Mal Kallin
5. Schauergeschichten
ie Mädchen kicherten
und lümmelten sich in die weiche Bequemlichkeit der flauschigen
Sofas. Cathylls Eltern hatten diese
roten Samtdiwane aus einem fernen Land kommen lassen, wo es
Herrscher gab, die den ganzen Tag Wein tranken und die verschiedene
Frauen hatten. Hier in Ankil hatte man nur den Luxus im Sommer
abends ein Feuer machen zu können und Ma’an hatte tatsächlich
Cathyll und den Zofen und Mägden ein Glas Apfelwein erlaubt. Sie
alle wollten noch eine Geschichte der rotwangigen guten Seele des
Hauses, die auch am Abend noch mit einer Haube im
Gesellschaftszimmer saß, hören.
„Erzähle uns von den Monstern im Topf“, forderte eines der Mädchen, Mariella, die über ein laute Organ und ein einfaches Gemüt verfügte. Cathyll hatte schon Geschichten vom „Topf“ gehört und war nicht darauf erpicht eine weitere Schaudergeschichte zu hören. Dazu war ihr der „Topf“ zu nahe gelegen, unterhalb der Festung. Und in seiner Funktion als immer noch genutztes Verließ, in das man Verbrecher hineinwarf, war ihr eine Erzählung über die Gräueltaten, die sich darin abspielten, zu realistisch. Also gut“, fing Ma’an an, „wie ihr wisst gibt es im Topf weder Fenster noch Türen, nur ein verschlossenes Loch, durch das man die üblen Menschen, die es verdient haben, hineinwirft. Es befinden sich Verbrecher dort, Übeltäter, Ehebrecher, Diebe und Mörder. Am Anfang, so hieß es, war der Topf nur drei Meter tief.“ Ma’an machte eine bedeutungsschwere Pause und obwohl sie nicht wollte, fühlte Cathyll, wie sie von der Beschreibung in Bann gezogen wurde. „Aber nur einmal in der Woche wird dort Essen und Wasser hinabgelassen, so dass den Menschen nichts anderes übrigbleibt, als Erde zu essen. Nun ist das Loch schon über 10 Meter tief. Natürlich gibt es dort auch keinen Abort. Es stinkt dort unglaublich, so sehr, dass man schon, wenn man in die Nähe des Steinhauses, das den Topf umgibt, kommt, am liebsten wieder umdreht. Es heißt sogar“, und wieder machte sie eine Pause, „dass die Menschen sich gegenseitig aufessen.“ Die Mädchen kreischten, Cathylls Cousine Sybil stieß einen spitzen Schrei aus, sie war erst sieben. Begeistert bat sie:“ Ma’an, erzähle uns noch die Geschichte von den Gefangenen, die fliehen konnten.“
„Oh, diese Geschichte ist zu grausam für ein paar junge Mädchen wie ihr es seid“, erwiderte Ma’an kokett, den Widerspruch der Zuhörerinnen schon fest einplanend. Und so kam es auch. Die Mädchen brüllten und schrien, dass sie die Geschichte erzählen solle, denn sie seien schon alt genug und würden sich bestimmt nicht fürchten. Cathyll war sich da nicht so ganz sicher. Sie kannte Ma’ans Tendenz gerade die grausigen Details genauestens zu beschreiben.
„Es gab einmal einen überaus gutmütigen Wachmann namens Beryll, der den wöchentlichen Gang zum Topf antrat, um die Gefangenen mit Proviant zu versorgen. Man hatte Beryll geschickt, denn er war so gutmütig, dass ihm selbst der Gestank, der vom Topf ausging, nichts ausmachte angesichts des Gedankens, dass er den Menschen dort helfen konnte. Jede Woche hob er also den schweren Stein, der auf der Holzplatte lag, die auf der runden Öffnung lag, die über dem Loch lag, welches den einzigen Einlass in den Topf bietet. Dann ließ er mit einem Seil einen Sack mit Essen hinab und einen Eimer mit Wasser. Er wartete 10 Minuten und dann zog er den leeren Eimer mit dem leeren Sack darin zu sich nach oben. So ging das Woche für Woche. Alles was Beryll von den Menschen im Topf mitbekam waren Schreie, Grunzer und wütendes Gekreische. Die Menschen dort waren im Laufe der Tage, Monate und Jahre, die sie dort unten verbrachten, zu Tieren geworden.
Eines Tages aber, als Beryll den Eimer wieder hoch zog, bemerkte er, dass dieser etwas schwerer als normalerweise war. Als er ihn über die Öffnung zog, bewegte sich im Eimer, unter dem Sack, etwas. Er zog den Sack hinfort und sah – „ hier hielt die Kammerzofe wieder inne, um die Aufmerksamkeit ihrer Zuhörerinnen zu sichern, „ein altes hutzeliges Männlein von der Größe eines Kindes. Beryll wollte das Männlein fragen, was es denn hier oben wolle, da stieß der Alte ihm einen Dolch, geformt aus einer Wurzel, in den Hals.“ Wieder kreischten die Mädchen. „Er nahm das Seil des Wachmannes, verknotete ein Ende an einem Baum und ließ dieses Seil in die dunkle Öffnung herab. Sofort hörte man von unten ein Schreien und Stöhnen – offensichtlich kämpfte die Menge unten darum als erstes hinaufzuklettern. Nach und nach krochen die finstersten Gestalten aus dem Loch, von Hass verzerrte Gesichter, dürre Körper, die doch, angetrieben von ihrem Wahnsinn, über eine enorme Stärke verfügten. Und im Laufe der nächsten Wochen fand man in abgelegenen Ecken der Burg verstümmelte Leichen, die von den Entflohenen in der Dunkelheit abgestochen wurden – obwohl man immer mehr von den Gaunern einfangen und zurückwerfen konnte. Und manche Leute sagen, dass immer noch ein paar Missetäter ihr Unheil in Mal Kallin treiben und nachts durch die Hallen huschen. Da – hört ihr es?“ Mit diesen Worten drehte sich Ma’an um und tat als ob sie lauschte. Wieder kreischten die Mädchen und Cathyll lächelte in sich hinein, denn sie wusste, dass ihre Kammerzofe diese Geschichte schon hunderte Male erzählt hatte und im Laufe der Zeit immer weiter verändert und schauriger gemacht hatte.
6. Von Wölfen und Rohlingen
er Geruch des
gebratenen Kaninchens ließ Erinnerungen in An’luin hochsteigen. Wenn er die Augen
schloss, konnte er sich in seinen Sümpfen sehen, selbst vor dem
Feuer an der Hütte sitzend. Ein einfaches Leben, und doch im Sinne
von N’tor, der das Töten anderer Menschen nur im Notfalle guthieß.
Wieder einmal wurde die Illusion durch das laute Brüllen einer der
Nordmänner durchbrochen. Steinn brüstete sich damit die meisten
Männer in seinem Leben getötet zu haben, obwohl An’luin ziemlich
genau beobachtet hatte, dass er beim Ausnehmen des Kaninchens schon
mit Übelkeit gekämpft hatte.
Die Wolfinger waren an einem unbewohnten Küstenabschnitt an Land gegangen. Starkir und seine Männer wollten am Tage vor der „großen Schlacht“ noch einmal an Land gehen, um sich mit richtigem Fleisch zu stärken. Diese Sitte war Starkirs Mannen zu eigen. Hjete hatte Starkir wohl von der Wichtigkeit einer kräftigenden Ernährung überzeugt, bevor man einen Kampf zu kämpfen hatte. Trotz des unerwarteten Genusses des Fleisches konnte An’luin sich nicht entspannen. Er wusste, dass die Männer erwarteten, dass sich hinter den nächsten größeren Landzungen irgendwann die Zinnen einer Stadt auftun würden. Er konnte nicht dagegen ankämpfen sich vorzustellen was die Norr mit ihm machen würden, wenn sie feststellten, dass diese Stadt nicht existierte. Sie würden ihn mit großer Sicherheit ihren seltsam blutrünstigen Göttern opfern, stellte er sich vor. Diese Menschen, in deren Hand er sich befand, glaubten daran, dass sie, wenn sei im Kampf fielen, in eine Halle kämen, wo sie mit ihren Göttern Tag und Nacht Met saufen könnten. Obwohl dies für An’luin keine Vorstellung war, die Entzücken auslöste, so schien es die Männer doch zu motivieren im Kampf zu sterben. Er schaute auf Fischauges Narbe und überlegte sich, ob dieser sich auch wünschte lieber gestorben zu sein, anstatt hässlich wie ein Fisch durch die Gegend zu laufen. Dann dachte er an seine Mutter. Sie müsste inzwischen wieder zur Hütte gekommen sein und würde An’luin nicht vorfinden. Er wusste, dass sie sich Sorgen machen würde und er wünschte sich, dass er ihr auf irgendeine Art mitteilen konnte, dass er lebte (noch) und dass es ihm verhältnismäßig gut ging. Er würde heute Abend für Ganjan, den Vermittler, singen. Ganjan sorgte dafür, dass jedes Wesen jedes andere Wesen erkannte und respektierte. Ob er dafür beten sollte, dass die Wolfinger eine Stadt finden würden, wusste er nicht. Er würde Leid über unzählige Menschen bringen.
Er schaute zum kleinen Nod herüber. Nod saß ihm gegenüber an der Feuerstelle und beobachtete ihn. An’luin beschloss ihn anzusprechen. Er ging hinüber.
„Du bist Nod, nicht wahr?“
Das Sommersprossengesicht blickte ihn an. Obwohl Nod ein junges Gesicht hatte, war irgendetwas an ihm, das ihn alt erscheinen ließ. Er nickte. „Willst Du mit mir zusammen singen, heute Nacht?“ Nod blickte An’luin kurz an und schüttelte dann den Kopf. An’luin kam sich blöd vor. Er hatte eigentlich das Gefühl gehabt, dass sie beide etwas verband, doch dieses Gefühl war spätestens jetzt verloren gegangen. Er wollte sich gerade erheben um zu gehen, da zog Nod an seinem Ärmel.
„Versuche nicht zu fliehen, heute Nacht.“
„Was meinst du?“
„Die anderen sind zu blöde und zu gierig es zu erkennen, aber ich weiß genau, dass du gelogen hast.“ An’luin schluckte. „Aber wenn du fliehst, dann machen sie Hackfleisch aus dir. Vielleicht hast du Glück und da oben ist irgendwo eine kleine Siedlung, dann kannst du dich herausreden.“
An’luin wusste nicht, was er erwidern sollte. Er wollte nicht zugeben, dass die Stadt erfunden war, aber auf der anderen Seite schien es auch sinnlos Nod etwas vorzumachen. Er wechselte das Thema.
„Hast du auch schon einmal versucht zu fliehen?“
Schmatzend schüttelte Nod mit dem Kopf.
„Aber, ich meine, willst Du nicht weg von diesen Rohlingen?“
Nun blickte Nod herüber und fixierte An’luin mit seinem Blick. „Rohlinge. Was verstehst du schon von Rohlingen?“
An’luin wurde wütend. Dieses kleine Kindergesicht wollte ihm große Lebensweisheiten auftischen. Doch auf der anderen Seite hatte Nod irgendwie Recht. Was wusste er schon von Rohlingen? Hatte er außer dem rauhen Wetter in den Sümpfen und den feilschenden Marktfrauen in Cal’l irgendetwas Schlimmes erlebt? Er hatte von Wolfingern und Drakingern gehört, er hatte auch von anderen Völkern und anderen Ländern gehört, aber er hatte sich nie damit auseinandersetzen müssen – bis jetzt. Er hatte in der Tat keine Ahnung von Rohlingen, obwohl er schon drei Jahre älter war als Nod. Dieser sagte: „Du hast Glück, sie mögen dich. So wie die Götter dich mögen müssen. Also setze es nicht aufs Spiel indem du fliehst.“
7. Der bittere Geschmack der Wahrheit
igentlich hatte sie
zurückgehen wollen. Sie hatte gewusst, dass es bald Zeit für die
Abendmahlzeit war und sie wollte Ma’an keinen Anlass geben auf sie
böse zu sein. Doch dann hatte sie, zunächst sehr leise und wie aus
weiter Ferne, ein Murmeln gehört.
Oder war es ein Zischen gewesen. Ihre Neugier, die im Zweifelsfalle
über ihre Vernunft siegte, hatte auch diesmal überwogen und sie war
dem Murmeln gefolgt, bog einen Gang ab, den sie vorher nie
wahrgenommen hatte und wurde allmählich gewahr, dass es Stimmen
waren, die sie hörte. Der Kampf, den sie mit ihrem Gewissen
ausfocht war nur von kurzer Dauer. Sie redete sich ein, dass sie,
falls sie etwas hören würde, das nicht für ihre Ohren bestimmt war,
sie immer noch den Gang zurückschleichen könne und somit nichts
Unehrenhaftes tun würde.
Während sie dem schmalen Spalt folgte wurden die Stimmen lauter und sie wurde unsicherer als sie erkannte, dass die Stimmen, die sie nun deutlicher vernahm, nicht unbekannt waren. Es war die schrille Stimme ihrer Tante Eleanor und das sonore Grummeln von Rabec, ihrem persönlichen Berater, Verwalter und Vertrautem, kurz: ihrem Raethgir. Sie wollte schon umkehren, da sie ahnte, dass es in einem Gespräch zwischen den beiden um langweilige Staatsgeschäfte gehen musste, doch dann hörte sie ihren Namen.
„…wird Cathyll irgendwann Verdacht schöpfen.“
„Beruhige dich, Eleanor. Sie ist noch ein Kind und hat auch vor eines zu bleiben. Ich habe heute mit ihr gesprochen.“
„…dennoch wirst Du Dich mit dem Problem früher oder später auseinandersetzen müssen, Darius. Du fängst an sie zu mögen und das gefällt mir nicht.“
Cathylls Herz klopfte schneller. Was redeten die da über sie? Es hörte sich gar nicht mehr so zutraulich und liebevoll an, wie ihr Berater und ihre Tante sein konnten.
„Wir werden das Problem lösen, so wie wir das Problem mit ihren Eltern gelöst haben. Aber noch nicht jetzt. Das wäre zu auffällig.“
„Ja, rede Dir nur ein, es würde Dir später leichter fallen, Darius. Sie verdreht Dir ja jetzt schon die Augen und ich sehe Deine Blicke.“
„Ich habe nur Blicke für Dich, das weißt Du.“
„Dann töte sie.“
Cathyll hatte genug gehört. Sie stieß sich vom Stein ab, an den sie sich zuvor noch sanft gelehnt hatte, um sogleich mit dem Kopf gegen die hintere Steinwand zu stoßen. Ihre Abscheu war so groß gewesen, dass sie die Enge des Ganges außer Acht gelassen hatte. Sie betastete ihren Hinterkopf und spürte noch warmes Blut. Was hatten ihre Tante und ihr Raethgir gesagt? Die Eltern getötet… töte sie…. Konnte das wirklich wahr sein, oder war das nur eine ihrer Vorstellungen gewesen? Hatten Darius Rabec und ihre Tante Eleanor wirklich ihre Eltern töten lassen?
Sie rannte den Gang hinunter. Sie stieß gegen eine Mauer, die sie aus Angst und Verzweiflung und weil sie diesen Abschnitt der Geheimgänge noch nicht kannte, nicht erahnt hatte. Schon als sie zu Boden fiel, liefen ihr die ersten Tränen die Wangen herunter und schon bevor der Schmerz über die Platzwunde am Kopf einsetzte, stieß sie einen lauten Schluchzer aus. Was hatte Tante Eleanor gesagt? Wie wir das Problem mit ihren Eltern gelöst hatten? Was bedeutete das? Sie spürte einen Klumpen in ihrem Magen. Was bedeutete das Wort Problem überhaupt? Kann ein Mensch ein Problem sein? Und wenn ja, wie löst man dieses Problem?
Nun ließ sie ihrer Verzweiflung ihren freien Lauf. Sie wusste, dass sie nicht gehört werden konnte. Sie wusste auch, dass sie nicht zum Abendessen gehen würde. Sie konnte nicht. Sie würde liegenbleiben. Einfach nur liegenbleiben.
Als Rabec, Eleanor, Cyril und Sybil, ihre Cousinen, zusammen mit einigen anderen Edelleuten, die abendlich eingeladen wurden, am Hochtisch saßen und auf Cathyll warteten, war ihnen noch nicht klar, dass sie sie nie wieder sehen würden. Sie dachten sich zunächst auch nichts dabei, da sie die Launen der zukünftigen Herrscherin kannten. Es war schon öfter vorgekommen, dass die junge Herrscherin nicht zur Abendmahlzeit erschienen war, obwohl Rabec und auch ihre Tante Eleanor ihr versucht hatten klarzumachen, dass dies für eine angehende Herrscherin nicht schicklich sei. So verkündete Tante Eleanor, dass das Mahl beginne und selbst die Kaufleute lächelten nur bei dem Gedanken, dass ihre zukünftige Königin nicht teilnahm, obwohl ihre Abwesenheit in einigen Jahren ein Affront gegenüber den geladenen Gästen gewesen wäre. Nur Ma’an wunderte sich, denn sie kannte die Stimmungen und die Gelegenheiten, die Cathylls Fernbleiben vorausgingen. Sie hatte diese aber von der Jagd heimkehren sehen und sie wusste, dass Cathyll Hunger wie ein Bär gehabt hatte.
Cathyll indes lief durch die Stadt Mal Kallin. Es kam nicht oft vor, dass sie die Festung, die über der Stadt thronte, verließ und durch das Tor hinab schritt, die breite Hauptstraße hinab, die sich an den Steinhäusern der wohlhabenderen bis zu den Holzhütten der ärmeren Bewohner bis zum Hafen schlängelte. Von dieser Straße ab gab es noch einige Querstraßen und Gassen, die sich verwinkelt der hügeligen Landschaft anpassten, in denen Werkstätten, Schmieden, Händler und Gasthäuser ihre Dienste und Waren anboten. Aber Cathyll nahm die Gerüche, die sich aus den verschiedensten Quellen der Stadt zusammensetzten und sich zu einem Konglomerat aus Meeressalz, Tuchmacherfarbe, Pferdekot und den Kloaken der Stadt vermengten, nicht wahr. Sie wusste nur, dass sie aus dem Palast musste, weg von den Menschen, die ihr so vertraut gewesen waren – doch das schien Jahre her. Sie lief plan- und ziellos durch die Straßen. Sie hatte keine Freunde hier, zumindest hätte sie nicht gewusst wo die Quartiere der einfachen Bediensteten waren, die zuweilen bei Hofe arbeiteten und hier in der Stadt wohnten. Als sie eine Weile gelaufen war, merkte sie, dass sie an den Landungsstegen angelangt war. Hier roch die Luft frisch und salzig und einige Schiffe verteilten sich über den Hafen. Sollte sie einfach auf ein Schiff laufen, um sich dem Zugriff ihrer Tante und ihres Ræthgir zu entziehen? Als sie am Steg entlanglief, ihre Röcke ordnend und die Schiffe hinaufsah, auf denen jeweils ein bis zwei Krieger standen, um unliebsamen Besuchern den Zugang zu verweigern, da wusste sie, dass sie nicht den Mut haben würde, sich in die Hände eines ihr unbekannten Kapitäns zu begeben, der sie im Zweifelsfall sowieso dem Königshof übergeben würde, um es sich nicht mit dem einflussreichen Haus Marc zu verderben.
So drehte sie um. Vielleicht sollte sie doch lieber zurück zur Burg kehren und versuchen die ganze Sache zu überdenken. Sie konnte sich auch verhört haben. Die Stimmen vom anderen Ende des Ganges – vielleicht waren das Geister gewesen, Kobolde sogar, die versuchten sie zu verwirren. Ma’an hatte ihr von Wesen erzählt, die in alten Gemäuern hausten und die Menschen beneideten, die aus Fleisch und Blut waren. Aus Langeweile und aus Neid versuchten diese Wesen die Menschen, die sie umgaben, ins Unglück zu stürzen. Natürlich – so musste es sein. Cathyll fiel ein Stein vom Herzen und gleichzeitig schämte sich sie für ihre Dummheit. Sie würde sich mit Rabec aussprechen und sie würde die Gänge der Burg von einem Priester der Kirche der Sonne von Geisterwesen befreien lassen. Das war es. Sie lachte kurz auf und wischte sich über das Gesicht. Als sie aufblickte, um zurück zur Burg zu gehen, sah sie, dass vier Gestalten von der Stadt auf sie zukamen, die sie offenbar schon erblickt hatten. Sie schienen zu feixen und sich gegenseitig die Ellenbogen in die Seiten zu hauen. „Schönes Fräulein, wohin des Wegs?“, brüllte einer zu den Weg hinab. Reflexartig schaute sie zu Boden, doch sie wusste, dass sie, wenn sie zurück in die Stadt gehen würde, nicht an den Männern vorbeikommen würde. „Was denn, Mylady, so schüchtern?“ Cathylls Zurückhaltung hatte die Männer anscheinend zunehmend motiviert.
Sie blickte sich um. Noch konnte sie seitwärts abbiegen, die Küstenstraße entlang, an der sich Handels-, Lager- und Wirtshäuser gleichermaßen abwechselten. Sie musste sich schnell entscheiden, wenn sie die offensichtlich betrunkene Schar der Männer vermeiden wollte, also ging sie rechts den Küstenweg entlang. Sie hörte die Männer noch etwas rufen und lachen und sie wollte lieber nicht wissen, was das bedeuten sollte. Natürlich würde sich ihr niemand nähern, wenn er ihre wahre Identität kennte, die Frage war nur, ob man einem jungen, verwirrten Mädchen an diesem Ort glauben würde, wenn sie behauptete, die Thronerbin des Hauses Marc zu sein.
Die Straße schlängelte sich an der Küste entlang und Cathyll wusste, dass sie eine Uferbiegung ausnutzen musste, um zu verschwinden. Kurz nach der Biegung einer kleinen Landzunge begab sie sich in einen Gasthof, der nicht allzu düster und unheimlich aussah, den „Grünen Butt“. Sie öffnete die schwere Holztür und 30 Gesichter blickten sie an.
8. Die Rüstung von Brönn
ls er am Steven stand
und in die Dunkelheit hinausblickte,
wusste An’luin nicht, was überwog: seine Müdigkeit – er hatte, wenn
überhaupt, höchstens zwei Stunden geschlafen, zum einen, weil er
nicht hatte einschlafen können, zum anderen, weil die Männer schon
vor Sonnenaufgang aufgebrochen waren -, seine Übelkeit – da er das
Land nicht erkennen konnte, hatten seine Augen keinen
Orientierungspunkt und sein Magen schien sich im freien Fall zu
befinden – oder seine Angst, wie lange es dauern würde, bis die
Männer die Geduld verlieren würden und ihn kielholen lassen würden
oder ihm eine Wassertaufe bescheren würden. Er verspürte den
starken Impuls einfach ins Wasser zu springen, um seiner misslichen
Lage zu entgehen, doch er wusste, dass er keine fünf Minuten
überleben würde. Er hatte zu Ganjan singen wollen, doch er konnte
nicht. Er musste an die kalten Augen von Nod denken, dem die Götter
offensichtlich nichts mehr bedeuteten. Wenn die Götter Nod nicht
geholfen hatten – warum sollten sie dann ihm helfen? Er hatte sich
den Wolfingern sogar als Glücksbringer dargeboten.
Mit aller Wahrscheinlichkeit würde er heute sterben. Er drehte sich um und sah in die Gesichter der Männer. Sie wirkten heute besonders konzentriert und entschlossen. Starkir stand mit Eyvind am Ruder. Niemand schien zu ahnen, dass er sie belogen hatte, damit sie seine Stadt nicht überfallen würden. Der Mond schien hell, so dass man die Felsen im Westen, die sich vom Wasser abhoben, gut erkennen konnte. Starkir rief etwas und die Männer legten sich ihre Lederwämse oder Kettenhemden an. Mit durchringendem Blick fixierte Starkir An’luin. Dann winkte er ihn mit einer herrischen Geste zu sich. Ketill kam ebenfalls und übersetzte die Worte des Anführers. „Starkir möchte wissen, ob du bereit bist, heute ebenfalls für die Ehre und den Ruhm der Wolfinger zu kämpfen, um dir einen Platz an Wadens Tafel zu sichern. In diesem Falle bietet er dir Waffen und Rüstung von Brönn an, der schon das Wassermahl zu sich genommen hat.“
An’luin schaute Ketill verwirrt an. „Dies ist eine große Ehre“, fügte dieser hinzu, wie um An’luin zu bedeuten, dass er bloß nicht ablehnen solle. Aber An’luin war sich nicht so sicher, dass er diese „Ehre“ annehmen sollte. Er hatte noch nie einem Menschen weh getan, geschweige denn, einen getötet und er würde es auch nicht wollen oder können. Aber er vermutete, dass die Wolfinger dies sowieso nicht verstehen würden. Also nickte er und er sah wie Starkir lächelte. Er verstand nicht, warum die Norr ihn in ihre Herzen geschlossen hatten – wenn sie denn so etwas wie Herzen hatten. Ketill legte ihm den Haufen von Kleidern auf die ausgetreckten Arme, so dass An’luin fast nach vorne über fiel, so schwer war die Rüstung. Er ging wieder zur Vorderseite des Bootes und zog sie sich an.
9. Rettung in der Not
nfangs hatte man sie
noch in Ruhe gelassen. Vielleicht waren die Männer so überrascht
gewesen, dass ein attraktives Mädchen in teurem Kleid das Gasthaus
betreten hatte, dass sie sich zurückhielten. Aber Cathyll hatte von
Anfang an das Gefühl gehabt, dass es keine gute Idee war eine
Hafenwirtschaft zu betreten. Sie hatte gehofft, dass es voll genug
wäre, damit sie sich in eine Ecke zurückziehen könnte und
unauffällig verweilen könnte, aber sobald sie die ersten Blicke
durch den Gastraum hatte schweifen lassen, war ihr klar gewesen,
dass sie die Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde.
Offensichtlich war der „Grüne Butt“ hauptsächlich von einheimischen Hafenarbeitern frequentiert, die sich insoweit kannten, dass der interne Kräftehaushalt geregelt war. Das bedeutet aber auch, dass Eindringlinge diesen Haushalt durchbrachen und somit ein Gleichgewicht störten, das lieber beibehalten worden wäre. Als Cathyll den ersten Schluck ihres Bieres in einer Ecke des Schankraumes eingenommen hatte, kam der erste Ruf: „Mädchen, komm rüber, hier ist noch Platz.“ Sie versuchte den Ruf nicht zu hören, doch das brachte ihr noch mehr Aufmerksamkeit. Die Männer, die am Tresen gesessen hatten, drehten sich nun zu ihr, alle in schwerer Wollkleidung mit wettergegerbten Gesichtern. Der Gastraum war relativ dunkel, und doch wünschte sich Cathyll, dass er noch dunkler wäre. Sie sah einen Mann von einem Tisch am anderen Ende des Raumes aufstehen, einen Bierkrug erhebend. Er war von großer Gestalt, hatte rote, zerzauste Haare und stand auf wackligen Beinen. Sein Gesicht war von einer großen Narbe gekennzeichnet, die sich senkrecht über seine linke Wange senkte.
„Stoßt mit mir an, Frollein.“ Der Raum lachte. Als Cathyll es wagte kurz vom Tisch aufzuschauen, sah sie, dass sogar der glatzköpfige Wirt lachte. Von ihm war keine Hilfe zu erwarten. Sie wünschte nun, dass sie niemals so dumm gewesen wäre in ihrer infantilen Angst die Burg zu verlassen und einfach in die Stadt zu laufen. Wenn Rabec jetzt hier wäre, dann könnte er sie beschützen und aus dieser üblen Gaststätte herausholen. Warum nur hatte sie seine Loyalität in Frage gestellt.
Sie sah den großen Rothaarigen nun langsam auf ihren Tisch zuwanken. Der ganze Raum schaute gebannt zu. Auf halbem Wege rülpste er laut. Schlurfend kam er auf den Tisch zu und blieb stehen. Cathyll konnte ihn nicht länger ignorieren und sie schaute auf. Er schaute sie stumm an. Dann ließ er sich krachend auf der Bank direkt neben ihr nieder.
„Du süßes Ding.“ Cathyll schaute zur Seite.
„Was ist denn, bin ich nicht auch ein schöner Junge?“, kicherte er. Vereinzeltes Gelächter. Der Mann nahm Cathylls Kinn in seine großen Hände und zog ihr Gesicht zu sich.
„Du bist eher schüchtern, oder? Du sagst nicht viel. Du willst einfach geküsst werden.“ Er beugte sich zu ihr hinab und sie konnte seinen bierigen Atem riechen. Sie entwand sich und kroch in die Ecke der Bank. Der Rothaarige grunzte. „Ich bin Svein, und man weist mich nicht ab.“ Er schob seinen massigen Körper an sie heran und legte seinen Arm um ihre Schulter. „Komm Mädchen, lass uns gehen. Ich sehe, dich stören die vielen Menschen.“ Cathyll wollte sich aus seinem Griff herausdrehen, doch gegen seine Stärke kam sie nicht an. Er drückte ihr einen stinkenden Kuss auf die Stirn.
„Lassen sie mich bitte in Ruhe, ich bin Ca…“ Sie kam nicht weiter, denn schon wieder hatte er ihren Kopf gedreht. Sie erwartete nun seine Lippen auf ihren, doch irgendetwas ließ ihn innehalten. Sie schaute auf und sah eine Gestalt, die sich an die andere Seite des Tisches gesetzt hatte.
„An Deiner Stelle würde ich ihm Deinen Namen nicht sagen. Das würde die Sache nur unnötig verkomplizieren.“, sagte eine sanfte dunkle Stimme. Cathyll schaute genauer hin und sah, dass der Mann, der diese Worte gesprochen hatte, anders als die anderen hier gekleidet war. Er trug einen einfarbigen, braunen Umhang.
Svein grunzte wieder. Er spuckte auf den Boden. „Lass mich in Frieden, Vater Balain. Man will doch auch mal seinen Spaß.“ Statt zu antworten blickte dieser Pater Balain Svein einfach nur an. Dieser sabbelte etwas vor sich hin und stand schimpfend auf. Cathyll war beeindruckt. Dieser Vater musste eine Waffe haben, die stärker war, als die Muskelkraft Sveins. Als dieser den Tisch verlassen hatte, blickte sie genauer auf den Priester. Sie sah in das Gesicht eines älteren weißhaarigen Mannes mit Bart, dessen Gesicht faltig und dünn war, dessen Augen aber eine besondere Strahlkraft hatten. Sein Umhang war braun, also musste er ein Priester der Kirche der Sonne sein, was das Leuchten in seinen Augen erklären konnte. Cathyll wusste nicht was sie sagen sollte, obwohl ihr klar war, dass sie dem Manne danken musste. Aber alles, was sie sagen konnte, war: „Ich will nach Hause.“ Daraufhin legte der Pater seinen Kopf in den Nacken und fing schallend an zu lachen. „Das ist gut, Eure Hoheit.“ Nun wurde Cathyll doch ein wenig böse. „Was lacht Ihr über mich? Ich will nach Hause, habe ich gesagt.“ „Natürlich wollt Ihr nach Hause, Eure Hoheit. Ich werde Euch auch gleich nach Hause begleiten. Ich dachte nur…“ „Ihr fragt Euch, was ich hier mache.“ Statt zu antworten, schaute der Pater sie an. Schon wieder, dachte sie. Er benutzt keine Worte, und dennoch muss man reagieren. „Ich bedanke mich bei Euch, Vater. Ich habe mich verlaufen.“ Der Vater legte sein schmales Gesicht zu Seite und lächelte, wie Cathyll zu deuten meinte, etwas spöttisch. „Cathyll Marc hat sich verlaufen? Das kann ich mir kaum vorstellen. Aber vielleicht könnt Ihr mir alles erklären, sobald Ihr Vertrauen zu Eurem Retter gefasst habt.“ Es stimmte, Cathyll hatte irgendwie kein Vertrauen, was, wie sie feststellte, nicht so sehr mit der Person des Paters zu tun hatte, sondern eher mit der Umgebung, die ihr einfach immer noch nur abstoßend vorkam. „Vielleicht möchtet Ihr mir erst bei einem Wein in meiner Sakristei erklären, was passiert ist?“, schlug der alte Mann vor. Cathyll nickte nur, insgeheim dankbar für das Angebot, alleine, weil es ihr Zeit verschaffte. So grüßte der Pater den Wirt beim Hinausgehen, legte einen Bronzekuning auf den Tresen und die beiden traten hinaus, wo es mittlerweile dunkel geworden war.
„Ich habe meine Sakristei auf diesem Hügel da“, damit deutete Balain nach oben, an einen Ort etwas abseits der Stadt, wo ein Felsen etwas aus dem Felsen herausragte. Die Patres der Kirche der Sonne hatten normalerweise kleine Sakristeien für sich, zu denen man kommen und um Rat bitten konnte. Meist lebte ein Pater mit einem Adepten zusammen, den er im Laufe der Jahre in die Lehre einweihte. Cathyll wusste, dass die Patres ein einsames und armes Leben führten.
Sie hatte sich allerdings nie besonders mit dieser neuen Religion beschäftigt, außer den üblichen Morgengebeten und dem wöchentlichen Gutha, dem Gespräch, das man mit dem Vater führte, hatte sie nicht praktiziert. Nun war sie allerdings froh um das Angebot des Vaters.
Als sie den steilen kleinen Weg hinaufgingen fragte Cathyll: „Warum haben Sie gesagt, dass ich dem Mann nicht meinen Namen sagen sollte? Er hätte dann nicht mehr gewagt mich anzufassen.“
„Das stimmt, Cathyll Marc. Zumindest hätte er innegehalten und überlegt. Dann hätte er zwei Möglichkeiten gehabt. Entweder hätte er sich gefragt, was die Königstochter in so einer Kaschemme suchen würde und Dich für eine Lügnerin gehalten, was ihn eher noch wütender gemacht hätte. Oder er hätte Euch geglaubt. Dann hätte er mit Schrecken daran gedacht, dass er schon viel zu weit gegangen ist und eine heftige Strafe auf ihn gewartet hätte – öffentliches Auspeitschen wäre das mindeste gewesen, das er zu erwarten hätte, im schlimmsten Falle wäre er des Todes gewesen. Dann hätte er überlegt, ob es nicht vielleicht doch besser wäre Euch selber zu beseitigen.“ Cathyll starrte ihn ungläubig an. Sie hätte diesem Kerl in dem Moment zwar alles Üble an den Hals gewünscht, aber dass er sterben müsse, hätte sie niemals gewollt. Und dennoch, was Balain gesagt hatte, ließ sie nachdenken. Wenn Rabec davon erfahren hätte, dann hätte er tatsächlich dafür gesorgt, dass der Mann ausreichend bestraft würde. Er hatte einem Manne schon einmal die Hand abhacken lassen, dafür dass dieser einen Apfel aus den königlichen Kammern mit nach Hause genommen hatte. Auf Cathylls Flehen nach Vergebung hin hatte Rabec zwar eingestanden, dass die Strafe überaus hart war, aber er hatte darauf bestanden, dass manchmal ein Exempel statuiert werden müsse.
Rabec, so dachte sie plötzlich, war kein Mann, der halbe Sachen machte.
Vater Balain öffnete die Holztür in seine kleine Sakristei und Cathyll fand sich in einem runden kleinen Zimmer wieder, in dem nichts als ein Haufen Stroh, ein kleiner Tisch und ein Stuhl waren. „Der Stuhl ist für Dich, äh, Euch“, sagte Pater Balain, „Ich bin diese Ansprache nicht gewohnt.“ Cathyll nickte nur und setzte sich. Der Pater kniete sich vor sie hin und schaute sie an. Das erste Mal hatte Cathyll das Gefühl in Ruhe zurückblicken zu können. Entgegen ihrer Erwartung fand sie keine Arroganz in den Augen des Paters, sondern nur Aufmerksamkeit. Irgendwie schien es ihr, als ob der Pater keine Meinungen hatte, die zwischen ihnen stehen könnten, und so fing sie einfach an zu reden.
Sie erzählte dem Pater von den geheimen Gängen in der Burg und dem Gespräch zwischen ihrem Berater und ihrer Tante, das sie belauscht hatte. Sie erklärte lachend, dass es wohl Geister geben müsse, oder dass sie sich wahrscheinlich verhört haben müsse. Pater Balain nickte, was Cathyll Erleichterung verschaffte. Also glaubte er auch nicht, dass Rabec Böses im Schilde führen könnte.
„Wie lange ist es her, dass Ihr die Burg verlassen habt?“, fragte Balain.
„Ein paar Stunden, wieso?“
„Weiß Rabec von den Gängen?“
„Nein, er weiß nichts davon.“
„Ihr habt die Burg sicher in Eile verlassen, dass Ihr wie ein verschrecktes Huhn im Grünen Butt gelandet seid.“
Cathyll wollte gerade wütend werden, nur enge Freunde durften sie mit einem Tier vergleichen. Doch dann dachte sie über Balains Einwand nach. Sie war aus dem Gang getaumelt. Hatte sie den geheimen Eingang wieder verschlossen? Sie konnte sich nicht erinnern, aber sie war sich fast sicher, dass sie es nicht getan hatte. Mittlerweile musste Rabec von den Gängen erfahren haben.
„Ja, vielleicht weiß er jetzt von den Gängen, aber ich wollte es ihm sowieso sagen.“
„Wolltet Ihr das?“
Cathyll schwieg. Worauf wollte Pater Balain hinaus?
Wie um den Gedanken wegzuwischen, schüttelte der Pater seinen Kopf und sagte: „Wollt Ihr nicht einfach heute Nacht noch hier bleiben, Cathyll? Ihr könnt in meinem bescheidenen Bett schlafen und morgen entscheiden wir, was zu tun ist.“ Sie schaute Balain mit großen Augen an und versuchte seine Gedanken zu lesen. Eigentlich wollte sie lieber in den Palast, oder? Aber nun schienen neue Zweifel aufgetaucht zu sein – zumindest bei dem Geistlichen. Der Vater rief unvermittelt: „Guthorm“. Die Tür öffnete sich und ein junger Novize, ebenfalls in einen einfachen braunen Umhang gehüllt, erschien in der Tür. „Guthorm, hol unserer jungen Thronfolgerin bitte einen Honigwein und eine Decke. Vielleicht auch ein Kissen, bitte.“ Guthorm mochte ungefähr in ihrem Alter sein, er trug den Rundschnitt aller Novizen des Sonnenkreises. Er blickte kurz mit prüfendem Blick zu Cathyll hinüber und folgte dann dem Befehl seines Herrn. Als er nach kurzer Zeit wiederkam, mit den angeforderten Sachen unterm Arm, fragte der Pater ihn: „Irgendwelche Neuigkeiten aus der Stadt?“ Guthorm antwortete: „Sie suchen sie.“ Cathyll brauchte nicht viel Phantasie um zu wissen, dass sie gemeint war.
„Nun, Mylady“, sagte Balain, „wollt Ihr immer noch in die Burg?“ Cathyll schüttelte den Kopf.
10. Spaß mit Landratten
eltsamerweise
schauten sie nicht in Richtung Land, sondern auf ihn. Alle. Die
Sonne war immer noch nicht aufgegangen, und immer noch war von einer Siedlung oder gar
einer Stadt nichts zu sehen. Aber Steinn hatte aufgehört zu suchen.
Und alle anderen auch. Sie blickten ihn einfach nur grimmig
an.
„Hvor?“ fragte Starkir. „Wo ist die Stadt, fragt er“, übersetzte Ketill. An’luin blickte auf die hölzernen Dielen des Bootes. Dann war jetzt wohl der Moment gekommen. Der Moment, da er seine Lügen gestehen würde und aus dem Glücksbringer ein Verräter werden würde. Dem Moment, an dem er die Grausamkeit der Wolfinger am eigenen Leibe erfahren würde. Die stinkende Masse der Nordmänner hatte sich in einem Kreis um ihn formiert. Sie hatten sich anscheinend einen blutigen Vormittag erhofft und An‘luin nahm an, dass er im Zweifelsfall für den blutigen Teil herhalten müsse. Er blickte auf und sah in Starkirs eisernes Gesicht, dann in Ketills, der, im Gegensatz zu sonst, keine freundliche Miene machte, in Sörun Fischauges hässliche Fratze, die eine zusätzlich grausame Komponente dazubekommen zu haben schien, Steinns ausdruckslose Augen, Syggtryggs verschlagene Maske von Gesicht, Nods kalten Blick, Eiriks dümmliche Ausdruckslosigkeit, Eyvinds sonst gütigen Ausdruck, der einem gewissen Mitleid gewichen schien und Haldors und der anderen Gesichter, die zwischen Unverständnis und blanker Wut rangierten.
Es war hoffnungslos. Der kalte Seewind würde ihn nicht retten, die Schreie der Möwen ebenso wenig. „Es gibt keine Stadt“, sagte er kleinlaut. Starkir regte sich als erster und zappelte herum, als er fragte: „Hva? Hva har hann sir?“ Ketill übersetzte und der Kreis um An’luin wurde dichter. Er sah, wie jemand aus der zweiten Reihe sein Schwert aus der Scheide zog. Starkirs Augenbrauen verengten sich zu seiner Nase hin und er packte An’luin an der Brosche, die seinen Umhang zusammenhielt. An’luin konnte seinen faulen Atem riechen. Seltsam, wie intensiv er auf einmal Details wahrnahm. Starkir hob An’luin in die Höhe, so dass ihre Köpfe direkt auf einer Höhe waren, keine 5 cm voneinander entfernt. Starkir zischte etwas auf Norr, wobei An’luin dabei mehrere Tröpfchen seines Speichels ins Gesicht bekam. Er brauchte für diese Worte keine Übersetzung und auch Ketill schien das zu merken – er schwieg. An’luin sah nur noch das von Wut verzerrte Gesicht des Anführers der Wolfinger, der Lichterkreis der Fackeln der anderen war, so wie alles andere, in den Hintergrund gerückt. Starkirs Augen bohrten sich in die seinen und er rechnete jeden Moment damit den Bauch von einem Schwert oder Dolch aufgeschlitzt zu bekommen.
Doch auf einmal löste sich das Gesicht des Wolfingers. Die Mundfalten gingen leicht nach oben und die Falten auf der Stirn verschwanden. Dann öffnete er den Mund – um lauthals loszulachen. Gleichzeitig brüllten 40 weitere Männer. An’luin spürte wieder Boden unter den Füßen und er schaute sich um. Starkir hielt sich den Bauch vor Lachen, Stein war an ihn gelehnt und japste nach Luft, Eirikr quiekte wie ein Schwein, Sörun gluckste und klopfte sich auf die Schenkel und Ketill lachte laut in die kalte Morgenluft. Nach einiger Zeit, zwischendurch immer noch lachend, erklärte er:
„Wir haben von Anfang an gewusst, dass Du uns nur von Deiner Heimatstadt weglocken wolltest. Wir wollten von Anfang an nach Mal Kallin, welches gleich Backbord auftauchen wird. Nur ein Sturm hatte uns kurzfristig vom Kurs abgetrieben, so dass wir bei Dir im Sumpf gelandet sind. Vielleicht war das aber auch das Spiel Alslis, der uns ein bisschen Spaß an Bord verschaffen wollte. Hast Du ernsthaft geglaubt wir Norr, Meister der Navigation, verlassen uns auf das Wort eines Ankil Fischerjungen?“ An’luin starrte Ketill ungläubig an. Wie naiv er gewesen war. Er hatte sich die ganze Zeit zum Narren gemacht und sich in seiner Angst gesuhlt, die völlig umsonst gewesen war. Er schaute in die Gesichter der um ihn stehenden Wilden und konnte nicht anders als selbst zu lachen – teils aus Erleichterung, teils, weil ihm die Männer, die ihm gerade eben noch wie Tiere vorgekommen waren, ein kleines Stück ans Herz gewachsen waren.
Er lachte und kicherte noch mit den anderen, als ein Schrei ertönte.
Töft, der am Bug des Schiffes gestanden hatte, hatte etwas erblickt. Die Männer stürmten an die Reling. Als der Wolfskopf um eine Landzunge blickte, sahen die Männer dunkle, unnatürlich gerade Formen dort, wo sich das Land vom Meer absetzte. Sie hatten eine Stadt erreicht. Oberhalb der am Meeresrand befindlichen Hütten ragte eine Festung über den Horizont.
Die Leichtigkeit, die
soeben noch das Boot erfüllt hatte, wich einer wuseligen
Betriebsamkeit. Männer legten sich ihre Rüstung an. Starkir rief
Befehle in die Menge und An’luin schien völlig aus dem Fokus der
Männer geraten zu sein. Ketill nahm ihn zur Seite und ging mit ihm
zum großen Drachenkopf. „Du kannst Dich nützlich machen“, sagte er knapp. An’luin bemerkte
erst jetzt, dass das große Maul des Kopfes aus Metall und hohl war.
Auf der inneren zum Boot gerichteten Seite befand sich eine
Vorrichtung, die aus einer Pfanne und einem Blasebalg bestand. Die
Pfanne war mit schwarzen Kohlen gefüllt, dahinter ein Blasebalg auf
einem Eisenständer befestigt. Ketill grinste schelmisch. „Das
erhöht den Effekt“, sagte er. „Welchen Effekt?“ „Angst.“, erwiderte
Ketill knapp. Er schlug zwei Steine aneinander, so dass die
entstehenden Funken die Kohle in der Pfanne sofort entflammen ließ.
Sie war offensichtlich mit Öl gefüllt worden.
„Wenn wir zur Stadt kommen, musst Du den Blasebalg bedienen“, befahl Ketill und verschwand. Jetzt verstand An’luin. Durch das Pusten des Blasebalgs würde das entstandene Feuer vorne aus dem Maul des Wolfs entweichen und den Menschen glauben machen ein echter Wolf suche sie heim. An’luin schien dies kindisch vorzukommen, auf der anderen Seite dachte er an den Schrecken, den er bekommen hatte, als er das Wolfsboot das erste Mal in den Sümpfen direkt vor seiner Hütte gesehen hatte – und da hatte der Wolf noch kein Feuer gespuckt. Er beschloss zu pusten was das Zeug hielt, denn je mehr Menschen fliehen würden, desto weniger würde den Menschen passieren. Auf einmal hörte er ein rhythmisches ohrenbetäubendes Scheppern. Die Norr hieben mit ihren Waffen auf die Schilder, die noch über die Bordwand hingen und brüllten dabei: „Wolf, Wolf, Wolf…“ Nun wusste An’luin, warum das Schiff „Wolfsang“ hieß.
11. Eine schlechte Entscheidung
s gab einen Traum,
den sie oft hatte und der in verschiedenen Variationen auftauchte. Darin stand sie an
einem schönen Sommertag vor der Burg von Mal Kallin. Sie wollte in
die Burg laufen, um ihre Eltern zu treffen. Doch dann sah sie in
der Ferne etwas am Himmel auftauchen. Sie konnte es zunächst nicht
erkennen, doch mit der Zeit kam das „Ding“ immer näher. Sie machte
die Umrisse eines gewaltigen Tieres aus – eines Drachens. Der
Drache kam heran und spuckte Feuer, so dass bald die ganze Burg in
Flammen stand. Sie hörte keine Schreie und sah keine fliehenden
Menschen, was die Sache noch unheimlicher machte. Auch heute Nacht
träumte sie diesen Traum. Als sie aufwachte, sah sie durch das
Fenster der Sakristei einen Schatten vorbei huschen. Sie schlief
wieder ein in einen unruhigen Schlaf, diesmal ohne
zusammenhängenden Traum.
Als sie erneut erwachte war es eine Hand, die sie an der Schulter schüttelte. „Prinzessin, wacht auf.“ Ihre Knochen schmerzten von dem harten, vom Stroh kaum abgefederten Untergrund. Außerdem war ihr kalt – die alte Decke, die sie bekommen hatte, hatte sie nicht wärmen können. Sie blinzelte und sah, dass es noch dunkel war.
„Prinzessin, wir müssen schnell weg.“ Warum nannte dieser Mann, ach ja, Vater Balain, sie „Prinzessin“? Sie schaute ihn an und sah Besorgnis. „Guthorm ist fort und ich vermute, dass er Euch bei Eurem Raethgir verraten hat.“ „Was meint ihr… mit verraten?“ Balain holte Luft. „Cathyll, ich habe keine lange Zeit für Erklärungen, aber Euer Onkel muss mittlerweile wissen, was Ihr gehört habt. Daher vermute ich, dass er es sich nicht leisten kann Euch am Leben zu lassen. Gestern wurde schon öffentlich nach Euch gesucht und ich vermute dass Guthorm der Belohnung von 10 Silberkunings erlegen ist.“ Cathyll richtete sich auf.
„Zieht Euch schnell an. Ich kenne einen der Händler am Hafen. Mit dem solltet Ihr erst einmal wegreisen.“ Cathyll wollte nicht daran denken, was das bedeuten würde. Sie würde alleine mit einem Fremden irgendwohin fahren und wahrscheinlich als Sklavin verkauft werden. Doch der dringliche Blick Pater Balains ließ sie innehalten und ihr Gedankenspiel abbrechen. Als sie bereit war, gingen Balain und sie hinaus auf den Weg, auf dem sie gekommen waren, Balain hatte noch einen Sack mit Proviant dabei. Die kühle Luft weckte Cathyll auf, von irgendwo kam der Geruch frischen Brotes.
Sie waren noch keine drei Schritte gegangen, als beide Stimmen hörten. Wie angewurzelt blieben sie stehen und lauschten. Es kamen Geräusche aus dem Unterholz. Balain packte Cathylls Hand und führte sie hinter die kreisrunde Sakristei. Hier war neben einer Hütte ein Brunnen. „Runter“, sagte Balain. „Was?“ „Runter.“ Er stieg über den Brunnenrand, wo kleine Stufen in die Mauer eingebaut waren, die spiralförmig in die Tiefe gingen. Cathyll blickte zum Weg und sah wie Männer durch das Dickicht kamen. Sie folgte dem Pater. Die Treppe führte mehr als vier Meter tief, bis man das Wasser sehen konnte. Etwas 30 cm oberhalb der Wasseroberfläche war ein Gang ins Gemäuer eingehauen. Balain bückte sich, um in den Gang zu kommen, Cathyll folgte ihm. Sie gingen längere Zeit diesen Gang, der sich wand und beständig bergab ging, entlang, sie hätte nicht sagen können, ob es 10 Minuten oder eine Stunde war. Durch ihre Erfahrung mit Geheimgängen war sie einigermaßen geübt, was das Gehen im Dunkeln anging. Schließlich kamen sie durch ein Erdloch an der Südseite des Hafens heraus, dicht an der Wasseroberfläche. „Ein Mann der Kirche muss immer einen Geheimgang haben“, sagte Pater Balain leutselig. Cathyll blickte auf die Schiffe, die am Kai vor Anker lagen, ungefähr 8 bis 9 kleinere Handelsschiffe, Knorr, die schwer im Wasser lagen.
„Ich werde nicht wegfahren.“ „Was?“ „Ich werde nicht wegfahren, Pater. Ich bleibe hier. Ich werde mich Rabec und meiner Tante Eleanor stellen. Die Leute kennen mich hier. Ich werde nicht einfach so umgebracht werden.“
Balain blickte auf das schwarze Meer hinaus. Er schien zu überlegen. Als er sich umdrehte, um Cathyll zu widersprechen, sah er sie schon den Hügel hinauflaufen in Richtung Festung. Er lief ihr hinterher. „Cathyll, nicht.“ Sie hörte nicht auf ihn. Sie ging unbeirrt durch die Straßen der Stadt, viel stolzer und würdevoller als das kleine Mädchen, das sie gestern noch zu sein schien.
„Cathyll, Euer Raethgir wird Euch töten.“ Er sprach zum weißen Saum ihres Rockes, der den Boden schleifte, denn viel mehr bekam er nicht zu Gesicht. „Ihr habt es doch selber gehört. Geht dort nicht hinein.“ Einmal drehte sie sich um, doch nur um den Priester mit einer Handbewegung Einhalt zu gebieten. Schließlich kam sie am Burgtor an, an den zwei Wachen sie erstaunt und müde anblickten. Sie nickte den beiden nur zu, so dass sich einer der beiden daran machte das schwere Holzportal zu öffnen.
„Da bist Du ja. Wir haben uns solche Sorgen gemacht.“ Rabecs Stimme klang heiser. Er schaute von den Zinnen des Wehrturms herab. Für einen kurzen Moment erschrak sie und obwohl sie einen festen Entschluss gefasst hatte, war sie nun unsicher. „Ich…, ich habe mich verlaufen und dieser Priester hat mich aufgenommen.“ „Natürlich, komm herein und wärme dich.“ Etwas in Der Stimme des Raethgir ließ sie innehalten.
„Cathyll, er wird Euch töten lassen.“
„Vater Balain, habt ihr wieder eine Sonnenvision gehabt, die Euch die Sinne vernebelt hat? Seid Ihr gar der Urheber der Verwirrung unserer Thronerbin?“
Von der Burg her hörte man Geräusche. Mehrere Leute kamen auf das Tor zugelaufen. Cathyll erkannte Bran und Ma’an. Rabec blickte sich nervös um. „Wachen, bringt sie weg, schnell. In die untere Zisterne.“ Cathyll reagierte, aber nicht schnell genug. Die Wachen packten sie an den Schultern. „Lasst sie“, Balain versuchte vergebens am Arm des einen Soldaten zu ziehen und wurde barsch abgeschüttelt. Dann streckte der Soldat ihn mit einem Fausthieb zu Boden. Von innerhalb der Festung kamen Rufe: „Cath. Cathyll.“ Jemand schloss das Festungsportal. Von irgendwoher kamen noch mehr Soldaten und nahmen sie an den Armen, so dass sie wehrlos war. Sie wurde eine mit Steinen gepflasterte Straße entlanggeführt. „Ich bin Eure Prinzessin, lasst mich…“ mehr konnte sie nicht sagen. Sie bekam das stumpfe Ende eines Speeres schmerzhaft in den Rücken getrieben, so dass sie keuchte. Die Stimmen aus der Festung verstummten abrupt. Sie nahm nur noch wahr, dass Pater Balain neben sie auf den Boden gestoßen wurde. Sie befand sich vor einem Steinhaus, das sie noch nie gesehen hatte. Das seltsame war, dass dieses Haus keine Fenster hatte. Es war flach und kalt. Einer der Soldaten, er hatte einen schwarzen Umhang an, deutete auf die Tür, die von zwei Lakaien geöffnet wurde. Cathyll schaute noch einmal hinauf zur Burg, dann hinunter zur See, die sie lange nicht sehen würde. Dies war der „Topf“ – zuletzt nur Aufhänger für einen schaurigen Erzählabend, war er nun zu einer bedrohlichen Realität geworden. Was hatte Ma’an noch gesagt? Die Leute, die in den Topf kommen, hätten es verdient. Das war also der Plan Rabecs. Er wollte sie vielleicht gar nicht töten. Aber jetzt war es egal, sie hatte das Falsche getan und würde nun sehr lange dafür büßen müssen. Sie erinnerte sich an die Geschichte Ma’ans und an die Wahnsinnigen, die aus dem „Topf“ geklettert kamen. Dann fing sie an zu schreien.
Über dem Meer ging die Sonne auf und färbte das Wasser in ein blutiges Rot. Dann, langsam und anfangs noch undeutlich, kam hinter der südlichen Landzunge ein weiteres Rot hinzu. Eine riesige Wasserschlange schien sich über das Wasser auf Mal Kallin zuzubewegen und fürchterlich zu schreien. Es gab ein lautes Getöse, das durch die Ruhe des Morgens bis zu ihnen hinauf drang. Ein dumpfes „Wolf, Wolf, Wolf“ erklang von der Schlange.
„Wolfinger“, ächzte einer der Soldaten.
12. Schädelspalter
chön sah sie aus, die
Stadt, die vor ihnen im Leuchten des Morgenrots getränkt wurde. So
hatte sich An’luin immer die großen Städte vorgestellt, von denen
seine Mutter erzählt hatte. Friedlich lagen die Häuser an der
Steilküste und über der Stadt thronte eine Festung, deren
Turmspitzen golden funkelten. Ketill hatte ihm im Vertrauen gesagt,
dass sie keineswegs morden und plündern wollten, sondern nur etwas
„abholen“ wollten, wie er sich ausgedrückt hatte. Zu diesem Zweck
musste es aber so aussehen wie ein
normaler Überfall und man würde den Einwohnern einen Schrecken
einjagen müssen. An’luin war sich nicht sicher, inwieweit er dieser
Aussage Glauben schenken sollte.
Auf dem Schiff herrschte mittlerweile reges Treiben.
Bevor sie in den Hafen kamen, beobachtete An’luin wie ein lebendiges Huhn über Eiriks Kopf abgestochen wurde, so dass das Blut des zappelnden Körpers sich erst in seine Haare und dann sein Gesicht ergoss. Er leckte es mit der Zunge auf und schmierte sich den Rest erst über das Gesicht, dann über seinen freien Oberkörper. Dann fing er an zu brüllen und zu heulen wie ein Wolf und die anderen machten den Weg frei. Das Schiff war mittlerweile in den Hafen eingelaufen und legte direkt am Hauptsteg an. Niemand war im zu sehen, es gab noch keine Hafenwächter oder geschäftige Händler.
Eirik war der erste, der über das Schiffsbord sprang und auf dem Kai landete. Die anderen ließen ein Brett hinab, und liefen auf den Steg. Auch sie brüllten was das Zeug hielt. Ketill stand neben An’luin und lächelte. Dieser konnte nur staunen. Er hatte sich die Rüstung noch nicht angezogen, so dass Ketill nur meinte: „Komm nach.“
Ja, er würde nachkommen. Aber dann würde er sich in der Stadt verstecken und warten bis dieser Haufen von wilden Dämonen verschwunden war. Und dann würde er nach Hause laufen, und wenn es Wochen dauern würde. Betont langsam zog er sich das Kettenhemd über und legte sich das Schwert an, das er von Brönn geerbt hatte. Dann zog er den mit einem Nasenschutz versehenen Helm auf und nickte Eyvind zu, der neben dem Steg stand und das Schiff bewachte. Er ging den Kai hinauf und sah wie sich die tobende Masse von 45 Wolfingern über die Stadt verteilte. Sie brüllten, Steinn warf seine Fackel in eines der Häuser. An‘luin versuchte ihnen in einigem Abstand zu folgen. Er hatte keinesfalls vor sich auf irgendwelche Kampfeshandlungen einzulassen. Als die Wolfinger die größte Straße hinauf liefen, machten sie einen furchtbaren Lärm und warfen in einige Häuser vereinzelt Fackeln. Außer ein paar schreienden Stimmen, die zuvor weggelaufen waren, hatte An’luin noch keine Bewohner gesehen – und er war sehr froh darum. Er wollte weder sterben, noch töten. Syggtrygg lachte und trat eine Tür ein.
Nun war der Moment gekommen. An’luin lief eine kleine Seitenstraße hinein. Als er sich umblickte, um zu sehen, ob ihm jemand folgte, und niemanden sah, fing er an zu laufen. Die Straße führte an mehreren Häusern vorbei und ging dann steil nach oben in Richtung der Festung, die über der Stadt thronte. Dort musste er hin. Allerdings musste er aufpassen – was war, wenn ihn die Soldaten der Festung für einen Norr hielten? Sie würden ihn ohne zu zögern töten. An’luin verlangsamte seine Schritte. Je höher er kam, desto spärlicher wurde die Besiedlung. Nur weiter oben sah er ein flaches Steinhaus. Er würde sich verstecken. Er schaute sich nach unten um, um sich zu vergewissern, dass die Norr mit anderen Dingen beschäftigt waren, als er plötzlich von einem mächtigen Stoß umgerissen wurde. Er fiel auf den Boden und spürte, wie ein Körper auf ihm liegenblieb. Wahrscheinlich hatten sie ihn nun doch erwischt und würden ihn wieder mit aufs Boot schleppen. Wie naiv er war, zu glauben, dass die Norr ihn einfach gehen lassen würden. Seltsam war nur, dass der Körper, der auf ihm lag, nicht so stank wie der eines wilden Seeräubers, der seit Wochen auf einem Schiff verbracht hatte. Außerdem fing das auf ihm liegende Wesen auf einmal an helle, klare Laute von sich zu geben, die unmöglich einem Norr zugeordnet werden konnten. Als An‘luin vom Boden aufblickte, sah er in ein Paar blauer junger, wunderschöner Augen.
Der Soldat, der Cathyll festgehalten hatte, starrte wie gebannt auf das Meer. Er flüsterte: „Das ist die Strafe, die Strafe für unsere Sünden.“ Die anderen vier schauten unsicher auf ihren Kameraden und dann auf die Seeschlange, die nun am Hafen gelandet war. „Wir hätten den Priester nicht schlagen dürfen“, sagte ein anderer. „Die Strafe“, sagte ein Dritter. Als der erste den Hügel in Richtung Festung hinauflief, wusste Cathyll, dass ihr der Topf zunächst erspart bleiben würde. Die Männer verschwanden in der Dunkelheit. Sie blickte auf Balain, der gebückt dastand und seine Hände auf den Knien abstützte. Er schaute auf und lächelte sie an. „Glück gehabt, schätze ich.“, sagte er erleichtert. „Aber dennoch müssen wir hier weg. Kommt.“ Ächzend ging er den Weg zur See hinab. „Aber wir gehen genau auf die Seeschlange zu“, wandte Cathyll ein. „Die Seeschlange ist ein Haufen plündernder Wolfinger, schaut.“ Er deutete mit seiner knochigen Hand nach unten und Cathyll sah, wie sich ein wild jaulender und heulender Menschenhaufen aus dem Schiff ergoss. Sie wusste nicht, ob sie das wirklich beruhigte. Wolfinger waren für ihre Grausamkeit bekannt. Pater Balain konnte anscheinend ihre Gedanken lesen: „Ich habe unten noch ein kleines Boot. Vielleicht können wir in dem ganzen Wirrwarr entkommen. Kommt.“ Diesmal wollte Cathyll ihm keinesfalls wiedersprechen. Sie ging vor und nahm dieses Mal ihrerseits den Priester an der Hand. Der Weg war dunkel und kurvig. Es ging zum Teil steil zum Meer hinab. Als sie um eine Ecke bog, an einer schmalen Stelle, lief sie in etwas großes Weiches. Sie fiel zu Boden auf den Mann, den sie umgerannt hatte. Als sie nach dem Sturz die Augen öffnete, sah sie in die finsteren Augen eines Wolfingers.
Eine heisere Stimme redete unentwegt in einer fremden Sprache auf ihn ein. Er wollte zwar weiter in das Paar blauer Augen schauen und den süßen Duft, den der Körper, der noch halb auf ihm lag, verspüren, aber dann wurde ihm klar, dass er sich in Gefahr befand und er zunächst herausfinden musste, mit wem er es zu tun hatte. Er sah einen alten Mann mit weißem Haar in einem einfachen braunen Gewand, der unentwegt auf ihn einredete. Als er seinen Körper vorsichtig von dem Mädchen wegzog, wurde ihm klar, dass der Mann ihn in Norr ansprach.
„Ich bin kein Norr, ich bin Ankil.“ Der Mann verstummte und das Mädchen schaute ihn etwas erleichterter an. Balain schaute kritisch. „Du sprichst mit Ca’el-Akzent, Sohn. Und was du da anhast, das ist eine Rüstung, wie sie die Norr tragen.“ An’luin nahm seinen Helm ab. „Ja, ich bin ein Ca’el. Die Norr haben mich entführt und mit hierhergenommen. Nun will ich fliehen und bald zurück in den Süden. Könnt ihr mich zur Festung führen?“ Balain und Cathyll schauten sich an und hatten beide für einen kurzen Moment den Impuls zu lachen. „Hör zu, Sohn, du musst uns mitnehmen. Du musst uns entführen.“
„Was?“
Cathyll ergriff das Wort: „Wir werden sterben, wenn wir hierbleiben. Mein Onkel will uns töten lassen und er ist der Befehlshaber in dieser Festung. Nimm uns mit, bitte.“
An’luin wollte weglaufen und diese beiden Irren einfach stehen lassen. Dies war nun seine Gelegenheit endlich wieder nach Hause zurückzukehren. Und sie wurde durchkreuzt von einem alten Mann und einer, zugegeben, wunderschönen jungen Dame. Er schaute sie an, wie sie vor ihm stand, in einem dreckigen, aber offensichtlich teuer gefertigten weißen Kleid mit einem blauen Umhang. Dann war da noch dieser alte Priester, der so freundlich und gleichzeitig herrschaftlich wirkte. Konnte er ihnen einen Wunsch abschlagen, zumal es anscheinend um ihr Leben ging?
Er seufzte. „Kommt mit.“
Die Wolfinger grölten, als sie An’luin mit seiner „Beute“ zur „Wolfsang“ die Pflasterstraße von oben herunter laufen sahen. Sie hielten sich die Bäuche und schüttelten sich vor Lachen, bis Starkir ihnen etwas zurief, worauf er selber wieder grinsen musste. Die Männer schauten zur Festung hoch und sahen, dass die Tore geöffnet wurden und eine Anordnung von Bewaffneten in Kampfordnung hinaus marschierte.
„Sie haben gemerkt, dass wir gar nicht so viele sind, wie wir Lärm gemacht haben“, murmelte Ketill und klopfte An’luin im gleichen Moment anerkennend auf den Rücken, als dieser seine zwei „Gefangenen“ vor sich über den Steg auf das Boot laufen ließ. Die brennenden Häuser im Hafen und die Morgensonne gaben der ganzen Szenerie einen seltsamen Zauber. Während Haldor und Sörun mit zwei anderen Männern Säcke mit Beute über die Bordwand hievten, machten sich die anderen an die Ruder. Steinn stieß das Boot mit einem Holzstab vom Kai ab. Die restlichen Männer sprangen an Bord. Sie schauten hinauf auf die Stadt und sahen die Soldaten den Hang hinab marschieren. Einige Bewohner trauten sich schon wieder aus ihren Verstecken im Wald oder in Kellern und sie organisierten Eimerketten, um die Brände zu löschen. An’luin blickte sehnsuchtsvoll auf die Stadt, die sich langsam aber sicher entfernte. War es sein Schicksal nicht mehr nach Hause zu kommen? Würde er jemals seine Mutter wiedersehen?
Auf einmal spürte er einen kräftigen Schlag auf seinen Rücken. Ein Mann lachte ihn an: „Skjøllspløðr.“ Die anderen kicherten wieder und grölten.
Er schaute sich hilflos um. Pater Balain, der neben ihm stand, sagte: „Sie nennen dich Schädelspalter.“ Ketill kam vom anderen Ende des Bootes auf ihn zu. „Skjøllspløðr nennt man einen extrem mutigen Wolfinger, der eine Menge Beute mit nach Hause bringt. Wir haben eher gedacht, dass Du wieder verschwinden würdest, nachdem du uns zu dieser Stadt geführt hast.“ Ketill sprach den letzten Teil des Satzes besonders betont aus und übersetzte ihn dann für die anderen, die erneut wie die Wilden lachten. Mittlerweile hatten die Männer die Segel gesetzt und entfernten sich rasch vom Festland. Die schweren Handelsschiffe würden keine Chance haben, sie zu verfolgen.
Jemand brüllte etwas vom anderen Ende des Bootes und wieder lachten alle. „Thorsteinn will wissen, ob Du ihm Deine Gefangene für 20 Erl verkaufst. Für den Alten würde er noch 2 draufgeben.“ An’luin verdrehte die Augen. Die Späße der Norr trafen nicht immer seine Stimmungslage.
„Sag ihm, dass sie nicht meine Gefangenen sind, sondern… äh, Freunde, die ich gerettet habe. Und ich verkaufe sie auch nicht.“ Ketill übersetzte, was die anderen zum Schweigen brachte und fragte dann selber: „Aber ich dachte, wir haben hier eine Stadt überfallen und nicht jemanden gerettet. Von wem mussten sie denn gerettet werden?“
Nun stand Pater Balain auf und hob die Stimme an. Er sprach etwas in der Sprache der Wolfinger, so dass diese ihn erst erstaunt anschauten und dann wieder ihrer Arbeit nachgingen. Balain erklärte auf Ankil: „Ich habe ihnen gesagt, dass Du uns aus den Händen des verräterischen Stadtfürsten gerettet hast und Ihnen gesagt wer wir zwei sind.“ Das, so dachte An‘luin, würde mich allerdings auch interessieren. Ketill wandte sich zum Gehen. Bevor er allerdings zurück ans Hinterdeck ging, sprach er An’luin an: „So, Skjøllspløðr, und da Du ja jetzt ein echter Wolfinger bist, darfst Du auch mithelfen uns von hier weg zu bewegen, bevor irgendwelche Schiffe auftauchen.“
„Wegbewegen? Ich will mich überhaupt nicht wegbewegen. Ich will zurück ans Festland und ich bin auch kein Wolfinger. Ich bin Ca’el. Und wohin fahren wir überhaupt?“
Ketill blickte über den Bug hinaus. „Nach Hause, Freund Schädelspalter. Nach Hause. Ins Dreischafetal.“
Bevor An’luin etwas erwidern konnte, berührte Balain ihn am Arm und deutete mit einer leichten Kopfbewegung an, dass er an die Ruder gehen sollte. Eine Bewegung, die es An’luin unmöglich machte zu widersprechen. So ging er in die Bootsmitte und setzte sich neben Haldor, der zur Begrüßung auf den Boden spuckte. „Keine Angst, Schädelspalter, bald sind wir auf dem offenen Meer“, sagte Ketill im Vorbeigehen und verschwand.
Nach einer halben Stunde Rudern taten An’luins Arme und der Rücken so weh wie noch nie zuvor. Er fragte sich, wie die Wolfinger es geschafft hatten aus dem Sumpf heraus zu rudern, damals, vor drei Tagen (drei Tage war es erst her!), als sie ihn mitgenommen hatten. Das hatte vier Stunden gedauert. Er ging an die Vorderseite des Bootes und schmiss sich neben seine „Freunde“ auf ein paar weiche Getreidesäcke. Wieder berührte der Priester ihn am Arm. „Danke, für das was Du für uns getan hast, Junge.“ An’luin grummelte etwas. Er mochte es zwar nicht von diesem Priester „Junge“ und „Sohn“ genannt zu werden, aber trotzdem lief ihm der Dank wie Butter den Rücken herunter. Zumal auch das Mädchen ihn mit liebevollem Blick anschaute.
„So, und nun erzählen wir Dir unsere Geschichte und dann erzählst du uns deine“, fuhr der Pater fort. Und so geschah es. Während die kalte Gischt immer wieder über sie spülte und das Boot sich zunehmend hob und senkte, erzählte An’luin den anderen zwei, wie eines Tages das Wolfingerboot vor seiner Hütte gestanden hatte und diese ihn daraufhin mitgenommen hatten. Er erzählte, wie er versucht hatte sie in eine weitere Stadt zu führen, weg von Cal‘l, wo seine Mutter sich gerade befand. Und er erzählte auch, dass die Wolfinger von Anfang an vorgehabt hatten, nach Mal Kallin zu fahren. „Ich frage mich, warum sie ausgerechnet nach Mal Kallin wollten“, sinnierte Vater Balain, „an Beute können sie nicht allzu viel mitgenommen haben.“
Dann erzählte Cathyll wie sie durch Zufall von dem Verrat ihres Raethgir erfahren hatte und beinahe von ihm in den „Topf“ gesperrt worden wäre. Am Ende ihrer Ausführungen hatte sie Tränen in den Augen und An’luin wurde klar, dass ihr wohl jetzt erst bewusst wurde, dass sie alles was sie kannte gerade eben verloren hatte und in eine ungewisse Zukunft fuhr. Nun, wenigstens war er jetzt nicht mehr allein. Pater Balain hingegen schien nicht sonderlich beunruhigt zu sein. An’luin fragte ihn woher er die Sprache der Norr beherrschte.
„Als ich jung war“, begann Vater Balain, „da ging ich nach Jamanai, ein Land weit im Osten. Das ist das Land in dem Tann Dina Elobhe, der Visionär, lebte. Dort ließ ich mich in die Riten des Circulum Solae einweihen. Ich lernte viele Jahre bei den Mönchen im Kloster Jaq Quin und durchlief über die Jahre fünf Stufen der Erkenntnis. Als ich dann die fünfte Stufe erreicht habe und in die Lehre des „Verkünders“ initiiert wurde, musste ich das mir liebgewordene Land der Jamanaiten verlassen und das Wort verkünden. Dies tat ich dann in Birkesund. Dies war damals das Handelszentrum des Nordens und Heimat des großen Königs Gunnars des Gläsernen. Gunnar hieß übrigens der Gläserne“, erzählte der Pater leutselig, „weil die kleinste Wunde, die er bekam, nicht aufhörte zu bluten. Einmal hat er beim Saufgelage einen Holzsplitter vom Tisch in seine Hand bekommen. Als er ihn herauszog, floss eine kleine Menge von Blut – nicht weiter schlimm, dachte jeder. Aber es hörte nicht auf zu bluten, am nächsten Morgen nicht und auch am Abend darauf nicht. Und der König begann sich langsam immer schwächer zu fühlen. Seine Gode gab ihm Kräuter, das Heilweib im Moor schmiss ihn in den Sumpf und beschwor die Götter. All das nütze ihm nichts, ganz im Gegenteil, es schadete den Heilern, die nach erfolglosen Heilversuchen…, nun ja, dem Wassermahl zugeführt wurden, wie die Norr sagen. Das alles geschah zufällig zu der Zeit, als ich gerade nach Birkesund gekommen war, um zu verkünden – der erste Missionar des Sonnenkreises. Grundsätzlich verlacht und von den Norr eher noch verachtet, hatte ich mir durch die Abneigung, die sie mir gegenüber hatten, doch einen Namen gemacht. So ließ König Gunnar mich aus meiner einfachen Herberge, einer Holzhütte am Stadtrand holen und ich glaubte schon, dass mein letztes Stündlein geschlagen hätte und ich nun einem unschönen Tod zu erwarten hätte.
Ich wurde also in die Halle des Königs geschleppt und Gunnar, der auf seinem Hochsitz saß, zu Füßen geworfen. König Gunnar, ein großer, fetter Mann mit langem Bart sah von seinem Hochsitz herab und sprach zu mir:
„Priester, ich habe schon von Dir gehört und habe nichts von dem Glauben, den Du verkündest übrig. Allerdings ist es so, dass meine eigenen Götter nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, mir zu helfen. Und ich werde wohl, wenn meine Hand weiter blutet, in den nächsten zwei bis drei Wochen sterben. Solltest Du mich also heilen können, dann gelobe ich Deinen Glauben anzunehmen und zu Deinen Göttern zu beten.“
Schüchtern erwiderte ich: „Ich bete zu keinen Göttern, sondern zur Sonne.“
Gunnar wischte meine Einwände mit einer Handbewegung weg. „Wie auch immer. Ich bete eben an, was Du anbetest. Und wenn es ein Schwein ist. Du sollst mich einfach retten. Wenn Du es nicht schaffst, dann werde ich Dich an die Zielwurfscheibe binden lassen. Das ist nur gerecht, denn den Heilern meines eigenen Glaubens habe ich immerhin die Ehre eines Wassermahls gewährt. Nimmst Du an?“
Ich wusste, dass ich es tun musste, obwohl ich von Medizin und Heilung nicht allzu viel Ahnung hatte. Die Mönche in Jamanai waren durchaus der Heilkraft kundig, aber ich war den Weg des Verkünders gegangen und hatte mich nie näher mit der menschlichen Heilkunde befasst. Also sagte ich: „Ja, mein König, ich werde Euch heilen.“ Wenn man schon lügt, dann sollte man es überzeugend tun, dachte ich. Der König freute sich offensichtlich und sagte: „Nun, dann beginnt mit Eurer Heilkunst.“ Ich hatte geglaubt, dass ich noch etwas Zeit hätte, um mich mit dem Problem etwas auseinanderzusetzen. Der König wollte aber sofort Ergebnisse sehen. Also ließ ich mich von meiner Intuition und von meinem Vertrauen in die Intelligenz der Sonne leiten. Ich schaute mich in der Halle um, es war Abend, und versuchte nach dem Leuchten zu sehen. Die Halle war dunkel – außer der Feuerstelle. Fünfzig schrecklich aussehende Norr begafften mich und ließen mich ihren Hass spüren und sie freuten sich schon auf die Axtwurfübungen, die sie an mir ausprobieren durften. Ich nahm einen Holzlöffel von einem der Männer am Tisch und ging mit ihm zur Feuerstelle. Mit dem Löffel fischte ich ein Stück glühende Kohle aus dem Feuer. Ich ging mit dem Löffel zum König und sagte: „Gebt mir Eure Hand, König Gunnar.“ Er schaute mich misstrauisch an, reichte mir allerdings gnädig seine rechte Hand, auf deren Innenseite ich einen kleinen roten Kratzer sah. Ich drückte die Hand auf die glühende Kohle und der König schrie auf und zog seine Hand fort. Die Leibwache des Königs stürmte rechts und links vom Hochsitz weg und packte mich. Die Männer am Langtisch hatten alle ihre Waffen gezückt und waren bereit mit mir Schlimmeres anzustellen, als nur ihre Wurfkünste an mir zu probieren. Doch ich hatte Glück. Durch den Schmerz hatte der König die Glut nur kurz berührt, lang genug, um die Wunde zu verschließen, aber nicht zu lange um Blasen und Vereiterungen hervorzurufen. Gunnar tauchte seine Hand in einen Krug Bier. Alle standen gespannt da und schauten ihn an. Er blickte auf die verbrannte Hand und fing dann an zu lachen. „Ha, Bettelpriester. Es sieht so aus, als würde ich in Zukunft die Sonne anbeten. Und das werden meine Untertanen damit natürlich auch tun.“ Damit blickte er drohend in die Runde der Anwesenden Norr, die alle grimmig zurückblickten. Keiner hatte vor diesen, aus ihrer Sicht, völlig unsinnigen und verweichlichten Glauben anzunehmen. Aber letztendlich blieb ihnen, wollten sie ihrem König treu bleiben, nichts anderes übrig und so hatte ich in den nächsten Wochen genug Helfer um die erste Sakristei in Birkesund aufzubauen und genug damit zu tun die Norr von Birkesund in den Sonnenkreis zu weihen. Und seitdem sieht man die Drakinger aus Birkesund mit einem Doppelkreis im Segel die Meere durchziehen.
Und obwohl ich schon vorher in Jamanai die Sprache der Norr von einem jungen Nordländer gelernt hatte, konnte ich sie doch in meiner Zeit am Hofe König Gunnars verfeinern.“
An’luin und Cathyll schauten Balain mit großen Augen an. Dann war er es also, der den neuen Glauben in den Norden gebracht hatte – dieser unscheinbar wirkende Greis?
„Erzählt uns, wieso Ihr König Gunnars Hof verlassen habt und ausgerechnet in Mal Kallin gelandet seid“, bedrängte Cathyll den Priester.
„Das werde ich – aber nicht jetzt. Jetzt werde ich Jarl Starkir aus dem Dreischafetal fragen, was ER in Mal Kallin wollte, “ erwiderte Balain.
Gedankenverloren blickten die beiden Jugendlichen dem Priester nach. Er war nicht mehr der alte, verwirrte Mann, der ihnen die Stadt hinunter zum Hafen gefolgt war. Er war nun Balain, der Verkünder.
Am Abend wurde es noch kühler auf dem Boot und obwohl An’luin und Cathyll ihre Kleidung trugen, Wolldecken bekommen hatten und weiter auf den Getreidesäcken liegenbleiben durften, zehrte eine klamme Kälte an ihnen. Es war Cathyll, die sich als Erste an An’luin heran schob, um etwas von seiner Körperwärme abzubekommen. Und es war An’luin, der seinen Arm um ihre Schultern legte. Am Ende lag ihr Kopf auf seiner Brust und seine Arme umschlungen sie. Und trotz des Schmerzes, den An’luin über die Tatsache, dass er sein Zuhause und seine Mutter in nächster Zukunft nicht wiedersehen würde, schlief er in einem übermächtigem Glücksgefühl ein.