Ich mißtraue Zusammenfassungen, jedem Versuch, durch die Zeit gleiten zu wollen, jeder Behauptung, man habe das, was man erzählt, im Griff. Meiner Meinung nach ist jemand, der behauptet, zu verstehen, und dabei ruhig und gefaßt wirkt, jemand, der behauptet, von Gefühlen zu schreiben, die er sich in Ruhe ins Gedächtnis zurückgerufen hat, ein Dummkopf und ein Lügner. Zu verstehen heißt, vor Aufregung zu erbeben. Und sich erinnern heißt, in das Vergangene wieder einzutreten, aufgewühlt und innerlich zerrissen zu werden... Ich bewundere die Fähigkeit, vor den Ereignissen in die Knie zu gehen.

HAROLD BRODKEY

Manipulations

 

Um 6 Uhr morgens des 11. Mai schaffte Stuart Hutchison es schließlich, mich zu wecken. »Andy ist nicht in seinem Zelt«, sagte er finster, »und in irgendeinem anderen Zelt scheint er auch nicht zu sein. Ich glaub nicht, daß er je hier angekommen ist.«

»Harold ist nicht da?« fragte ich. »Unmöglich. Ich hab mit eigenen Augen gesehen, wie er zu den Zelten gegangen ist.« Ich war geschockt, verstand nicht, was los war. Sofort zog ich meine Stiefel an und eilte nach draußen, um nach Harris zu suchen. Es wehte immer noch ein stürmischer Wind – stürmisch genug, um mich mehrere Male von den Beinen zu reißen –, aber das Morgengrauen war hell und klar, und die Sicht war hervorragend. Über eine Stunde lang suchte ich die gesamte westliche Hälfte des Sattels ab, spähte hinter Felsblöcken und stocherte in

zerfetzten, lange verwaisten Zelten herum, aber von Harris fehlte jede Spur. Ich spürte, wie mir das Adrenalin in die Adern schoß. Tränen stiegen mir in die Augen, und sofort waren meine Lider festgefroren. Wie konnte Harris nur verschwunden sein? Es konnte einfach nicht sein.

Ich ging zu der Stelle, wo Harris den Eisbuckel hinuntergerutscht war, gleich oberhalb des Sattels, und suchte dann systematisch die Route ab, die er zum Camp genommen hatte, eine breite, fast vollkommen ebene Eisrinne. An der Stelle, an der ich ihn zuletzt gesehen hatte, bevor die Wolkenschicht sich wieder schloß, mußte Harris nur nach links abbiegen, dann zehn, fünfzehn Meter eine felsige Anhebung hochsteigen, und schon wäre er bei den Zelten gelandet.

Wenn er die Abbiegung jedoch nicht genommen hatte und geradeaus weitergegangen war – was einem in dem starken Schneegestöber leicht passieren konnte, selbst wenn man nicht total erschöpft war und vor lauter Sauerstoffmangel keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte –, wäre er rasch an den Westrand des Sattels gelangt. Das steile graue Eis der Lhotse-Flanke fiel dort 1200 Meter tief auf die Sohle des Western Cwm hinab. Als ich dort stand und es nicht wagte, mich auch nur einen Schritt weiter auf den Rand zuzubewegen, entdeckte ich leichte, einzelne Steigeisenspuren, die an mir vorbei auf den Abgrund zu führten. Diese Spuren, befürchtete ich, stammten von Andy Harris.

Als ich gestern abend im Lager angekommen war, hatte ich Hutchison gesagt, daß ich Harris heil und unversehrt bei den Zelten ankommen gesehen hätte. Hutchison hatte die Nachricht über Funk ans Basislager weitergegeben, und von da wurde sie über Satellitentelefon an Fiona McPherson weitergeleitet, die Frau, mit der Harris in Neuseeland zusammenlebte. Ihr war ein Stein vom Herzen gefallen, als sie erfuhr, daß Harris auf Camp Vier und in Sicherheit war. Nun jedoch mußte Halls Frau Jan Arnold in Christchurch das Undenkbare tun und ihr sagen, daß da ein entsetzlicher Irrtum geschehen ist – daß Andy sehr wohl vermißt und mutmaßlich tot war. Als ich mir das Telefongespräch vorstellte und meine Rolle in der Kette der Ereignisse, fiel ich wie ein Erstickender keuchend auf die Knie, würgte und würgte, während der eisige Wind mir in den Rücken stieß.

Nachdem ich 60 Minuten lang vergeblich nach Andy gesucht hatte, kehrte ich in mein Zelt zurück, gerade noch rechtzeitig, um ein Funkgespräch zwischen dem Basislager und Rob Hall mit anhören zu können; er war oben auf dem Gipfelgrat, wie ich erfuhr, und bat um Hilfe. Hutchison sagte mir dann, daß Beck und Yasuko tot seien und daß Scott Fischer irgendwo oben im Gipfelbereich vermißt wurde. Kurz danach gingen die Batterien unseres Funkgeräts aus, und wir waren vom Rest des Berges abgeschnitten. Einige Leute vom IMAX-Team auf Camp Zwei, die gleich in heller Aufregung darüber waren, daß die Verbindung zu uns abgerissen war, riefen über Funk das südafrikanische Team, deren Zelte auf dem Südsattel nur ein paar Meter von uns entfernt waren. David Breashears – der IMAx-Leiter, und ein Bergsteiger, den ich seit zwanzig Jahren kenne – berichtet: »Wir wußten, daß die Südafrikaner ein ausgezeichnetes Funkgerät hatten und daß es funktioniert. Deshalb haben wir einem aus ihrem Team in Camp Zwei gesagt, daß er Woodall auf dem Südsattel rufen und ihm sagen soll: ›Da ist ein Notfall. Da oben sterben Menschen. Wir müssen mit den Überlebenden von Halls Team in Verbindung bleiben, um die Bergung zu koordinieren. Bitte leiht Jon Krakauer euer Funkgerät.‹ Woodall hat abgelehnt. Es war vollkommen klar, was auf dem Spiel stand, aber er wollte sein Funkgerät nicht zur Verfügung stellen.«

Gleich im Anschluß an die Expedition, als ich mit den Recherchen zu meinem Outside-Artikel beschäftigt war, interviewte ich so viele Leute aus Halls und Fischers Gipfelteams wie möglich mit den meisten habe ich mehrmals gesprochen. Aber Martin Adams, dem Reporter suspekt sind, hielt sich nach der Tragödie bedeckt und wich meinen wiederholten Versuchen aus, ihn zu einem Interview zu bewegen. Erst als die Outside-Sache in Druck gegangen war, gab er mir eine Zusage.

Als ich ihn dann Mitte Juli am Telefon hatte, bat ich ihn als erstes, mir alles zu erzählen, an das er sich vom Gipfelvorstoß noch erinnern konnte. Er hatte an jenem Tag zu den stärkeren Kunden gehört und sich stets in der Nähe der Spitze des Zuges aufgehalten; die meiste Zeit war er entweder kurz vor oder gleich hinter mir. Adams schien ein ausgezeichnetes Gedächtnis zu haben, und ich war daher besonders interessiert daran, herauszufinden, inwieweit seine Version der Ereignisse mit meiner übereinstimmte.

Als Adams am späten Nachmittag bei 8 400 Metern vom Balkon abstieg, konnte er mich, wie er sagte, immer noch sehen, etwa 15 Minuten voraus. Ich muß jedoch schneller als er abgestiegen sein, da ich schon bald außer Sichtweite war. »Und als ich dich das nächste Mal sah«, sagte er, »war es schon fast dunkel, und du bist auf der Ebene vom Südsattel, nur 30 Meter von den Zelten weg. Ich hab dich an deinem roten Daunenanzug erkannt.«

Kurz danach stieg Adams auf ein kleines Flachstück hinab, gleich oberhalb des steilen Eisbuckels, der mir soviel Schwierigkeiten bereitet hatte, und fiel in eine kleine Gletscherspalte. Er schaffte es, da wieder herauszukommen, fiel dann aber in eine zweite, tiefere Gletscherspalte. »Als ich da in der Gletscherspalte lag, hab ich gedacht: ›Das war's jetzt wohl‹«, sinnierte er. »Es hat eine Weile gedauert, aber dann habe ich's doch geschafft, auch aus der herauszuklettern. Als ich raus war, war mein Gesicht mit Schnee verklebt, der gleich zu Eis gefroren ist. Dann sehe ich, wie da jemand links auf dem Eis sitzt, er hat eine Stirnlampe gehabt, und ich bin rübergegangen. Es war zwar nicht stockfinster, aber zumindest so dunkel, daß ich die Zelte nicht mehr sehen konnte.

Ich bin dann zu diesem Arsch hin und sage: ›Hey, wo sind die Zelte?‹, und der Typ, ich weiß nicht, wer, zeigt da rüber. Und dann sage ich: ›Ja, wußt ich's doch.‹ Dann sagt der Typ irgendwas wie: ›Paß auf! Das Eis hier ist steiler, als es aussieht. Vielleicht sollen wir runtergehen und ein Seil und ein paar Eisschrauben holen.‹ Ich hab gedacht: ›Scheiß drauf. Ich bin jetzt hier weg.‹ Ich mache also zwei, drei Schritte, stolpere und rutsche auf dem Bauch das Eis runter, mit dem Kopf zuerst. Ich bin immer weitergerutscht, und dann hat mein Eispickel sich in irgendwas gebohrt, und ich werde herumgewirbelt. Und dann war ich unten. Ich bin aufgestanden und zu den Zelten weitergewankt, so ungefähr war's.«

Als Adams mir seine Begegnung mit dem anonymen Kletterer beschrieb und dann, wie er den Eishügel hinuntergeschlittert war, bekam ich einen ganz trockenen Mund und mir lief ein kalter Schauer über den Rücken. »Martin«, fragte ich, als er fertig war, »kann ich das nicht gewesen sein, den du da draußen getroffen hast?«

»Also Scheiße, nein!« rief er mit einem Lachen. »Ich weiß nicht, wer das war, aber du bestimmt nicht.« Aber dann erzählte ich ihm von meiner Begegnung mit Andy Harris und wie beunruhigend ähnlich das alles klang: Ich war Harris ungefähr zur gleichen Zeit begegnet, wie Adams dem Unbekannten, und ungefähr an der gleichen Stelle. Der kurze Wortwechsel, der sich zwischen Harris und mir abgespielt hatte, war dem Wortwechsel zwischen Adams und dem Unbekannten auf gespenstische Art und Weise ähnlich. Und dann war Adams mit dem Kopf zuerst das Eis hinuntergerutscht, ganz so, wie ich noch Harris' Rutschpartie in Erinnerung hatte.

Nachdem wir uns noch ein paar Minuten weiter unterhalten hatten, war Adams überzeugt: »Dann warst das also du, mit dem ich da auf dem Eis die paar Worte gewechselt habe«, sagte er erstaunt und räumte ein, daß er sich geirrt haben mußte, als er mich kurz vor Dunkelheit den Südsattel durchqueren gesehen hatte. »Und ich war's, mit dem du geredet hast. Was bedeutet, daß es ja gar nicht Andy Harris war. Wow! Mann, ich glaube, jetzt schuldest du einigen Leuten eine Erklärung.«

Ich war erstarrt. Zwei Monate lang hatte ich sämtlichen Leuten erzählt, daß Harris vom Rand des Südsattels in den Tod gestürzt war, obwohl dem überhaupt nicht so war. Ich hatte es

mit meinem Irrtum für Fiona McPherson unnötig und sehr viel schwieriger gemacht; ebenso für Andys Eltern, Ron und Mary Harris, für seinen Bruder, Davis Harris, und für viele Freunde.

Andy war ein fast einsneunzig großer Baum von einem Kerl, der über 100 Kilo wog und einen starken neuseeländischen Akzent hatte. Martin war mindestens fünfzehn Zentimeter kleiner, wog vielleicht 65 Kilo und sprach ein breites, schleppendes Texanisch. Wie konnte ich nur einen solch ungeheuerlichen Irrtum begehen? War ich tatsächlich so geschwächt gewesen, daß ich in das Gesicht eines beinahe Fremden geschaut hatte und ihn mit einem Freund verwechselt hatte, mit dem ich die vergangenen sechs Wochen verbracht hatte? Und falls Andy, nachdem er den Gipfel erreicht hatte, niemals auf Camp Vier angekommen war, was in Gottes Namen war dann mit ihm passiert?

 

In eisige Höhen
Cover.xhtml
Everest0001.xhtml
Everest0002.xhtml
Everest0003.xhtml
Everest0004.xhtml
Everest0005.xhtml
Everest0006.xhtml
Everest0007.xhtml
Everest0008.xhtml
Everest0009.xhtml
Everest0010.xhtml
Everest0011.xhtml
Everest0012.xhtml
Everest0013.xhtml
Everest0014.xhtml
Everest0015.xhtml
Everest0016.xhtml
Everest0017.xhtml
Everest0018.xhtml
Everest0019.xhtml
Everest0020.xhtml
Everest0021.xhtml
Everest0022.xhtml
Everest0023.xhtml
Everest0024.xhtml
Everest0025.xhtml
Everest0026.xhtml
Everest0027.xhtml
Everest0028.xhtml
Everest0029.xhtml
Everest0030.xhtml
Everest0031.xhtml
Everest0032.xhtml
Everest0033.xhtml
Everest0034.xhtml
Everest0035.xhtml
Everest0036.xhtml
Everest0037.xhtml
Everest0038.xhtml
Everest0039.xhtml
Everest0040.xhtml
Everest0041.xhtml
Everest0042.xhtml
Everest0043.xhtml
Everest0044.xhtml
Everest0045.xhtml
Everest0046.xhtml
Everest0047.xhtml
Everest0048.xhtml
Everest0049.xhtml
Everest0050.xhtml
Everest0051.xhtml
Everest0052.xhtml
Everest0053.xhtml
Everest0054.xhtml
Everest0055.xhtml
Everest0056.xhtml
Everest0057.xhtml
Everest0058.xhtml
Everest0059.xhtml
Everest0060.xhtml
Everest0061.xhtml
Everest0062.xhtml
Everest0063.xhtml
Everest0064.xhtml
Everest0065.xhtml
Everest0066.xhtml
Everest0067.xhtml
Everest0068.xhtml
Everest0069.xhtml
Everest0070.xhtml
Everest0071.xhtml
Everest0072.xhtml
Everest0073.xhtml
Everest0074.xhtml
Everest0075.xhtml
Everest0076.xhtml
Everest0077.xhtml
Everest0078.xhtml
Everest0079.xhtml
Everest0080.xhtml
Everest0081.xhtml
Everest0082.xhtml
footnotes.xhtml
w2e.xhtml