KAPITEL 9
Samstag
Richter Pearson hatte den Kopf seines Enkels in den Schoß gelegt und streichelte ihm liebevoll die Stirn.
Tommy schlief fest, ab und zu jedoch stöhnte er leise, so als ob sein Schlaf durch Albträume bedrückt würde. Sein Atem ging inzwischen normal. Als Olivia sie wieder eingesperrt hatte, hatte Tommy so flach geatmet, daß Pearson sich große Sorgen machte. Jetzt sah er auf die Uhr und stellte fest, daß der halbe Vormittag schon vorbei war.
Vor Stunden war er selbst eingenickt, aber nur für ein paar Minuten. Er war froh, daß Tommy so gut schlafen konnte.
Das war wohl das beste Mittel, um schnell wieder zu Kräften zu kommen. Er strich vorsichtig mit der Hand über eine der Prellungen auf Tommys Arm. Die Stelle war dunkelviolett. An der Stirn hatte er einen roten Kratzer.
Wie gerne hätte er dem Jungen die Schmerzen abgenommen!
Wir haben noch Glück gehabt, dachte er. Keine gebrochenen Knochen, keine Gehirnerschütterung und wohl auch keine inneren Verletzungen. Und keine Schußwunden. Er war sich nicht sicher, ob Olivia mit Absicht vorbeigeschossen hatte oder ob sie einfach eine schlechte Schützin war.
»Alles wird gut, bald bist du wieder ganz gesund. Hab keine Angst«, sagte er leise.
Tommy schlug die Augen auf. Im ersten Moment erschrak er, aber sein Großvater nahm ihn in die Arme und hielt ihn fest. Jetzt erst wurde Tommy richtig wach und sah sich neugierig um. Pearson war erleichtert und zwinkerte seinem Enkel zu. Gestern dachte ich, sie bringen ihn um. Kinder sind stärker, als wir Erwachsenen glauben. Sie wissen viel mehr, als wir ahnen, begreifen schneller, als wir es für möglich halten. Das vergißt man allzu leicht.
»Wie lange habe ich geschlafen?« fragte Tommy.
»Fast sechzehn Stunden. Eine lange Nacht.«
Tommy wollte sich recken, hielt aber plötzlich inne.
»Au, das tut weh!«
»Ich weiß, Tommy. Aber das geht vorbei, glaub mir. Sie haben dich verprügelt, aber mich auch …«
Er fühlte mit dem Finger nach den Beulen an seiner Stirn.
»Es ist nicht so schlimm. Wir haben Glück gehabt. Aber du mußt mir sagen, wenn dir irgendwas wirklich weh tut.«
Tommy rieb sich Arme und Beine. Er stand auf, lockerte seine Gelenke wie ein Tier, das lange geschlafen hat.
Dann sah er sich im Zimmer um.
»Es ist schon wieder gut, Großvater. Ach, wir sind ja in unserem alten Zimmer!«
»Ja«, sagte Pearson, der durch Tommys Verhalten immer zuversichtlicher wurde. »Tommy, du mußt mir jetzt sagen, ob du irgendwo Schmerzen hast. Im Magen oder im Kopf vielleicht?«
Tommy zögerte einen Moment, überlegte und sagte dann: »Nein, es ist alles in Ordnung.«
»Das habe ich gehofft«, antwortete sein Großvater. »Ich bin wirklich froh, dich in so gutem Zustand zu sehen.«
»Ich hab’ wirklich gedacht, die schlagen mich tot!«
Pearson wollte zuerst antworten: ich auch, besann sich jedoch eines Besseren und sagte dann: »Nein, das glaube ich nicht. Sie haben sich nur über dich geärgert und wollten dir einen Denkzettel geben. Die brauchen dich doch. Und deshalb tun sie dir nichts, was gefährlich wäre.«
»Als der Schuß losging, da …«
»Da hast du dich bestimmt furchtbar erschreckt, nicht?«
»Ich hätte es beinahe geschafft, ich hatte schon den Wald gesehen. Und wenn ich durchs Fenster gekommen wäre, die hätten mich bestimmt nie eingeholt.«
»Das wußten sie auch.«
»Draußen sah es richtig kalt und grau aus. Wie im Winter. Es war so ein Tag, an dem man keine Lust hat, zum Spielen rauszugehen. Auch wenn man soll. Aber ich wollte plötzlich so gerne nach draußen! Ich konnte es einfach nicht mehr aushalten.«
»Das hast du gut gemacht, Tommy.«
»Weißt du, es war, als ob das alles einem anderen passierte. Als ob ein anderer lief, einer, der viel schneller, stärker und schlauer war als ich.«
»Keiner hätte schneller, stärker und schlauer sein können, als du warst, Tommy.«
»Bestimmt?« fragte der Junge ungläubig.
»Ich wüßte wirklich niemanden.«
Tommy lächelte stolz, sagte dann aber: »Es tut mir leid.«
»Was tut dir leid?«
»Daß ich dich alleingelassen habe.«
Pearson lachte. »Aber das war doch prima von dir! Du hast alle so überrascht, das war der beste Angriff, den ich je gesehen habe. Tommy, du bist verdammt viel stärker als diese Leute. Vergiß das nicht! Ich war wirklich stolz auf dich. Was meinst du, was dein Vater, deine Mutter und deine Schwestern für Augen machen werden, wenn ich ihnen das erzähle.«
»Bestimmt?«
»Aber klar.«
Tommy legte seinen Kopf gegen die Schulter seines Großvaters und fragte: »Wie lange dauert es jetzt noch?«
»Nicht mehr so lange.«
»Hoffentlich.«
Eine Weile schwiegen beide. Tommy entdeckte eine Wäscheleine in der Ecke und sah seinen Großvater fragend an.
»Damit haben sie dich gefesselt«, sagte er. »Und als sie wieder rausgingen, haben sie zu mir gesagt, ich soll dich nicht anrühren. Aber ich habe dich gleich losgebunden, und die werden wahrscheinlich ganz schön wütend sein, wenn sie nach uns gucken. Ich weiß gar nicht, warum sie so dumm waren, mich nicht gleich mitzufesseln.«
»Warum hassen die uns eigentlich so?« fragte Tommy.
»Nun, Bill dürfte eine ganz schöne Wut auf dich haben.«
»Bestimmt«, sagte Tommy.
»Und der andere, der macht immer so einen verbissenen Eindruck. Er hat dich geschlagen, auch noch, als du deine Arme vor den Kopf hieltst. Bill hat ihn schließlich daran gehindert weiterzuprügeln.«
Tommy nickte. »Ich glaube, Bill haßt jeden, der ein schöneres Leben hatte als er selbst.«
Der Richter zögerte einen Moment und sagte dann:
»Und Olivia ist voller Bitterkeit, das wird sich wohl nie ändern.«
Tommy schüttelte den Kopf.
»Wie kommt es, daß sie so geworden ist?«
»Das weiß ich nicht, Tommy«, sagte der Richter. »Ich wüßte es nur zu gerne. Ich glaube, alle Menschen wachsen damit auf, daß sie hassen und lieben können, und vieles andere fühlen sie auch noch. Irgendwann haben solche Menschen wohl auf ihrem Lebensweg alle guten Gefühle verloren, und es bleiben nur noch die schlechten übrig.«
Pearson nahm Tommy in den Arm und streichelte ihn.
Der Junge machte sich los und sagte: »Wir sollten jetzt besser mit unserer Wand weitermachen.«
Der Richter nickte. »Wenn dir danach ist, dann mach es auf jeden Fall.«
Der Junge strich über die blauen Recken an seinem Arm.
»Klar mache ich jetzt weiter«, sagte er dann. Er betastete die Stelle an der Wand, drehte sich um und sagte: »Man spürt es schon, da kommt richtig Luft rein! Aber wir müssen noch daran arbeiten, so kommen wir noch nicht nach draußen.«
Pearson nickte und sah zu, wie Tommy sich wieder an den Fugen zu schaffen machte. Der Richter ging zur Wand, setzte sich auf den Boden und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Bretter. Er schloß die Augen, um sich ein wenig auszuruhen. Erst jetzt merkte er, wie erschöpft er war. Er wollte gern schlafen, fühlte sich aber für Tommy verantwortlich und wollte ihn nicht unbeaufsichtigt lassen. Auf keinen Fall durften sie kommen und ihn wieder fesseln! Mühsam kämpfte Pearson gegen den Schlaf an.
»Warum schläfst du nicht ein bißchen, Großvater?« fragte Tommy plötzlich.
Der alte Herr schüttelte den Kopf.
»Doch, du kannst ruhig schlafen, ich komme schon allein klar.«
Pearson blieb wach. Er ließ seine Gedanken abschweifen, zurück in seine Kindheit. Er hatte einmal eine Schlägerei mit einem größeren Jungen aus der Nachbarschaft gehabt. Wie alt war er damals gewesen? Er wußte es nicht mehr genau. Er war damals dürr und schlacksig, hatte immer schmutzige und verschlissene Kleidung an, ganz zum Schrecken seiner Mutter.
Wie hatte der Kerl noch geheißen? Butch oder Biff oder so ähnlich. Sie hatten sich nach der Schule auf dem Sportplatz geprügelt. Es war Frühling, die Sonne schien warm. Überall war frisches Grün. Er hatte Blut und Dreck auf der Zunge gehabt. Butch hatte ihn, weil er stärker war, mindestens sechsmal zu Boden geworfen. Seine Nase blutete, einer seiner Zähne hatte sich gelockert. Hinterher hatte es Butch beinahe leid getan, daß er ihn so zugerichtet hatte. Als er sah, daß ihm die Tränen herunterliefen, stieß er ihn ein letztes Mal zu Boden und machte sich davon.
Vielleicht hat Tommy seinen Mut von mir, dachte Pearson. Viele hundert von ihm verurteilte Verbrecher kamen ihm in den Sinn. Schuld oder Unschuld im Urteils-spruch hatte nur selten etwas mit dem wirklichen Leben zu tun. Ich habe Punkte verteilt für Schuld oder Unschuld, für Erfolg oder Scheitern. Trotz schwerer Anklage wurde mancher dank des flammenden Plädoyers seines Anwalts nicht zur Höchststrafe verurteilt. Das war ein Erfolg für den Angeklagten, der mit viel mehr gerechnet hatte, aber es war eine Niederlage für die Angehörigen des Opfers.
Die Atmosphäre vor Gericht war meist kalt und herzlos, selten konnten Dinge wirklich angemessen beurteilt werden. Die Aussage der einen Partei wurde durch die Gegenseite in Frage gestellt, die Wahrheit ließ sich nicht einfach in einen Satz fassen, sie war in Wirklichkeit viel komplizierter, als ein Richterspruch es je zum Ausdruck bringen konnte.
Wie wenig habe ich doch vom wirklichen Leben gewußt! Er blickte sich in der Kammer um. Dies hier ist die Realität. Jahrelang habe ich über die scheußlichsten Dinge geurteilt, ohne sie je selbst erfahren zu haben. Er dachte an die Angst, die er empfunden hatte, als Olivia ihre Pistole hob und von hinten auf Tommy schoß. Hätte er sich auf sie stürzen sollen? Hätte er der Kugel in den Weg springen sollen? Was für schlimme Folgen hätte seine Tatenlosigkeit haben können!
Pearson beschloß, beim nächsten Zwischenfall schneller einzugreifen. Bislang hatte er gedacht, irgendwer würde schon auftauchen und sie beide befreien. Aber da hatte er sich vertan. Tommy hatte recht. Sie mußten selbst etwas gegen ihre Feinde tun.
Er sah zu, wie Tommy arbeitete, und dachte: Wir müssen uns selbst retten.
Plötzlich hörte er Schritte an der Tür. Er wollte Tommy warnen, aber der Junge hatte schon alles getan, um die Spuren seiner Arbeit zu entfernen.
Beide setzten sich in Erwartung ihres Besuchs auf das Bett.
Langsam fuhr Megan durch die Außenbezirke der Stadt.
Wir haben alles getan, und wo zum Teufel bleiben sie?
Warum melden sie sich nicht?
Sie umklammerte das Steuer fester und gab mitten in einer Kurve Gas. Sie übertrug ihre Wut und Verzweiflung auf das Auto. Dabei war sie normalerweise eine vorsichtige Fahrerin. Sie biß fest die Kiefer aufeinander und hörte in der folgenden Kurve die Reifen quietschen. Sie sah Duncan vor sich, wie er in der Nacht zuvor nach Hause gekommen war, das Gesicht kreidebleich. Sie hatte befürchtet, daß alles schiefgegangen war, und gleichzeitig, daß es geklappt haben könnte. Er hatte seinen Aktenkoffer mit dem Geld auf den Küchentisch gelegt und gesagt:
»Das wäre geschafft.«
»Nein, es ist noch nicht geschafft! Erst, wenn wir die Tommys wiederhaben«, hatte Megan gesagt.
Er hatte genickt und geantwortet: »Ja, aber ein Anfang ist gemacht.«
Sie erzählte ihm, daß im Haus eingebrochen und das Zimmer der Zwillinge verwüstet worden war. Sie hatten den ganzen Abend über aufgeräumt, während sie auf seine Rückkehr warteten. Duncan hatte seine Töchter in den Arm genommen, um sie zu trösten, und gesagt: »Bald haben wir alles hinter uns.«
Megan pflichtete ihm bei, aber im Innern hatte sie große Zweifel. Olivia ging ihr nicht aus dem Kopf, diese Frau, die ein ganzes Minenfeld von verletzten Gefühlen mit sich herumtrug. Megan wußte, daß sie ihren Handlanger geschickt hatte, um das Zimmer der Mädchen zu verwüsten. Das war Olivias Plan: ihr Leben durcheinanderzubringen und sie alle so zu verunsichern, daß sie keinen Moment mehr ohne Angst leben konnten.
Sie sah Olivia vor sich, wie sie sie vor dem Bankeinbruch in Lodi belehrt hatte. Sie hatte ihre Truppe fest im Griff gehabt und sich durch nichts beirren lassen. Jeden Tag hatte sie diese Reden gehört. Immer und immer wieder.
Morgens, mittags und abends. Und in der ganzen Zeit bist du nicht in der Lage gewesen dazuzulernen, Olivia.
Beinahe hätte Megan die Einfahrt zur Müllkippe verpaßt. Sie warf im letzten Moment das Steuer herum, und der Wagen schlingerte über den Kiesweg, so daß Megan fürchtete, die Kontrolle über ihn zu verlieren. Schließlich bekam sie ihn wieder in den Griff und fuhr geradewegs auf den Müllabladeplatz zu. Ein älterer Mann saß in einer kleinen Hütte, rauchte und las den National Esquirer. Er winkte Megan durch, als er sah, daß sie den richtigen Aufkleber auf dem Auto hatte. Zu ihrer Erleichterung achtete er nicht weiter auf sie. So schnell sie konnte fuhr sie zu der Müllgrube. Der Müllgestank hing drückend in der Luft. Als sie aus dem Auto stieg, atmete sie vorsichts-halber durch den Mund. Im Kofferraum standen drei grüne Plastiksäcke. Im ersten waren die Kleider und Utensilien, die Duncan für den Überfall benutzt hatte, der zweite enthielt alle Kleider, die Karen und Lauren auf dem Boden in ihrem Zimmer gefunden hatten. Megan war sofort auf ihren Wunsch eingegangen, alles wegzuwerfen, was der Eindringling berührt hatte. Der dritte Sack enthielt Müll.
Sorgfältig hatte Megan darauf geachtet, daß nichts darin war, kein Umschlag, keine Notiz, die verraten hätten, daß die Säcke von derselben Person stammten. Sie prüfte, ob die Säcke gut verschlossen waren. Dann warf sie einen nach dem anderen, so weit sie konnte, auf den Müllberg.
Sie waren unter Hunderten von anderen nicht wiederzuerkennen.
Megan streifte ihre Hände am Mantel ab. Sie war mit sich zufrieden und fuhr mit dem Gefühl nach Hause, daß Olivia sich sicher bald melden würde.
Duncan und den Mädchen hatte sie von ihren Nachforschungen nichts verraten. Dazu war sie sich selbst nicht sicher genug. Allerdings hatte sie durch Vergleich der Liste all der Häuser, die vor einigen Monaten frei gewesen waren, mit der aktuellen Liste herausgefunden, daß etwa ein Dutzend Häuser in Frage kamen. Sie hatte jedes einzelne auf einer Meßblattkarte ausfindig gemacht, aber jetzt, wo sie soweit war, wußte sie eigentlich nicht, was sie mit ihrem Wissen anfangen sollte. Im Grunde wollte sie diese Piste auch gar nicht weiter verfolgen; sie zwang sich zu glauben, daß Olivia bald das Geld in Empfang nehmen und die beiden Tommys zurückgeben würde. Je mehr sie sich aber einredete, alles werde sich auf diese Weise regeln, desto weniger glaubte sie daran.
Duncan kam ihr bereits auf der Eingangstreppe entgegen. Er antwortete auf ihre Frage, bevor sie sie überhaupt gestellt hatte.
»Nichts, nein, kein Wort bisher.«
»Worauf warten sie denn noch?« fragte Megan verzweifelt. Sie sah auf die Uhr. »Schon halb vier vorbei. Bald wird es dunkel. Vielleicht warten sie nur deshalb noch, weil sie die Übergabe lieber nachts machen wollen?«
»Ich weiß es nicht. Vielleicht will sie uns einfach länger auf die Folter spannen. Du weißt doch, wie sadistisch sie manchmal ist. Sie läßt uns warten, um uns zu quälen.«
»Wie erfährt sie eigentlich, daß du das Geld zusammen hast? Und woher weiß sie, daß wir alles vorbereitet haben?«
»Sie sagte, das erführe sie von ganz allein. Vielleicht hat sie letzte Nacht vor der Bank gewartet und gesehen, wie ich rausgekommen bin. Kann auch sein, daß sie nur spekuliert. Egal wie. Das Ganze war für heute geplant, und wir halten die Zeit ein.«
Duncan ging nervös auf und ab. Megan sah ihm dabei zu. »Glaubst du vielleicht, daß sie …«
»Ich weiß es nicht.«
»Ich meine, daß sie …«
»Was?« fragte Duncan. »Wer kann schon sagen, was sie im Schilde führt? Ich weiß nur, daß sie bestimmt einen Weg findet, an das Geld zu kommen. Aber ich werde durchsetzen, daß sie es nur im Tausch gegen die Tommys kriegt. Weiter bin ich mit der Planung auch nicht gekommen. Es war ja schon aufregend genug, meine eigene Bank zu berauben. Jetzt habe ich’s hinter mir. Was kann ich sonst noch tun? Nichts als warten.«
Duncan ging in die Küche, er sah mißmutig vor sich hin.
Megan folgte ihm.
»Entschuldige bitte!« sagte sie.
Duncan ballte die Fäuste, dann entspannte er sich. »Es ist schon gut, mir tut es ja auch leid.«
»Was haben wir nur getan?« fragte Megan plötzlich.
Duncan sah sie überrascht an. »Was willst du denn damit sagen?«
»Worauf haben wir uns nur eingelassen! Haben wir jetzt alles verloren?«
Duncan nickte. »Alles und nichts.« Er sah sie an und sagte lachend: »Es ist doch nichts als Geld.«
»Was heißt das?«
»Eben daß es nur Geld ist. Wir zahlen es zurück, vielleicht muß ich auch ins Gefängnis. Aber letztlich ist es doch nur Geld. Olivia hat sich grundlegend getäuscht. Sie glaubt, Geld sei uns immer noch wichtig.«
Duncan grinste und fuhr fort: »Soll sie ruhig denken, daß wir nichts im Kopf haben außer Geld und Autos, Ferien-wohnungen und Aktien. Das vereinfacht die Sache.
Hauptsache, wir bekommen die Tommys wieder. Alles andere kriegen wir schon hin.«
Megan nickte.
»Es ist sowieso alles anders geworden. Ich merkte es, als ich aus der Bank kam. Wir sind nicht mehr dieselben wie achtundsechzig und auch nicht mehr wie sechsundachtzig. Wir sind anders als früher. Hauptsache, die Familie kommt wieder zusammen. Alles andere ist doch unwichtig.«
Wieder nickte Megan.
Duncan sah sie an. »Glaubst du mir nicht?« fragte er.
Sie schüttelte den Kopf.
Er lächelte.
»Na gut, ich glaube mir ja selber nicht ganz.«
Sie setzten sich an den Küchentisch.
»Komisch«, sagte Duncan. »Man redet totalen Schwach-sinn, und dadurch geht es einem viel besser, aber auch viel schlechter.« Er verbarg für einen Moment das Gesicht in den Händen, so als wolle er sich verstecken, und Megan erinnerte sich, wie er »guck mal, wo ist der Papa« erst mit den Zwillingen und später mit Tommy mit einer riesigen Geduld gespielt hatte. Mit Mühe hielt sie die Tränen zurück.
»Es war wie ein Traum, letzte Nacht. So ganz allein in der Bank. Wie ich das ganze Geld in den Aktenkoffer stopfte.« Er blickte eine Weile angestrengt nach oben und fuhr fort: »Mir ist, als ob in mir etwas zerbrochen wäre, in zwei Teile.« Er überlegte einen Moment und sagte dann:
»Ich habe das Gefühl, als ob ich mein Handeln durch einen Monolog über Opfer und veränderte Umstände, Pflicht und Zuneigung rechtfertigen müsse. Aber das kann ich gar nicht. Ich will nur, daß das Telefon endlich klingelt.«
Megan antwortete nicht. Wortlos saßen die beiden da, warfen ab und zu einen Blick nach draußen, wo es langsam dunkel wurde, und ihnen war, als ob mit dem letzten Licht des Tages auch ihre Hoffnung verschwände.
Olivia Barrow sah auf Richter Pearson und seinen Enkel hinunter und sagte: »Ich würde mich ja gerne entschuldigen und sagen, es tut mir leid, daß ich nicht anders konnte, aber Sie würden mir sowieso nicht glauben. So lasse ich’s besser gleich.«
Pearson sah Olivia nur wütend an. Seine Hände waren vorne zusammengebunden und mit einem zweiten Strick an den Fußgelenken festgemacht. Er fühlte, wie seine Glieder immer steifer wurden. Tommy saß neben ihm, ebenso gefesselt.
Olivia hielt weißes Klebeband in die Höhe.
»Damit kann ich Ihnen noch den Mund zumachen, Richter.«
»Das ist nicht notwendig«, antwortete Pearson schnell, ein wenig zu schnell. Und er wünschte, er hätte diese Worte nicht gesagt.
Olivia schnitt einen Streifen von der Rolle ab. Dann hielt sie es über den eigenen Mund. »Oh, das riecht aber unangenehm. Nicht gerade sehr luftig.«
»Sie brauchen das nicht, wir bleiben auch so ganz still«, sagte Pearson.
Olivia grinste. »Geben Sie mir Ihr Wort als Richter darauf?«
Er nickte.
»Und du, Tommy? Schwörst du bei deiner Pfadfinderehre?« Tommy nickte und rückte dicht an seinen Großvater heran.
»Na gut«, sagte Olivia. »Da seht ihr mal, so ein Un-mensch bin ich doch gar nicht.« Sie formte den Streifen zu einem Knäuel und warf ihn in die Ecke. »Es wäre doch jammerschade, wenn einer von euch beiden geknebelt würde und ersticken müßte. Daß ich hier reinkäme und einer wäre tot! Und das so kurz, bevor alles vorbei ist.
Jetzt, wo wir schon so weit gekommen sind - nicht wahr, Richter?«
Er nickte zustimmend.
»Besonders du, Tommy. Ich habe nicht vergessen, was du für flinke kleine Füße hast, wie ein Häschen. Im Gefängnis gab es immer Leute, die was von einem Kaninchen in sich hatten. Ein guter Ausdruck, er trifft es genau. Solche Menschen möchten noch mehr als andere entkommen, wenn sie gefangen sind.«
Sie sah Tommy an: »Kein Kaninchen mehr, klar?«
»Nein«, sagte Tommy. »Versprochen.«
Olivia lächelte.
»Ich glaube dir keine Sekunde.«
Grinsend sagte sie: »Also, paß auf, daß du nicht alles verdirbst. Vergiß nicht, du bist schon bald zu Hause.«
»Heißt das, daß Sie Ihr verflixtes Geld kriegen und wir nach Hause können?«
»So ungefähr, Richter. Unser lieber Duncan muß noch durch ein paar Reifen springen, und dann ist die Show zu Ende. Na, Tommy, geht es dir jetzt besser?«
»Ich will nach Hause«, sagte der Junge nur.
Olivias gezwungen-freundliches Lächeln erlosch. »Das brauchst du mir nicht immer wieder zu sagen, du kleiner Bengel!«
Tommy zitterte. Aber Olivia setzte wieder ihr gönnerhaftes Gesicht auf. »Gut, es ist Zeit zu gehen. Ihr beiden bleibt ganz lieb und still hier sitzen. Bald sind wir zurück, und dann kommt die Stunde des feierlichen Abschieds!«
Der Richter gab keine Antwort. Tommy sah Olivia unverwandt an. Sie meint gar nicht, was sie sagt, dachte er.
Er war so überrascht von dieser Einsicht, daß er Olivia mit großen Augen anstarrte. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie von dem Blick des Jungen betroffen.
Schnell wandte sie sich ab, warf die Türe zu und schloß zweimal ab. Dann prüfte sie das Schloß. Sie lief die Treppe hinunter und fühlte einen Augenblick, wie sie Unruhe überkam. Der Blick des Richters verriet so etwas wie Hoffnung. Aber sie hatte ihn von Anfang an beherrscht und wußte genau, wie er jeweils reagieren würde.
Aber der Junge hatte jede ihrer Lügen durchschaut.
Unschuld ist das Gefährlichste, was es gibt, dachte sie.
Auf dem Boden lag eine Tasche. Sie hob sie auf, öffnete den Reißverschluß und überprüfte den Inhalt: einen Revolver, ein Fernglas mit Nachtsichtlinse, einen Kompaß. Sie steckte die Rolle mit dem Klebeband noch dazu.
Dann sah sie zu den beiden Männern hinüber.
»Bewaffnet und gefährlich«, sagte sie.
Sie lächelten und folgten ihr hinaus in die Kälte.
»Die Show beginnt«, sagte Olivia.
Als endlich das Telefon klingelte, durchfuhr es sie beide wie ein elektrischer Schlag. Beide faßten zugleich nach dem Hörer, aber Megan zog im letzten Moment die Hand weg und ließ Duncan antworten.
»Ja?« sagte er aufgeregt.
»Hallo, Duncan, hier ist Olivia.«
»Hallo, Olivia«, antwortete er.
»Hast du das Geld?«
»Ja.«
»Weiß jemand davon?«
»Nein, niemand.«
»Du hast doch wohl nicht die Bullen informiert, oder?«
»Du weißt genau, daß nicht.«
»Gut, wunderbar, Duncan. Brav. Jetzt kommen wir zur nächsten Hürde. Sie ist ein bißchen höher als die erste.«
Sie lachte leise auf.
»Jetzt hör mal zu, Olivia, ich habe das Geld hier. Sehr viel Geld. Jetzt möchte ich meinen Jungen wiederhaben.
Und den Richter. Du bekommst das Geld, wenn ich weiß, daß es ihnen gutgeht und sie in Sicherheit sind.«
Olivia schwieg einen Moment. Sie stand gleich beim Burger-King-Imbiß im selben Einkaufszentrum, in dem Duncan tags zuvor seine Sachen gekauft hatte. Ramon und Bill saßen an einem Tisch in der Nähe und tranken Kaffee.
Vor Bill stand ein Teller mit Hamburger-Resten.. »Duncan, du hast mir nichts zu befehlen. Du tust, was ich sage, und dann kriegst du sie wieder. Vorausgesetzt, du hast genügend Mäuse dabei.«
»Hör mal zu, es ist viel mehr als …«
Olivia unterbrach ihn: »Ich laß mich überraschen.«
»Ich bin diese Spielchen so leid, Olivia!«
»Ach wirklich? Siehst du mal, mir geht es ganz anders. Und es zählt das, was ich sage.«
»Ich warne dich, Olivia, du gehst zu weit!« Kaum hatte er dies gesagt, wurde ihm bewußt, wie leer und überflüssig seine Worte waren. Er kam sich lächerlich und hilflos vor.
Olivia antwortete ihm mit einem kurzen Lachen.
»Große Worte, aber sie nützen dir nichts. Ich bestimme dieses Spiel, nicht du!«
Eine Weile schwiegen sie. Dann brach Duncan die Stille.
»Also gut, was ist als nächstes dran?«
»Na, das klingt ja schon viel besser. Sieh mal auf deine’ Uhr. Wie spät ist es?«
»Kurz vor vier.«
»Du solltest schon genauer sein. Wie spät also?«
»Drei Minuten vor vier.«
»Schön«, sagte sie. »Kennst du die Telefonzelle bei Smith’s Drugstore in der East Pleasant Street? Ich hoffe ja, da liegen nämlich die nächsten Anweisungen für dich.«
Duncan überlegte, dann sagte er: »Ich glaube schon.«
»Wunderbar. Es ist genau wie im Fernsehen. Du nimmst die dritte Zelle von der Mauer aus gesehen. Um fünf nach vier mußt du dort sein. Und schön allein, klar? Dann also tschüs!«
»Wie, was?«
»Mach lieber schnell, du Idiot. Tu gefälligst, was man dir sagt! Und zwar hundertprozentig, sonst geht die ganze Sache schief, eher, als dir recht ist. Muß ich mich noch deutlicher ausdrücken?«
»Nein.«
»Dann los, Duncan! Du hast schon dreißig Sekunden verschwendet.«
Olivia hängte ein. Sie sah sich zu ihren beiden Begleitern um. »Weiter geht’s«, sagte sie. »Er ist unterwegs.«
Duncan warf den Hörer auf die Gabel und nahm den Aktenkoffer mit dem Geld.
Megan sah ihn erschrocken an: »Was ist passiert?«
»Ich muß in fünf Minuten im Ort an einer bestimmten Telefonzelle sein!«
Karen und Lauren hatten das Gespräch mitgehört. »Wir fahren mit«, sagte Karen, die mitten im Türrahmen stand.
»Nein, nein, nein!« rief Duncan und schob sie zur Seite.
Schnell nahm er seinen Mantel vom Kleiderständer im Flur.
»Es wäre besser, wenn einer mitführe«, begann Megan, aber er unterbrach sie, während er eilig in die Ärmel schlüpfte. »Ich mache es allein.«
»Wir kommen mit unserem Auto nach«, rief Lauren.
»Nein!« schrie Duncan. »Sie wollte, daß ich allein komme!«
»Und was ist mit uns?« rief Megan verzweifelt.
»Ich weiß es nicht, wartet hier. Bitte, laßt mich doch durch!«
Er rannte durch die Tür. Die drei Frauen sahen ihm nach, wie er ins Auto sprang und eilig aus der Einfahrt zurücksetzte.
»O Gott!« rief Megan, als er schließlich mit quietschenden Reifen auf der Straße davonbrauste. »Was haben wir nur getan!«
»Was ist denn los, Mom?« fragte Karen.
»Ich habe keine Ahnung, ich weiß überhaupt nichts«, sagte ihre Mutter. Sie sah die Zwillinge an und versuchte, ihnen ermutigend zuzulächeln. Sie würden ihr doch nicht glauben, das wußte sie.
Sie gingen wieder ins Haus und stellten sich auf eine lange Wartezeit ein. Megan gingen viele Gedanken durch den Kopf, aber sie sagte nichts. Jedes ihrer Worte wäre ihr lächerlich erschienen. Einen Augenblick lang hatte sie Angst, keinen der Männer aus der Familie wiederzusehen.
Sie schob den Gedanken beiseite, um nicht völlig die Nerven zu verlieren. Dankbar nahm sie die dampfende Teetasse von Lauren entgegen und ließ die Wärme des Getränks durch ihren Körper strömen, um die Kälte und Angst, die sie erfüllten, zu vertreiben.
Duncan sah nicht auf die Uhr, aber er war sicher, daß die Zeit abgelaufen war. Er fuhr seinen Wagen in eine Bushaltestelle und hoffte, daß ihn kein Polizist dabei beobachtet hatte. Als er auf die Telefonzelle zuraste, hörte er schon das Telefon klingeln. Er stürzte hinein und riß den Hörer von der Gabel.
»Ja!«
»Hallo, Duncan. Na, das klappt ja prima«, sagte Olivia.
»Ich hätte nicht gedacht, daß du das schaffst.«
Sie stand mit den beiden Männern im Einkaufszentrum.
Dort hatten sie sich mehrere Telefonzellen ausgesucht, die sie wechselweise benutzen wollten.
»Was kommt als nächstes dran, sag schon«, forderte Duncan Olivia auf.
»Nur ruhig Blut!«
»Ich will meinen Sohn zurück!«
»Na gut! Dann mach dich mal auf zum Stop and Shop am anderen Ende der Stadt. Da kauft Megan immer ein.
Du hast acht Minuten. Aber, Duncan …«
»Ja?«
»Sieh mal nach, was du unter dem Telefonbuch findest!«
Sie hängte den Hörer ein, bevor er reagieren konnte, und sah auf ihre Uhr.
Duncan fühlte unter die Telefonhalterung. Etwas war daruntergeklebt. Er löste es ab und hielt einen Kompaß in der Hand. Er steckte ihn in die Tasche und lief zu seinem Auto. Er dachte an seinen Sohn. Er mußte sich beeilen. Er durchfuhr eine Ampel bei Gelb und überholte einen Wagen, der daraufhin laut und energisch hupte. Als er auf dem Parkplatz vor dem Gemüseladen hielt, stand ihm der kalte Schweiß auf der Stirn. Er lief zur Telefonzelle. In dem trüben Licht der Schaufensterlampen wirkte der Ort grau und trostlos.
Das Telefon klingelte nicht.
Duncan sah auf die Uhr. Sieben Minuten, dachte er. Ich habe doch nicht länger gebraucht, um hierher zu kommen.
Er wartete. Acht Minuten waren vergangen, das Telefon blieb stumm.
Duncan legte seine Hand auf den Hörer. Nichts geschah.
Er wurde von Panik ergriffen, sein Herz schlug wie wild.
Er sah sich um, fürchtete, in die falsche Zelle gegangen zu sein. Aber es waren nirgendwo andere zu sehen. Wieder sah er auf die Uhr.
Neun Minuten. Was ist nur passiert, fragte er sich. Es war inzwischen sehr kalt geworden und wurde schnell dunkel. Duncan kam es vor, als wäre er im letzten Licht des Tages gefangen, während Olivia aus dem Dunkel heraus operierte. Er sah sich aufgeregt nach allen Seiten um.
Zehn Minuten.
O Tommy, dachte er verzweifelt.
Da klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer auf und hielt ihn hastig ans Ohr.
»Hallo! Ich wollte dir ein bißchen mehr Zeit gönnen, bei dem Verkehr und so«, sagte Olivia freundlich.
Duncan knirschte mit den Zähnen vor Wut.
»Sicher weißt du, daß wir dich beobachten, Duncan. Immer sind wir hinter dir und beobachten dich. Das ist ja auch der Zweck der Übung. Mal sehen, ob du Befehle ausführen kannst. Vor achtzehn Jahren warst du jedenfalls dazu nicht in der Lage.«
»Wo soll ich jetzt hin?«
»Fünf Meilen von hier an der Straße 9 liegt Harris’ Gärtnereibedarf. Kennst du bestimmt. Da kauft man Samen und auch Weihnachtsbäume, Mutterboden für Sträucher. Du arbeitest doch gerne im Garten, oder? Na, du kennst jedenfalls den Weg. Du hast zirka sechs Minuten. Das Telefon steht direkt davor.«
Duncan rannte zu seinem Wagen.
Als er das Schild des Gärtnereibetriebs erkannte, steuerte er durch den Verkehr auf den Parkplatz zu. Die sechs Minuten waren vorüber. Er sprang aus dem Wagen. Sein Herz schlug laut. In der Telefonzelle stand eine Frau. Er sprang beinahe auf sie zu.
»Es dauert nicht lange«, sagte sie, »noch eine Minute.«
»Es ist ein Notfall«, rief Duncan.
Die Dame war mittleren Alters und trug einen Parka.
»Mom, ich hole die Kinder ab, sobald ich mit Einkaufen fertig bin, es dauert nicht mehr lange.«
»Bitte, beeilen Sie sich«, flehte Duncan.
Die Frau sah ihn verärgert an. »Da will jemand unbedingt telefonieren, ich komme so schnell, wie es geht.«
Duncan streckte seine Hand aus. »Nun legen Sie schon auf!« schrie er.
»Ich bring’ dir auch deine Broccoli mit«, sagte die Frau.
Jetzt riß ihr Duncan den Hörer aus der Hand und warf ihn auf die Gabel. Erschrocken fuhr die Frau zurück. »Ich sollte die Polizei rufen!« rief sie empört.
Duncan drehte ihr den Rücken zu und hörte, wie sie über den Kiesweg davonging.
Er starrte auf das Telefon, und als es endlich klingelte, streckte er erleichtert die Hand aus.
»Olivia? Ich kann nichts dafür, jemand war in der Zelle, Entschuldigung«, stammelte er.
Olivia antwortete mit einem Lachen.
»Das war knapp! Dachte mir eigentlich nicht, daß jemand telefonieren würde. Wer steht schon gerne draußen in der Kälte rum? Na ja, so was kann halt passieren. Wie weit ist es denn bis Leverett?«
»Zwanzig Minuten.«
»Also gut. Auf dem Weg ins Stadtzentrum gibt es einen Laden neben einer Mobil-Tankstelle. Das Telefon liegt gleich vorne. Zwanzig Minuten.«
Duncan fuhr schnell. In kürzester Zeit hatte er Greenfield verlassen, fuhr durch eine Allee, wo die Stämme der kahlen Bäume abwechselnd Schatten und Licht auf ihn warfen. Er schaltete die Scheinwerfer an, um die Dämmerung zu vertreiben, und er fühlte sich allein, beinahe wie auf See. Die Straße nach Leverett war kurvenreich und nur zweispurig. Er war diese Strecke Hunderte von Malen gefahren, doch jetzt erschien sie ihm seltsam fremd.
Zweimal verlor er fast die Gewalt über den Wagen. Er kurbelte die Scheibe herunter, um frische Luft in den Wagen zu lassen. Ihm war heiß, und sein Nacken war feucht von Schweiß. Er blickte auf seine Hände am Steuer, die kalkweiß und gespenstisch aussahen.
Die Tankstelle und der Lebensmittelladen kamen in Sicht, als noch eine Minute Zeit übrig war. Er fuhr an den Zapfsäulen vorbei direkt auf die Telefonzelle zu, sprang aus dem Wagen und rannte zu dem Apparat. Dann stand er davor und wartete. Was würde wohl als nächstes passieren? Er spielte mit dem Kompaß in der Manteltasche und stellte sich vor, daß Olivia ihn beobachtete.
Das Telefon klingelte nicht.
Ich bin doch da, es war doch rechtzeitig!
Während der Fahrt hatten sich seine Nerven ein wenig beruhigt. Er blickte auf die Uhr. Ich bin da, verflucht noch mal. Ich warte.
Er wartete, wie inzwischen schon gewohnt. Zuerst glaubte er, Olivia hätte sich wieder eine neue Schikane ausgedacht, weshalb er sich auch keine Sorgen machte.
Als dann aber Minute um Minute verging, wurde ihm unwohl zumute. Seine Angst wuchs. Schweiß brach ihm aus, er war der Panik nahe. Das Telefon blieb stumm.
Er wußte nicht mehr, was er tun sollte. Wie zuvor sah er sich um, fragte sich, ob er am falschen Ort sei. Er sah zu der Tankstelle hinüber, sah auch dort eine Telefonzelle, gleich an der Straße, zwischen der Tankstellenausfahrt und dem Parkplatz des Lebensmittelgeschäfts.
Das Telefon, vor dem er stand, gab immer noch keinen Laut von sich.
Nein, dachte er, sie muß diese gemeint haben. Als er auf die Uhr sah, stellte er fest, daß es schon fünf Minuten über die Zeit war.
Duncan verbot sich, über die Folgen nachzudenken. Er wußte, daß Olivia etwas im Schilde führte, aber er hatte nicht die geringste Ahnung was.
Was für ein trüber, düsterer Spätnachmittag das war. Am Horizont verschwand gerade der letzte helle Streifen. Sein Atem stieg auf wie Rauch.
Zehn Minuten über die Zeit.
Wieder sah er zum anderen Telefon hinüber. Er starrte förmlich darauf. Und als einen Augenblick lang keine Autos oder Lastwagen vorbeifuhren, glaubte er, es dort klingeln zu hören.
Ihm wurde fast schwindelig vor Angst. Er verließ seinen Standort und ging zögernd zu der anderen Zelle hinüber.
Ein Wagen fuhr vorbei, überdeckte das Geräusch, aber je näher er kam, desto deutlicher hörte er das Klingeln.
Er sah sich nach der anderen Zelle um, unschlüssig, für welche er sich entscheiden sollte.
Er blieb stehen. Immer lauter erschien ihm das Klingeln in der anderen Zelle.
Plötzlich sah er einen der Tankwarte auf das Telefon zugehen. Nein, dachte er, nur das nicht!
Er rannte eilig über den Parkplatz, und als der Tankwart die Tür öffnete, den Hörer abnahm und einen verwunderten Gesichtsausdruck bekam, schrie er laut: »Nein, legen Sie nicht auf!«
Der Mann blickte verständnislos auf den Apparat.
»Hier, ich bin hier!« schrie Duncan, der weiterlief und wie wild mit den Armen fuchtelte.
Der Mann lehnte sich aus der Zelle und sah Duncan an.
»He, sind Sie Duncan?« fragte er.
»Ja!«
»Mensch, dann ist dieser Anruf für Sie!«
Duncan nahm den Hörer in die Hand.
»Ja, ja, hallo, ich bin hier!« Er schloß abrupt die Tür vor dem erstaunten Tankwart, der schließlich mit den Schultern zuckte und fortging.
»Das ist ja toll, Duncan! Ich hätte nicht gedacht, daß du es diesmal schaffst! Wirklich, meine Anerkennung«, sagte Olivia mit gespielter Begeisterung.
»Du hast gesagt, es ist die Zelle bei dem Laden!«
»Du mußt eben flexibel sein«, gab sie zurück.
»Du hast gesagt, daß ich dorthin soll!«
»Duncan, jetzt beruhige dich doch! Ich wollte nur wissen, ob du auch mitspielst.« Sie lachte kurz auf. »Ich hätte in ein paar Minuten sowieso die andere Zelle angerufen. Ich wollte nur mal sehen, ob du das hier mitkriegen würdest.« Wieder lachte sie. »Vielleicht hätte ich aber auch nicht drüben angerufen.«
Duncan holte tief Luft. Er versuchte, zur Ruhe zu kommen, merkte aber schnell, daß er dazu nicht in der Lage war. Nur seine Stimme bekam er in den Griff.
»Was passiert jetzt?« fragte er.
»Jetzt gebe ich nur noch Richtungen an, kapiert?«
»Nein, doch, ja gut, rede weiter.«
»Hörst du zu?«
»Ja.«
»Hol den Kompaß raus! Drei Komma drei Meilen nördlich. Zwei Komma sechs Meilen östlich. Bei der Gabelung eins Komma eins Meilen nordöstlich. Hier parkst du. Westlich siehst du ein Feld. Da gehst du rein, bis du einen Hinweis findest. Dort wartest du auf neue Anweisungen. Klar?«
»Bitte wiederhol das noch mal, Olivia.«
»Duncan, also wirklich, ich gebe mir alle Mühe, fair zu sein. Ich glaube, das machst du dir gar nicht klar.« Sie lachte zynisch. »Also gut, ich sag’ es noch mal. Norden drei Komma drei, Osten zwei Komma sechs, Nordosten eins Komma eins. Los Duncan, weiter!« Sie hängte ein und wandte sich an Bill Lewis und Ramon Gutierrez.
»Wie ein Lemming, der auf den Abgrund zurennt. Er hat die Orientierung verloren, ist total verängstigt und macht alles mit. Man kann sagen, er ist reif. Wir haben unsere Mission erfüllt«, sagte sie lächelnd. »Fahren wir!«
Beide Männer antworteten mit einem verlegenen Grinsen. Sie waren zu aufgeregt, um zu sprechen.
Schwächlinge! dachte sie verächtlich. Kaum sind sie am Geld dran, kriegen sie die Muffe. Aber ich brauche sie ja noch. Allerdings nur kurze Zeit. Sie verließ das Einkaufszentrum mit großem Tempo. Die beiden Männer mußten sich beeilen, um Schritt zu halten.
Duncan setzte sich wieder hinter das Steuer und stellte den Wegmesser auf Null. Er legte sich beide Hände an den Kopf, um den Schwindel loszuwerden, der immer mehr Besitz von ihm ergriff. Ihm war, als tauche ihn jemand mit Gewalt in einen Whirlpool. Sein Herz raste wie wild. Er versuchte erneut, sich zu beruhigen, wiederholte die Richtungsangaben und nahm den Kompaß aus der Tasche.
Die Nadel zitterte, beruhigte sich dann aber, und Duncan stellte fest, daß er eine Seitenstraße nehmen konnte, um Richtung Norden zu fahren. Er wendete den Wagen, atmete tief ein und machte sich auf den Weg.
Nach einer halben Meile befand er sich mitten auf dem Land. Die Straße führte an alten Neu-England-Bauernhäusern vorbei. Er bemühte sich, langsam zu fahren und die Gegend zu betrachten. Die Häuser waren zumeist weiß, schindelgedeckt, gezeichnet vom Alter und vielen, harten Wintern. Die Scheunen schienen gebeugt von der Last der Jahre, die Erde war braun, die Baumstämme waren schwarz. Die starr herabhängenden Äste bildeten bizarre Silhouetten gegen den frühen Abendhim-mel. Die Welt erschien ihm plötzlich urtümlich, wie neu erschaffen und erschreckend. Die Straße war kiesbedeckt und rutschig, immer wieder geriet der Wagen in Schlaglöcher. Er fuhr durch Felder und an Hügeln vorbei, kein Auto weit und breit bis auf einige Traktoren, die er hier und da überholte.
Die erste Etappe hatte er hinter sich, er sah auf den Kompaß, fand die Gabelung und fuhr weiter in Richtung Nordosten. Erregung überkam ihn, und für Sekunden dachte er voller Freude daran, daß er bald seinen Sohn wiedersehen würde. Dann wieder kämpfte er gegen jede verfrühte, falsche Hoffnung an. Ein Blick auf den Rich-tungsmesser: gleich eine Meile, eins Komma eins.
Duncan hielt den Wagen an.
Jeder kleinste Rest von Tageslicht war kostbar. Von Sekunde zu Sekunde wurde es weniger, der Himmel war von tiefem Grau bedeckt, das immer schwärzer wurde.
Duncan stieg aus und ging auf das Feld zu, das vor ihm lag. Es war von einer Steinmauer begrenzt, die ihm etwa bis zur Brust reichte. Jenseits, vielleicht eine halbe Meile entfernt, konnte er die dunkle Linie eines Waldes erkennen. Das Feld breitete sich zum Wald hin aus wie ein Ozean zur Küste. Duncan ging auf die Mauer zu und kletterte hinüber. Er dachte dabei an seinen Sohn und das Geld in dem Aktenkoffer. Kaum hatte er einige Schritte gemacht, da blieb er bis zum Knöchel im Matsch stecken.
Mit einem zischenden Geräusch zog er den Fuß heraus.
Er ging weiter vorwärts, kämpfte gegen den schlammigen, unsicheren Boden, die Hosenbeine und Socken voller Matsch, die Füße naß. An manchen Stellen war der Boden von einer dünnen Eisschicht bedeckt, und er hörte bei manchen seiner Schritte ein leises Krachen.
Einmal stolperte er und ließ den Aktenkoffer fallen. Er raffte sich auf und stapfte weiter.
Was suche ich nur, fragte er sich. Er riß die Augen auf, suchte irgendwo nach einem Anhaltspunkt. Jetzt war es fast vollends dunkel, und Duncan war verzweifelt.
Er kämpfte sich weiter vorwärts. Als er sich nach seinem Wagen umsah, stellte er fest, daß er schon fast das halbe Feld durchquert hatte.
Hier muß es doch irgendwo sein, dachte er. Er fühlte, wie die Kälte immer mehr Besitz von seinem Körper ergriff. »Wo ist es?« schrie er plötzlich laut.
Wieder machte er einige Schritte, dann sah er einen Schatten vor sich, wahrscheinlich ein hölzerner Pfahl, der in die Erde gerammt war. Da muß es sein, dachte er und rannte darauf zu. Als er den Pfahl erreichte, blieb er stehen und versuchte, irgendeinen Hinweis oder eine Nachricht daran zu finden. Nichts. Ein ganz gewöhnlicher Pfahl mitten in einem ganz normalen Feld. Duncan war verwirrt und enttäuscht.
Seine eisigen Füße bewirkten, daß er bald am ganzen Körper fror, und er sehnte sich nach der Wärme des Tages.
Ich soll auf ihre Anweisungen warten, hat sie gesagt.
Also warte ich.
Nichts als Schweigen um ihn herum.
Er lehnte sich gegen den Pfahl und versuchte, ruhig und langsam zu atmen. Unwillkürlich liefen ihm die Tränen herunter. Was ist bloß mit mir los? fragte er sich. Ich bin stark, ich habe Mut. Aber er glaubte selbst nicht daran und wurde seiner Gefühle nicht Herr. Die Dunkelheit um ihn herum verstärkte seine Verzweiflung. Er hielt krampfhaft den Aktenkoffer gegen seine Brust, als ob er ein Kind sei, und bewegte sich vor und zurück, um sich ein wenig zu wärmen. Er versuchte sich vorzustellen, was schiefgegangen war, fragte sich, was er jetzt tun sollte. Er dachte an seinen Sohn, was ihn nur verzweifelter machte. Er stieß einen Seufzer aus, aber er bewegte sich nicht von dem Pfahl weg. Ihm war klar, daß er keine andere Möglichkeit hatte, als zu warten.
Aus einer Entfernung von etwa dreißig Metern beobachtete ihn Olivia durch ihr Fernglas. Sie hatte sich im Wald verborgen und war zutiefst befriedigt.
»Na, Duncan, wie lange hältst du das aus? Da stehst du mitten im Nichts. Wartest du die ganze Nacht auf deinen Sohn? Oder nur ein paar Minuten? Wie groß ist deine Geduld? Und die Kälte, ob du sie aushältst? Und der Schmerz, ob du das allein schaffst? Wie lange, Duncan?
Achtzehn Jahre«, flüsterte sie. »Achtzehn Jahre!« Sie beobachtete ihn weiter und wartete ab.
Nachdem er eine Stunde dort gestanden hatte, war Duncan sicher, daß Olivia nicht kommen würde. Aber er fand nicht die Kraft sich zu bewegen. Er wartete eine weitere Stunde, bis seine Füße keinerlei Gefühl mehr hatten, und er fürchtete, den Weg durch die stockdunkle Nacht nicht zurückzufinden. Schließlich trat er einen Schritt nach vorn. Ihm war schwindelig, und er schwankte wie ein Betrunkener. Die Tränen in seinem Gesicht waren getrocknet. Er fühlte in sich eine endlose Leere. Er ging mit stetigem Schritt, fast wie ein Roboter, durch das Feld, dorthin, wo er seinen Wagen vermutete. Ihm war, als sei es Jahre und nicht nur ein paar Stunden her, daß er durch Greenfield gehetzt und schließlich bis zu diesem einsamen Ort gelangt war.
Er glitt aus und schlug mit dem Kopf auf, einen Moment blieb er auf dem matschigen, zerklüfteten Boden liegen. Er schmeckte Blut auf seiner Lippe. Dann raffte er sich auf und versuchte, den Schlamm vom Mantel zu wischen. Er stolperte weiter vorwärts, bis er endlich die Steinmauer erreichte. Sie sah aus wie eine dunkle Welle, die auf ihn zurollte. Er umklammerte fest den Griff des Aktenkoffers und kletterte über die Mauer. Er sah sein Auto oben am Straßenrand und stolperte darauf zu.
Was er tun sollte, wenn er wieder zu Hause wäre, wußte er nicht. Während er den Wagen auf schloß und einstieg, dachte er: Das war typisch für sie. Einfach nur sehen, wie ich reagiere. Eine immense Wut überkam ihn.
Er ließ den Motor an und wendete das Auto. Er hatte keine Ahnung, was er Megan und den Zwillingen erzählen sollte. Die Räder drehten durch, als er losfahren wollte.
Das fehlte noch, dachte er, daß ich hier draußen steckenbleibe. Dann aber fuhr er erneut an und erreichte problemlos die Fahrspur.
Er fragte sich, was Olivia als nächstes tun würde. Würde sie noch diese Nacht anrufen oder erst am nächsten Tag?
Wie wollte sie die Geldübergabe organisieren? Diesmal verlange ich, daß die Übergabe zu einer bestimmten Zeit stattfindet. Das lasse ich nicht mehr mit mir machen. Die Tommys und dann das Lösegeld. Vielleicht erwartet sie genau das von mir, daß ich klare Forderungen stelle. Aber auch da hatte er seine Zweifel.
Als er die Weggabelung erblickte, fuhr er langsamer und dachte an Megans Enttäuschung, wenn er ergebnislos zurückkäme. Was sollte er ihr sagen und wie seine eigene Verzweiflung verbergen? Und was würden die Zwillinge denken? Auch sie hatten eine Menge durchgemacht.
Gerade wollte er nach links abbiegen, als ihn zwei grelle Scheinwerfer blendeten. Er schrie auf und versuchte dem Wagen auszuweichen, der aus der Dunkelheit wie ein Ungeheuer auf ihn zukam. Er hörte den Lärm des fremden Motors und das Knirschen der Räder auf dem Kiesboden.
Er bremste, sein Wagen geriet ins Schleudern, schlingerte hin und her und kam endlich mit einem schweren Ruck zum Stehen.
Er hielt die Hand vor die Augen, um sich vor dem blendenden Licht zu schützen, das durch die Windschutzscheibe eindrang. Da wurde seine Wagentür aufgerissen. Er wandte sich um und erkannte Olivia.
Sie hielt ihm den Revolver ans Gesicht und entsicherte ihn mit einem lauten Klick.
»Her mit dem Geld, Duncan, wo ist das Geld?«
Er brachte kaum ein Wort heraus und sagte krächzend:
»Mein Sohn …«
»Du gibst mir das Geld, oder ich bring’ dich auf der Stelle um!«
»Ich will meinen Sohn zurück«, sagte er mit zitternder Stimme.
»Bring ihn um!« ertönte eine Stimme aus der Dunkelheit. »Erschieß das Schwein gleich hier!«
Duncan griff nach dem Aktenkoffer.
Jetzt sprach Olivia wieder, und ihre Stimme war ruhig und beherrscht: »Denk nach, Duncan, sei vernünftig und nimm dich zusammen. Du könntest hier sterben, und sie würden nie mehr heimkehren. Alles wäre sofort vorbei.
Du kannst natürlich kämpfen, aber du gehst dabei drauf.
Alles umsonst. Also, gib mir das Geld, dann bleibst du am Leben. Das ist die einzige Chance, für dich und für den Jungen.«
Wieder eine Stimme aus der Dunkelheit, eine andere diesmal: »Los, Olivia, beeil dich!«
Duncan kannte die Stimme. Das mußte Bill Lewis sein.
Vergeblich suchten seine Augen ihn in der Dunkelheit.
»Puste dem Schlappschwanz das Hirn raus!« rief die andere Stimme.
»Duncan, gebrauche deinen Kopf«, sagte Olivia ruhig.
Sie griff nicht nach dem Aktenkoffer, sondern zeigte nur darauf. »Reich das Ding schon rüber, du siehst doch, ich könnte ihn mir auch selbst nehmen.«
Er gab ihr den Koffer hinüber. Sie verbarg ihn hinter ihrem Rücken und hielt weiter die Waffe auf ihn gerichtet.
»Sehr schön, Duncan. Das war schlau von dir.«
Sie langte an ihm vorbei und zog den Zündschlüssel aus dem Schloß. »Ich werfe die Schlüssel zwanzig Meter weiter auf die Straße. Wenn du meine Bremslichter siehst, liegen sie da irgendwo in der Mitte. Du findest sie, wenn du genau suchst.«
»Tommy«, stöhnte Duncan.
»Ich zähle erst mal das Geld und melde mich dann. Nur ruhig Blut, Duncan, du hast es ja fast geschafft. Es hat keine Toten gegeben. Denk mal darüber nach, keiner muß dabei draufgehen …« Das Wort ›muß‹ hob sie besonders hervor. Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Vielleicht geschieht’s doch«, flüsterte sie noch und trat dann von Duncans Wagen zurück.
Duncan wollte aus dem Wagen springen und ihr hinterherlaufen. Sie wandte sich um und hielt ihm den Revolver an die Brust. »Komm, spiel schön mit, Duncan!« forderte sie ihn auf.
Er wich zurück, streckte ihr halb bittend, halb verzweifelt die Arme entgegen. Mit einem verächtlichen Laut wandte Olivia ihm den Rücken zu. Er sah, wie sie in ihr Auto stieg. Der grelle Scheinwerfer ging aus, aber der Motor lief, und als der Wagen losfuhr, mußte Duncan zurückspringen, um nicht überfahren zu werden. Etwa zwanzig Meter weiter hielt der Wagen. Wie sie angekündigt hatte, leuchtete das Bremslicht auf. Das Abblendlicht wurde erst in einer Entfernung eingeschaltet, in der er weder Autonummer noch Marke erkennen konnte. Dann verschwand der Wagen in der Dunkelheit. Duncan wollte zuerst hinterherrennen, aber das Auto war schon hinter einer Kurve verschwunden. Eine Weile stand er so da und starrte verständnislos in die Nacht. Dann tat er das einzige, was ihm zu tun blieb: Er begann auf den Knien zu rutschen und seine Schlüssel zu suchen.