiter. Ob man sich nicht vielleicht wiedersehen könnte, fragte er. In die Oper gehen – essen …: »Ich koche selber. Man sagt, ich sei begabt. Darf ich für Sie kochen? Morgen vielleicht?«

»Das ist leider ausgeschlossen. Ich bin in dieser Woche jeden Abend bei Herrn Lakuleit. Kennen Sie ihn?«

»Lakuleit?« Irgendwo hatte Thomas den Namen gehört. Wo? »Nein, ich kenne ihn nicht, den Glücklichen, für den Sie soviel Zeit haben.«

Zuletzt gab unser Freund es auf. Sinnlos. Einfach sinnlos. Verärgert verließ er die Party als einer der ersten.

Zwei Tage später rief ihn die abweisende Prinzessin völlig unerwartet zu Hause an. Sie sagte, Thomas möge ihr verzeihen, daß sie ihn so kühl behandelt habe. Vom Gastgeber hätte sie nach seinem Fortgehen erfahren, daß er aus Berlin stamme und in Paris eine kleine Bank sein eigen nenne. Der Gastgeber kannte Thomas Lieven nur als Bankier. Niemand außer den direkt Betroffenen wußte in Paris etwas von Thomas Lievens Agententätigkeit.

»… ich habe Ihnen doch von Herrn Lakuleit erzählt«, hörte Thomas die Prinzessin sagen. »Stellen Sie sich vor, er ist auch Berliner! Das heißt, geboren wurde er in Königsberg … Sie haben mir doch gesagt, daß Sie gut kochen, und da hatte er einen so lustigen Einfall: Er wünscht sich Königsberger Klopse … Die kann hier keiner machen … Kommen Sie doch morgen zu uns, ich meine, zu Herrn Lakuleit …«

Unser Freund sagte zu. Und dann begann er zu grübeln.

Lakuleit … Lakuleit …

Woher kenne ich den Namen? Thomas erkundigte sich bei Oberst Werthe. Die Auskunft, die er erhielt, befriedigte ihn nicht:

Oskar Lakuleit war Alleininhaber der »Intercommerciale SA« (IC) in Paris. Diese Firma hatte vom »Bevollmächtigten für das Kraftfahrzeugwesen« (BDK) im OKW den Auftrag erhalten, in ganz Frankreich gebrauchte Kraftfahrzeuge für die Wehrmacht einzukaufen. Lakuleit arbeitete zur vollen Zufriedenheit seiner Auftraggeber. Ein tüchtiger Mann. In Berlin war er Garagenbesitzer gewesen. Jetzt hatte er Geld. Viel Geld …

Lakuleit … Lakuleit … Woher kannte Thomas bloß den Namen?

Der Herr wohnte in einem Palais am Boulevard Pereire. Ein livrierter Diener öffnete und führte Thomas in eine Halle, in der es aussah wie in einem überfüllten Antiquitätenladen. Bild neben Bild hing an der Wand. Teppich überlappte Teppich. Thomas schnappte nach Luft.

Der Diener führte Thomas in die Bibliothek. Hier saß der Hausherr und telefonierte. Der Hausherr war Thomas auf den ersten Blick tief unsympathisch. Sehr groß, sehr dick. Etwa vierzig. Runder Schädel. Niedere Stirn. Kurzes, blaßblondes Haar, mit Brillantine glattgeklatscht. Wäßrige, stechende Augen. Über dem weibischen Mund ein blaßblonder Schnurrbart …

Nicht, daß er etwa zu telefonieren aufgehört hätte, als Thomas eintrat. Er winkte ihm bloß, Platz zu nehmen. Hochrot im Gesicht, brüllte er in den Hörer: »Nun will ich Ihnen mal was sagen, Neuner, es ist mir scheißegal, ob Ihre Frau krank ist! Was-was-was, Unrecht! Sie haben geklaut! Jawohl, klauen nenne ich das! Ich warne Sie, Neuner, fordern Sie mich nicht heraus, ich lasse glatt Ihre U.k.-Stellung platzen! Was? Nicht tauglich? Das wäre ja gelacht! Schluß jetzt. Sie sind entlassen, fristlos!«

Lakuleit knallte den Hörer in die Gabel und erhob sich grunzend und lachend. »Tag, Herr Lieven. Angenehm. Das war einer meiner Buchhalter. Mußte ihn rausfeuern. Frech geworden, der Kerl. Kann man sich doch wohl nicht bieten lassen, was?« Er schlug Thomas gespielt jovial auf die Schultern. »Na, alter Spree-Athener, da wollen wir also erst mal einen heben, und dann bringe ich Sie in die Küche. Die Prinzessin wird gleich kommen. Meine Frau trödelt mit dem Anziehen herum – wie immer.«

Thomas bemerkte, daß Lakuleit drei Brillantringe mit großen Steinen an den Würstchenfingern trug. Der Herr wurde ihm immer unsympathischer …

Die Küche war so groß wie die eines mittleren Hotels. Eine Köchin, ein Koch und zwei Mädchen gingen Thomas zur Hand. Lakuleit sah zu und trank Hennessy aus Wassergläsern.

Menu • Paris, 26. März 1944

Bei ostpreußischen Spezialitäten

benimmt sich eine Prinzessin seltsam …

 

Gefüllte Artischockenböden

Feine Königsberger Klopse

Ananas-Beignets

Gefüllte Artischockenböden: Man nehme etwa acht Artischockenböden – jederzeit in Büchsen oder Gläsern erhältlich –, richte sie auf einer Platte an und beträufle sie mit Zitronensaft. – Man belege sie mit 50 Gramm entkernten schwarzen Oliven und Scheibchen von zwei kleinen roten Pfefferschoten und harten Eiern. – Man verrühre Zitronensaft, Öl, sehr fein gehackte Zwiebeln und Petersilie zu einer Sauce und gieße sie über die gefüllten Artischockenböden, verziere die Platte mit Petersilie.

Feine Königsberger Klopse: Man nehme je ein Pfund Kalb- und Schweinefleisch, drehe es durch den Wolf und verarbeite es gut mit einer eingeweichten, ausgedrückten Semmel, zwei Eiern und feingehackter, hellgedünsteter Zwiebel. Man schmecke mit Salz, Pfeffer und Sardellenpaste pikant ab und forme daraus mit nassen Händen mittelgroße runde Klöße. – Man mache eine helle Butterschwitze mit wenig Mehl, lösche mit Fleischbrühe und einem Glas Weißwein ab, lasse gut durchkochen und dann die Klopse darin langsam gar dämpfen. – Man nehme die Klopse heraus, ziehe die Sauce mit zwei in saurer Sahne verrührten Eigelb ab, gebe einen Eßlöffel Kapern hinzu, schmecke mit Pfeffer, Salz, Zitronensaft ab und lasse die Klopse etwas in der Sauce ziehen, ohne daß sie zum Kochen kommt.

Ananas-Beignets: Man nehme Scheiben von frischer oder eingemachter Ananas und halbiere sie. – Man mache einen dickflüssigen Ausbackteig aus ein achtel Liter Milch, 125 Gramm Mehl, zwei ganzen Eiern, etwas Salz und einem Schuß Rum. – Man tauche die Ananasstücke hinein und backe sie in heißem Schmalz schwimmend zu goldgelber Farbe. – Man lasse das Fett abtropfen und reiche die Beignets mit Zucker bestreut.

Dann kam Vera Prinzessin von C. in die Küche. Sie trug ein rotes Abendkleid, tief ausgeschnitten. Und wenn sie bei der ersten Begegnung hochmütig gewesen war, so war sie bei der zweiten übertrieben charmant. Da legte Thomas mit einem sehr unguten Vorgefühl die Klopse in die feine Sauce.

Richtig unheimlich wurde ihm allerdings erst, als er im Speisezimmer Frau Lakuleit kennenlernte. Olga Lakuleit sah verwüstet aus. Ausgemergelt das Gesicht. Gelblich verfärbt das Haar, erloschen die Augen. Und dabei höchstens Ende Dreißig …

O Gott, dachte Thomas, die arme Seele. Ist die Prinzessin die Freundin des Fettwanstes? Offensichtlich. Warum bin ich bloß hergekommen? Widerwärtig.

Der Abend wurde immer widerwärtiger. Olga Lakuleit sprach kein einziges Wort. Sie trank nicht, sie aß kaum einen von den Klopsen. Plötzlich rannen ihr Tränen über die bleichen Wangen.

»Geh lieber wieder rauf, Olga«, sagte Lakuleit kurz und brutal. Olga Lakuleit stand auf und ging.

»Noch ’nen Klops, Herr Lieven?« fragte der gemütvolle Gatte. Und strahlend lächelte die Prinzessin Thomas Lieven an, der sich plötzlich appetitlos, gänzlich appetitlos fühlte.

Nach dem Essen gingen sie in die Bibliothek. Hier, bei Kaffee und französischem Kognak, ließ der Fette dann endlich die Katze aus dem Sack: »Passen Sie mal auf, Lieven. Sie sind Berliner, ich bin Berliner. Sie haben eine Bank, ich habe ein großes Geschäft. Die Zeiten sind beschissen. Machen wir uns nichts vor: Der Karren ist im Dreck festgefahren. Wird bald umschmeißen. Man muß an die Zukunft denken. Habe ich recht?«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden, Herr Lakuleit«, sagte Thomas kalt.

Der Fette lachte wiehernd: »Klar wissen Sie es! Wer denn, wenn nicht Sie? Sie haben Ihr Geld doch auch schon in der Schweiz!« Lakuleit wurde ganz deutlich: Er und seine Freunde hätten große Vermögen in Frankreich. Wenn Thomas einen Weg fand, diese Vermögen, dank seiner Beziehungen, in die Schweiz zu transferieren, sollte es sein Schaden nicht sein. »Is ’n ordentlicher Fisch für Sie drin, Lieven!«

Thomas hatte jetzt genug. Er stand auf. »Ich fürchte, Sie haben sich an den falschen Mann gewendet, Herr Lakuleit. So etwas mache ich nicht.«

Nun schaltete sich die Prinzessin ein. Sie nahm für Lakuleit Partei. Das gab Thomas den Rest. Daß die Person sich nicht schämte! Freundin eines verheirateten Mannes – und noch dazu so eines Mannes! Pfui Teufel!

»Herr Lieven, vielleicht reizt Sie dieses Geschäft doch, wenn Sie hören, wer Herrn Lakuleits Freunde sind …«

»Schon mal was von Göring gehört?« grunzte der Fette. »Bormann? Himmler? Rosenberg? Ich sage Ihnen, da sind Millionen drin – auch für Sie!«

»Ich bin nicht käuflich.«

»Ach Quatsch, Mann! Jeder Mensch ist käuflich, es kommt nur auf den Preis an!«

Das war das Ende. Thomas verabschiedete sich abrupt. Er war jetzt außer sich vor Wut. Dieses dicke Schwein! Dem werde ich jetzt mal auf die Finger gucken. Der ist doch hinten und vorn nicht astrein …

Als Thomas in der Garderobe seinen Mantel suchte, tauchte plötzlich die Prinzessin auf: »Ich gehe auch. Sie können mich heimbringen. Ich wohne ganz in der Nähe.«

Thomas verneigte sich stumm. Er konnte vor Wut nicht reden. Auch auf der Straße bekam er kein Wort heraus. Stumm brachte er die junge Frau bis vor die Haustür. Sie sperrte auf. Sie lehnte sich gegen die Mauer. »Also, was ist, Tommy?« sagte diese seltsame Angehörige des deutschen Uradels. Ihre Stimme klang jetzt verraucht und heiser.

Thomas starrte sie an.

»Bi-bitte?«

»Na los, küß mich … Worauf wartest du?« Sie zog ihn am Ärmel zu sich, schlang die Arme um ihn und küßte ihn wild.

»Ich will, daß du mich liebst«, flüsterte die Prinzessin. Sie küßte ihn wieder und sagte, ziemlich laut, ein paar Sätze, die sich der Wiedergabe im Druck entziehen.

Ihr Hohenzollern, ach! Ihr Windsors, Auerspergs, Colonnas! Teurer Graf von Paris! Um eurer hehren Geschlechter willen wollen wir verschweigen, was der kesse adlige Blondschopf sagte – um euretwillen, und mit Rücksicht auf die internationale Buchzensur.

Im gleichen Moment, in welchem er Vera Prinzessin von C. derart ungeheure Dinge sagen hörte, traf eine plötzliche Erkenntnis Thomas Lieven wie ein Faustschlag zwischen die Augen.

Lakuleit!!!

Jetzt wußte er endlich, woher er den Namen kannte. In dem schwarzen Tagebuch des erschossenen Untersturmführers Petersen stand dieser Name! Viele Namen standen in diesem Buch, in welchem der Schieber alle jene verzeichnet hatte, die in seine dunklen Geschäfte mitverstrickt waren.

Lakuleit … Deutlich, ganz deutlich sah Thomas das Schriftbild des Namens vor sich. Und dahinter drei Ausrufezeichen. Und darunter die Abkürzung eines zweiten Namens: »V. v. C.« Und dahinter ein Fragezeichen …

13

Thomas ließ sich sonst sehr gern verführen und spielte »das kleine Mädchen«. Aber heute? So reizvoll dieser uradelige Blondschopf wirkte, so unheimlich und zwielichtig war die Prinzessin auf der anderen Seite. Außerdem hatte die Dame zu miese Bekannte.

Freundlich, aber bestimmt nahm er darum die Hände Veras von seinem Körper und sagte mit einer Verneigung: »Ein ganz reizender Abend. Darf ich mich jetzt verabschieden, teuerste Prinzessin?« Schmal wurden die kastanienbraunen Augen der kessen Schönen.

Verehrte Leser! Stellen Sie sich eine zur Weißglut gereizte, verführerisch schöne Blondine vor! Haben Sie? Gut. Dann erblicken Sie vor Ihrem geistigen Auge, was Thomas Lieven in natura erblickte.

Sprach das wilde Mädchen durch die Zähne: »Du bist wohl wahnsinnig geworden, Tommy, wie? Du kannst mich doch jetzt in dem Zustand nicht allein lassen …«

Ein zweites Mal verneigte Thomas sich. »Es dünkt mich, verehrte Prinzessin, daß Sie innig mit Herrn Lakuleit befreundet sind. Diese Verbindung möchte ich nicht stören. Eine so harmonische, moralische Beziehung.«

Er öffnete die Haustür. Sie versuchte ihn festzuhalten. Er machte sich frei. Sie stampfte mit den kleinen Füßen auf. Sie rief schrill: »Bleib hier, du Dreckskerl!« Und schlug mit den Fäusten gegen seine Brust. Er drehte sich um und ging, ohne sich um die Erregte weiter zu kümmern, den nächtlichen Boulevard hinab.

Puhhh! Frische Luft! Das war es, was er jetzt brauchte. Junge, Junge, was für ein Abend. Der deutsche Hochadel hatte es aber wirklich in sich! Da konnten bürgerliche Damen einfach nicht mehr mit.

Bißchen verkommen, die Kleine, dachte Thomas, aber nett. Komisch, ich könnte schwören, sie ist ein anständiger Kerl. Gut erzogen. Klug. Charmant – wenn sie will … Was findet eine solche Frau an einem solchen Kerl wie Lakuleit? Warum steht ihr Name unter dem seinen in dem schwarzen Tagebuch des toten Untersturmführers Petersen?

Thomas blieb stehen, starrte einen Baum an und sagte laut: »Du hast dich doch nicht etwa bereits in Vera verliebt, du Idiot?«

Der Baum gab keine Antwort; er war ja auch nicht gemeint. Thomas ging weiter. Unsinn, dachte er. Was heißt verliebt? In so einen blonden Haifisch? Absolut lächerlich. Aber Herrn Lakuleit wollen wir jetzt mal auf den Zahn fühlen. Jawohl!

An diesem Abend, dem 26. März 1944, hatte das Dienstmädchen Nanette Ausgang. Thomas Lieven sperrte das Haustor auf, drehte in der kleinen Diele das elektrische Licht an, zog seinen Mantel aus und öffnete die Tür zu der kleinen Bibliothek.

Ein Mann saß in dem Ohrenstuhl vor dem Kamin. Gepflegter Schnurrbart. Römische Nase. Ewig ironische Augen. Ein blauer Anzug, schon ein wenig abgetragen. Eine Sherlock-Holmes-Pfeife in der Hand. Eine Rauchwolke billigen Tabaks stieß der Herr aus, dann sagte er, ungeheuer bedeutungsvoll: »Das haben Sie nicht erwartet, Herr Lieven, wie?«

»Guten Abend, Oberst Siméon«, sagte Thomas Lieven, seufzend diesen französischen Geheimagenten und Patenthelden betrachtend, mit dem er schon so viele Aufregungen erlebt hatte. »Lange haben wir uns nicht gesehen.«

Oberst Siméon, der immer noch aussah wie ein zu groß geratener Adolphe Menjou, stand auf. Er begann pathetisch: »Ein Dietrich verschaffte mir Eingang. Mein Herr, Ihr Spiel ist aus.«

»Einen Moment, mein Lieber. Ihr Tabak – seien Sie mir nicht böse – stinkt bestialisch. Sehen Sie da drüben den blauen Tontopf? Da ist echter englischer drin. Beutegut der Deutschen Wehrmacht. Haben Sie keine nationalen Bedenken!«

Der Angehörige des ewig unter Geldmangel leidenden französischen Geheimdienstes zögerte, dann klopfte er seine Pfeife aus und ging zu dem blauen Tontopf. Während er den Deckel abhob, sprach er düster: »Ich habe nichts persönlich gegen Sie, Herr Lieven. Ich war es, der Sie für das ›Deuxième Bureau‹ anwarb. Aber Ihr Spiel ist aus.«

»Das haben Sie schon einmal gesagt. Warten Sie doch ein bißchen, dann höre ich Ihnen auch ganz genau zu …«

Plötzlich ließ Siméon seine Pfeife fallen. Plötzlich hatte er eine Pistole in der Hand. »Weg von dem Schrank! Hände hoch!«

»Aber nicht doch, Herr Oberst!« sagte Thomas kopfschüttelnd. »Sind Sie immer noch so schreckhaft wie früher?«

»Mich täuschen Sie nicht! Sie wollten den Schrank öffnen, stimmt’s?«

»Stimmt, ja.«

»Und ihm eine Waffe entnehmen und mich überwältigen.«

»Stimmt nicht. In dem Schrank sind keine Waffen.«

»Sondern?«

»Meine Hausbar. Ich wollte uns etwas zu trinken machen!«

Der Oberst tat drei gewaltige Schritte, riß den geschnitzten Schrank auf und wurde ein bißchen rot. Er knurrte: »Ein Mann in meinem Beruf kann nicht vorsichtig genug sein.« Thomas begann die Getränke zuzubereiten. Siméon sagte: »Besonders bei einem Verräter wie Ihnen.«

»Mit Soda oder mit reinem Wasser?«

»Mit Soda. Bei einem drei- und vierfachen Verräter wie Ihnen, Herr Lieven!«

»Bißchen farblos, nicht? Noch ein Schuß Whisky? So.«

Siméon wandte sich verärgert ab. Thomas betrachtete ihn mitleidig. Im Grunde hatte er diesen Springinsfeld und Heldendummkopf nicht ungern. Er sagte: »Tut mir leid, Oberst.«

»Was?«

»Daß ich Ihnen Ihren schönen Auftritt versaut habe. Sagen Sie, wie geht es eigentlich der süßen Mimi?«

»Woher soll ich das wissen?«

»Aber hören Sie, Herr Oberst! Sie haben Mimi von meiner Seite gerissen! Sie wollten heiraten, Kinder zeugen, kleine französische Patrioten … Und da wissen Sie nicht, wie es ihr geht?«

Dumpf sagte der Oberst: »Mimi hat mich verlassen. Vor einem Jahr schon. Können Sie sich das vorstellen?«

»Trinken wir trotz allem auf Mimis Wohl. Ist es Ihnen ein Trost, daran zu denken, daß die Süße auch mich verlassen hat?«

»Nein.«

»Sehr freundlich. Und nun erklären Sie mir, warum mein Spiel aus ist.«

»Sie ließen mich vorhin nicht aussprechen. Ich wollte nicht sagen, Ihr Spiel ist aus. Ich wollte sagen: Ihr Spiel ist aus, wenn Sie nicht sofort die Finger von der Prinzessin lassen.«

»Von was für einer Prinzessin?«

»Sie wissen genau, von was für einer Prinzessin! Sie waren heute abend mit ihr zusammen.«

»Glauben Sie mir, ich habe die Finger von ihr gelassen!«

»Werden Sie nicht frivol! Hier geht es um Leben und Tod! Ich warne Sie, Lieven. Wir haben gewaltige Dossiers über Sie …«

»Mein Gott, welcher Geheimdienst hat die nicht?«

»Ich warne Sie zum letztenmal, Lieven. Retten Sie sich nicht in diesen seelenlosen Zynismus. Sie wissen, wie stark die Résistance in Frankreich mittlerweile geworden ist. Wir könnten jeden von Ihnen jeden Tag umlegen – wenn wir wollten. Auch Sie! Aber bei Ihnen werde ich immer noch ein bißchen weich …«

»Nicht doch!«

»Ja doch … Erinnerungen … Unsere gemeinsame Flucht aus Paris … Mimi … Toulouse … Oberst Débras … Josephine Baker … Aber ich kann Sie nicht mehr schützen, wenn Sie sich weiter um die Prinzessin – und um diesen Herrn Lakuleit …«

Thomas Lieven staunte Bauklötze. »Wollen Sie mir erzählen, daß der französische Geheimdienst um das Wohlergehen eines dicken Nazi-Schiebers besorgt ist?«

»Will ich Ihnen erzählen, ja.«

»Und warum?«

»Will ich Ihnen nicht erzählen, nein.« Der Oberst war jetzt ungeheuer männlich und entschlossen: »Ich habe Ihnen unsere letzte Warnung überbracht, Lieven. Nach der kommt keine mehr. Jetzt wird scharf geschossen!«

»Gleich? Oder können wir noch einen letzten Friedenswhisky miteinander trinken?«