2. Kapitel
1
»Nichts lag mir ferner als die Absicht, den ehrenwerten General Lynton in die Luft zu sprengen«, sagte Thomas Lieven. Er sagte es zum elftenmal in drei Tagen.
Amüsiert lächelnd zuerst, später wütend und erbittert, wies Thomas alle Verdächtigungen weit von sich.
Jedoch: »Sie lügen!« sagte CID-Investigator James Purnam. Zum elftenmal in drei Tagen sagte er es. Mehr und mehr ging sein störrischer Gefangener ihm auf die Nerven.
Die Zentralheizung im Vernehmungszimmer strahlte eine trockene Hitze aus, die James Purnam den Schweiß auf die Stirn und Schmerzen in den Schädel trieb.
»Ich lüge nicht«, sprach Thomas Lieven.
»Hören Sie mal zu, Lieven !«
»Herr Lieven, bitte!«
»Hören Sie mal zu, Herr Lieven: Ich habe jetzt die Schnauze voll von Ihnen! Ich schließe dieses Verhör ab und sperre Sie ein, bis Sie schwarz werden.«
Thomas seufzte.
»Es ist schrecklich für mich, zu sehen, wie Sie schwitzen, Mr. Purnam. Aber wenn Sie Ihren Job behalten wollen, müssen Sie mir noch ein Weilchen zuhören. Denn wenn Sie mir nicht zuhören, und wenn ihr eure Räume weiter so überheizt, dann sehe ich vor meinem geistigen Auge bereits eine ganze Reihe von Sprengstoff-Anschlägen.«
»Eine … ganze … Reihe …«
»Wohlan denn«, sprach Thomas wie ein geduldiger Lehrer zu einem idiotischen Schüler. »Sie haben mich verhaftet. Sie haben meinen Freund Bastian Fabre verhaftet, Sie haben meine Geschäftspartnerin Christine Troll verhaftet. Warum? Wir haben in der provisorisch aufgebauten Fabrik von Fräulein Trolls Eltern Kosmetika hergestellt. Auch eine ›Beauty Milk‹. Ein Fläschchen dieser Schönheitsmilch ist nun im Schlafzimmer von General Lynton explodiert …«
»Verdammt, ja. Ihr Werk, Lieven, und das Ihrer Werwolf-Gangster!«
»Nein, nicht mein Werk, bloß das von Schimmelpilzen und Kohlendioxyd.«
»Ich werde wahnsinnig«, stöhnte der Agent.
»Bevor Sie mir diese Freude bereiten, beantworten Sie meine dringende Anfrage: Teilt der verehrte General sein Schlafzimmer mit der verehrten Frau General?«
Purnam schluckte, stierte Thomas an und flüsterte: »Jetzt wird der wahnsinnig!«
»Nein, wird der nicht«, sagte Thomas. »Ich kombiniere lediglich: Die Frau General besaß einen Schminktisch im Schlafzimmer. Mit Spiegel und so weiter. Er stand neben dem Fenster …«
»Woher wissen Sie das?«
»Weil sich unter Fenstern im allgemeinen die Körper der Zentralheizung befinden …«
Purnam blinzelte nervös. Und nervös blinzelnd lauschte er dem munter weiter dozierenden Thomas. Seine »Beauty Milk«, berichtete dieser, war nach einem alten Familienrezept der Firma Troll hergestellt worden: aus Zitrone, Magermilch und wenig Fett. Allerdings hatte man noch nicht steril arbeiten können. Auch die Fläschchen, in welche das Mittel abgefüllt worden war, ließen zu wünschen übrig. Schlechtes, altes Glas.
»Sehen Sie, Mr. Purnam, nicht ohne Grund klebt auf jedem unserer Fläschchen ein Zettel mit der Aufschrift: Kühl aufbewahren! Die verehrte Frau General Lynton hat dies offensichtlich nicht getan und die ›Beauty Milk‹ auf ihren Toilettentisch gestellt. Neben die Zentralheizung. Neben die überheizte Zentralheizung …«
»Fangen Sie nicht schon wieder an!«
»Keine Unterbrechung, bitte. Weil wir nicht steril arbeiten konnten, kamen mit der Milch Schimmelpilze in die Lösung. In der Wärme entwickelten sie Kohlendioxyd. Das ist ein Gas. Durch das Gas stieg der Innendruck im Fläschchen der sehr verehrten Frau General. Der Druck stieg und stieg und dann – wummmmm! Muß ich noch weitersprechen?«
Bleich sagte Purnam: »Schwindel und Lüge. Kein Wort glaube ich Ihnen!«
»Na, dann warten Sie es doch ab, mein Bester! Bald explodiert gewiß das nächste Fläschchen bei dem nächsten General …«
Purnam schrie: »Halten Sie den Mund!«
»Bei den deutschen Damen, die unser Mittel erwarben, wird bestimmt nichts passieren«, sagte Thomas. »Deutschen Damen bleibt nämlich in diesem dritten Nachkriegswinter gar nichts anderes übrig, als ihre Kosmetika kühl aufzubewahren.«
Das Telefon läutete. Purnam hob ab, meldete sich und lauschte eine Weile. Er wurde rot im Gesicht und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Zuletzt sagte er. »Okay, Boß, ich fahre gleich raus. Aber reden Sie nicht weiter von Werwolf und so – ich fürchte, wir blamieren uns damit.« Er hängte ein und sah Thomas mit einem schiefen Grinsen an.
»Darf ich fragen, ob schon wieder eines meiner Fläschchen hochgegangen ist?« erkundigte sich dieser.
»Im Fliegerhorst Neubiberg, ja. Vor einer Viertelstunde. In der Wohnung von Major Roger Rapp.«
2
Drei Tage später wurde Thomas Lieven dem »Provost Marshal« Münchens, einem klugen, älteren Colonel, vorgeführt. Im (überheizten) Büro des Obersten sah Thomas seine beiden Freunde wieder – den Marseiller Ex-Ganoven Bastian Fabre und die schwarzhaarige, schwarzäugige Christine Troll.
Der Colonel sprach: »Mr. Lieven, eine chemische Untersuchung verschiedener ›Beauty Milk‹-Proben aus der Fabrik Troll hat die Richtigkeit Ihrer Schimmelpilz-Theorie bestätigt. Aus diesem Grund werden Sie und Bastian Fabre sofort aus der Haft entlassen.«
»Moment mal«, sagte Thomas nervös, »und was ist mit Fräulein Troll?«
Der Colonel sprach: »Durch ihre Fingerabdrücke haben wir festgestellt, daß Christine Troll unter dem Namen Vera Fross über ein Jahr lang Mitglied der berüchtigten Kaiser-Bande in Nürnberg war. Die jugendlichen Gangster stahlen Autos, überfielen Soldaten und raubten amerikanische Villen aus. Die weiblichen Mitglieder der Bande machten sich an Offiziere heran. Diese wurden dann mit Alkohol und Schlafmitteln betäubt und ausgeplündert …«
Thomas starrte Christine Troll an, die sanfte, gut erzogene Christine, das Mädchen aus bürgerlichem Hause; dieses so sauber, so anständig, so moralisch wirkende Geschöpf; seine Geschäftspartnerin, die er als Dame geachtet und wie ein unschuldiges Mädchen behandelt hatte.
Christine Troll fuhr herum. Ihr blasses, ebenmäßiges Madonnenantlitz war verzerrt. Laut und ordinär klang nun ihre Stimme: »Guck nicht so vertrottelt, Mensch! Was glaubst du denn, warum ich mich an dich rangemacht habe?«
»Rangemacht …«, wiederholte Thomas schwach, während er dachte: Werde ich alt? Bin ich bereits halbstarken Gören nicht mehr gewachsen?
»Na klar, Mensch! Rangemacht! Als die Chose in Nürnberg aufflog, mußte ich untertauchen! Nahm mir wieder meinen alten Namen! Ließ mich bei den Amis anstellen und wartete auf einen Narren wie dich, der mir das Geld gab für die Fabrik!«
»Christine«, sagte Thomas, »was habe ich Ihnen getan? Warum reden Sie so mit mir?«
Das junge Mädchen sah plötzlich alt aus, verlebt, verbraucht und zynisch: »Ich habe die Schnauze voll von euch allen! Allen Männern! Amis und Deutschen! Schweine seid ihr, gemeine Schweine – alle!« Ihre Stimme überschlug sich.
»Shut up«, sagte der Colonel grob. Christine Troll verstummte. Der Colonel sagte zu Thomas: »Die Fabrik, alle Einkünfte und die gesamte Produktion sind natürlich beschlagnahmt.«
»Aber hören Sie, das ist nicht ihr Besitz allein! Mit meinem Geld wurde die Fabrik wieder in Gang gebracht!«
»I am sorry, Mr. Lieven, die Fabrik ist im Handelsregister allein auf den Namen von Christine Troll eingetragen. Ich fürchte, da haben Sie einen Fehler gemacht.«
Thomas dachte: Da hast du also wieder einmal deine Strafe vom Schicksal dafür, daß du versucht hast, anständig zu sein und ehrlich zu arbeiten. Dein Geld ist futsch! Hättest du ein krummes Ding gedreht, wärst du sicherlich reich geworden damit, wärst ausgezeichnet worden, belobt, geliebt – aber nein, du Idiot, du mußtest es auf die ehrliche Tour versuchen. Du hast noch immer nichts gelernt aus deinem Leben.
Am Abend dieses Tages saß er mit Bastian in der Halle seiner Villa vor dem Kamin, in dem ein Feuer flackerte. Sie tranken beide »Pastis« – den Schnaps, mit welchem sie in Frankreich jenes Geld verdient hatten, von dem nun wieder so viel verloren war.
»Ich habe dich gleich gewarnt«, sagte Bastian. »Nun sind wir ziemlich pleite. Was machen wir jetzt? Die Villa verkaufen?«
»Mitnichten«, sagte Thomas und streckte sich. »Jetzt werden wir Uran suchen gehen.«
»Was werden wir?«
»Du hast richtig gehört, mein Alter. Ich saß bei den Amis mit einem interessanten Menschen in einer Zelle. Walter Lippert heißt er. Der hat mir eine Geschichte erzählt. Eine phantastische Geschichte …«
3
Verbittert, blaß und abgemagert war Walter Lippert, als er in seiner Zelle Thomas Lievens Lebensweg kreuzte. Ein Mensch von hoher Intelligenz. Ein Mensch von untadeligem Charakter. Schriftsteller von Beruf. Antifaschist aus Überzeugung. Jahre hatte er im Konzentrationslager Dachau zugebracht. Hatte gehungert. Gefroren. Sich foltern lassen. War beinahe verreckt. Befreit worden im Jahre 1945 von Amerikanern. Und nun wieder eingesperrt worden von Amerikanern.
»Wegen der ›Schwarzen Lucie‹«, sagte Walter Lippert zu Thomas Lieven.
»Wer ist die ›Schwarze Lucie‹?«
»Die größte Schleichhändlerin und Schwarzmarktkönigin Süddeutschlands«, antwortete Walter Lippert. Und berichtete: Vor seiner Verhaftung durch den CID hatte er in einer Stadt im Süden Deutschlands gelebt. In derselben Stadt lebte die »Schwarze Lucie«, eine schöne, leidenschaftliche Frau, der die amerikanischen Offiziere in Scharen nachliefen.
»Wie heißt diese Frau wirklich?« fragte Thomas den gefangenen Schriftsteller.
»Lucie Maria Wallner. Sie ist geschieden. Mit ihrem Mädchennamen heißt sie Felt.«
Diese Dame besaß ein Lokal mit Namen »Goldener Hahn«. Das Etablissement hatte ein großdeutscher Gauleiter für sie im Krieg erworben und eingerichtet. Die »Schwarze Lucie« war seine ebenso wilde wie untreue Freundin gewesen. Der Gauleiter hatte noch vor Kriegsende das Zeitliche gesegnet. Und die »Schwarze Lucie« war nach Kriegsende die ebenso wilde wie untreue Geliebte eines gewissen Captain William Wallace geworden.
»Wer ist Captain Wallace?« fragte Thomas Lieven seinen Zellengenossen.
Captain Wallace, berichtete Lippert, war Kommandant eines Internierungslagers am Rande der kleinen Stadt. Hier saßen viele Nazi-Bonzen, die man an der österreichischen Grenze aus den letzten sogenannten »Absetz-Zügen« herausgeholt hatte.
Diese »Absetz-Züge«, die Ende April 1945 gen Süden rollten, waren überfüllt gewesen mit Spitzenfunktionären der Obersten SA- und SS-Führung, mit Diplomaten und Ministerialdirigenten. Gold und Juwelen führten diese Herren mit sich, Pläne von noch geheimen, nicht eingesetzten Waffen, riesige Mengen von Morphium, Kokain und anderen Rauschgiften aus Wehrmachtsbeständen und Uranwürfel aus dem »Kaiser-Wilhelm-Institut« in Berlin. Knapp vor der Grenze bekamen die Bonzen es mit der Angst zu tun, wenigstens, was das Uran betraf. Sie warfen die kostbaren Würfel aus den Zugfenstern. Nun berichtete Schriftsteller Lippert Thomas Lieven: »… an der Grenze wurden sie von Amerikanern verhaftet und in das Lager des Captain Wallace gesteckt. Da sitzen sie heute noch zum Teil. Das Gold, das Rauschgift und die Juwelen sind verschwunden. Ich behaupte, daß Captain Wallace sich alles unter den Nagel gerissen hat.«
»Und die Uranwürfel?« fragte Thomas.
»Sind nie wieder aufgetaucht. Ebensowenig die Pläne für die Wunderwaffen. Vielleicht liegen sie immer noch in irgendeiner Waldschneise unter dem Schnee. Vielleicht hat ein Bauer sie gefunden, was weiß ich …«
»Und was haben Sie mit der ›Schwarzen Lucie‹ erlebt?« fragte Thomas den mageren, hoffnungslosen Schriftsteller.
Bitter sagte Lippert: »Als ich aus dem KZ heimkam, stellten die Amis mich an in ihrer Special Operation Branch.« Der Schriftsteller lachte. »Weil ich ein so feiner Anti-Nazi war! Ein Mann mit einer völlig weißen Weste! Darum war es meine Aufgabe, die Bewohner unserer Stadt zu ›screenen‹, zu durchleuchten. Vor etwa einem Jahr kam auch die ›Schwarze Lucie‹ zu mir. Mit Captain Wallace …«
Groß und üppig, schön und hochmütig kam die »Schwarze Lucie« in Walter Lipperts Büro. Blond und schlank, mit blauen Augen und schmalen Lippen ging Captain Wallace an ihrer Seite.
Die »Schwarze Lucie« setzte sich auf Walter Lipperts Schreibtisch, warf drei Stangen Chesterfield-Zigaretten vor ihn hin, kreuzte die Beine und sagte: »Herr Lippert, oder wie Sie heißen, wie lange soll ich eigentlich noch auf meinen Screening-Schein warten?«
»Sie werden keinen Screening-Schein bekommen«, sagte Lippert. »Und nehmen Sie sofort die Zigaretten weg! Stehen Sie von meinem Schreibtisch auf. Setzen Sie sich in einen Sessel.«
Captain Wallace lief rot an. Er sprach beinahe fließend deutsch: »Hören Sie, Lippert, diese Dame ist meine Verlobte! Wir wollen heiraten! Ich erwarte von Ihnen, daß Sie schnellstens den Schein ausstellen. Verstanden?«
Bleich sagte Lippert: »Ich werde den Schein nicht ausstellen, Captain Wallace!«
»Und warum nicht?«
»Weil diese Dame außerordentlich schwer belastet ist. Sie war jahrelang die Geliebte eines Gauleiters. Sie hat Leute denunziert und ins KZ gebracht, sie hat sich bereichert. Es ist bekannt, daß sie den Screening-Schein nur deshalb braucht, weil sie das ›Bristol‹ übernehmen will …«
Das »Bristol« war ein Hotel, dessen Besitzer, ein belasteter Nazi, das Weite gesucht hatte.
»Na und wenn?« schrie Captain Wallace plötzlich los. »Was geht das Sie an? Bekommen wir den Schein – ja oder nein?«
»Nein«, sagte Walter Lippert still.
»Das wird Ihnen noch leid tun«, schrie der Captain. Er polterte aus dem Büro. Hüftenwackelnd und gummikauend folgte ihm die »Schwarze Lucie«.
Außer sich vor Wut rief Lippert sofort seinen Landrat Dr. Werner an, der jeden Screening-Schein mit unterschreiben mußte. Dem Landrat berichtete Lippert von seinem Erlebnis. Dr. Werner tobte: »Das ist ja allerhand! Dieses alte Nazi-Miststück! Haben Sie keine Angst, Lippert, ich stehe hinter Ihnen! Wir geben nicht nach! Das wäre ja noch schöner!«
Nein, sie gaben nicht nach, der Landrat Dr. Werner und der KZler Walter Lippert! Aber Captain Wallace gab ebenfalls nicht nach.
»… er erreichte, daß ich verhaftet wurde«, berichtete Walter Lippert im Januar 1947 seinem Zellengenossen Thomas Lieven. »Ich sitze hier seit 82 Tagen. Ich wurde noch nicht ein einziges Mal verhört. Meine Frau ist schon halb wahnsinnig vor Sorge und Angst. Sie hat einen Brief an Präsident Truman geschrieben. Aber nichts geschieht. Oder doch, ja, etwas ist geschehen: Die ›Schwarze Lucie‹ hat ihren Screening-Schein bekommen.«
»Von wem?«
Lippert zuckte müde die Schultern. »Von irgend jemandem. Sie hat so viele Freunde. Sie ist jetzt also auch die Pächterin vom ›Bristol‹. Jetzt werden dort die größten Schiebungen abgewickelt. Tja, Herr Lieven, so sieht das aus. Dafür habe ich mich im KZ halb lahmschlagen lassen. Es lebe die Demokratie! «
Solcherlei hörte Thomas am 26. Januar 1947 in einer Gefängniszelle. Und nun, am 29. Januar, sagte er vor dem flackernden Kaminfeuer in seiner Villa am Stadtrand von München zu seinem Freund Bastian: »So, jetzt weißt du alles. Ich habe für eine Weile die Schnauze voll von guten Werken und der anständigen Tour.«
»Gott sei Dank, endlich!«
»Wir fahren gen Süden. Zu Lucie, der Schwarzen. Wir suchen das Uran. Wir suchen die verschwundenen Pläne. Und um diesen armen Kerl, um diesen Walter Lippert, werde ich mich bei der Gelegenheit auch noch kümmern.«
4
»Das ist er«, sagte die verweinte, verhärmte Elsa Lippert. Neben Thomas Lieven stand sie am Fenster ihres Wohnzimmers und wies auf die Hauptstraße der kleinen Stadt hinunter. »Da geht er, dieser Schuft! Mit ihr … mit der ›Schwarzen Lucie‹!«
Thomas Lieven betrachtete das Paar interessiert: den blonden, schlanken Offizier, die Frau in dem kostbaren Bibermantel. Thomas zuckte zusammen. Captain Wallace trug einen Schmiß auf der linken Wange! Das war keine Operationsnarbe, nein, diese Narbe hatte eine Mensur zurückgelassen. Komisch. Seit wann schlugen sich die Amerikaner auf Mensuren?
Thomas betrachtete die Frau neben dem seltsamen Captain. Wie ein Raubtier sah sie aus, ein kraftvolles, stets zum Angriff bereites Raubtier.
»Die Dame hat also jetzt das ›Bristol‹?«
»Ja, Herr Scheuner«, sagte Frau Lippert.
Als Peter Scheuner hatte Thomas sich ihr vorgestellt. Auf den Namen Peter Scheuner besaß er ausgezeichnete falsche Papiere, die er selbst produziert hatte. Auch Bastian führte nun einen neuen Namen: Jean Lequoc …
Thomas sagte: »Frau Lippert, ich will versuchen, Ihrem Mann zu helfen. Aber dazu muß ich alles wissen. Sie sagen, das ›Bristol‹ gehörte einem Nazi, der geflohen ist?«
»Ja.«
»Dann ist das Hotel aber doch unter die Aufsicht des ›Property Control Office‹ geraten! Wie heißt der Leiter des ›Property Control Office‹?«
»Das ist ein gewisser Captain Hornblow.«
»Befreundet mit Captain Wallace?«
»Ja, sehr.«
»Aha«, sagte Thomas Lieven.
Die kleine Stadt war überfüllt mit Soldaten, Flüchtlingen und »Displaced Persons«. Es gab zuwenig Wohnraum; Gasthöfe und Hotels waren bis auf den letzten Platz besetzt.
Thomas und Bastian fanden zwei ruhige Zimmer bei einem Bauern in einem Dorf vor der Stadt. Hier mieteten sie sich unter ihren falschen Namen am Abend des 20. Februar 1947 ein, und hier blieben sie dann drei Monate. Das war eine lange Zeit, und die beiden waren alles andere als müßig.
Zuerst suchten sie ein paar Tage und ein paar Nächte lang das »Bristol« auf. Hier herrschte Hochbetrieb, wann man auch kam. Es wurde getanzt und getrunken, geflirtet und geschoben, geflüstert, gehandelt, telefoniert. Leichte Mädchen in Scharen fand man im »Bristol«, Soldaten, die ihre Löhnung loswurden, zwielichtige Polen, unheimliche Tschechen, ein paar ungarische Aristokraten, ein paar Wlassow-Russen und natürlich auch Deutsche.
Und immer, Tag und Nacht, konnte man die »Schwarze Lucie« sehen, geschminkt, dekolletiert und doch immer aufs Geschäft achtend. Und fast immer am Abend tauchte Captain Wallace auf – schmal, schlank, groß und blond. Mit einem Schmiß auf der linken Wange …
Nachdem Thomas und Bastian die Zustände in der kleinen Stadt eine Woche lang beobachtet hatten, hielten sie in einem eingeschneiten Landgasthof Kriegsrat ab. Thomas sagte: »Hier gibt’s Fräulein, hier gibt’s Soldaten, hier gibt’s DPs, mein Alter. Aber vor allem gibt’s hier eines: Nazis! Hergeflüchtete und bodenständige, das weiß ich jetzt. Die Amis scheinen es nicht zu wissen. Aber wir zwei, du und ich, wir dürfen es niemals vergessen! Unser Ziel lautet: Uran und die Konstruktionspläne.«
»Wenn das Zeug noch hier ist!«
»Aller Wahrscheinlichkeit ist es noch hier. Und ich glaube, ich habe eine erstklassige Methode, um das festzustellen.«
»Na, schieß mal los«, sagte Bastian.
Thomas schoß los. Sein Plan war ebenso einfach wie genial. Am 28. Februar entwickelte Thomas ihn zum erstenmal. Am 19. April befanden sich in seinem Besitz:
28 Würfel aus Uran 238, jeweils 5 Zentimeter Kantenlänge, 2,2 Kilo schwer, ohne Ausnahme gekennzeichnet mit dem Prägestempel des »Kaiser-Wilhelm-Instituts« in Berlin; ein Exemplar des geheimen Zielgeräts MKO und genaue Konstruktionspläne dieses geheimen Zielgeräts aus dem Dritten Reich, das nur in wenigen Mustern hergestellt und nicht mehr eingesetzt worden war. Es handelte sich um eine Konstruktion für Jagdflugzeuge, die es ermöglichte, den Gegner präzis in dem Moment zu treffen, da er im Fadenkreuz auftauchte, ohne daß der Schütze die übliche Vorhalteberechnung anzustellen brauchte … Wie hat Thomas Lieven das geschafft?
Wie hat dieser angebliche Peter Scheuner das geschafft, fragten sich Mitte April 1947 mit Recht französische, amerikanische, englische und andere Agenten, die sich in dieser Zeit im Süden Deutschlands in Rudeln tummelten und, gleich Thomas Lieven, alias Peter Scheuner, versucht hatten, die verschwundenen Zielgeräte und deren Konstruktionspläne aufzustöbern.
Wir haben auf den letzten Zeilen viele Wochen hurtig übersprungen. Eigentlich schreiben wir noch den 28. Februar. Und darum wollen wir den Trick Thomas Lievens noch eine ganz kleine Weile für uns behalten und in kurzen Worten berichten, was sich in diesen drei Monaten rund um die geheimnisvolle »Schwarze Lucie« ereignete. Und rund um Thomas Lieven.
5
In den drei Monaten, zwischen Winter- und Frühlingsanfang, nahmen die Rauschgiftoperationen der »Schwarzen Lucie« und ihres amerikanischen Geliebten ungeheuerliche Ausmaße an. Sie zierten sich, spielten Aufkäufer gegen Aufkäufer aus und trieben die Preise in die Höhe. Wußte die »Schwarze Lucie«, daß sie mit ihrem Leben spielte?
Schriftsteller Lippert saß weiter im Gefängnis in München. Sosehr Thomas sich bemühte, ihm zu helfen: er fand vorerst keine Möglichkeit dazu. Ein Ring des Schweigens, eine Verschwörung umgab den unglücklichen Lippert, der es gewagt hatte, sich der »Schwarzen Lucie« zu widersetzen.
»Geduld«, sagte Thomas zu der armen, wehr- und hilflosen Elsa Lippert. »Haben Sie Geduld. Hier geschieht Unrecht. Das Unrecht währt niemals ewig. Manchmal währt es lange – aber ewig nie. Es kommt der Tag, da werden wir Ihrem armen Mann helfen können.«
Sosehr jeder Versuch fehlschlug, den Schriftsteller Lippert zu rehabilitieren, so zufriedenstellend entwickelten sich Thomas Lievens private Aktionen. Am 19. April besaß er, wie gesagt, Uranwürfel, ein Exemplar des Zielgerätes MKO und dessen Konstruktionspläne.
Bald sprach es sich bei den Agenten der verschiedenen Nationen herum, daß er solcherlei Schätze sein eigen nannte. Sie kamen mit Kaufangeboten zu ihm – zuerst für die Uranwürfel. Hier fiel Thomas Lievens Wahl auf einen argentinischen Geschäftsmann und persönlichen Vertrauten von Juan Domingo Perón, der ein Jahr zuvor Staatspräsident seines Landes geworden war.
Zu seinem Freund Bastian sagte Thomas: »Das ist unser Mann, mein Alter. Raus aus Europa mit dem Zeug! Weit weg! Dorthin, wo man keine Bomben damit baut!«
Der Argentinier bezahlte in amerikanischen Dollars – 3200 Dollar für jeden Würfel, also 89 600 Dollar insgesamt. Das Uran wurde, als Diplomatengepäck deklariert, nach Argentinien geflogen.
Der geneigte Leser erinnert sich vielleicht noch an den Skandal um das erste argentinische Atomkraftwerk, der im Jahre 1954 die Schlagzeilen der internationalen Presse füllte. Damals wurde bekannt, daß ein angeblicher Atomforscher deutscher Herkunft, ein »Professor« Ronald Richter, seit dem Jahre 1948 für Perón Atomexperimente auf der Insel Huemul durchgeführt hatte mit dem Ziel, Argentinien zur Atommacht aufsteigen zu lassen. 300 Millionen Mark hatte Perón dem seltsamen Professor zur Verfügung gestellt. Jedoch infolge technischer Unzulänglichkeiten funktionierte das Millionenprojekt nicht. Die Stäbe im Inneren des Atommeilers waren unter anderem aus Uranwürfeln hergestellt worden, die allesamt den Prägestempel des »Kaiser-Wilhelm-Instituts« in Berlin getragen hatten …
Es begann das Werben der Agenten um Thomas Lievens Zielgerät MKO. Guter Pazifist, der er war, hatte er die Pläne natürlich ein wenig verändert – so weit, daß selbst geniale Techniker sich vergeblich die Köpfe über den Konstruktionspausen zerbrochen hätten. Guter Kaufmann, der er war, hatte er die Pläne natürlich auch vervielfältigt, denn es schwebte ihm vor, sie nicht nur an einen, sondern an mehrere Interessenten zu verkaufen.
Er war gerade im schönsten Feilschen, als Herr Gregor Marek auftauchte. Herr Marek stammte aus Böhmen. Thomas hatte ihn oft im »Bristol« gesehen. Herrn Marek schien es glänzend zu gehen. Er war immer elegant gekleidet, klein, untersetzt und hatte die breiten Backenknochen und die schrägen Augen der slawischen Rasse. Er sprach mit dem entsprechenden Akzent: »Sagen S’ mir bittschön, meine Herren, könnt’ ich mich a bissel mit Ihnen unterhalten? Hörr’ ich, Sie ham was zu verkaufen …«
Thomas und Bastian konnten ihn zunächst nicht verstehen.
Herr Marek wurde deutlicher: »Hab’ ich Leut’ driben in Tschechoslowakei, gute Freinde, zahlen prima. Also zeigen S’ mir schon amol das Zeug und die Pläne.« Nach einigem Hin und Her zeigten Thomas und Bastian Herrn Marek amol das Zeug und die Pläne. Dem Tschechen traten die Augen aus dem Kopf. »Nicht zum Fassen! Ein Jahr bin ich hinter dem Zeug hergewesen. Nix gefunden. Sagen S’ mir bittschön, wie ham S’ das geschafft?«
Thomas antwortete: »Das war ganz einfach, lieber Herr Marek. Ich kalkulierte die politische Einstellung der Bevölkerung mit ein. Es gibt so viele Nazis hier. Mein Freund und ich zogen ein paar Wochen lang herum. Von Nazi zu Nazi. Wir ließen durchblicken, daß wir einer Werwolf-Organisation angehörten …«
»Jeschuschmariaundjosef, san S’ narrisch wordn?«
»Mitnichten, mein Lieber. Sie sehen, wie gut es funktionierte. Als Nazis zu Nazis sprachen wir mit Ansässigen oder auch mit Zugereisten. Wo war das Uran? Wo waren die Pläne der Wunderwaffen? Unsere Organisation brauchte Geld. Wir mußten das Uran und die Pläne verkaufen. Das sahen die Herren sogleich ein. Einer wies uns an den anderen … Voilà, Monsieur!«
»Ach du liebe Zeit, und zahln ham Sie nix missen dafir?«
»Nicht einen Tupf. Es waren lauter Idealisten. Also, was bieten Ihre Freunde im Osten?«
»Muß ich rieberfahrn, bissel rumhören.« Der Agent verschwand für drei Tage, dann sah Thomas ihn wieder. Marek war bester Laune: »Soll ich Ihnen schöne Grieße ausrichten. Kommen S’ doch heute zu mir zum Essen. Hörr’ ich, Sie kochen gern. Ich hab’ alles zu Haus. Reden wir in Ruhe iebers Geschäft.«
Bastian und Thomas erschienen gegen elf Uhr vormittags am 6. Mai 1947 in der Wohnung des Volksdemokraten, die luxuriös eingerichtet war. Thomas wunderte sich: »Sind Ihre tschechischen Freunde so großzügig?«
Marek grinste: »Ich bitt’ Sie, das is doch nicht mein Hauptgeschäft! Kommen S’ amol mit.« Marek führte seine Besucher in einen großen Raum neben der Küche. Hier lagen, meterhoch gestapelt, Hunderte von Bildbänden aus dem »Tausendjährigen Reich«. »Der Führer und die Kinder«, »Der Reichsparteitag in Nürnberg«, »Die Straßen des Führers«, »Der Sieg im Westen«, »Der Sieg im Osten«, so und anders lauteten die Titel.
Menu • München, 6. Mai 1947
Nach diesem Essen platzte beinahe die Militärregierung von Bayern.
Aal in Salbei
Kalbscroquettes
Haselnußpudding
Aal in Salbei: Man schneide einen gut gereinigten Aal in Stücke, mariniere diese mindestens eine Stunde mit Zitronensaft, Pfeffer, Salz und feingehackten Kräutern, darunter etwas Salbei. – Man wickle dann jedes Stück in frische Salbeiblätter, brate sie zwanzig bis fünfundzwanzig Minuten in brauner Butter, serviere sie mit Zitronenscheiben garniert und mit Bratbutter übergossen. – Man reiche dazu neue, mit gehackter Petersilie bestreute Kartoffeln und Gurkensalat.
Kalbscroquettes: Man nehme sehnenfreies Kalbfleisch, drehe es mit eingeweichtem, ausgedrücktem Weißbrot ohne Rinde, in Butter hell vorgedünsteten Schalotten und Petersilie durch den feinsten Wolf. – Man gebe zu der Masse verquirlte Eier, würze sie mit Pfeffer, Salz, ganz wenig Sardellenpaste und Worcestersauce und schlage sie tüchtig. Man forme dann flache Medaillons, wälze sie in Semmelbröseln und brate sie in heißer Butter goldbraun. – Man richte sie auf Scheiben von hellgelb geröstetem Kastenweißbrot an und serviere mit Tomatenketchup.
Haselnußpudding: Man nehme vier Eigelb, rühre sie mit 75 Gramm Zucker, Saft und Schale einer halben Zitrone schaumig, menge 145 Gramm gemahlene Haselnüsse und zuletzt den steifen Schnee der vier Eiweiß darunter. – Man fülle die Masse in eine wie üblich vorbereitete Puddingform und koche sie eine Stunde im Wasserbad. – Man reiche zu dem Pudding Fruchtsaft oder heiße Weinschaumsauce.
Thomas hob einen Band auf und blätterte. Ganzseitige Fotos zeigten Paraden, Bonzen, Generäle und immer wieder ihn, den »Führer«.
»Is nur a klaner Teil hier herobn, ich hab’ den ganzen Keller voll. Dazu SS-Dolche, Orden, Totenkopfringe – was Sie wolln! Machen sich keine Vorstellung, wie das weggeht. Also, reinweg narrisch sind die Amis mit dem Dreck! Nehmen’s nach Hause mit, als Souvenirs!«
Sie gingen in die Küche, woselbst sich der Lohn der verkauften Souvenirs in Form von Konservendosen, Fleisch und Whiskyflaschen präsentierte. »Ich hab’ gekauft an schönen Aal, Herr Scheuner. Können S’ mir machen Aal in Salbeiblättern? Is sich Lieblingsspeise von mir.«
»An die Arbeit«, sagte Thomas. Er begann den Aal zu putzen und schnitt ihn in Stücke. Dabei berichtete Marek: »Was meine Auftraggeber sind, die mechten gern mit einem von Ihnen persönlich redn. Is sich alles arrangiert. Wenn S’ rüber wolln, kommt a Grenzer. Natierlich nehmen S’ Pläne nicht mit. Und ich bleib’ hier. Bei dem von Ihnen, wo dableibt.«
Thomas und Bastian gingen in den Garten und hielten eine kurze Beratung ab. Bastian meinte: »Ich fahre. Du läßt Marek nicht aus den Augen. Wenn was passiert, übergibst du ihn den Amerikanern. Hoffentlich sprechen die da drüben Französisch!«
Darüber befragt, äußerte Marek: »Wie die Pupperln. Fließend, meine Herren, fließend!«
Thomas untersuchte den Aal. »Er muß noch eine Stunde marinieren«, sagte er. »Wenn Sie erlauben, sehe ich mich inzwischen in Ihrer Bibliothek ein bißchen um.«
»Aber bittschön, mit Vergniegen, bedienen S’ Ihnen«, meinte Marek.
Thomas bediente sich. Bildband um Bildband führte er sich zu Gemüte, sah und staunte: »Junge, Junge, was ist bei uns nicht alles dabeigewesen …«
Fünfzehn Bücher durchblätterte er, zwanzig. Das einundzwanzigste hieß »Der Führer und seine Getreuen«. Thomas schlug die Seiten um. Holte plötzlich rasselnd Atem. Und schrie nach Bastian. Der kam erschrocken.
»Schau dir das an …« Thomas wies auf ein großes Foto, das zwei Männer in SA-Uniform zeigte. Der eine war fett und aufgeschwemmt. Der andere war blond, schlank, groß und hochmütig. Er trug einen Schmiß auf der linken Wange. Darunter stand:
STABSCHEF DER SA ERNST RÖHM
UND SEIN STURMFÜHRER FRITZ EDER
Thomas schlug das Impressumblatt des Buches auf. »Gedruckt 1933«, sagte er. »Da war Herr Röhm noch am Leben. Er wurde erst 1934 umgelegt. Vielleicht ist es Herrn Eder gelungen, nach Amerika zu fliehen. Es dürfte nicht allzu schwer sein, festzustellen, ob SA-Sturmführer Eder und Captain Wallace ein und derselbe Mensch sind!«
6
Nein, allzu schwierig war es nicht!
Eine Woche brauchte der CIC dazu. Danach stand fest: Captain Wallace war in der Tat identisch mit dem ehemaligen SA-Sturmführer Eder. Er war in der Tat nach dem Röhm-Putsch in die Staaten geflohen und hatte seinen Namen gewechselt.
Wallace, alias Eder, wurde verhaftet, desgleichen der Property Control Officer Captain Hornblow. Sie wurden später zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt.
Verlassen wir für einen Moment unseren Freund Lieven und berichten in Stichworten über das Ende der größten Schwarzmarktzentrale Europas:
Am 20. Mai 1947 wurde der Schriftsteller Walter Lippert aus der Haft entlassen. Am 29. Mai flog Seine Ehren Richter Earl Rives aus dem Staate North Carolina nach Deutschland, um im Auftrag des Armeestaatssekretärs Kenneth Royall die Untersuchung der gewaltigen Schiebungen zu übernehmen. Am 5. Juni wurden 14 amerikanische Soldaten und 25 deutsche Staatsbürger, darunter die »Schwarze Lucie«, in Haft genommen und verhört. Die »Schwarze Lucie« wurde am 2. Juli wieder in Freiheit gesetzt, durfte jedoch ihren Heimatort nicht verlassen. Das tat sie auch nicht; sie führte ihre Geschäfte weiter. Allerdings scheint sie dabei ihre Geschäftstüchtigkeit übertrieben zu haben, denn am 23. Dezember wurde sie mit durchschnittener Kehle in ihrem Schlafzimmer gefunden. Nichts von ihrem Besitz fehlte. Der Mörder wurde nie entdeckt.
Am 12. Januar 1948 schrieb die amerikanische Soldatenzeitung »Stars and Stripes« unter der Überschrift
HUGE DOPE RING PROBED IN BAVARIA
By Tom Agoston
FRANKFURT, Jan. 12 (INS) – Postwar Germany’s biggest black market scandal, involving a gang of international narcotic peddlers … threatened to blow up in the lap of U.S. Military Government today …
Zu deutsch:
RIESIGER RAUSCHGIFTRING IN BAYERN WIRD UNTERSUCHT
Bericht von Tom Agoston
FRANKFURT, 12. Jan. (INS) – Der größte Schwarzmarktskandal Nachkriegsdeutschlands, in welchen eine internationale Bande von Rauschgifthändlern verwickelt ist … drohte heute direkt im Schoß der amerikanischen Militärregierung zu explodieren.
Der Fall kam ans Licht durch das Verbrechen an einer Deutschen namens Lucie W., die vor knapp drei Wochen brutal ermordet wurde. Wie es heißt, werden schwerste Anklagen gegen zwei Offiziere der amerikanischen Militärregierung in Bayern erhoben. Der Skandal droht die deutsch-amerikanischen Beziehungen zu gefährden. Es geht um Werte von 3 bis 4 Millionen Dollar …
Na ja, das wäre dies!
Nun kehren wir in das Jahr 1947 zurück.
Am 9. Mai verließ Bastian Fabre seinen Freund Thomas Lieven in Richtung Tschechoslowakei. Er wollte bis zum 15. Mai zurück sein. Er kam nicht zurück, nicht am 15. Mai und nicht in den Tagen danach.
Unruhiger als Thomas wurde Herr Marek: »Da is sich was passiert … hat’s noch nie gegeben … sind korrekte Leut’, meine Auftraggeber …«
»Marek, wenn meinem Freund etwas zustößt, dann gnade Ihnen Gott!«
Am 22. Mai bekam Marek den Besuch eines Landsmannes, der einen Brief überbrachte und sich danach in größter Eile verabschiedete. Bleicher und bleicher wurde Herr Marek bei der Lektüre des Schreibens.
Unverwandt sah Thomas ihm dabei zu. »Was ist los?« fragte er ungeduldig.
Herr Marek konnte kaum reden vor Aufregung: »O Gott, o Gott!«
»Was ist? Los, reden Sie!«
»Russen ham Ihren Freind verhaftet.«
»Russen?«
»Is sich rausgekommen, daß Tschechen Zielgerät kaufen wollen. Russen verbieten. Sperren Ihren Freind ein. Sagen, sie wollen ’s Gerät selber ham. O Gott, o Gott.«
»Wo haben die Russen meinen Freund eingesperrt?«
»In Zwickau. Ihr Freind muß über Sowjetzone gefahren sein.«
»Herr Marek«, sagte Thomas, »machen Sie sich reisefertig.«
»Sie wollen … Sie wollen rieber nach Zwickau?«
»Klar«, sagte Thomas.
7
Nordwestlich der bayerischen Stadt Hof, unmittelbar vor dem Dörfchen Blankenstein, lag um die Mittagsstunde des 27. Mai 1947 ein sympathischer Herr bäuchlings an einem Waldrand. Bei besagtem Herrn handelte es sich um den ehemaligen Privatbankier Thomas Lieven. Aus Gründen der Selbsterhaltung nannte er sich gerade Peter Scheuner.
Vor ihm im Moos lag eine Landkarte. Nach dieser orientierte sich Thomas zum wiederholten Mal. Da, wo der Wald aufhörte, begann eine blühende Wiese. Mitten durch die Wiese gluckste ein kleiner, fröhlicher Fluß. Vielleicht wäre er nicht so fröhlich gewesen, wenn er gewußt hätte, daß er die US-Zone Deutschlands von der Sowjetzone Deutschlands trennte.
An diesem Flüßchen hörte das eine Deutschland auf, und das andere fing an. Die Karte zeigte das durch eine Schraffierung in brauner Farbe – hoffentlich, dachte Thomas, um daran zu erinnern, wer die Schuld trägt, daß es nun zwei Deutschland gibt …
Zwölf Uhr mittags am 27. Mai: Das war die verabredete Zeit. Die drei Bäume hinter dem kleinen Fluß: Das war der verabredete Ort. Da sollte ein Soldat der Roten Armee stehen, der Thomas in Empfang nahm. Er stand nur nicht da …
Kinder, Kinder, dachte Thomas Lieven, das ist aber schon eine tolle Schlamperei! Da habe ich nun meinen Freund Bastian nach Zwickau geschickt, um mit den Tschechen über – natürlich gefälschte – Pläne eines Wunderzielgerätes zu verhandeln. Die Sowjets haben Bastian hochgenommen. Klar, daß ich Bastian raushauen muß! Klar, daß ich also hier liege am Mittag dieses 27. Mai. Ich bin bereit. In meiner Aktentasche trage ich die gefälschten Pläne bei mir. Hier liege ich und warte auf den Rotarmisten, der mich hinüberholt aus dem einen Deutschland in das andere Deutschland. Aber der Kerl ist nicht da. Ja, kann denn nichts im Leben glatt und ohne Aufregung ablaufen?
Thomas Lieven lag am Waldrand bis 12 Uhr 28. Als sein Magen zum erstenmal knurrte, tauchte drüben, jenseits des Flusses, ein Sowjetsoldat auf. Er trug eine Maschinenpistole vor sich her. Zwischen den drei Bäumen blieb er stehen und sah sich um. Na also, dachte Thomas. Er stand auf und ging auf die Wiese hinaus. Der Rotarmist, ein junger Bursche, sah ihm entgeistert entgegen.
»Hallo!« rief Thomas im Fürbaßschreiten und winkte dem Soldaten freundlich zu. Am Ufer des Flusses hielt er an und zog Schuhe und Strümpfe aus. Dann krempelte er die Hosen hoch. Dann watete er durch das eiskalte Wasser zum anderen Ufer. Mitten im Fluß hörte er einen heiseren Schrei und blickte überrascht auf.
»Stoj!« brüllte der junge Rotarmist und noch einiges dazu. Thomas verstand ihn nicht, nickte freundlich, watete weiter und erreichte das andere Ufer. Der junge Rotarmist drang auf Thomas ein. Dem fiel es plötzlich wie Schuppen von den Haaren. Herrjesus noch mal. Das ist gar nicht mein Rotarmist, der mich abholen soll! Das ist ein ganz anderer Rotarmist! Einer, der keine Ahnung davon hat, daß ich abgeholt werden soll!
Der Rotarmist schrie kehlig auf ihn ein.
»Mein lieber junger Freund, nun hören Sie einmal zu«, begann Thomas. Da hatte er den Lauf der MP in den Rippen. Er ließ Schuhe, Socken und Aktentasche fallen und hob die Hände. Entsetzlich, dachte er. Nun also auch noch die Rote Armee …
In Erinnerung an eine weit zurückliegende, aber ausgezeichnete französische Jiu-Jitsu-Erziehung wandte er sodann den sogenannten »Doppelten Schmetterlingsgriff« an. Bruchteile von Sekunden später wirbelte der Rotarmist aufschreiend durch die Luft und flog mitsamt seiner Maschinenpistole in den Fluß. Schuhe, Socken, Aktentasche packte Thomas, um loszurennen – hinein in die Sowjetzone.
Da erschütterte ein Trampeln und Dröhnen die Erde. Entsetzt sah er auf. Aus dem Waldrand auf der sowjetzonalen Seite der Wiese waren mindestens fünfzig Menschen – Männer, Frauen, Kinder – hervorgebrochen. Wie von Sinnen rasten sie auf den Fluß zu, durchwateten ihn und rasten weiter hinein in die amerikanische Zone Deutschlands.
Entgeistert starrte Thomas ihnen nach. Allen diesen Menschen hatte er zur Flucht in den Westen verholfen! Alle diese Menschen hatten, wie er im Westen, hier im Osten auf der Lauer gelegen. Thomas lachte irre. Dann sah er, wie der Russe aus den Fluten auftauchte und nach Luft schnappte, und rannte los. Hinter sich vernahm er das Gebrüll des jungen Rotarmisten. Dann fielen Schüsse. Thomas hörte Kugeln pfeifen. (Merke: Sowjetische Maschinenpistolen schießen auch naß!)
Die Straße herauf kam ein russischer Jeep. Ein Hauptmann saß neben dem Fahrer. Der Hauptmann sprang auf, hielt sich an der Windschutzscheibe fest und brüllte wilde russische Worte zu dem wild schießenden Rotarmisten auf der Hügelhöhe empor. A tempo hörte der junge Rotarmist auf zu schießen. Der Jeep bremste neben Thomas Lieven. »Gospodin Scheuner, nicht wahr?« sagte der Hauptmann in kehligem Deutsch. »Entschuldigen, Verspätung. Reifen nix gutt, gehen kaput! Doch jetzt: Willkommen, Gospodin, herzlich willkommen!«
8
Das Palast-Café von Zwickau war genauso traurig anzusehen wie alles andere in der 120 000 Einwohner zählenden Stadt. Sechs Stunden nachdem er eine Gemeinschaftsflucht von beträchtlichem Ausmaß in die Wege geleitet hatte, saß Thomas in einer Ecke des erwähnten Etablissements und trank Ersatzlimonade.
Er hatte nichts mehr zu tun an diesem 27. Mai. Der Hauptmann, der ihn an der Grenze abgeholt hatte, war mit ihm bis zur Kommandantur Zwickau gefahren. Der sowjetische Stadtkommandant, ein gewisser Oberst Melanin, hatte sich durch einen Dolmetscher entschuldigen lassen und Thomas auf den anderen Tag, neun Uhr, bestellt.
So war Thomas denn zuerst in ein – tristes – Hotel und danach hierher gewandert. Er sah die traurigen Menschen an, die Männer in den uralten zweireihigen Anzügen und den zerschlissenen Hemden, die ungeschminkten Frauen mit den Wollstrümpfen, den alten Korkschuhen und den strähnigen Haaren, und er dachte: Ach Gott, und da, wo ich herkomme, geht es schon wieder ganz nett rund. Es wird geschoben, geschuftet und gerafft. Ihr armen Kerle aber seht aus, als ob ihr den Krieg ganz allein verloren hättet!
Am Tischchen gegenüber saß ein stattliches Paar: das einzige stattliche Paar, das Thomas bisher in Zwickau hatte entdecken können. Die Frau war eine üppig-straffe Schönheit mit herrlichem weizenblondem Haar, einem slawischen, sinnlichen Gesicht und strahlenden blauen Augen. Sie trug ein enges grünes Sommerkleid. Über einem Stuhl hing ein Leopardenmantel.
Ihr Begleiter war ein muskulöser Riese mit ganz kurz geschnittenem grauem Haar. Er trug den typischen blauen Einheitsanzug der Russen mit überbreiten Hosenbeinen, wandte Thomas den Rücken und redete mit seiner Dame. Ohne Zweifel waren das Sowjetmenschen. Plötzlich zuckte Thomas zusammen. Die weizenblonde Dame flirtete mit ihm! Sie lächelte, zeigte die Zähnchen, zwinkerte, schloß das eine Auge halb …
Hm!!!
Ich bin ja nicht wahnsinnig, dachte unser Freund, drehte sich zur Seite und bestellte noch eine Flasche Ersatzlimonade. Nach dem dritten Schluck sah er dann doch wieder hin.
Die Dame lächelte. Da lächelte auch er. Danach ging alles sehr schnell. Der Begleiter der Dame fuhr herum. Er sah aus wie Tarzan, made in UDSSR. Sprang hoch. War mit vier Sätzen bei Thomas. Packte ihn am Jackett. Aufschrei der Gäste. Das erbitterte Thomas. Noch mehr erbitterte ihn, daß er hinter dem eifersüchtigen Riesen die Weizenblonde erblickte, die aufgestanden war und durchaus den Eindruck machte, als genösse sie die Szene höchlichst. Du Luder, dachte Thomas, das ist also eine Tour von dir, du hast etwas davon, wenn …
Weiter dachte er nicht, denn da traf ihn die Faust des Riesen im Bauch. Das war Thomas zuviel. Er tauchte unter dem russischen Tarzan durch und riß ihm die Beine unter dem Leib weg. Zum zweitenmal an einem Tag Jiu-Jitsu. Diesmal der »Segler-Trick«. Da der Othello aus Rußland vor der Barriere der Garderobe gestanden hatte, fiel er jetzt über dieselbe und verschwand hinter ihr. Aus den Augenwinkeln sah Thomas, wie ein sowjetischer Unteroffizier die Pistole zog.
Mut ist eine Frage der Intelligenz. Man muß wissen, wann man genug hat. Thomas duckte sich und raste zum Ausgang und auf die Straße hinaus. Rotarmisten waren zum Glück keine zu sehen. Die Deutschen kümmerten sich nicht um Thomas. Wenn ein Deutscher rannte, hatte er von vornherein ihre Sympathie.
Thomas rannte bis zum Schwanenteich. In dem schönen alten Park fiel er keuchend auf eine Bank. Erholte sich nach einer Weile. Und schlich dann vorsichtig in sein Hotel.
Anderntags, Punkt neun Uhr, ließ der Dolmetscher einen rasierten, eleganten, zuversichtlichen Thomas Lieven in das Büro des Stadtkommandanten von Zwickau treten. Danach allerdings rührte unseren Freund fast der Schlag. Denn der Stadtkommandant von Zwickau, der sich hinter seinem Schreibtisch erhob, war niemand anderer als jener eifersüchtige Sowjettarzan, den Thomas am Nachmittag zuvor mit dem »Segler-Trick« hinter die Garderobenbarriere des Palast-Cafés befördert hatte …
Heute trug der Riese Uniform. Auf seiner Brust gab es viele Orden zu bewundern. Er musterte Thomas schweigend.
Indessen überlegte jener: Büro im dritten Stock. Durchs Fenster ab? Hat keinen Zweck. Ade, Europa. Es gibt ja Leute, die behaupten, Sibirien wäre sehr reizvoll …
Da sprach Oberst Wassili L. Melanin endlich in guttural akzentuiertem Deutsch: »Gospodin Scheuner, ich bitte, Benehmen von gestern zu verzeihen.« Thomas konnte ihn nur anstarren.
»Es tut mir leid. Dunja sein schuld daran.« Melanin brüllte plötzlich wie von Sinnen: »Diese verfluchte Teufelin!«
»Herr Oberst sprechen von der verehrten Frau Gemahlin?«
Durch die Zähne stieß Melanin hervor: »Diese Chündin! Könnte ich sein Brigadegeneral. Zweimal sie mich chaben degradiert … ihretwegen … weil ich mich chabe geprügelt.«
»Herr Oberst, Sie müssen sich fassen«, sagte Thomas beruhigend. Melanin schlug auf den Tisch. »Dabei liebe ich Täubchen Dunja. Aber Schluß jetzt damit, zum Geschäft. Nun, vorcher wir müssen etwas trinken, Cher Scheuner …«
Also tranken sie ein Fläschchen Wodka miteinander, und nach einer Stunde war Thomas Lieven volltrunken und Oberst Melanin stocknüchtern, und sie redeten beide fließend und geistreich über das Geschäftliche, aber sie kamen keinen Schritt weiter.
Oberst Melanin vertrat den Standpunkt: »Sie wollten verkaufen den Tschechen das Zielgerät MKO. Chaben Sie geschickt Ihren Freund hierher. Sie können mit ihm in den Westen, wenn Sie übergeben uns die Pläne.«
»Verkaufen«, korrigierte Thomas mit Betonung.
»Übergeben. Wir bezahlen nicht«, sagte der Oberst. Und dann mit hintergründigem Grinsen: »Sie sind doch sonst nicht auf den Kopf gefallen – Thomas Lieven!«
Manchmal fühlen Knie sich an wie Kirschgelee, dachte Thomas. Er murmelte schwach. »Was sagten Sie eben, Herr Oberst?«
»Sagte ich Lieven, Thomas Lieven – so cheißen Sie doch! Brüderchen, glauben Sie, wir sind Idioten? Glauben Sie, unser Geheimdienst chat nicht gechabt Einsicht in alliierte Akten? Unsere Leute in Moskau, die chaben sich totgelacht über Ihre Aktionen.«
Thomas fing sich. Er sagte: »Wenn Sie … wenn Sie schon wissen, wer ich bin – warum lassen Sie mich dann überhaupt noch laufen?«
»Was sollten wir mit Ihnen anfangen, Brüderchen? Sie sind doch – nicht böse sein – lächerlich schlechter Agent!«
»Vielen Dank.«
»Wir brauchen erstklassige Agenten, nicht komische Figuren wie Sie.«
»Sehr aufmerksam.«
»Chöre ich, Sie kochen gerne. Na, und ich esse gerne! Kommen Sie zu uns. Dunjascha wird sich freuen. Ich machen die Blini. Kaviar chabe ich genug. Und dann wir plaudern weiter. Wie ist das?«
»Das ist eine ausgezeichnete Idee«, sagte Thomas Lieven. Und dachte zerknirscht: Ein ganz schlechter Agent. Eine komische Figur. Das muß man sich sagen lassen! Was denn?
Also machte er in der Küche einer requirierten Villa ein Kotelett Maréchal. Es war ihm recht unheimlich dabei. Oberst Melanin ließ sich nicht blicken. Aber als er gerade eine große Hühnerkeule für das Kotelett entbeinte, kam die Frau Oberst herein.
Menu • Zwickau, 28. Mai 1947
Mit einem Hühnerbein tritt Dunja, die Russenfrau,
in Lievens Leben.
Blini mit Kaviar
Kotelett Maréchal mit Erbsen und Pommes frites
Caramelpudding
Blini mit Kaviar: Man nehme pro Person zwei in Butter frischgebackene dünne Eierkuchen von Handgröße, richte sie auf vorgewärmten Tellern an. Man bestreiche den ersten Eierkuchen mit einer Schicht Kaviar, decke den zweiten Eierkuchen darüber, übergieße mit heißer zerlassener Butter und überziehe mit dicker saurer Sahne. – (Man stellte die echten Blini aus Buchweizenmehl her, das aber bei uns schwer erhältlich ist.)
Kotelett Maréchal: Man entbeine die Schenkel eines zarten Masthuhnes, ohne die Haut zu verletzen. – Man stelle ein Farce her aus gehackter Hühnerbrust, einem Eßlöffel Butter, je ein viertel Teelöffel gehackter Schalotte, Petersilie und Estragon, eine viertel Tasse in Weißwein eingeweichter Weißbrotkrume, einem Eßlöffel gehackter Champignons, Pfeffer und Salz. – Man drehe diese Masse zweimal fein durch den Wolf, lasse sie mit je einem Eßlöffel Butter und süßer Sahne auf kleiner Flamme unter ständigem Rühren langsam durchkochen, ohne sie fest werden zu lassen. – Man fülle die Hühnerschenkel mit der abgekühlten Farce, nähe sie zu, wende sie in feinen Semmelbröseln um und brate sie in Butter goldbraun. Man kann die beiden Brusthälften in gleicher Weise füllen und zusammennähen, verwendet dann für die Farce ein feines, fett- und sehnenfreies Kalbsbrät.
Caramelpudding: Man nehme einen Liter Milch und lasse sie mit 100 Gramm Zucker und einer kleinen Vanilleschote kochen. Man verquirle fünf Eier und gebe sie mit einer Prise Salz in die leicht abgekühlte Milch. – Man brenne 200 Gramm Zucker zu einem nicht zu dunklen Caramel, lösche es mit wenig Wasser ab, gieße es in eine vorgewärmte Puddingform und verteile es schnell auf alle Seiten, bevor es erstarrt. Man gebe die Milchmasse hinein und koche die geschlossene Form dreiviertel Stunden im Wasserbad. – Man stelle die Form einige Stunden sehr kalt, stürze den Pudding dann auf eine runde Platte, wobei sich das Caramel als Sauce darumlegt.
Sie trat sozusagen in Thomas Lievens Leben – er wußte es nur noch nicht! Eine sehr schöne Frau. Das Haar – die Augen – die Lippen – die Formen – Donnerwetter! Und eine Haut wie Marzipan. Eine Frische, eine Gesundheit, eine Kraft. Die Dame war einmalig! Man sah sofort: Dunja konnte auf Mieder, Büstenhalter und andere lebenswichtige Hilfskonstruktionen normaler Damen verzichten. Sie kam herein und schloß die Tür und sah Thomas stumm und brütend an. Ihre Lippen öffneten sich halb, und ihre Augen schlossen sich halb …
Eine wunderschöne Verrückte, durchzuckte es Thomas. Allmächtiger Vater, hilf! Ich glaube, wenn ich sie nicht küsse, erwürgt sie mich mit bloßen Händen. Oder sie ruft einen NKWD-Offizier herein und erklärt mich zum Saboteur.
Draußen in der Villa erklangen Schritte. Sie fuhren auseinander. Es ist auch höchste Zeit, dachte Thomas.
Dunja tastete abwesend nach seiner Hühnerkeule. »Rette mich«, flüsterte sie. »Flieh mit mir. Mein Mann liebt mich nicht mehr. Er tötet mich. Ich töte ihn. Oder du fliehst mit mir.«
»Ma-ma-ma – hrm!!! Madame, wie kommen Sie auf den Gedanken, daß Ihr Mann Sie nicht liebt?«
Dunja lachte dämonisch. »Du hast ihn gestern im Café besiegt. Früher hat er Männer halb totgeschlagen. Mich auch. Jetzt schlägt er mich überhaupt nicht mehr. Das ist keine Liebe … Ich spreche gut deutsch – nicht?«
»Sehr gut.«
»Deutsche Mutter. Du warst mir gleich sympathisch. Ich mache dich glücklich. Nimm mich mit nach drüben …«
Die Schritte kamen näher.
Dunja streichelte immer noch Thomas’ Keule, als der Oberst hereinkam. Er lächelte undurchsichtig: »Ach, chier bist du, mein Täubchen. Lernst kochen wie im kapitalistischen Westen, wo die Arbeiter unterdrückt werden? Was chaben Sie, Herr Lieven, ist Ihnen nicht gut?«
»Es geht gleich vorüber, Herr Oberst. Könnte ich … könnte ich wohl einen Wodka haben?«
9
Eines war Thomas völlig klar: Er mußte zusehen, daß er so schnell wie nur möglich wieder zurück in den Westen kam. Diesem Pärchen war er nicht gewachsen.
Die Sowjets würden also die gefälschten Pläne umsonst bekommen. Ein Glück, daß sie wenigstens wertlos waren …
Bei Tisch kämpfte er noch verbissen, aber nur zum Schein, weil er wußte, daß die Russen derartige Tauziehereien lieben. Der Oberst widersprach ihm auch entzückt und mit Feuer. Dunja saß zwischen ihnen und betrachtete beide Herren brütend. Und es wurde fürchterlich gegessen und fürchterlich getrunken, aber nach den fetten Blini behielt Thomas diesmal einen klaren Kopf.
»Also gut, Herr Oberst, ich mache Ihnen einen anderen Vorschlag: Sie bekommen die Pläne umsonst, und dafür lassen Sie meinen Freund und noch einen anderen Herrn in den Westen.«
»Anderen Cherrn?«
»Herrn Reuben Achazian. Ich weiß nicht, ob Sie ihn kennen. Noch ein bißchen von meiner Keule, gnädige Frau?«
»Noch sehr viel von Ihrer Keule, Cherr Lieven.«
»Ob ich diesen Cherrn Achazian kenne!« sprach der Oberst verächtlich. »Diesen Lumpen. Diesen Geschäftemacher. Was Sie wollen mit dem?«
»Geschäfte machen«, sagte Thomas bescheiden. »Entschuldigen Sie, Herr Oberst, aber wenn die Rote Armee mir gerade eines kaputtgemacht hat, muß ich doch sehen, wie ich weiterkomme.«
»Wocher Sie kennen dieses armenische Schwein?«
»Dieses armenische Schwein habe ich in Zwickau kennengelernt, Herr Oberst.«
In der Tat war Herr Reuben Achazian klein, fett, mit Haifischaugen und kleinem Schnurrbart im »Hotel zum Hirschen« erschienen, als Thomas an diesem Morgen gerade beim Frühstück saß. Ohne Umschweife war Herr Achazian zur Sache gekommen: »Passen Sie auf, lassen Sie mich reden, unterbrechen Sie mich nicht, ich habe es eilig, Sie auch; ich weiß, wer Sie sind .«
»Woher?«
»Reuben Achazian weiß alles. Nicht unterbrechen. Ich habe hier Schwierigkeiten. Mit den Russen. Bin ganz ehrlich: Habe in einer recht großen HO-Schiebung mitgemacht. Sie lassen mich nicht arbeiten.«
»Hören Sie mal, Herr Achazian …«
»Pst. Helfen Sie mir rüber in den Westen, und ich mache Sie zum reichen Mann. Schon mal was von der ZVG gehört?«
»Na klar.«
Die ZVG, die »Zentrale Verwertungs-Gesellschaft«, hatte ihren Sitz in Wiesbaden und war von den Amerikanern eingerichtet worden. In riesenhaften Lagern sammelte die ZVG die an Wert in Millionen Dollar gehende Nachsaat des Großen Krieges: Waffen und Munition, Lokomotiven und Lastkraftwagen, Verbandstoff, Schrott, Holz, Stahl, ganze Brückenkonstruktionen, Medikamente, Flugzeuge und Stoffe. Die Verwaltung der ZVG war Deutschen übertragen worden. Aber sie durften nur an Ausländer verkaufen – das war die Bedingung der Amerikaner!
»… die ZVG darf nur an Ausländer verkaufen«, sprach darum wieselflink Herr Reuben Achazian zu Thomas Lieven, »nicht an Deutsche. Ich bin Ausländer! An mich darf die ZVG verkaufen! Ich habe einen Vetter in London, der schießt uns Geld vor. Wir gründen eine Handelsfirma, Sie und ich. Ich mache Sie zum Millionär in einem Jahr – wenn Sie mir in den Westen helfen.«
»Darüber, Herr Achazian«, antwortete Thomas Lieven, »muß ich einmal nachdenken.«
Thomas hatte darüber nachgedacht. Nun, bei einem üppigen Mittagessen in einer beschlagnahmten Nazi-Villa in Zwickau sagte er darum zu dem sowjetischen Stadtkommandanten Wassili Melanin: »Lassen Sie Herrn Achazian mit mir reisen, und Sie bekommen die Pläne.«
»Herr Achazian bleibt chier. Ich bekomme die Pläne trotzdem.«
»Hören Sie, ich habe Herrn Marek – Sie kennen diesen tschechischen Agenten natürlich – beim amerikanischen CIC in Hof zurückgelassen. Der Mann bleibt in Haft, wenn ich nicht zurückkomme und ihn auslöse.«
»Na, wenn schon. Bricht mir mein Cherz. Sie geben Pläne, oder Sie bleiben auch chier!«
»Na, schön, dann bleibe ich auch hier«, sagte Thomas.
10
Am 1. Juni 1947 trafen die Herren Thomas Lieven, Bastian Fabre und Reuben Achazian müde, aber wohlbehalten in München ein. Sie fuhren sogleich zu jener Villa in Grünwald hinaus, die Thomas gehörte. Er hatte noch ein paarmal mit Oberst Melanin essen und sehr oft mit Oberst Melanin trinken müssen, bevor es ihm gelungen war, diesen Herrn umzustimmen. Zuletzt waren sie sogar als Freunde geschieden. Nur die Pläne, die Pläne waren jetzt natürlich in Zwickau …
Die drei Herren weilten nur wenige Tage in der bayerischen Landeshauptstadt. Thomas erklärte Bastian: »Wir haben die Pläne an Engländer, Franzosen und Russen weitergegeben. Sie werden bald herausbekommen, daß wir sie hereingelegt haben. Wir nehmen uns andere Namen und gehen für eine Weile nach Wiesbaden.«
»Ist recht, mein Alter. Wenn mir bloß dieser Achazian nicht so widerlich wäre. Das ist doch ein richtiger Schieber, der jetzt auch noch Waffen und Munition verkaufen will!«
»Er wird es nicht tun«, sagte Thomas. »Laß uns erst mal nach Wiesbaden kommen. Herr Achazian wird überrascht sein.«
Weil wir gerade von Überraschungen sprechen: Am Abend bevor die drei Herren München verließen, tranken sie noch ein bißchen Wein. Da klingelte es – gegen halb acht Uhr abends. Bastian ging, um zu öffnen. Wachsbleich kam er zurück. Er konnte nur stottern: »Ko-ko-komm doch mal, bitte!«
Thomas ging in die Diele hinaus. Als er sah, wer in der Diele stand, mußte er die Augen schließen und sich am Türbalken festhalten.
»Nein«, sagte er, »nein!«
»Doch«, sagte die weizenblonde, wunderschöne Gemahlin des Obersten Melanin aus Zwickau, »doch, doch, ich bin es.«
Sie war es. Da stand sie. Mit einem Riesenkoffer. Jung und gesund.
»Wie … wie bist du … wie sind Sie herübergekommen?«
»Geflohen. Mit einer ganzen Gruppe. Ich bin ein politischer Flüchtling. Es ist mir Asylrecht gewährt worden. Und ich will bei dir bleiben. Und mit dir gehen, wohin du gehst.«
»Nein.«
»Ja. Und wenn du mich nicht bei dir läßt – dann gehe ich in meinem Schmerz sofort zur Polizei und erzähle ihr, daß du meinem Mann Pläne gebracht hast … und was ich noch alles über dich weiß …«
»Aber warum – aber warum willst du mich verraten?«
»Weil ich dich liebe«, hatte sie die Stirn zu behaupten …
Andererseits ist der Mensch ein Gewohnheitstier.
Zwei Monate später, im August 1947, äußerte Thomas Lieven in einer Riesenwohnung, die er mit den Herren Bastian Fabre und Reuben Achazian in der Parkstraße zu Wiesbaden zum Arbeiten und Leben gemietet hatte:
»Ich weiß gar nicht, was ihr gegen Dunja habt. Sie ist charmant. Sie kocht für euch. Sie ist fleißig. Ich finde sie hinreißend.«
»Aber sie beansprucht dich zu sehr«, sagte Bastian. »Schau dir doch nur mal deine Finger an. Wie die zittern!«
»Quatsch«, sagte Thomas – ohne Überzeugung, denn ein wenig anstrengend fand er seine neue Freundin doch. Dunja wohnte in einem möblierten Zimmer in der Nähe, sie kam auch gar nicht jeden Abend, aber wenn sie kam –. In seinen wenigen freien Minuten gedachte Thomas oft des Obersten Melanin. Er konnte gut verstehen, daß der es nie zum General gebracht hatte!
In Wiesbaden nannte Thomas Lieven sich Ernst Heller – mit entsprechend falschen Papieren natürlich. Auf den Namen seines ausländischen Mitarbeiters hatte er die »Offene Handelsgesellschaft Achazian« gegründet. Dieses Unternehmen kaufte gewaltige Mengen der verschiedensten Güter auf und stapelte sie in den Lagern der ZVG vor der zerstörten Stadt.
Nicht nur früherer Besitz der Deutschen Wehrmacht lag in den riesigen Depots der ZVG, auch Jeeps, Trucks und Vorräte der amerikanischen Armee gab es da zu kaufen – Material, das veraltet war oder dessen Rücktransport nach Amerika zuviel gekostet hätte.
Thomas erklärte seinen Freunden: »Mit Amerika können wir keine Geschäfte machen, dazu haben wir alle eine zu dunkle Vergangenheit. Wir müssen uns schon an andere Länder halten, und zwar an kriegführende, denn diese dürfen bei der ZVG nicht kaufen. Das ist verboten.«
»Ich habe einen Herrn Aristoteles Pangalos als Vertreter griechischer Partisanen an der Hand und einen Herrn Ho Irawadi aus Indochina«, sagte Reuben Achazian.
»Aber ihr könnt den Kerlen doch keine Waffen verkaufen!« entsetzte sich Bastian.
Da hielt Thomas Lieven eine kleine Grundsatzrede: »Wenn wir ihnen keine Waffen verkaufen, werden es andere tun. Darum werden wir es tun – aber die Herren werden keine Freude an den Waffen haben.«
»Ich verstehe kein Wort.«
»Laß mich reden! Vor Mainz habe ich eine leere Fabrikhalle gemietet. Wir werden das Pulver aus der Munition herausholen und es durch Sägemehl ersetzen. Die Maschinenpistolen sind in Kisten mit bestimmten Brandschriftzeichen verpackt, vernagelt und plombiert. Ich habe eine Tischlerei gefunden, die uns genau dieselben Kisten mit genau derselben Brandschrift herstellen wird. Auch Plomben kann man nachmachen. Und Schmierseife wird den Kisten das rechte Gewicht geben …«
»Und was geschieht mit dem Pulver und den Maschinenpistolen?«
»Die Ware wird über Hamburg verschifft«, sagte Thomas. »Vor Hamburg ist das Wasser tief. Brauche ich noch weiterzusprechen?«
Dieser August 1947 (103. Lebensmittelkartenperiode) brachte Wiesbaden den absoluten Tiefpunkt der Versorgungslage. Die Kalorienzahl sank auf 800. Die Kartoffelnot wurde immer ärger. Nur noch Krankenhäuser und Lager erhielten Zuteilungen. An Nährmitteln standen fast ausschließlich die wegen ihres bitteren Geschmacks unbeliebten Maiserzeugnisse zur Verfügung. Die Fettbelieferung mußte von 200 auf 150 Gramm herabgesetzt werden. An Zucker wurde je ein halbes Pfund weißer und ein halbes Pfund gelber ausgegeben. Vier Eier zusätzlich gab es für den »wegen der großen Trockenheit denkbar schlechten Anfall von Obst und Gemüse«. Die Milchversorgung brach völlig zusammen. Zwei Drittel der Erwachsenen von Wiesbaden erhielten keine Zuteilungen mehr.
Merke: Ein fürchterlicher Krieg ist noch lange nicht zu Ende, wenn man ihn verloren hat …
11
Als erstes verkaufte die »Offene Handelsgesellschaft Achazian« den Herren Pangalos und Ho Irawadi je 2000 Kilogramm des Malariamittels Atebrin aus den Beständen der Deutschen Wehrmacht. Auf den Packungen gab es noch den deutschen Adler mit dem Hakenkreuz. Der mußte weg! Mit Lastern karrten Thomas und seine Partner das Atebrin in eine pharmazeutische Fabrik. Hier wurde es umgepackt. Nun konnte es verschifft werden.
Was beim Atebrin ein Kinderspiel war, erwies sich in einem anderen Fall zunächst als schier unlösbares Problem. Herr Pangalos und Herr Ho Irawadi wollten Tropenhelme kaufen. Jeweils 30 000 Stück. Da waren die Helme! Mit Hakenkreuzen darauf. So gut eingearbeitet, daß sie nicht zu entfernen waren. Unter solchen Umständen sahen sich die Herren natürlich gezwungen, von einem Kauf Abstand zu nehmen.
Was machen wir bloß mit den Sch…helmen, grübelte Thomas. Er grübelte tagelang. Dann hatte er die rettende Idee! In den Helmen gab es herrliche Schweißbänder. Völlig neu, prima Qualität. In der ganzen deutschen Hutindustrie gab es kein einziges Schweißbandleder mehr.
Thomas setzte sich mit den führenden Männern der Branche in Verbindung. Plötzlich gingen die Tropenhelme weg wie warme Semmeln!
Mehr, weit mehr verdiente die »Offene Handelsgesellschaft Achazian« an dem Verkauf der Bänder, als sie an dem Verkauf der Helme verdient hätte. Und Thomas war es gelungen, die deutsche Nachkriegs-Hutindustrie anzukurbeln.
Trotzdem, er hatte Sorgen – keine geschäftlichen. Thomas fühlte, wie Dunja an ihm zehrte, mehr und mehr. Sie machte ihm Szenen. Aus Liebe. Aus Eifersucht. Sie war aufregend und anstrengend. Thomas stritt und versöhnte sich mit ihr. Es war die verrückteste Zeit seines Lebens.
Bastian machte sich auch Sorgen. »Das kann nicht so weitergehen, mein Junge. Du ruinierst dich mit der Dame.«
»Was soll ich tun? Ich kann sie nicht rausschmeißen. Sie geht nicht.«
»Sie wird schon gehen!«
»Ja, zur Polizei.«
»Verflucht«, sagte Bastian. »Aber du mußt dir doch irgendwelche Gedanken über die Zukunft machen, Mensch!«
»Mache ich mir ja, mache ich mir dauernd. Das hier läuft ohnehin nicht mehr lange gut. Dann müssen wir weg. Es wird ganz plötzlich gehen, verstehst du – zu plötzlich für Dunja …«
»Na, ich weiß nicht«, sagte Bastian.
Dann verkauften sie an Griechen und Indochinesen Kugellager. Und Trucks. Und Jeeps. Und Pflüge. Und anderes landwirtschaftliches Gerät. »Damit können sie keinen Unfug anrichten«, sagte Thomas Lieven, aus den Fenstern seines Büros über die trostlosen Schutt- und Ruinengebirge Wiesbadens blickend.
Die Stadt sah aus, als ob sie sich niemals mehr erheben wollte. Vor dem Krieg hatten hier nur reiche Leute gelebt. Jetzt war Wiesbaden eine Stadt der armen Rentner, die in Trümmern hausten. Die »Gesamttrümmermasse« wurde später offiziell mit 600 000 Kubikmetern festgelegt. Bis zur Währungsreform gab Wiesbaden für die Beseitigung von Schutt und Trümmern 3,36 Millionen R-Mark aus. Arbeiter und »Trümmerfrauen« schufteten Schulter an Schulter mit den anderen Bürgern der Stadt, die turnusmäßig Dienst taten. Auch Thomas Lieven, Bastian Fabre und Reuben Achazian buddelten tagelang im Dreck. Sie empfanden es als eine Art Ausgleichssport zu ihrer sonstigen Tätigkeit.
Im Herbst 1947 kamen sie darauf, daß man aus jeweils einem amerikanischen Schlafsack ein Paar Hosen schneidern konnte. Sie hatten 40 000 amerikanische Schlafsäcke. Anzugfabriken in Süddeutschland erinnern sich heute noch an jene Flut von Material und Aufträgen, die im November 1947 über sie hereinbrach …
Im Frühling des Jahres 1948 drehten sie dann, als Abschluß, ihre Munitionsgeschäfte. Die Munition hatten sie bis zu diesem Zeitpunkt »vorbehandeln« lassen. Nun wurde sie verschifft, ebenso wie die mit Schmierseife gefüllten Kisten, in denen angeblich Maschinenpistolen lagen.
Die Schiffe mit Ladungen für Griechenland und Indochina stachen in See. Sie werden eine gute Weile unterwegs sein, dachte Thomas. Er konnte in aller Ruhe darangehen, seine Büros in Wiesbaden zu schließen – etwa zur selben Zeit, da verschiedene Filmfirmen ihre Büros in der Stadt eröffneten.
Die Filme, die in Wiesbaden gedreht wurden, hatten alle die unverfänglich-belanglosen, trostlos-munteren oder garantiert unverfänglichen Themen und Titel der deutschen Umerziehungsperiode, zum Beispiel »Wenn eine Frau liebt«, »Hochzeitsnacht im Paradies«, »Der Tiger Akbar« und »Die tödlichen Träume« …
»Jetzt wird es langsam Zeit für uns, abzuhauen, alter Junge«, sagte Thomas am 14. Mai 1948 zu Bastian.
»Was glaubst du, was die Griechen und Indochinesen machen werden, wenn sie draufkommen, was passiert ist?«
»Sie werden uns umlegen, wenn sie uns erwischen«, sagte Thomas Lieven.
Die Waffenkäufer erwischten Thomas und Bastian nicht. An ihrer Stelle erwischten fremde Agenten in der Bundesrepublik, wie erinnerlich, in den Jahren 1948 bis 1956 ein paar »echte« Waffenhändler. Sie legten ihnen Zeitbomben in die Autos. Oder sie schossen sie auf offener Straße zusammen.
Philosophisch meinte Thomas Lieven bei einer dieser makabren Gelegenheiten: »Wer Gewalt liefert, kommt gewaltsam um. Wir haben Schmierseife geliefert. Wir leben …«
Das war, wie gesagt, zu einem späteren Zeitpunkt. Am 14. Mai 1948 hatte Thomas eine kurze Weile lang urplötzlich doch die Befürchtung, ein gewaltsames Ende könne ihn ereilen. Und zwar, als es gegen Mittag klingelte. Bastian ging öffnen. Er kehrte wachsbleich zurück. »Zwei Herren von der sowjetischen Militärkommission.«
»Allmächtiger Vater!« sagte Thomas. Da kamen sie schon herein. Ernst und schwer. Trotz der Wärme noch in Ledermänteln. Thomas war es plötzlich sehr heiß. Dann war ihm plötzlich sehr kalt.
Aus. Es ist aus. Sie haben mich gefunden.
»Gutten Taggg«, sagte der eine Sowjetmensch. »Cherrr Chellerrr?«
»Ja.«
»Wirrr suchen Frau Dunja Melanin. Man sagt uns, sie sein mit Ihnen.«
»Nun, hm, äh …« Thomas fing sich. »Zufällig ist die Dame anwesend.«
»Gestatten, daß wirrr mit ihrrr sprechen? Allein sprechen?«
»Aber bitte«, sagte Thomas. Er führte die beiden in ein Zimmer, in dem Dunja sich gerade manikürte.
Nach zehn Minuten gingen die Herren in den Ledermänteln bereits wieder – ernst und verschlossen.
Bastian und Thomas stürzten zu Dunja. »Was war los?«
Mit einem Jubelschrei flog die blonde Schönheit Thomas an den Hals und warf ihn fast über den Haufen.
»Das ist der glücklichste Tag meines Lebens!« Kuß. »Du mein Herz!« Kuß. »Du mein Einziger!« Kuß. »Wir können heiraten!«
Bastian fiel der Unterkiefer herab.
Thomas stammelte: »Wir können was?«
»Heiraten!!!«
»Aber du bist doch verheiratet, Dunja!«
»Nicht mehr! Seit zwei Minuten nicht mehr! Die Herren forderten mich auf, sofort heimzukehren. Im Namen eines sowjetischen Scheidungsgerichts, bei dem mein Mann eine Klage führt. Ich lehnte ab heimzukehren. Da sagten die Herren: ›Dann ist Ihre Ehe von Stunde an geschieden!‹ Hier, bitte, die Urkunde!«
»Ich kann nicht Russisch lesen«, murmelte Thomas, um den sich alles drehte. Er sah die strahlende Dunja an. Er sah den wachsbleichen Bastian an.
Na, dann gesegnete Mahlzeit, dachte er. Und die Schiffe mit der Sägemehlmunition und der Schmierseife sind auf hoher See.
Hilf, Himmel!
12
Das beste wird sein, ich nehme einen Strick und schieße mich damit tot, überlegte Thomas Lieven melancholisch. Wie soll ich jemals aus dem ganzen Schlamassel herauskommen? Bedrückt und beklommen schlich er in diesen Tagen herum. Als er in der Nacht zum 18. Mai von einem Besuch in Dunjas möbliertem Zimmer nach Hause kam, schleppte er sich ächzend zum Badezimmer und riß in seiner Nervosität die kleine Hausapotheke von der Wand. Donnernd krachte sie auf den Boden.
Schlaftrunken kam Bastian Fabre aus seinem Zimmer gestolpert: »Mensch, was ist denn los?«
»Brom …« stöhnte unser Freund. »Ich brauche Brom, ich muß mich beruhigen …«
»Kommst du von Dunja?«
»Ja. Stell dir vor – sie hat schon unser Aufgebot bestellt. Du bist einer von den Trauzeugen. Die Sache soll in vier Wochen steigen. Und sie will Kinder. Fünf! So schnell wie möglich … Bastian, ich bin verloren, wenn nicht sofort etwas geschieht – sofort, hörst du?«
»Hab’s gehört. Na, trink erst mal das da. Ich habe eine Idee. Vielleicht funktioniert sie. Aber dazu mußt du mir zwei bis drei Tage freigeben.«
»Laß dir Zeit, mein Alter«, sagte Thomas Lieven. Bastian verschwand. Als er nach sechs Tagen wiederkehrte, war er ungemein schweigsam.
»Mensch, mach doch mal das Maul auf!« drängte der verzagte Verlobte. »Hast du was erreicht?«
»Man wird sehen«, antwortete Bastian.
Das war am 25. Mai. An diesem Tag hörte Thomas nichts von Dunja, und auch nichts am folgenden. Als er sie abends besuchen wollte, war sie nicht zu Hause.
Am 27. Mai um 18 Uhr 15 schrillte in seiner Wohnung das Telefon. Er hob ab und hörte zunächst nur ein gewaltiges Getön und Brausen, Stimmen und Motorengeräusche.
Dann vernahm er plötzlich Dunjas Stimme, tränenerstickt, verzweifelt: »Mein Herz – mein Geliebter …«
»Dunja!« schrie er. »Wo bist du?«
»In Frankfurt – auf dem Flughafen – in der Militärpolizeistation …«
»Militärpolizeistation?«
Aufschluchzen in Frankfurt. Dann: »Ich fliege nach Amerika, mein Guter …«
Thomas plumpste in einen Sessel. »Du – was?«
»Meine Maschine startet in zehn Minuten … Ach, ich bin ja so unglücklich … Aber es geht um mein Leben. Sie bringen mich um, wenn ich hierbleibe …«
»Bringen dich um«, wiederholte Thomas blödsinnig. Summend kam Bastian ins Zimmer, ging zu einer Wandbar und machte sich einen kleinen Whisky. Indessen hörte Thomas die Stimme Dunjas: »Sie haben mir Drohbriefe geschrieben – sie haben mich überfallen, fast erwürgt – sie haben gesagt, sie werden mich umbringen, weil ich nicht heimgekehrt bin – die Amerikaner sagen es auch!«
»Die Amerikaner auch?«
»Nicht doch so, wie du meinst!« rief die Stimme aus Frankfurt hysterisch. »Ich werde im Auftrag des State Departments nach Amerika geflogen – in Sicherheit … Mein Mann ist doch ein Sowjetgeneral, vergiß das nicht …«
»Dunja, warum hast du mir nichts von all dem erzählt?«
»Ich wollte dich nicht in Gefahr bringen. Ich durfte auch mit niemandem sprechen …« Sie redete rasend schnell. Thomas wurde es schwindlig.
Von Liebe und Wiedersehen sprach Dunja, von ewiger Treue und ewiger Verbundenheit, über Ozeane hinweg. Und zuletzt: »… ich muß aufhören, Geliebter. Meine Maschine wartet auf mich … Leb wohl …«
»Leb wohl«, sagte Thomas. Dann war die Verbindung unterbrochen. Thomas legte den Hörer auf die Gabel.
Er starrte Bastian an und beleckte die Lippen. »Gib mir auch einen. Aber schnell. Das ist dein Werk – ja?«
Bastian nickte. »War übrigens gar nicht so schwer, mein Kleiner«, sagte er.
Nein, so schwer war es wirklich nicht gewesen, nachdem Bastian herausbekommen hatte, daß es in der Nähe von Nürnberg ein riesiges Ausländerlager gab. »Valka-Lager« hieß es. Dorthin war der treue Freund gefahren …
In der trostlosen Umgebung des trostlosen Lagers existierten viele Kneipen. Am dritten Abend fand Bastian zwei Herren, die bereit waren, zu durchaus zivilen Preisen einige Drohbriefe in russischer Sprache abzufassen. Weiterhin waren sie willens, nach Wiesbaden zu kommen und daselbst einen kleinen Einbruch zu inszenieren, eine Dame ein bißchen zu würgen und gewaltig zu erschrecken …
»… umgehend trat die Reaktion ein«, berichtete Bastian nun händereibend seinem Freund.
»Bastian!« schrie Thomas ihn an.
»Es war ein garantiert ungefährliches Würgen. Ich habe dem Iwan vorher eingeschärft, daß ihr nichts Ernsthaftes geschehen dürfe!«
»Schnell noch einen, pur!« stöhnte Thomas.
»Gerne. Ich gebe zu, die Methode war nicht fein …«
»Barbarisch war sie!«
»… aber du liegst mir doch am Herzen, mein Alter. Und ich habe dich immer mit fünf Kindern gesehen … Kannst du mir verzeihen?«
Später an diesem Abend unterhielten sie sich über ihre Zukunft. Und Thomas kam auf ein neues Geschäft zu sprechen. »Wir haben hier eine Menge Geld gemacht. Das Geld müssen wir jetzt anlegen – und zwar schnell.«
»Warum schnell?«
»Ich habe da etwas gehört – glaub mir, es muß schnell gehen. Wir werden Autos kaufen. Amerikanische Pontiacs, Cadillacs und so weiter.«
Thomas erwärmte sich über seinem Thema. Für einen Dollar, erklärte er, mußte man im Moment etwa 200 R-Mark bezahlen. Nun, sie hatten Geld genug! Natürlich bekam man als Deutscher keine Einfuhrlizenz für amerikanische Autos. Sei’s drum! Thomas hatte da einen kleinen Angestellten der amerikanischen Militärregierung kennengelernt. Der schied eben aus dem aktiven Dienst aus. Jackson Taylor hieß der Herr. Er würde eine Einfuhrlizenz bekommen.
»Mr. Taylor gründet pro forma ein Autogeschäft in Hamburg und verkauft die Karren – für uns.«
»An wen? Hat doch kein Mensch Penunze hier!«
»Das wird sich bald ändern.«
»Wie viele Autos willste denn kaufen?«
»Na, so an die hundert!«
»Jesus! Und gleich rüberkommen lassen?«
»Ja. Nein. Ich will sie kaufen und rüberkommen lassen. Aber vielleicht nicht gleich.«
»Sondern wann?«
»Das hängt davon ab, wann das Ding steigt.«
»Was für ein Ding?«
Thomas sagte ihm, was für ein Ding …
13
Am 10. Juni 1948 lief die »Olivia« aus dem Hafen von New York aus. Am 17. Juni befand sich das Schiff mit einer Ladung von 100 amerikanischen Automobilen auf einer Position von 15 Grad 15 Minuten westlicher Länge und 48 Grad 30 Minuten nördlicher Breite vor der Westküste Frankreichs. An diesem Tag erhielt der Kapitän folgenden chiffrierten Funkspruch:
norddeichradio – 17 juni 48 – 15.43 uhr – von reederei schwertmann hamburg an captain hannes dröge – im namen des cargo owners fordern wir sie auf ihre jetzige position bis auf weiteres beizubehalten und deutsche hoheitsgewässer vorläufig nicht anzulaufen – halten sie den funkverkehr mit uns aufrecht – sie bekommen neue weisungen – ende
Daraufhin kreuzte die »Olivia« drei Tage und drei Nächte lang in dem erwähnten Seegebiet. Die Besatzung richtete einen Turnusdienst ein, pokerte und soff. Immer wieder ließ man den unbekannten »Cargo Owner« hochleben.
Am 20. Juni erreichte den angeheiterten Ersten Funker dieses chiffrierte Kabel:
norddeichradio – 20 juni 48 – 11.23 uhr – von reederei schwertmann hamburg an captain hannes dröge – im namen des cargo owners fordern wir sie nun auf unverzüglich hafen hamburg anzulaufen – ende
Während der Erste Funker das Kabel für den angeheiterten Captain dechiffrierte, hörte der angeheiterte Zweite Funker eine Nachrichtensendung von Radio London ab. Er nahm den Kopfhörer von den Ohren und sagte: »Da haben sie heute bei uns in Deutschland eine radikale Währungsreform bekanntgegeben. Das alte Geld ist nichts mehr wert. Nur 40 Mark pro Nase werden umgetauscht.«
»Das geht nie gut«, unkte der Zweite Funker.
»Mensch, mein Erspartes«, sagte der Captain.
»Reich ist jetzt derjenige, der Ware hat«, sagte der Erste Funker.
Dem Zweiten Funker stand der Mund offen: »Junge, Junge, unser Cargo Owner hat jetzt einhundert Autos!«
Der Captain nickte schwermütig: »So ein Ding müßte mal unsereiner drehen. Ein gerissener Hund. Wüßte gern, wer das ist!« Lieber Captain Hannes Dröge, vielleicht lesen Sie zufällig diese Zeilen. Dann wissen Sie es jetzt also …
14
Am 10. März 1948 hatte der tschechische Außenminister Masaryk Selbstmord begangen, und Benesch war verhaftet worden.
Am 18. April waren die neuen Lebensmittelrationen für die Vereinigten Westzonen bekanntgegeben worden. In vier Wochen erhielt der deutsche Normalverbraucher: 400 Gramm Fett, 100 Gramm Fleisch, 62,5 Gramm Trockenei und 1475 Gramm Nährmittel.
Am 21. Juli kam es auf dem Gelände der »I.G. Farben« in Ludwigshafen zu einer grauenvollen Explosion, die 124 Todesopfer forderte.
Anfang August trafen Thomas Lieven und sein Freund Bastian Fabre in einer kleinen Stadt in Franken ein. Wie Thomas Bastian erläuterte:
»Zuerst wollte ich ja lieber nach Südamerika. Aber jetzt ist mir in Wiesbaden ein alter Freund über den Weg gelaufen, dieser Erich Werthe. Bei dem können wir besser untertauchen als irgendwo anders. Bei dem findet uns kein Mensch. Solange das Autogeschäft noch läuft, bleibe ich auch lieber in Deutschland. Zumal ich mir letzthin einige Altaktien gekauft habe. Mal sehen, ob die nicht raufklettern …«
Die Laune des Zufalls hatte Thomas in Wiesbaden ein Wiedersehen mit dem schlanken, großen Exoberst Werthe von der Abwehr Paris beschert. Auf der Straße waren sie buchstäblich ineinander hineingelaufen. Der alte, weißhaarige Berufsoffizier bekam feuchte Augen. »Mensch, Lieven, die Freude!«
»Pst! Nicht so laut, Herr Werthe. Ich heiße hier gerade Heller.«
Werthe mußte grinsen. »Noch immer auf krummen Touren?«
»Was heißt noch immer? Jedesmal, wenn ich es auf die gerade Tour versuche, bekomme ich eine über den Schädel. Ich bin schon ganz rammdösig. Und Sie? Was machen Sie?«
»Ach, eigentlich gar nichts. Ich sitze auf meinem kleinen Weingut in Franken. Es gehört meiner Frau. Sie müssen uns besuchen. Ich bestehe darauf! Wann Sie wollen. Solange Sie wollen! Sie haben mich ja schließlich aus dem verdammten Lager herausgeholt …«
Tja, und nun waren sie also unterwegs zu ihm, die Herren Thomas Lieven und Bastian Fabre. In einem unauffälligen Vorkriegsauto schaukelten sie südwärts, hinab ins schöne Frankenland, einem Weingut entgegen – und einem neuen Abenteuer …
Das Weingut Erich Werthes lag auf sanften, sonnendurchglühten Hügeln über einer kleinen Stadt, die als Wallfahrtsort Berühmtheit erlangt hatte. Ein idyllischer Fluß durchquerte das gesegnete Rebental. Vor der Stadt erhob sich ein hoher Granitfelsen. Auf ihm stand das mächtige Stift, das eine wundertätige Madonna beherbergte.
Einer der ersten Männer, die Thomas in der kleinen Stadt kennenlernte, war denn auch der Abt des Stiftes, Waldemar Langauer: ein wahrhaft imponierender geistlicher Würdenträger mit schlohweißem Haar, sonnengebräunter Haut und blitzenden Augen.
Erich Werthe machte Thomas mit ihm bekannt. Die beiden Männer fanden sofort Kontakt miteinander. Waldemar Langauer zeigte Thomas die herrliche Stiftsbibliothek. Dann erzählte er von seinen Sorgen. Die Stadt war überfüllt mit Flüchtlingen, die Essen, Kleidung, Unterkunft brauchten – aber woher nehmen? Es fehlte an allem. Ein Lächeln verschönte des Abts Gesicht: »In solchen Zeiten lernt man die Menschen kennen, Herr Lieven. Da wächst manchmal einer über sich selber hinaus … Wir haben so einen Menschen in unserer kleinen Stadt.«
»In der Tat?«
»Herbert Rebhahn heißt er. Weinhändler von Beruf. Früher hörte man oft sehr, nun, sehr weltliche Dinge von ihm, Sie verstehen … aber seit Kriegsende ist dieser Mensch wie verwandelt! Kein Sonntagsgottesdienst, den er versäumt! Kein gutes Werk, das er nicht tut! Tausende und aber Tausende von Mark hat er uns für die armen Flüchtlinge zur Verfügung gestellt …«
Solcherart hörte Thomas zum erstenmal von dem Weinhändler und Menschenfreund Herbert Rebhahn. Am selben Tag hörte er übrigens noch einmal von ihm: in Erich Werthes Haus, beim Abendessen, das die hübsche, aber sehr schmale und blasse Frau des Exabwehroffiziers zubereitet hatte.
Werthe sagte: »Hören Sie mal, Lieven, Sie haben doch damals in Paris für mich so einen phantastischen Zwiebelkuchen gebacken. Würden Sie das morgen wohl noch einmal tun? Wir bekommen Gäste.«
»Aber mit Vergnügen«, sagte Thomas.
»Es sind ein paar Freunde, die da kommen. Ich bin ihnen eine Einladung schuldig – nach allem, was sie für mich getan haben. Besonders Herbert Rebhahn.«
Herbert Rebhahn – da war der Name wieder! »Dieser Herr scheint unentwegt Gutes zu tun«, sagte Thomas.
»Keine Witze bitte!« Werthe sprach sehr ernst: »Ohne Herrn Rebhahn, ohne den Polizeipräsidenten Katting und ohne den Fürsten von Welkow hätte ich mich schon lange aufhängen müssen.«
Leise und erschrocken fragte Thomas: »Es geht Ihnen nicht gut, Herr Werthe?«
»Nicht gut? Verzeih das Wort, Luise – beschissen geht es uns! Sehen Sie mal, ich habe hier ein Weingut und eine Weinhandlung. Der Wein aus dem Gut bleibt bei mir liegen. Und die Amerikaner geben mir keine Einfuhrlizenzen. Also ist auch das gute Geschäft, das wir früher mit ausländischen Weinen hatten, ruiniert …«
Menu • Franken, 14. August 1948
An Thomas Lievens Rezept verschlucken sich
drei Galgenvögel.
Süddeutscher Zwiebelkuchen
Kalbsvögel mit Kartoffelpüree
Gefüllte Äpfel
Zwiebelkuchen: Man nehme ungesüßten Mürbeteig oder feinen Hefeteig, rolle ihn dünn aus und lege eine große Tortenspringform damit aus. – Man dämpfe eineinhalb bis zwei Pfund Zwiebelringe in 150 Gramm Butter weich, so daß sie ganz hell bleiben. Man lasse sie abkühlen, gebe drei bis vier ganze Eier, mit einigen Eßlöffeln dicker saurer Sahne verquirlt, eine Prise Kümmel und Salz dazu. – Man fülle die Masse in die Form, lege einen Teigrand auf und lasse den Kuchen im Ofen zu goldgelber Farbe backen, gebe ihn heiß zu Tisch.
Kalbsvögel: Man nehme Kalbsschnitzel, klopfe sie gut, salze und pfeffere sie auf einer Seite. Man belege diese Seite mit etwas feingehacktem, fettem Speck, Zwiebeln und Petersilie, rolle die Schnitzel zusammen und umbinde die Röllchen mit Faden. – Man brate die Röllchen in Butter hellgelb an, gieße saure Sahne, mit einem halben Teelöffel Maizena verrührt, dazu, lasse langsam weich schmoren, schmecke mit Salz und Pfeffer ab. – Man reiche Kartoffelpüree und grünen Salat dazu.
Gefüllte Äpfel: Man nehme Äpfel von einer mürben, nicht zu süßen Sorte, schäle sie, höhle sie vorsichtig aus, ohne die Stielseite zu verletzen. – Man stelle sie auf diese Seite in eine gut gebutterte Auflaufform, fülle in die Höhlung je einen Kaffeelöffel Zucker, Korinthen und Johannisbeergelee. Man gebe auf jeden Apfel eine Butterflocke und lasse im Ofen backen, bis die Äpfel weich sind.
Bastian kratzte sich den Schädel und sagte in seinem französisch akzentuierten Deutsch: »Isch verstehen das nicht. Isch denken, in Deutschland es gibt nichts zu kaufen. Sie ’aben gute Wein. Wieso Sie können ihn nicht loswerden?«
»Ich weiß es nicht, ich weiß es wirklich nicht …«
15
»Bevor wir beginnen«, sprach Herbert Rebhahn, »lasset uns beten!« Er faltete die rosigen, fetten Händchen und senkte den rosigen, dicken Kopf mit den blonden Haaren, den blonden Augenbrauen und dem blonden Bärtchen am Kinn. Der Polizeipräsident Katting, der Fürst von Welkow, Erich Werthe und seine Frau senkten desgleichen die Köpfe und falteten die Hände. Thomas sah Bastian an. Danach taten sie, was die anderen taten.
Der Fürst von Welkow war ein alter Mann, hager, hochmütig, pergamenthäutig und schweigsam. Der Polizeipräsident Wilhelm Katting sah aus wie ein vorsichtiger, korrekter Bankangestellter in mittlerer Gehaltslage. Nach dem stummen Gebet glitten die Äuglein des Menschenfreundes Rebhahn flink um den Tisch. »Ah, Zwiebelkuchen! Welche Delikatesse!« Er langte zu. Der vergilbte Fürst kaute vorsichtig, dann sagte er: »Wundervoll, der Kuchen. Wie meine Mutter ihn machte. Gratuliere, gnädige Frau.«
»Sie müssen Herrn Lieven gratulieren«, sagte Luise Werthe. »Er hat ihn gebacken.« Drei Augenpaare fühlte Thomas plötzlich auf sich ruhen, kühl, prüfend, ohne Sympathie. Der Polizeipräsident, der Fürst, der Philanthrop Rebhahn sahen ihn an – wie drei Kriminalkommissare einen verhafteten Verbrecher.
Thomas schmeckte sein eigener Zwiebelkuchen auf einmal nicht mehr. Er drehte den Bissen im Mund herum. Dieser Herr Rebhahn wurde ihm mit jeder Sekunde unsympathischer.
In seinem schwerfälligen, akzentuierten Deutsch sprach Bastian: »Wollen wir auch dafür danken, daß charmante Madame Werthe sein auf diese Welt und diese wundervolle Wein, mit dem isch stoße an nun auf sie! Messieurs!«
Alle hoben die Gläser und prosteten Luise Werthe zu, die errötete. Mit leichter Bitterkeit sagte sie: »Es war Gottes Wille, daß dieser Wein hier wachse. Ist es auch Gottes Wille, daß wir ihn nicht verkaufen können?«
Salbungsvoll sprach Rebhahn: »Eine Zeit der Prüfung ist es, die wir zu bestehen haben, liebe gnädige Frau. Wir alle. Geht es mir anders? Bleibt nicht auch mein Wein liegen?«
»Ich will ja gar nicht davon reden, daß wir auf unserm Wein sitzenbleiben«, sagte Luise Werthe. »Aber was ist das mit dem italienischen Wein? Ich meine: Das ist doch eine niederträchtige Schiebung! Das ist doch …«
»Luise, bitte!« sagte Werthe scharf. Gleichzeitig bemerkte Thomas Lieven, wie Rebhahn, der Fürst und der Polizeipräsident einen Blick wechselten. Schnell sah Thomas zu Bastian. Der hatte es auch gesehen. Zwiebelkuchen auf seine Gabel häufend, fragte Thomas harmlos: »Italienischer Wein, was ist denn damit?«
Wieder wechselten der Polizeipräsident, der Fürst und der Menschenfreund Rebhahn Blicke. Thomas dachte: Ist mein alter Freund Werthe denn blind? Solche Leute hält er für seine Freunde? Nicht begraben sein möchte ich mit diesen drei Brüdern!
Rebhahn sah Thomas aus strahlend blauen Augen an und antwortete mit fester Stimme: »Seit einem Jahr wird Deutschland überschwemmt mit abertausend Litern von billigen italienischen Weinen. Diese Weine ruinieren uns allen das Geschäft. Denn jedermann kauft natürlich sie und nicht unsere Produkte. Wo kommen diese Weine her? Das weiß niemand. Wer importiert sie? Niemand weiß es.«
»Moment mal«, sagte Thomas, »ich dachte, es gibt keine Einfuhrlizenzen für ausländische Weine – sagten Sie mir doch gestern, Herr Werthe.«
Der lachte freudlos: »Sagte ich, ja. Offiziell gibt es auch keine. In Frankfurt sitzt eine amerikanische Kommission, die JEIA. Sie allein erteilt Einfuhrlizenzen. Und für Wein erteilt sie keine. Angeblich jedenfalls.«
»Sie erteilt in der Tat keine, Herr Oberst«, sprach salbungsvoll der Flüchtlingsfreund und Paradechrist Rebhahn. »Wir wollen doch keine Verdächtigungen gegen aufrechte und unbestechliche amerikanische Offiziere aussprechen, nicht wahr?«
»Um Gottes willen!« sagte Werthe erschrocken. Thomas dachte: Armer Kerl, bist du schon so parterre?
In dieser Nacht fand auf einem Hügel über der kleinen Stadt folgendes Gespräch statt: »Hör mal, Bastian, alter Kumpel, ist dir dieser Rebhahn auch so zum Kotzen?«
»So zum Kotzen wie mir kann er dir überhaupt nicht sein! Na, und die beiden anderen Typen!«
»Armer alter Werthe – und diese Brüder haben ihm Geld geliehen – und diesen Gangstern ist er verpflichtet.«
»Ich muß mal eine kleine Frage an dich richten – darf ich?«
»Na los, Goldkind, richte!«
»Wenn er auch seinen Wein nicht losbringt und wenn er auch keine Einfuhrlizenzen für ausländische Weine bekommt – wieso geht es diesem Monsieur Rebhahn dann so gut, daß er Riesenbeträge für arme Flüchtlinge stiften kann?«
»Ja«, sagte Thomas Lieven, »das habe ich mir auch schon überlegt. Um dir diese Frage zu beantworten und – hoffentlich – meinem Freund Werthe helfen zu können, werde ich wohl für einige Zeit nach Italien fahren müssen …«
16
Am 10. September 1948 saß Thomas Lieven in der Kneipe des zwielichtigen Luigi in Neapel bei einem Topf voll Pasta asciutta und einer Flasche Rotwein. Er hatte Luigi, der aussah wie der Schauspieler Orson Welles, knapp nach Kriegsende kennen- und schätzengelernt, als er sich im Auftrag des französischen »Kriegsverbrecher-Suchdienstes« ein paar Tage hier aufhielt mit der Order, einen italienischen General zu verhaften.
Vor etwa drei Wochen war Thomas nun wieder in Neapel erschienen und hatte Luigi gebeten, einmal herumzuhören, wer in Norditalien Wein kaufte und bei wem und in welchen Mengen – und zwar für Deutschland bestimmten Wein.
Luigi berichtete: »Meine Kumpels waren in Bozen und in Meran und in Piave de Cadere und in Sarentino und in Bresanzone. Überall da oben wird seit einem Jahr Wein wie verrückt gekauft – Hunderttausende von Litern! Aber heimlich, ganz heimlich.«
»Und nach Deutschland geschmuggelt?«
»Ach woher, Junge! Richtig deklariert und mit der Bahn rübergefahren!«
»Es darf aber doch kein ausländischer Wein in Deutschland verkauft werden!«
»Dieser Wein wird ja in Deutschland auch nicht verkauft – angeblich.« Luigi rieb sich die Hände, schlug sich auf den Bauch und schrie vor Lachen: »Das ist Meßwein!«
»Meßwein?«
»Ja, Baby, ja. Meßwein! Ein Geschenk katholischer italienischer Bürger an die katholischen Kirchen in Deutschland! Geschenk! Verstehst du, wie genial der Trick ist?« Luigi konnte sich gar nicht beruhigen. »Geschenke fallen nicht unter die Importbestimmungen der Amerikaner! Mit Geschenken werden ja keine Geschäfte gemacht! Für Geschenke gibt es Einfuhrlizenzen bei der JEIA!« Thomas fühlte, wie ihm plötzlich kühl wurde. Er fragte leise: »Und wer ist der Empfänger in Deutschland?«
Luigi verschluckte sich vor Lachen: »Der Wein geht an die Adressen von drei Klöstern in Bayern. Aber eigentlicher Bestimmungsort und Empfänger ist in allen Fällen der Abt eines Stiftes, er heißt …«
»Waldemar Langauer«, sagte Thomas erstickt.
»Ja«, sagte Luigi, »woher weißt du das?«
Der Abt Waldemar Langauer – verstrickt in eine gigantische Weinschiebung? Thomas konnte es nicht fassen. Er hatte den Abt gesehen, er hatte mit ihm gesprochen. Er irrte sich nicht. Das war kein Mann, der schmutzige Sachen machte!
Aber was ging dann hier vor? Wer mißbrauchte den Namen des geistlichen Würdenträgers in so schamloser Weise?
Thomas fuhr nach Norditalien. Tagelang trieb er sich herum, bestach Eisenbahner, Zöllner, Transportarbeiter, sah die Einfuhrlizenzen der JEIA.
Thomas stellte fest, daß der deutsche Umschlagbahnhof für die Weintransporte ein Ort namens Rosenheim war. Er führte ein paar lange Telefongespräche. Daraufhin tauchte am 28. September auf dem Bahnhof von Rosenheim ein freundlicher Geselle mit roten Bürstenhaaren und Bärenkräften auf. Er nannte sich Gustave Aubert und wies Papiere auf diesen Namen vor. Er sah Bastian Fabre ähnlich wie aus dem Gesicht geschnitten. Und das war kein Wunder …
Der arbeitswillige Franzose – »Isch bin eine ehemalige Fremdarbeiter, die bleiben möchte in Deutschland, weil isch mich fühle wohl ’ier in Bayern!« – gewann sogleich die Sympathie der einheimischen Arbeiter. Er belud Lastautos. Mit Fässern voll italienischem Wein. Er lernte die Chauffeure dieser Lastautos kennen. Sie kamen nachts. Sie holten den italienischen Wein ab. Angeblich zu drei bayerischen Klöstern. Sie waren sehr wortkarg. Und verprügelten den Franzosen einmal, als er zu neugierig wurde. Er ließ sich – zum erstenmal in seinem Leben – verprügeln. Er dachte an die Maxime seines Freundes Thomas Lieven: »Mut beweist man nicht mit der Faust allein. Man braucht auch den Kopf dazu.« Er hatte etwas herausgefunden, das besser und wertvoller war als ein Sieg über deutsche Chauffeure nach den klassischen Regeln des technischen K. o. Er hatte die Fahrbefehle und Fahrzeugbriefe der Chauffeure gesehen. Er wußte jetzt, wem jeder einzelne Laster gehörte, der den »Meßwein« abholte. Er wußte jetzt, in wessen Auftrag die Chauffeure fuhren.
17
»Mein Freund Bastian Fabre, Hochwürden, ist bereit zu beeiden, daß alle diese Chauffeure im Auftrag von Herrn Herbert Rebhahn fuhren und fahren«, sagte Thomas Lieven. Es war hoher Mittag am 19. Oktober 1948. Thomas stand vor dem Fenster des großen Zimmers, in dem Abt Langauer zu arbeiten pflegte.
Der Gottesmann sah um Jahrzehnte gealtert aus. Seine Hände öffneten und schlossen sich mechanisch. In seinem Gesicht zuckte es. »Furchtbar«, sagte er. »Das ist die größte menschliche Enttäuschung meines Lebens. Ich bin betrogen worden. Ich wurde das Opfer eines Schurken.«
Und der Abt erzählte …
Im Mai 1946 war Herbert Rebhahn zum erstenmal bei ihm erschienen und hatte 20 000 R-Mark für die armen Flüchtlinge gespendet. Danach war er immer wieder gekommen, mit immer neuen Gaben und Spenden – ein ganzes Jahr lang.
Im Sommer 1947 hatte Langauer protestiert: »Wir können nicht andauernd Geld von Ihnen nehmen, Herr Rebhahn! Das ist unmöglich!«
»Es ist Christenpflicht zu spenden, Ehrwürdiger Vater!«
»Aber es geht Ihnen doch selbst nicht gut, Herr Rebhahn … Sie haben Sorgen … Wenn ich wüßte, was das Stift tun könnte, um zu Geld zu kommen …«
Nun, sagte Herbert Rebhahn, was das Stift beträfe – da hätte er einen Vorschlag zu machen! Da gäbe es in der Verwaltung der JEIA in Frankfurt einen gewissen Major Jolsen.
Rebhahn sprach mit Engelszungen: »Gewiß würde der Major dem Ehrwürdigen Vater Einfuhrlizenzen für – gewisse Mengen von italienischem Meßwein geben. Geschenksendungen. Der Wein würde Sie nichts kosten. Ich habe Freunde in Italien, die es sich zur Ehre anrechnen würden, den Wein zu kaufen und dem Ehrwürdigen Vater zu schicken.«
»Aber ist das nicht ungesetzlich?«
»Das wäre vollkommen gesetzlich. Ich würde es dann übernehmen, den Wein in Deutschland zu verkaufen. Und den Erlös dem Ehrwürdigen Vater zu übergeben – für die armen Flüchtlinge …« Auf dieses Angebot ging Waldemar Langauer ein. Er gab seinen Namen für ein Geschäft, von dessen Ausmaß und dessen kriminellem Einschlag er nichts ahnte. Ein Jahr lang verkaufte Herbert Rebhahn für ihn und seine Flüchtlinge »gewisse Mengen von italienischem Meßwein«. Herbert Rebhahn lieferte aus dem Erlös 125 000 R-Mark an Abt Langauer ab.
Am Mittag des 19. Oktober 1948 sagte Thomas Lieven: »Nach meinen Berechnungen hat Rebhahn allein im letzten Jahr an seinen Weinschiebungen rund einskommafünf Millionen Mark verdient!«
Der Abt sagte tonlos: »Ich danke Ihnen für alles, was Sie herausgefunden haben, Herr Lieven. Es ist furchtbar, was ich jetzt zu tun habe – aber ich muß es tun.«
Er griff nach dem Telefonhörer, wählte und sagte dann: »Geben Sie mir die Kriminalpolizei …« Verhaftet wurde am gleichen Tag der Weinhändler Herbert Rebhahn. Zu den Beamten, die ihn aus seiner luxuriösen Wohnung holten, sagte er: »Die machen mir nie einen Prozeß! In der Geschichte hängen zu viele Großkopferte drin.«
Sein Selbstvertrauen verließ ihn jedoch in den folgenden Wochen und Monaten, und zur Jahreswende 1948/49 bequemte er sich zu Geständnissen, die den Polizeipräsidenten Katting hinter schwedische Gardinen brachten. Zu Beginn des Jahres 1949 präsentierte sich die Situation dem Oberstaatsanwalt Dr. Offerding dann folgendermaßen: Rebhahn und Katting hatten den Fürsten von Welkow 1946 erfolgreich mit dessen dunkler Nazi-Vergangenheit erpreßt und erreicht, daß ihnen der belastete Fürst in seiner Angst das große Gut Wickerode und die dazugehörenden Wälder überschrieb; gleichzeitig mit der Überschreibung jedoch hatte der schlaue Fürst wieselflink Hypotheken auf den überschriebenen Besitz aufgenommen, so daß er für die neuen Eigentümer weitgehend belastet und wertlos war.
Rebhahn und Katting hatten eine Kunststeinfabrik angekurbelt, von der sie sich Millionengewinne versprachen. Der Betrieb artete jedoch infolge laienhafter Führung zu einer Millionenpleite aus. Nun saßen Katting, Rebhahn und der Fürst, wie Rebhahn es auszudrücken beliebte, »in einem Boot«. Sie mußten sehen, wie sie alle finanziell wieder flott wurden. Rebhahn organisierte das große »Meßweingeschäft«. Er war Zweiter Vorsitzender des Interessenverbandes der Weinindustrie. Als solcher war es ihm möglich gewesen, gegen Weinhändler, die er in seine Abhängigkeit bringen wollte, einen geheimen Boykott durchzuführen. Nach seiner Verhaftung distanzierte sich der Verband von ihm. Und das Geschäft von ehrlichen Männern wie Erich Werthe blühte plötzlich auf …
Der Exoberst konnte Thomas dafür nur schriftlich danken. Denn zu jener Zeit im Frühjahr 1949, da der Oberstaatsanwalt Dr. Offerding eine vielhundertseitige Anklageschrift gegen Herbert Rebhahn und Genossen zusammenstellte, lebte unser Freund mit Bastian Fabre in einem gemieteten Appartement in Zürich.
Wohl ergehen ließen es sich Thomas und Bastian in Zürich. Ihre tägliche Lieblingslektüre war der Börsenteil der »Neuen Zürcher Zeitung«.
Aus den Gewinnen seiner letzten Operationen hatte Thomas große Mengen von deutschen Aktien erworben. Diese waren nach Kriegsende äußerst niedrig gehandelt worden, weil damals noch kein Mensch wußte, wie weit und wie vollkommen die Siegermächte die deutschen Wirtschaftszentren zerschlagen würden.
Die wertvollsten Anlagen waren demontiert, die größten Konzerne aufgelöst worden. 1946/47 wurden die Aktien der »Vereinigten Stahlwerke« nur mit rund 15 Prozent gehandelt, AEG-Aktien mit 30 Prozent; I.G.-Farben-Aktien durften überhaupt nicht gehandelt werden.
Reichlich wurden nun Leute, die solche und andere Aktien trotzdem gekauft hatten, für ihren Optimismus belohnt! Nachdem aus den R-Mark-Aktien D-Mark-Aktien geworden waren, kletterten die Kurse von Monat zu Monat höher empor. In einem Zürcher Appartement saß ein Herr, der sich nicht beklagen konnte über das, was geschah …
Bis dann jener 14. April 1949 kam, an dem Thomas mit Bastian ins Zürcher Scala-Kino ging. Sie wollten den berühmten italienischen Film »Fahrraddiebe« sehen. Sie sahen die Reklamen. Sie sahen vor dem Hauptfilm die Wochenschau. Und in dieser einen Beitrag über das Hamburger Frühjahrsderby.
Elegante Pferde, Herren im Cut, bezaubernde Frauen waren zu bewundern. Die Kamera erging sich in Großaufnahmen der prominenten Zuschauer. Dicker Herr. Faszinierende Dame. Noch eine faszinierende Dame. Noch eine. Das Wirtschaftswunder hatte begonnen. Noch ein illustrer Herr …
Plötzlich schrie in Loge 5 ein Mann laut auf: »Marlock!«
Thomas Lieven rang nach Atem. Denn da, auf der Leinwand, stand er, überlebensgroß, sein schurkischer Kompagnon, den er für tot gehalten hatte, sein verbrecherischer Partner, der seine friedliche Existenz vernichtet, ihn in die Mühlen der internationalen Geheimdienste geschleudert hatte – da stand er, untadelig gekleidet, im Cut, Fernglas vor der Brust.
»Er ist es … Ich bringe ihn um, das Schwein!« lärmte Thomas. »Ich habe gedacht, er schmore schon längst in der Hölle – aber er lebt … Jetzt werde ich abrechnen mit ihm!«
18
»Bitte, ich habe Sie wohl eben nicht ganz richtig verstanden, mein Herr«, sagte der Besitzer des Scala-Kinos. »Was möchten Sie?«
»Sie haben mich eben durchaus richtig verstanden, mein Herr«, sagte Thomas Lieven mit einer feinen Verneigung. »Ich möchte mir nach der letzten Vorstellung die Wochenschau-Filmrolle ausleihen, die Sie heute zeigen.«
»Ausleihen? Aber warum?«
»Weil ich sie mir noch einmal vorführen lassen möchte. Privat. Denn ich habe auf dem Streifen einen Bekannten entdeckt, den ich bei Kriegsbeginn aus den Augen verlor.«
Stunden später brauste Thomas mit der Filmrolle durch das nächtliche Zürich. Hinaus zu den Studios der »Praesens-Film«. Hier hatte er einen Schneideraum und einen Cutter organisiert. Der Cutter ließ die Wochenschaukopie auf dem Schneidetisch vor- und zurücklaufen, so lange, bis Thomas rief: »Halt!«
Der kleine Bildschirm über dem Tisch zeigte nun ein stillstehendes Bild vom Hamburger Frühjahrsderby. Ein paar dicke Herren, ein paar elegante Damen auf der Tribüne. Und im Vordergrund deutlich zu erkennen: Robert E. Marlock.
Thomas ballte die Hände zu Fäusten. Er fühlte, wie ihm vor Erregung der Schweiß auf die Stirn trat. Ruhig, sagte er zu sich selbst, ganz ruhig jetzt, wenn du Rache nimmst.
»Können Sie das Kaderbild da kopieren und mir bis morgen früh ein paar Abzüge davon machen – so stark vergrößert wie möglich?«
»Na klar, mein Herr«, sagte der Cutter.
Am nächsten Tag um 11 Uhr 45 nahm Thomas Lieven den Expreß nach Frankfurt am Main. Hier suchte er zwei leitende Beamte im Gebäude der »Deutschen Bankaufsicht« auf. Ihnen zeigte er Fotos von Robert E. Marlock. Eine halbe Stunde später lag vor Thomas eine Personalkarte, wie es sie hier über jeden Menschen in Deutschland gab, der Bankgeschäfte machte.
Am Abend des 15. April 1949 sagte Thomas zu seinem Freund Bastian Fabre in seiner Zürcher Wohnung: »Der verfluchte Hund lebt in Hamburg. Walter Pretorius nennt er sich. Und eine kleine Bank besitzt er wieder. An der Innenalster. Die Frechheit! Die ungeheure Frechheit, die der Erzlump hat!«
Bastian drehte ein bauchiges Kognakglas hin und her. Er meinte: »Er wird ohne Zweifel in dem Glauben leben, daß du tot bist. Oder hast du ihn aufgesucht?«
»Bist du verrückt? Nein, nein, Marlock soll ruhig weiter glauben, ich sei tot!«
»Ich denke, du willst dich rächen …«
»Ich werde mich rächen! Aber schau mal, Marlock hat eine deutsche Banklizenz bekommen. Ohne Scheu und Furcht lebt er in Hamburg. Soll ich da vor ein deutsches Gericht gehen und sagen: Dieser Herr Pretorius heißt in Wirklichkeit Marlock. Dieser Herr hat mich 1939 hineingelegt. Soll ich das sagen? Wenn ich klage, muß ich als Thomas Lieven klagen, denn als Thomas Lieven war ich Bankier in London. Mein Name wird in allen Zeitungen stehen …«
»Auwei.«
»Jawohl, auwei. Meinst du, ich will unbedingt von irgendeiner Roten, Grünen, Blauen oder Schwarzen Hand umgelegt werden? Ein Mann mit meiner Vergangenheit muß es auf das peinlichste vermeiden, in die Öffentlichkeit zu treten.«
»Na, aber wie willst du Marlock schaffen?«
»Ich habe einen Plan. Ich brauche einen Strohmann dazu. Ich habe ihn auch schon: Herr Reuben Achazian, mit dem wir die ZVG-Geschäfte gemacht haben. Ich habe ihm geschrieben. Er kommt her.«
»Und ich? Was mache ich?«
»Du, mein Alter, mußt dich jetzt eine Zeitlang von mir trennen«, sagte Thomas und legte dem Freund eine Hand auf die Schulter: »Schau mich nicht so unglücklich an; es ist nötig, es steht zuviel auf dem Spiel … Du nimmst alles Geld, das ich nicht brauche, und fährst nach Deutschland. Nach Düsseldorf am besten. Dort, wo die reichsten Leute wohnen, kaufst du uns eine Villa. Einen Wagen. Und so weiter. Wenn ich bei dieser Sache Pech habe und alles verliere, dann brauche ich Kredit. Und Vertrauen. Und muß angeben. Kapiert?«
»Kapiert.«
»Cecilien-Allee«, sagte Thomas verträumt. »Das wäre eine Gegend für uns. Da sieh dich mal um. Da wollen wir uns ansiedeln. Da wohnen die ganz feinen Leute.«
»Na ja«, sagte Bastian, »dann ist es natürlich sonnenklar, daß auch wir dorthin müssen …«
19
Wir berichten nun über Thomas Lievens größtes und riskantestes Börsenmanöver. Wir wollen bemüht sein, so zu berichten, daß jedermann begreifen kann, wie raffiniert sein Racheplan war.
Blicken wir zuerst nach Stuttgart. Vor den Toren jener schönen Stadt lag das Gebäude der »Excelsior-Werke AG«. Im Krieg hatte diese Gesellschaft mit einer Belegschaft von über 5000 Menschen Armaturen und Instrumente für Görings Luftwaffe hergestellt. 1945 war das Geschäft vorbei. In Deutschland wurden – für ein kurzes Weilchen – gerade mal keine Kriegsflugzeuge gebaut.
Also stellten die »Excelsior-Werke« in kleinstem Rahmen verschiedene technische Geräte her. Aber nach der Währungsreform im Sommer 1948 schien der Konkurs unabwendbar. Weit unter dem Nominalwert wurden Excelsior-Aktien gehandelt, zu einem Kurs von 18 bis 25. Der Zusammenbruch war für Experten im Frühsommer 1949 nur noch eine Frage von Wochen.
In dieser verzweifelten Situation machten die Herren vom Vorstand der »Excelsior-Werke« am 9. Mai 1949 die Bekanntschaft eines Armeniers namens Reuben Achazian, der sie in Stuttgart aufsuchte.
Herr Achazian, ausgezeichnet gekleidet, Besitzer eines brandneuen Cadillac, Modell 1949, erklärte den Versammelten: »Meine Herren, ich besuche Sie im Auftrag eines Schweizer Unternehmens, das aber anonym zu bleiben wünscht. Dieses Unternehmen ist stark interessiert, einen Teil seiner Produktion nach Deutschland zu verlegen …«
Warum, wollten die Herren vom Vorstand wissen.
»… weil hier die Herstellungskosten für technische Geräte wesentlich niedriger liegen. Meine Herren, die Schweizer denken daran, Ihnen einen langfristigen Vertrag anzubieten. Man ist bereit, zu günstigen Bedingungen an einer Sanierung Ihres Werkes mitzuwirken. Damit Sie sehen, daß es den Leuten ernst ist, bin ich ermächtigt, Ihnen mitzuteilen: Die Schweizer Gruppe wird fällige Wechsel Ihres Unternehmens bis zu einem Betrag von einer Million D-Mark übernehmen!«
Eine Million D-Mark! Der Silberstreifen am Horizont für ein Werk, das vor dem Konkurs stand. Verständlich, daß die Herren sich keine lange Bedenkzeit ausbaten …
Prompt trafen am 25. Mai 1949 bei den »Excelsior-Werken« denn auch 900 000 DM ein. Dieser Betrag war das Vermögen, das Thomas Lieven in seine Rache investierte. Er arbeitete schwer in diesen Tagen. Nachdem er mit verschiedenen Wirtschaftsredakteuren und Journalisten gesprochen hatte, erschienen in Schweizer Zeitungen Artikel, wonach schweizerische Industriekreise die Möglichkeit prüften, Zweigbetriebe in der deutschen Bundesrepublik einzurichten. Diese Meldungen und die Tatsache, daß alle fälligen Excelsior-Wechsel anstandslos eingelöst wurden, erregten Sensation an westdeutschen Börsen. Eine lebhafte Nachfrage nach Excelsior-Aktien setzte ein. Die Kurse zogen erheblich an: auf 40 und 50.
Im Auftrag von Thomas Lieven erkundigten sich nun Strohmänner beim Bankhaus Pretorius in Hamburg, ob hierorts etwas über die Vorgänge rund um die »Excelsior-Werke« bekannt sei. Solcherart wurde das Interesse des außerordentlich geldgierigen Bankhausinhabers Walter Pretorius geweckt …
Tage später erschien ein gewisser Herr Reuben Achazian im Bankhaus Pretorius und sprach bei dem Bankbesitzer vor, den wir der Klarheit halber von nun an mit seinem richtigen Namen Marlock nennen wollen.
»Ich frage im Auftrag meiner Schweizer Freunde an, ob Sie daran interessiert sind, an einem großzügigen Sanierungsunternehmen der ›Excelsior-Werke‹ mitzuwirken«, sprach Herr Reuben Achazian, der den feinen Cadillac auch in die Freie Hansestadt mitgebracht hatte. Angesichts der emporschnellenden Aktienkurse war Marlock sogleich bereit. Er versprach grundsätzlich eine Beteiligung. Danach ließ er sofort durch Mittelsmänner große Mengen von Excelsior-Aktien aufkaufen, wodurch diese immer weiter im Kurs stiegen. Bereits zu weit überhöhten Preisen mußte Marlock sie nun kaufen. Er tat es in der felsenfesten Überzeugung, vor dem Geschäft seines Lebens zu stehen.
Am 19. September sagte Thomas Lieven in Zürich zu Reuben Achazian: »Jetzt habe ich den Hund so weit, daß er sein ganzes Geld in dieses Pleiteunternehmen, genannt ›Excelsior-Werke‹, gesteckt hat. Jetzt muß ich sehen, daß ich die 900 000 Mark, und wenn möglich mehr, zurückbekomme, die ich in die Excelsior-Wechsel gesteckt habe.«
»Und wie soll das geschehen?« fragte der Armenier mit den feuchten Mandelaugen.
»Das soll mit Hilfe von Sperrmark geschehen, mein Lieber«, antwortete Thomas Lieven sanft.
Mit dem Wort »Sperrmark« wurde damals das Vermögen von Ausländern im Deutschen Reich gekennzeichnet, das zur Sicherung der Währung gesperrt worden war und über das die Besitzer nur mit besonderen Genehmigungen verfügen konnten.
Vor 1951 gab es nur Schwarzverkäufe im Ausland. Dabei wurden in der Regel für 100 Sperrmark 8 bis 10 Dollar gezahlt, also ein sehr schlechter Kurs.
Thomas Lieven fand in der Schweiz Industriewerke, die zum Teil noch Sperrmarkkonten aus den Jahren 1931–1936 besaßen! Diese Leute verkauften unserm Freund ihre Konten bereitwillig und sogleich zu dem erwähnten elenden Kurs. Egal, egal! Auf diese Weise sahen sie endlich wenigstens etwas von ihrem Geld wieder!
Nun besaß Thomas also Sperrmarkkonten in Deutschland. Nun schickte er Herrn Achazian wieder nach Hamburg. Daselbst erklärte dieser dem Bankier Marlock: »Die Sanierung der ›Excelsior-Werke‹ soll weitgehend aus Sperrmarkguthaben meiner schweizerischen Auftraggeber finanziert werden. Das ist nach den geltenden Bestimmungen mit Einwilligung der ›Bank Deutscher Länder‹ möglich. Ich habe Vollmacht, die besagten Sperrmarkguthaben in Höhe von zweikommadrei Millionen Mark auf Ihre Bank zu überweisen.«
Marlock rieb sich die Hände. Er hatte ja gewußt, daß er hier vor dem Geschäft seines Lebens stand! Er fuhr nach Frankfurt. Mehrere Tage lang verhandelte er hartnäckig mit der »Bank Deutscher Länder«. Er übernahm die eidesstattliche Verpflichtung, die 2,3 Millionen ausschließlich zur Sanierung der »Excelsior-Werke« vor Stuttgart zu verwenden. Daraufhin bekam er die Sperrmark frei.
Am selben Tag sagte Thomas Lieven in seiner Zürcher Wohnung zu Herrn Achazian: »Nun fahren Sie wieder zu ihm. Ich gebe Ihnen Vollmachten mit, erstklassig gefälschte Dokumente von angeblich an dem Sanierungsprojekt beteiligten Schweizer Firmen. Der Schweinekerl in Hamburg wird Ihnen die Millionen anstandslos freigeben. Sie gehören ja nicht ihm. Sie heben alles bar ab und bringen es hierher.«
Voller Bewunderung sah der kleine Armenier Thomas Lieven an. »Ihren Kopf möchte ich haben! Wieviel haben Sie eigentlich für die zweikommadrei Millionen Sperrmark bezahlt?«
»Rund hundertsechzigtausend Dollar.« Thomas lächelte bescheiden; er konnte es aber nicht verhindern, daß sich seine Hände sozusagen von selber ineinander rieben. »Und wenn Sie das Geld in Ihrem feinen Cadillac nach Zürich gebracht haben, mein Lieber, dann sind aus den Sperrmark echte D-Mark geworden! Sie werden ein paarmal fahren müssen. Das Geld kommt in den Reservereifen und das Chassis. Und dann lassen wir die ›Excelsior-Werke‹ sausen. Und sanieren sie nicht. Und der Schweinehund in Hamburg ist pleite.«
Am 7. Dezember 1949 fuhr Herr Reuben Achazian los. Am 16. sollte er zurück sein. Das war der Tag, an dem die Bundesrepublik 1 Milliarde D-Mark Kredit von den Vereinigten Staaten erhielt.
Herr Reuben Achazian kam nicht zurück an diesem historischen Tag des deutschen Wiederaufbaus. Herr Reuben Achazian kam überhaupt nicht mehr zurück …
Am 28. Dezember wurde der Bankier Walter Pretorius in Hamburg von Beamten der deutschen Kriminalpolizei verhaftet. Zur selben Stunde verhafteten Beamte der Schweizer Bundespolizei Thomas Lieven in seiner Zürcher Mietwohnung. Sie handelten auf Grund eines dringenden Fahndungsschreibens der »Interpol« und des »Deutschen Bundeskriminalamtes« in Wiesbaden. Den Herren Lieven und Pretorius wurde vorgeworfen, eine gewaltige Sperrmarkschiebung getätigt zu haben.
»Wer wirft mir das vor?« fragte Thomas Lieven die Schweizer Kriminalbeamten.
»Ein gewisser Reuben Achazian hat Anzeige gegen Sie erstattet und den deutschen Behörden zahlreiche Belastungsdokumente zur Verfügung gestellt. Er ist übrigens inzwischen verschwunden.«
Und meine 2,3 Millionen D-Mark sind im Eimer, dachte Thomas Lieven. Hm, hm. Nun habe ich also zuletzt doch noch einen Fehler gemacht. Dabei war dieser Reuben Achazian so ein netter Armenier …
20
Beinahe ein ganzes Jahr saß Thomas Lieven in Untersuchungshaft – ein wüstes Jahr, das den heißesten Sommer seit hundert Jahren, die Aufhebung der Lebensmittelrationierung und, am 28. Juni, den Ausbruch des Koreakrieges brachte, der eine monatelange Hamsterpsychose in ganz Europa zur Folge hatte.
Am 19. November 1950 verurteilte die Zweite Große Strafkammer des Landgerichts Frankfurt Thomas Lieven zu einer Strafe von dreieinhalb Jahren Gefängnis. In der mündlichen Urteilsbegründung führte der Richter aus: Im Fall des Angeklagten Lieven anerkenne man dessen Offenheit und aufrechte Haltung. Das Gericht hätte den Eindruck gewonnen, daß ungeklärte, wahrscheinlich nur psychologisch verständliche Motive den Angeklagten zu seinem verwerflichen Tun getrieben hätten. Wörtlich erklärte der Richter: »Dieser hochintelligente, äußerst gebildete Mann ist nicht der übliche Typ eines Verbrechers …«
Für den zweiten Angeklagten, den Hamburger Bankier Walter Pretorius, fand der Richter keine derart milden Worte. Er erhielt vier Jahre Gefängnis. Seine Bank mußte den Konkurs anmelden. Eine weitere Ausübung seines Berufes verhinderte für alle Zeit die »deutsche Bankenaufsicht«, die den Namen Walter Pretorius in der Kartei der seriösen Bankiers löschte.
Zweierlei machte den Frankfurter Prozeß pikant. Obwohl die Angeklagten einander, wie wir wissen, intim kannten, gaben sie eine solche Bekanntschaft vor Gericht mit keinem Wort, mit keiner Geste zu erkennen.
Die zweite Pikanterie bestand darin, daß der Vorsitzende bereits am ersten Verhandlungstag die Öffentlichkeit ausschloß, und zwar nachdem der Angeklagte Lieven angekündigt hatte, im Detail den Trick erklären zu wollen, mit dem er die Sperrmark freibekommen hatte. Solcherart war eine ausführliche Berichterstattung über den Prozeß gegen Lieven und Pretorius unmöglich. Die Publicity, die Thomas, verschiedener internationaler Geheimdienste wegen, gefürchtet hatte, blieb ihm erspart.
In einem gewissen Sinn hatte er sein Ziel erreicht: Walter Pretorius, alias Robert E. Marlock, war ruiniert für alle Zeit. Bleich und bebend, ein nervöses Wrack, so stellte er sich dem Gericht.
Nicht ein einziges Wort sprachen die beiden Angeklagten während des Prozesses miteinander. Das Urteil nahmen sie beide schweigend auf. Thomas Lieven blickte danach lächelnd zu seinem ehemaligen Kompagnon hinüber. Und vor diesem Lächeln mußte Robert E. Marlock sich abwenden, denn er ertrug es nicht …
Marlock kam in die Strafanstalt Frankfurt-Hammelgasse. Thomas Lieven schaffte es, in die Haftanstalt Düsseldorf-Derendorf verlegt zu werden. Dafür, daß es ihm im Gefängnis wohl erging und er keinen Mangel an irdischen Gütern litt, sorgte sein Freund Bastian – nun wohnhaft Düsseldorf, Cecilien-Allee – mit großen Paketen. Als Thomas sich allzusehr zu langweilen begann, stellte er ein Lexikon der Gaunersprache zusammen. Aus diesem Lexikon präsentieren wir hier einer möglicherweise interessierten Öffentlichkeit aus Tausenden von Worten dieses Alphabet zur Kostprobe:
ABKLINGER: ein Mann, der bei einem geplanten Wohnungseinbruch festzustellen hat, ob der Wohnungsinhaber daheim ist. Zu diesem Behufe betätigt er die Wohnungsklingel in Abständen von fünf Minuten viermal. Wenn niemand öffnet, gibt er den Komplicen bekannt, daß die Luft rein ist.
BEISS: der Raum, von dem gerade die Rede ist. Meibelbeiß ist eine Bedürfnisanstalt, Seibelbeiß das Zuchthaus, Trallienbeiß das Gefängnis.
CUPERN: Betrug beim Kartenspiel.
DUFTEMANG: ein Ganoventeam, das sich gut versteht.
ENTERN: das Bestehlen eines hilflosen Betrunkenen, den man unter dem Vorwand, ihm behilflich zu sein, heimbegleitet.
FREISIEBER: ein Mann, der kurz vor der Entlassung aus dem Zuchthaus steht.
GERANIE: der Direktor einer Strafanstalt.
HEIERMANN: ein 5-Mark-Stück.
IGOW: ein nicht ernstzunehmender Krimineller.
JUSTAV, EISERNER: ein besonders geformter Magnet, der über eine elektrische Zähluhr gehängt wird, wodurch diese zum Stillstand kommt (Stromdiebstahl).
KLAVIERSPIELEN: der Vorgang der zwangsweisen Fingerabdrucknahme bei der Kriminalpolizei.
LEBERSTÜCK: der Arzthelfer in der Krankenabteilung einer Strafanstalt.
MASCHORRES: Wachtmeister im Zuchthaus.
NATHAN: ein Gefangener, der Mithäftlinge juristisch und in allen Lebensfragen berät, sich aber dafür nicht bezahlen läßt.
OFFENBACH: ein Mann, der sich auf den Diebstahl von Musikinstrumenten spezialisiert.
PULSIEREN: wenn ein Betrug oder Einbruch gut abläuft.
QUACKE: ein Mensch im Zuchthaus, der jedermann mit Gesprächen über ein angebliches Wiederaufnahmeverfahren belästigt.
ROSENKRANZ: ein Bund Dietriche. Ein einzelner heißt Sesam.
SCHWÄRMER: 1 Jahr Zuchthaus.
SÜLZE: Ergebnis eines Einbruchs, das den Erwartungen nicht entspricht.
TREWEGEHEN: unter den schlechtesten Voraussetzungen auf der Flucht sein.
UG: Untersuchungsgefängnis.
VERTREIBER: ein Mann, der die Kripo auf eine falsche Spur lenkt.
WOLF: ein Mann, der in der Zelle Selbstmord markiert und dann den herbeigeeilten Beamten überfällt.
ZENOBEL: eine gar nicht vorhandene Geldsumme, mit der aber operiert wird, um Kredit zu erhalten.
21
Am 14. Mai 1954 wurde Thomas Lieven aus der Haft entlassen. Sein Freund Bastian erwartete ihn vor dem Gefängnis. Die beiden fuhren sogleich an die Riviera, wo sich Thomas ausgiebig auf Cap Ferrat erholte.
Erst im Sommer 1955 kehrte Thomas Lieven heim und zog in sein schönes Haus in der Cecilien-Allee zu Düsseldorf. Noch hatte er einiges Geld, noch besaß er ein Bankkonto bei der »Rhein-Main-Bank«. Seine Nachbarn hielten ihn für einen soliden bundesdeutschen Geschäftsmann, wenngleich sie ein wenig unmutig darüber waren, daß sich so wenig Konkretes über ihn erfahren ließ.
Monatelang tat Thomas nichts anderes, als nachzudenken und sich auszuruhen.
»Mensch, aber irgend etwas müssen wir doch tun«, sagte Bastian Fabre. »Ewig wird unser Geld nicht reichen. Woran denkst du?«
Darauf antwortete Thomas Lieven schlicht: »Ich denke an eine große Aktion mit Aktien. Es soll dabei aber niemand geschädigt werden …« Die große Aktienaktion bereitete Thomas Lieven danach liebevoll durch viele Monate vor. Erst am 11. April 1957 startete er seinen neuen Coup durch die Einladung des fetten, mit Schmissen behafteten Herrn Direktor Schallenberg, der eine Papierfabrik besaß.
Thomas hatte herausgefunden, daß Schallenberg im Kriege unter dem Namen Mack Wehrwirtschaftsführer im sogenannten Warthegau gewesen war und noch immer auf einer Auslieferungsliste der polnischen Regierung stand. Herrn Direktor Schallenberg blieb solcherart nichts anderes übrig, als zähneknirschend zu tun, worum Thomas ihn bat: Er stellte ihm fünfzig Großbogen eines Spezial-Wasserzeichenpapiers zur Verfügung, wie es für die Herstellung von Aktien verwendet wurde.
Was Thomas Lieven mit diesem Papier tat und wie er in Zürich das große Geschäft mit den DESU-Aktien erledigte, ist bekannt. Wir haben es zu Beginn dieses Berichtes ausführlich erzählt. 717 850 Schweizer Franken waren sein Gewinn, als er mit der schönen, jungen Hélène de Couville, die er in Zürich kennengelernt hatte, an die Riviera fuhr.
In der Nacht, in welcher die süße Hélène im Luxushotel »Carlton« zu Cannes seine Geliebte wurde, erlebte Thomas – auch dies berichteten wir bereits – eine grauenvolle Überraschung. Mit erschreckender Wildheit schluchzte Hélène plötzlich los: »Ich habe dich angelogen! Ach, mein geliebter Thomas, ich muß es dir sagen, ich arbeite für den amerikanischen Geheimdienst … Ich … wurde auf dich angesetzt … Der FBI will dich unter allen Umständen anheuern … Und wenn du nicht für uns arbeitest, dann lassen sie dich hochgehen …«
Thomas ließ die Verzweifelte allein. In seinem Schlafzimmer setzte er sich an das offene Fenster und sah empor zu den Sternen, die über dem Mittelmeer glänzten. Über sein wildes, wirres Leben sann Thomas Lieven nach, über dieses tolle Abenteuer, das sich nun vollends im Kreise gedreht hatte, seit jenem warmen Tag im Mai 1939, an dem alles begann …