Mal Tael

13. Dunkelheit

areth hatte nicht gewusst, dass es verschiedene Arten von Dunkelheit gibt. Tausende. Obwohl er schon tagelang, oder wochenlang, oder nur stundenlang, er wusste es nicht, in der vierten Kammer des Mondes, für ihn nur die schöne Bezeichnung für ein altes, stinkendes Kellerloch, verbracht hatte, hatte er diese verschiedenen Facetten kennengelernt.

Es gab eine Dunkelheit, die in den Augen schmerzte, weil sie so dunkel ist. Es gab eine Dunkelheit, die einen die Gesichter von Freunden und Verwandten sehen lässt – zu einer Fratze verzerrt. Es gab Dunkelheit, die einen in Verzweiflung wimmernd am Boden liegen ließ. Es gab Dunkelheit, die einen ruhig und betäubt vor sich hinstarren ließ. Aber es gab keine Erkenntnis.

Als Gareth gefragt hatte, wann er denn wieder hinaus kommen würde, hatte die hohe kalte Stimme der Oberin nur gehaucht: „Wenn Du erkannt hast.“

Zunächst war er erstaunt gewesen, dass im Mondkreis auch Frauen hohe Positionen bekleiden konnten. Als er sich an der Pforte des hohen, dunklen Gebäudes inmitten der Stadt gemeldet hatte, woraufhin ihn eine in eine schwarze Robe gekleidete Person ihn in den hinteren Teil geführt hatte, war er davon ausgegangen im Laufe der nächsten zwölf Monate nur noch Männer zu Gesicht zu bekommen. Umso erstaunter war er gewesen, dass die Person, die sich vom aus schwarzem Marmor gefertigten Altar zu ihm umdrehte, eine hochgewachsene Frau war. Sie musste um die fünfzig Jahre alt sein, ihre schwarzen Haare, die mit weißen Strähnen durchsetzt waren, waren in einem Zopf zusammengebunden, und sie trug, wie der schweigsame Mann, der ihn in das Sakristorium hineingeführt hatte, nur eine schwarze Robe, allerdings mit einem silbernen Gurt zusammengehalten. Sie hatte das Gesicht eines Adlers und hatte ihn mit kalten, blauen Augen gemustert, als ob sie die Verwunderung in Gareth‘ Ausdruck gesehen hatte und ihn für seine Ignoranz bestrafen wollte.

„Nun, Prinzling, bist du erstaunt? Ich kann Dir versichern, dass die kleine Welt, die dich bisher umgeben hat, in ihren Grundfesten erschüttert wird.“ Gareth hatte nicht verstanden, was sie ihm damit hatte sagen wollen. Alles was er in der Lage war zu verstehen, war, dass er, entgegen seiner Erwartungen, nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen wurde.

Sie war drei Schritte auf ihn zugekommen, so dass ihre blasse Nasenspitze die seine fast berührte. „Ich bin Meliandra, Legat des Mondkreises des zweiten Zirkels, und ich verspreche dir, dass Du von mir keine Sonderbehandlung bekommen wirst, nur weil Du von hoher Geburt bist. Du wirst Deine Initiation durchlaufen wie jeder andere auch und dann wird sich zeigen, ob Du fähig bist den Mond zu verstehen.“

Das war schon alles, was sie gesagt hatte, dann war er in das Dormatorium geführt worden, wo er zusammen mit 20 anderen Akolyten die Nacht verbracht hatte. Seine Kleider hatte er abgeben müssen und seitdem war er in dieser Robe bekleidet, die ihn hier in der nicht enden wollenden Dunkelheit einfach nicht wärmen wollte. Schon am nächsten Tag wurde er in die Kammer geworfen, wo er – er hatte zu zählen aufgehört – seit Tagen oder Wochen lebte. Und noch immer auf die Erkenntnis wartete.

Er war, wie ihm jetzt klar wurde, dumm und naiv gewesen. Zunächst dadurch, dass er bei der Ratssitzung nicht seinen Mund hatte halten können. Und dann dadurch, dass er geglaubt hatte seinem Vater ein Schnippchen schlagen zu können, indem er in die dunkle Welt des Mondkreises abtauchte. Hätte er nur den Sonnendienst bei Vater Eudes gemacht. Es war schlimm genug, dass die Männer aus Sath nun auf einem Feldzug ohne ihn waren, aber dass er nun in diesem Kellerloch den Sommer verbringen musste, anstatt mit dem einfältigem, aber lieben Pater die Blumen im Garten der Kirche zu pflegen und Schriften über Heilige des Sonnenkreises zu lesen, das war schier unerträglich. Und als er in der Ecke der Kammer hockte und in die Dunkelheit starrte, fasste Gareth einen Entschluss. Er würde nicht mehr vorlaut seine Meinung heraus plappern und vorschnelle Entscheidungen treffen. Er würde zurückhaltend werden, abwarten, wie eine Schlange, die in der Dunkelheit still und ruhig wartet, bis sie im geeigneten Moment zuschnappt. Er würde seine Gedanken und Gefühle für sich behalten und keine Schwäche zeigen.

In einer Geste von Entschlossenheit wischte sich Gareth über das feuchte, tränenverschmierte Gesicht und schaute nach oben. Zum ersten Mal bemerkte er eine winzige Öffnung in der Decke der Kammer. Die Öffnung musste meterweit oben sein. Das merkwürdige war, dass die Öffnung direkt nach draußen führte, so dass er außer der Schwärze der Nacht nur einen leichten Schimmer an der Kante wahrnahm. Die Öffnung musste bei Tag verschlossen gewesen sein, denn sonst hätte Gareth das einfallende Licht bemerkt. Was er nun aber sah, war, dass der silberne Schimmer im Laufe der Zeit immer voller wurde. Der Mond schob sich genau in die Öffnung hinein, so dass nach einer guten Stunde die kreisrunde Öffnung vollständig vom Mond ausgefüllt war. Gareth schaute hinauf und starrte den Mond an.

Das silberne Licht, das von ihm ausging hatte fast eine alkoholisierende Wirkung auf ihn. Nach den Tagen der Dunkelheit fühlte er sich auf einmal leicht und frei.

Er würde erdulden, was auf ihn zukommen würde. Und er würde stark bleiben.