KAPITEL 8

Freitag

Kurz vor der Morgendämmerung saß Duncan auf dem Fußboden in Tommys Zimmer und ging seine Checkliste durch. Es war still im Haus, er hörte nur das Anspringen der Heizung und gelegentlich das Kratzen von Zweigen, die der Wind gegen die Fensterscheibe drückte, oder ein Stöhnen aus dem Zimmer der Zwillinge, deren Schlaf gegen Ende der Nacht unruhiger wurde.

Ich werde es schaffen, dachte er. Er legte das Papier auf Tommys Bett und stand auf. Die letzten Stunden vor Morgen waren immer die schwierigsten. Er dachte an die vielen Male, die er Tommy in dieser Zeit auf dem Arm gewiegt hatte. Manchmal hatte er ihn festhalten müssen wie ein Ringer. Oft war ihm gewesen, als seien Tommys innere Kämpfe und Ängste stärker als er, und er brauchte all seine Kraft, um diese Ängste zu besiegen und ihm Sicherheit und Selbstvertrauen zu geben.

Auf Tommys Schreibtisch lag ein braunweißer Schildkrötenpanzer. Er nahm ihn in die Hand und strich über die rauhe Oberseite. Wo hat er sie her? Und was bedeutet sie ihm, fragte sich Duncan. Dann nahm er einen Stein, der aussah, als sei er in der Mitte durchgeschnitten worden, so daß man immer die purpurfarbene und weiße Quarzstruktur sah. Welches Geheimnis wohl dieser Stein verbarg?

Zwei Dutzend Spielzeugfiguren standen sich in zwei Reihen gegenüber. Ritter, Soldaten aus dem Unabhängig-keitskrieg, Angehörige der Army in seltsam anachronistischem Durcheinander. Auf welcher Seite hast du gestanden, Tommy?

Plötzlich übermannte Duncan die ganze Erschöpfung der letzten Tage. Wer bin ich eigentlich, fragte er sich. Ich bin Bankier. Und außerdem Geschäftsmann und Vater und Ehemann. Aber das ist nicht alles. Ich lüge mich selbst an, wenn ich den Rest verschweige. Ich bin auch ein Krimineller. Seit dem Tag in Lodi. Aber es steckte schon immer ein Krimineller in mir.

Noch einmal ging er das geplante Verbrechen in allen Einzelheiten durch. Er empfand keine Skrupel. Sie haben mir mein Kind gestohlen, und ich muß es wiederbekommen. Ich kann auf nichts mehr Rücksicht nehmen.

Er dachte an seine Mutter, an Megan und Olivia. Drei Frauen, die eine wichtige Rolle in seinem Leben spielten.

Meine Mutter war unpersönlich und distanziert, immer exakt, aber leidenschaftslos. Megan war genau das Gegenteil von ihr, voller Phantasie und Farbe, immer so fröhlich und spontan. Olivia bedeutete Gefahr, Rebellion, Zorn und Macht.

Zum ersten Mal hatte er Olivia erlebt, als Studenten gegen die Nachwuchswerbung der CIA auf dem Campus demonstrierten. Olivia war vor einer großen Gruppe hermarschiert. Die Demonstranten skandierten Slogans und trugen Transparente. Dann stürmten sie das Verwaltungsgebäude und beschimpften laut die Sekretärinnen, die Angestellten im Immatrikulationsbüro und andere Mitarbeiter. Die Schreibtische bespritzten sie mit Schafsblut. Wie im Wirbelsturm flogen Akten durch die Räume.

Als die Polizei erschien, wurde das Chaos noch größer.

Olivia war wie besessen damals, dachte Duncan. Alles, was sie in die Hand nahm, ging gleich in Flammen auf.

Und ich war restlos fasziniert von ihr, ob auf Diskussionsabenden der Studentenverbände, beim SDS, auf Anti-Kriegs-Demos, bei Protestkonzerten und schließlich sogar auf geheimen Treffen kleiner Gruppen spät nach Mitternacht, wenn wir bei Wein, Zigarettenqualm und Kerzenschein über marxistische Abhandlungen debattierten und Revolutionsstimmung in der Luft lag.

Duncan setzte sich auf Tommys Bett, lehnte sich zurück und dachte daran, wie einfach man es sich damals mit der Beurteilung der Welt gemacht hatte. Es gab Gut oder Böse, Schwarz oder Weiß. Für unsere Eltern brach eine Welt zusammen, als sie uns agieren sahen. Es ist schwer, Eltern zu sein. Aber das war noch gar nichts im Vergleich zu dem, was Megan und ich jetzt ertragen müssen.

Megan hatte er zum ersten Mal in der Kunstakademie gesehen. Er war dorthin gegangen, weil er nach einem ruhigen Ort suchte, an dem er ein Physikbuch lesen konnte. Als er durch die Flure ging, kam er an einer geöffneten Tür vorbei. Drinnen saß ein Kurs, der Aktzeichnen übte. Megan saß ganz vorne, sie war nackt bis auf ein kleines Tuch, das sie sich um die Hüften geschlun-gen hatte. Ihre Brüste standen aufreizend nach vorne, und er war fasziniert gewesen. Die Studenten zeichneten in stiller Konzentration. Er blieb wie vom Schlag getroffen in der Tür stehen und starrte sie an, bis der Zeichenprofessor verärgert die Tür vor seiner Nase schloß. Er hatte geduldig draußen gewartet und trat Megan in den Weg, als sie mit den anderen am Ende der Sitzung herauskam. Er sagte ein paar Worte zu seiner Entschuldigung, die sie sich mit einem verschmitzten Lächeln anhörte. Er begann zu stottern, und schließlich war er ganz verwirrt und kam sich nackter vor, als sie es ohne Kleider gewesen war.

Noch heute fragte er sich, was ihr an ihm so gefallen hatte. Er fand Megan tausendmal aufregender und interessanter als sich selbst. Seine Arbeit war eher eintönig und langweilig. Er hatte Theoreme und Graphiken im Kopf, sie bunte Farben und schnelle Pinselstriche. Sie war voller Zuversicht dem Leben gegenüber, er voller Zweifel. Er hatte nie so richtig an ihre Zuneigung und ihre Art, sich für alles, was er tat, zu interessieren, glauben können. Sie liebte ihn aufrichtig, er aber war immer noch auf der Suche nach etwas Unbekanntem.

Nie hätte ich die Freiheit besessen, mich vor so vielen Studenten auszuziehen, dachte er. Ich war nie so unbefangen. Ich jagte Dingen nach, die mir selber fehlten.

Und da fand ich Olivia.

Er lehnte sich auf dem Bett zurück.

In einem hat sie bis heute recht. Ich dachte immer, ich könnte sie aus meinem Leben verdrängen. Aber das ist unmöglich. Seit achtzehn Jahren warte ich, daß sie wiederkommt.

Also gut, Olivia. Du bist gekommen, um dein Pfund Fleisch abzuholen. Ich werde es für dich stehlen, und dann kommen wir endlich zum Schluß des Dramas.

Wenn der morgige Abend vorüber ist, werde ich nicht mehr derselbe sein. Er fürchtete sich weniger vor dem Einbruch, als er zunächst geglaubt hatte.

Er stand auf und spürte das Verlangen, nach den Zwillingen zu sehen. Er tappte durch das dunkle Haus bis zu ihrem Zimmer und spähte hinein. Sie lagen in ihren Betten, die Kleider waren über den Fußboden verstreut. Im ersten Morgenlicht, das durchs Fenster drang, konnte er sie schon soeben erkennen. Ihr langes Haar ringelte sich über die Kopfkissen, ihre Glieder waren entspannt. Ob sie ahnten, wieviel Glück sie in sein Leben gebracht hatten?

Wohl kaum. Kinder wissen nicht, was sie ihren Eltern bedeuten, bevor sie nicht selbst Eltern sind. Freude, Anstrengung, Angst und übergroßes Glück, all das erlebte man auf einmal. Er warf noch einen Blick auf die Mädchen, erinnerte sich an die Zeit, als sie Babys, Kleinkinder und schließlich Kinder waren. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie groß wären.

Duncan ging ins Schlafzimmer. Megan war vor ein paar Stunden erschöpft in Schlaf gesunken. Er setzte sich aufs Bett und streichelte ihr über einen Arm. Sie blinzelte und faßte im Halbschlaf nach ihm. Dann küßten sie sich, wodurch sie vollends aufwachte. Sie sprach kein Wort, sondern zog ihn zu sich heran, um nur für ein paar Augenblicke zu vergessen, was geschehen war und was ihnen noch bevorstand.

Beim Frühstück sagte Duncan, am heutigen Tag sollten sie sich alle ganz normal verhalten. Karen und Lauren sollten zur Schule gehen wie immer, Megan in ihr Maklerbüro und er zur Bank.

Die Mädchen protestierten, ehe er geendet hatte.

»Und was ist, wenn irgendwas passiert?« fragte Karen.

»Dann ist eben niemand zu Hause.«

»Das geht doch nicht«, wandte Lauren ein.

»Das ist es ja gerade«, erwiderte Duncan. »Ihr geht ganz normal zur Schule und redet mit euren Freundinnen wie immer. Und kommt zur üblichen Zeit nach Hause. Ihr macht genau das, was ihr an jedem Freitag tut.«

»Das geht einfach nicht«, brummte Lauren ärgerlich.

»Doch«, sagte Megan, die ihre Überraschung über den Vorschlag ihres Mannes überwunden hatte. »Euer Vater hat recht, wir müssen so tun, als sei nichts geschehen. Ich gehe zur Arbeit und bin genauso freundlich zu den Leuten wie immer. Niemand soll mir die Sorgen anmerken. Da keiner etwas von der Sache erfahren darf, ist es doch das beste, so zu tun, als sei gar nichts gewesen.«

Die Mädchen schienen enttäuscht, und Duncan versuchte sie aufzumuntern. »Bald ist der ganze Spuk vorbei. Einen Tag werdet ihr eure Rolle doch spielen können. Ihr habt mich doch schon so oft durch eure Schauspielerei hinters Licht geführt.«

»Dad, das haben wir nie!« protestierte Karen.

»Nur manchmal«, gab Lauren zu.

»Ihr wolltet doch immer Schauspielerinnen werden«, sagte Duncan.

»Aber doch nicht bei so was!« sagte Lauren empört.

»Was hat das mit Schauspielerei zu tun?« fragte Karen vorwurfsvoll.

»Eine ganze Menge«, sagte Megan freundlich. »Wir müssen bei dieser Sache alle unsere Rolle so perfekt spielen wie möglich. Bisher haben wir uns benommen wie arme Opfer. Ab heute muß das anders werden. Laßt uns endlich mal was tun!«

Die Mädchen nickten zustimmend.

»Heute abend«, sagte Lauren plötzlich, »ist Tanz in der Turnhalle. Wie jedes Jahr um die Zeit. Es spielt eine echte Band. Und Teddy Leonard rechnet fest damit, daß ich komme. Und Will Freeman ist hinter Karen her, das weiß ich genau.«

»Lauren, das ist Quatsch! Wir haben nur zusammen Physik gemacht und danach ein bißchen gequatscht.«

»Na ja«, sagte Lauren und betonte jedes folgende Wort, »er ist in der Schulmannschaft beim Basketball. Er sieht gut aus und läuft dir überallhin nach, er nutzt jede Gelegenheit, dich zu sehen. Ich bin also total bescheuert zu glauben, daß er sich für dich interessiert.«

»Und was ist mit Teddy? Jeden Tag fragt er dich, ob er dich nach Hause fahren darf. Das bedeutet wohl gar nichts?«

Es war kein Streit, sondern eher ein gegenseitiges Necken. Megan hörte sich das Ping-Pong der Argumente noch eine Weile an und lächelte Duncan zu, der verständnislos den Kopf schüttelte. Als eine Pause eintrat, griff Megan ein:

»Karen und Lauren! Ich glaube, es ist keine besonders gute Idee, heute abend tanzen zu gehen.«

»Mom, ich hab’ das nicht so gemeint! Ich dachte nur …«

»Sie wollte mich bloß nerven«, sagte Karen schnell und streckte ihrer Schwester die Zunge raus, was diese mit Stirnrunzeln beantwortete.

»Hört mal zu: Ihr sagt euern Verehrern, daß ihr nicht kommen dürft.«

»Das werden sie sicher glauben«, sagte Lauren.

»Und seid bitte vorsichtig.«

»Wieso?«

»Ich weiß nicht«, antwortete Megan, »aber paßt ein bißchen auf. Wenn irgendwas Besonderes passiert, und wenn’s nur eine kleine Sache ist, bleibt bitte zusammen und achtet darauf, was um euch vor sich geht.«

»Wenn ihr Angst habt, kommt ihr nach Hause«, sagte Duncan. »Oder ihr ruft mich und Megan an. Oder ihr geht zu Freunden. Aber erzählt ihnen nichts.«

Die Mädchen nickten.

Megan fragte sich einen Moment, ob sie nicht einen großen Fehler machte, ihre Töchter aus den Augen zu lassen. Nur mühsam unterdrückte sie den Impuls, Duncan zu widersprechen. Aber er schien so von der Richtigkeit seiner Idee überzeugt, daß sie sich fügte.

Sie sah zu, wie die Zwillinge sich die Mäntel anzogen, und begleitete sie bis zur Tür. Sie wartete draußen in der Kälte, bis sie ins Auto gestiegen und losgefahren waren.

Sie sah dem Wagen nach, bis er um die Ecke fuhr. Lauren winkte ihr noch zu, dann waren sie verschwunden.

 

Olivia Barrow setzte sich in einen abgenutzten Polstersessel in dem kleinen Wohnzimmer des Bauernhauses und lehnte sich bequem zurück. Sie sah aus dem Fenster über das dunkle Feld bis zum Waldrand, dorthin, wo sie das Auto des Richters versteckt hatte. Sie wollte am nächsten Tag hingehen und kontrollieren, ob der Motor noch lief, damit das Auto im Bedarfsfall voll einsatzfähig war. Einen Moment schien die Sonne durchs Fenster und wärmte ihr Gesicht. Olivia schloß die Augen und durchdachte ihren Plan. Sie war zufrieden mit sich, dann aber verschwand die Sonne hinter einer Wolke, und mit ihr schwand Olivias Selbstsicherheit. Vielleicht habe ich Fehler gemacht, dachte sie.

Wieder ließ sie das Gespräch mit Megan Revue passieren. Es waren nicht die Worte, die sie verunsicherten.

Megan hatte genauso reagiert, wie sie vorausgesehen hatte. Sie ist schon immer sehr verletzlich gewesen durch ihre Emotionalität, dachte Olivia. Sie war immer aufrichtig und loyal, und das machte sie schon damals schwach.

Irgend etwas in Megans Ton hatte sie irritiert. Es war kein Trotz, aber eine Haltung, mit der sie nicht gerechnet hatte. Da war etwas gewesen, das in ihrer Planung nicht vorgesehen war. Aber was?

Sie schob diese Gedanken beiseite und sah sich in dem Zimmer um. Die Wände waren nackt, der Kamin hatte schon lange nicht mehr gebrannt, die Möbel waren alt und schäbig. Sie hörte Geräusche. Bill Lewis und Ramon Gutierrez machten sich hier und da im Haus zu schaffen.

Bald hat der Laden hier seine Schuldigkeit getan, dachte sie. Zwei Monate haben wir uns hier vorbereitet für die paar Tage, und jetzt ist bald alles vorbei. Ich möchte irgendwohin, wo es warm ist. Hier im Haus zieht es immer so. Der typische Neu-England-Wind, der in alle Flure und Ritzen dringt.

Im Gefängnis war es immer warm gewesen. Riesige Heizkörper strahlten enorme Hitze aus, wenn es draußen kalt wurde, und diese unangenehme Überwärme wurde noch unerträglicher durch all den angestauten Schmerz und Frust der Gefangenschaft.

Was machst du, wenn du rauskommst?

Diese Frage war im Gefängnis immer präsent. Sie war Gegenstand fast aller Gespräche, bei jeder Mahlzeit dachte man daran, an jedem der so endlos langsam vergehenden Tage, in jeder schlaflosen Nacht. Ich will hier raus!

Selbst die Frauen, die wegen Mordes einsaßen und zwanzig, dreißig Jahre zu verbüßen hatten, beschäftigten sich damit. Ich werde einen Mann finden, der mich wirklich liebt. Ich haue aus diesem verdammten Land für immer ab. Ich mache meine Kinder ausfindig und gründe ein neues Heim. Ich möchte einmal ganz ohne Beschränkungen leben. Ich möchte endlich mal tun, was ich will.

Ich kaufe mir ein Häuschen und führe ein ganz alltägliches Leben. Ich werde Sekretärin, arbeite im Büro oder im Lokal, ich werde Putzfrau, ich gehe auf den Strich oder deale. Ich verdiene Geld als Straßenhändlerin und kaufe mir ein Häuschen für die Zeit, wenn ich alt bin. Ich mache dasselbe wie früher, aber ich stelle mich nicht so dumm an wie bisher. Dann erwischen sie mich nicht. Ich gewinne einmal dick beim Spiel und hab’ für immer ausgesorgt.

Tausendmal hatte sie so etwas gehört. Ich mache dies, ich tue das. Und nichts davon wurde je wahr. Wieviele kamen nach kurzer Zeit zurück mit ein paar neuen Tätowierungen, neuen Narben, neuen Plänen und neuen Träumen. Ihr fiel eine große Schwarze mit einer Figur wie eine Statue ein, und sie fühlte einen kleinen Stich. Ein bißchen liebte ich sie, dachte Olivia, nicht so wie Emily, aber doch ein wenig. Sie war die einzige, der sie ihren Plan verraten hatte. »Ich schnapp’ mir die Leute, die mich hier reingebracht haben«, sagte sie. Die Frau nickte und sagte: »Denk daran, sie sind nicht mehr dieselben wie früher. Du mußt dir ganz schön was ausdenken, um an sie ranzukommen.«

Ob sie gestorben ist? fragte Olivia sich. Wahrscheinlich ist sie irgendwo in der Anonymität ihres Elends verschwunden.

Nie hatte sie den Rat vergessen und fortwährend überlegt, was Megan und Duncan ihr über ihre Herkunft erzählt hatten, damals, in den ersten Tagen der Phönix-Brigade. Ganz beiläufig hatte sie ihnen Fragen gestellt wie: »Woher kommst du?« - »Wie ist es in deiner Familie?« - »Wann warst du zuletzt zu Hause?« Sie hatte sich alle Antworten genau gemerkt. Und so wußte sie, wo sie sie suchen mußte, als sie aus dem Gefängnis kam. Sie hätte sämtliche Mitglieder der Brigade wiedergefunden, selbst nach achtzehn Jahren.

Olivia holte tief Luft. Alles läuft genau nach Plan, ich darf nicht nervös werden, sagte sie sich. Sie stand auf und suchte Ramon Gutierrez. Sie fragte sich, ob sie ihn nicht ein bißchen auf die Gefangenen loslassen sollte. Seine Phantasie kannte keine Grenzen, wenn es darum ging, andere zu quälen.

Tommy kratzte munter am Gips, mit dem die Zwischenräume der Bretter an der Mansardenwand ausgeschmiert waren. Er konnte schon mit der Hand den kalten Wind fühlen, der gegen die Hauswand blies. Einen Moment schien es ihm, als wäre der Wind draußen gefangen und als ließe er ihn frei.

Seit dem Morgen hatte Tommy schon sechs Bretter freigekratzt. Jedesmal, wenn er so weit war, daß die Planke sich aus dem Rahmen löste, stoppte ihn der Großvater und holte die Metallstange, die sie vom Bett losgemacht hatten. Er schob sie hinter die Planke und drückte vorsichtig, bis sich die Nägel so weit gelöst hatten, daß man mit einem Zug die Planke herausbrechen konnte.

Die Arbeit ging nur langsam vorwärts. Sobald sie irgendwo im Haus ein Geräusch hörten, hielten sie inne, beseitigten den Staub und legten sich auf die Betten. War es dann wieder still, sprang Tommy gleich auf und bearbeitete die Wand weiter mit seinem Nagel, trotz aller Müdigkeit und obwohl ihm die Hand weh tat. Während der Arbeit dachte er an Flucht. Er stellte sich vor, wie er durch das Loch in der Wand kroch und dann auf das Teerdach sprang. Er würde am Dachfirst entlangbalancieren, sich an der Dachrinne herunterlassen, bis er das Vordach erreichte, und dann auf den kalten Erdboden springen. Er rannte durch den Wintertag über die Felder, über die Landstraßen. Hinter dem Wald lag freies Feld, dann kamen die ersten einsam gelegenen Häuser, und schließlich erreichte man den Rand der Stadt. Er stellte sich die Straßen von Greenfield vor. Zuerst kam er an seiner Schule vorbei, dann an Mutters Büro, schließlich an Vaters Bank, und dann gelangte er zu Karens und Laurens High School. Jetzt brauchte er nicht mehr so zu rennen, er könnte wieder besser atmen, er wäre nicht mehr müde, hätte keine Angst mehr, und das letzte Stück legte er zurück wie im Flug.

Er kratzte energischer. Hin, zurück, rauf und runter. Er bearbeitete die Wand wie ein Nagetier. Ich bin eine Maus, dachte er, und ich mache mir ein Mauseloch.

Er sah das Haus vor sich und seine Schwestern und Eltern, die dort saßen und auf ihn warteten.

Er biß die Zähne zusammen. Seine Hand rutschte aus, ein Splitter drang in seinen Finger. Er hielt den Schmerz jedoch tapfer aus. Ich bin eine Soldatenmaus, und ich will tapfer sein.

Wieder hatte er ein großes Stück der Wand gelockert. Er dachte an seine Mutter und freute sich auf den Moment, in dem sie ihn in die Arme nehmen und trösten würde. Sein Vater würde ihn umarmen wie ein Bär, und ihm würde ganz warm dabei werden. Karen und Lauren würden ihn streicheln und küssen, viel mehr, als er es mochte, aber diesmal würde er es sich gefallen lassen, obwohl er eigentlich schon viel zu groß war dafür.

»Großvater, ich habe wieder eine locker gemacht. Hol mal die Metallstange.«

Richter Pearson zog das Eisen aus dem Bettgestell, dachte einen Augenblick daran, wie gerne er es einem der Entführer auf den Kopf fallen lassen würde, und näherte sich der Wand. »Ganz toll machst du das, Tommy. Wir sind in null Komma nix draußen.«

»Versuch’s mal.«

Pearson stemmte die Stange hinter das Brett und drückte es nach vorne. Das Holz knarrte und knackte laut, als das Brett langsam nachgab.

»Sehr schön, Tommy«, sagte er.

»Soll ich weitermachen?« fragte der Junge.

Der Richter drückte das Brett wieder gegen die Wand.

»Mach doch eine Pause«, sagte er. Dann hob er plötzlich die Hand. »Pst!«

»Da kommt einer«, sagte Tommy. Ihm war, als drücke ihm jemand die Luft ab, und er atmete tief.

Sie hörten eine Tür knarren, dann näherten sich Schritte.

»Schnell!« sagte Pearson.

Tommy wischte mit der Hand den Boden sauber, fegte Schmutz und Holzsplitter in die Ecken. Dann sprang er durchs Zimmer zu seinem Bett und versteckte den Nagel unter der Matratze. Pearson hatte die Metallstange wieder am Bett befestigt. Sie hörten, wie der Schlüssel im Schloß gedreht wurde, und blickten zur Tür. Bill Lewis kam mit einem Tablett herein.

Pearson atmete auf. Er legte Tommy, dessen Atem immer schneller ging, eine Hand auf die Schulter, um ihn zu beruhigen.

Er wird nichts merken, dachte er. Olivia hätte längst unseren Augen angesehen, daß etwas nicht stimmt. Aber Lewis ist nicht so aufmerksam.

»Leider gibt’s schon wieder Sandwiches«, sagte Lewis.

Je länger sie eingesperrt waren, desto vertrauter waren sie miteinander. Lewis’ Stimme hatte einen beinahe freundschaftlichen Klang. »Tommy, ich hab’ dir besonders schönes Gelee draufgemacht. Und für heute abend treibe ich was Warmes auf. Vielleicht Pizza oder Hähnchen. Was möchtest du lieber?«

»Pizza«, sagte Tommy wie aus der Pistole geschossen.

»Hähnchen«, sagte der Großvater.

Bill Lewis grinste. »Mal sehen.«

Er stellte ihnen das Tablett hin. Der Richter nahm ein Sandwich vom Tablett und verzog das Gesicht, als er den Aufschnitt, die Erdnußbutter und das Gelee sah, die sie jedesmal bekamen.

Er lehnte sich zurück und kaute auf Mortadella, Eissalat und Mayonnaise herum. Er schob das Tablett zu Tommy hinüber, der widerwillig ein Brot mit Erdnußbutter und Gelee nahm. Zögernd biß er hinein. Zugleich schaute er ängstlich auf die losen Planken der Wand.

Pearson durchfuhr ein leiser Schreck, aber er ließ sich nichts anmerken, rückte näher an Tommy heran und klopfte ihm auf das Knie, um ihn so unauffällig wie möglich abzulenken. Er sah Lewis an, lächelte, dachte jedoch: Verschwinde doch endlich und laß uns in Ruhe!

Aber Lewis, der ihm gegenüber auf dem Bett Platz genommen hatte, machte es sich bequem wie ein gernge-sehener Gast.

Der Richter fluchte innerlich. Dann fragte er in umgäng-lichem Ton: »Wie sieht’s inzwischen aus?«

Lewis zuckte die Achseln.

»Sie erzählt keinem was«, antwortete er.

»Was soll das heißen?« fragte Pearson.

»Es ist so: Olivia hat alles geplant. Sie ist der Chef. Bisher ist alles so gelaufen, wie sie wollte. Mehr darf ich nicht sagen.«

»Was wäre so schlimm daran?«

Wieder zuckte Bill Lewis die Achseln. »Es tut mir leid.«

»Aber was geht denn überhaupt vor? Gibt es Verhandlungen irgendwelcher Art, gibt es Geldforderungen? So viel können Sie mir doch verraten! Sehen Sie mal, wir sind hier oben eingesperrt, und niemand außer Ihnen kommt vorbei. Sie könnten uns doch vielleicht ein bißchen Mut machen!«

»Es tut mir leid, aber ich kann es nicht. Und ich habe Ihnen das auch schon gesagt. Es geht nicht und basta.«

Plötzlich sah er sich um, wie um sich zu vergewissern, daß sie auch allein waren. Dann sagte er mit leiser Stimme: »Sie sagt, alles läuft, wie es soll. Ich glaube, wir nähern uns dem Ziel. Aber mehr weiß ich selbst nicht, und damit müssen Sie sich zufriedengeben.«

Der Richter nickte. Dann sagte er: »Es ist nicht sehr fair, uns über nichts zu informieren, vor allem dem Jungen tut das überhaupt nicht gut.«

»Das Leben ist nun mal nicht fair.«

»Jetzt reden Sie schon wie Olivia. Dabei sind Sie doch ganz anders.«

»Was heißt das?«

»Genau, was ich gesagt habe. Sie sind nicht wie sie.«

»Aber natürlich bin ich das.«

Der Richter schüttelte den Kopf.

»Doch!« widersprach Lewis. »Ich war schon immer so, schon bei unserer ersten Begegnung.«

»Wann war das?«

»Fünfundsechzig. Jahre vor der Phönix-Brigade. Wir waren immer zusammen. Gute Kameraden und alles, was dazu gehört.«

»Aber sie kam ins Gefängnis.«

»Ja, und Ihre Tochter und Ihr Schwiegersohn sind heute reiche Leute. Ich bin in den Untergrund gegangen.«

»Für wie lange Zeit?«

»Ich bin immer noch dort«, sagte Lewis stolz.

»Aber sicher ist …« Pearson brach ab.

»Sicher was?«

»Ach, gar nichts, ich dachte nur …«

»Was?«

»Irgendwann müssen Sie sich doch sicher gefühlt und geglaubt haben, jetzt sucht Sie keiner mehr. Niemand wird ewig verfolgt.«

»Aber sicher, erzählen Sie mir doch nichts, Herr Richter.«

Lewis hatte sich auf dem Bett ausgestreckt. Er war begierig zu reden.

Tommy sah ihn ängstlich an. Von Bissen zu Bissen wurde es schwieriger für ihn zu schlucken. Ihm wurde schwindelig im Kopf, und er hatte das Gefühl, sein ganzer Körper würde von dem Schwindel erfaßt. Er sagte sich: Nicht schon wieder! Ich will hierbleiben! Aber irgend etwas zerrte an ihm, das stärker war als er, und langsam fühlte er, wie es ihn ganz wegriß.

»Wenn Sie wüßten, was es heißt, im Untergrund zu leben! Irgendwann kommt der Punkt, an dem man nicht mehr weiß, ob sie noch suchen oder aufgegeben haben.

Das ist der schwierigste Moment. Weglaufen ist nicht so schlimm. Immer rechnet man mit allem, ist auf jedes Problem gefaßt und immer gut in Form. Immer viel Adrenalin im Blut, sozusagen. Das wirkt wie ’ne Droge, man ist immer richtig high. Das ist das Angenehmste im Leben eines Verbrechers. Immer ist man auf Achse, das ist richtig spannend und macht manchmal sogar Spaß. Aber nach einiger Zeit, ein paar Jahre später, vielleicht fünf, vielleicht schon zehn, da fragt man sich, was eigentlich los ist. Alles um einen herum hat sich geändert, nur man selber nicht. Auch wenn man arbeitet, als Mathelehrer an der High School oder als Maurer - ich hab’ beides gemacht - oder als Arbeiter in einer Ölraffinerie am Golf von Mexiko - das war besonders schwere Arbeit, kann ich Ihnen sagen -, selbst wenn man so beschäftigt ist, man weiß genau, es ist alles Lüge. Man ist immer noch auf der Flucht. Man ist sich zwar nicht mehr sicher, daß ein Verfolger hinter einem her ist, aber immer paßt man noch auf, wie die ganzen Jahre vorher. Dabei hat man vielleicht weder verkleidete Bullen noch V-Männer im Schlepptau.

Und so ist das Versteckspiel sinnlos. Schließlich hält man sich selbst, das ganze Leben auch für sinnlos. Das einzige, was einem noch passieren kann, ist, daß man als Fußnote in einer Diplomarbeit in Politikwissenschaft über Terrorismus vorkommt.«

»Wie ist es denn Ihnen ergangen?«

»Als ich mich in dieser Situation befand, waren Ramon und ich zusammen. Mir war klar, daß es keine Möglichkeit gab, herauszufinden, ob sie noch hinter mir her waren oder nicht. Da habe ich das Naheliegendste getan.«

»Nämlich?«

»Ich setzte mich mit Olivia in Verbindung.«

»Wozu war denn das gut?«

»Sie haben sie doch gesehen, Herr Richter. Es ist doch ganz klar. Nie werden sie Olivia in Ruhe lassen. Immer werden sie sie jagen. Sie hat etwas an sich, das die Herrschenden hassen und fürchten. Überlegen Sie doch mal. Wenn Sie sie als Richter vor sich hätten, wegen Verkehrsvergehen meinetwegen oder illegalem Müllabladen oder sonst was. Welche Strafe würde sie kriegen?«

»Das Höchstmaß. Ganz zweifellos.«

Bill Lewis warf den Kopf zurück und lachte. »Von mir auch, da können Sie mal sehen. Olivia hat ungeheure Kraft. Sie gibt mir das Gefühl, wieder im wirklichen Leben zu stehen. Endlich bin ich wieder lebendig. Ich tue etwas Konkretes. Ich laufe nicht mehr von Job zu Job, muß nicht mehr zusehen, wie andere ihre Zukunft planen, und wissen, daß meine eigene längst vorbei ist.«

Pearson drängten sich gleichzeitig mehrere Gedanken auf. Er überlegte, wie er die Unterhaltung fortsetzen könnte, und sagte schließlich: »Sie haben also Kontakt zu ihr aufgenommen.«

»Ja, ich habe ihr einfach geschrieben.«

»Einen Brief? Wie war das möglich?«

»Die Schließer im Gefängnis sind nicht besonders schlau. Sie kriegen so gut wie überhaupt nichts mit. Ich hatte das Ganze leicht verschlüsselt. ›Liebe Olivia, Dank für Deine Zeilen. Vetter Lewis geht’s gut. Bill auch. Schreib ihm doch mal!‹ Es war ziemlich leicht für sie herauszufinden, von wem der Brief kam.«

»Und dann haben Sie die Sache hier geplant.«

»Nee, wir haben nur Kontakt geknüpft und blieben in Verbindung.«

»Eigentlich sind Sie nicht der Typ, der sich an solchen Sachen beteiligt.«

»Ha ha! Da sieht man mal, wie wenig Ahnung Sie haben.«

»Ich kann Olivias Haß irgendwie nachvollziehen. So viele Jahre hinter Gittern. Aber Sie waren doch immer draußen …«

Pearson brach ab, als er die plötzliche Anspannung in Bills Gesicht sah.

Bill sprang auf, seine athletische Gestalt wirkte plötzlich übergroß und bedrohlich. Er beugte sich pfeilschnell nach unten, sein Gesicht war nur wenige Zentimeter von dem des Richters entfernt.

Pearson zuckte zurück, als sei er geschlagen worden. In Lewis’ Gesicht spiegelten sich mühsam beherrschter Zorn und Hohn. »Ihre Tochter und Ihr Schwiegersohn! Sie haben mich genauso auf dem Gewissen wie Olivia.

Glauben Sie, mein Gefängnis wäre auch nur eine Spur besser gewesen? Glauben Sie, daß Leben im Untergrund kein Knast ist? Wissen Sie, wer in Lodi auf der Straße umkam? Sie war meine große Liebe, sie war meine Frau, und wir beide haben Olivia geliebt! Als Duncan damals abgehauen ist, hat er meine ganze Zukunft ruiniert. Mein ganzes Leben, Richter! Ich stand kurz vor dem Architek-turexamen, ich hätte Häuser bauen können, konstruktiv mitwirken an der neuen Welt, wenn dieser Hund uns nicht einfach im Stich gelassen hätte! Ich bin nur noch gerannt von dem Moment an, in dem er unsere Hoffnung zerstört hat. Bis heute. Und jetzt sammele ich den Wegezoll für diese endlose, beschwerliche Reise.«

Lewis war so außer sich, daß er die Arme hob und wie Mühlräder kreisen ließ. Seine Schläfenader schwoll an, sein Nacken wurde feuerrot. Die Fäuste hatte er geballt.

Tommy schrak auf, er fuhr zurück und warf sich seinem Großvater in die Arme.

Pearson hatte sich schnell von seiner Überraschung erholt. Er blieb unbeweglich sitzen und starrte, ohne mit der Wimper zu zucken, auf Lewis. Er spürte dessen Ärger und aufsteigende Wut fast körperlich, und das gab ihm Kraft. Wie oft hatte er vor Gericht ähnliche Szenen erlebt.

Delinquenten, die sich nach der Urteilsverkündung am liebsten auf ihn gestürzt hätten. Er hatte sie immer mit seinen Blicken gezähmt, und jetzt fixierte er Bill Lewis in derselben unerschrockenen Weise. Wie viele Ausfälle vor Gericht hatte er damit nicht verhindert! Seine Augen wurden schmal, seine Kiefer spannten sich, altgewohnte Gesten, vertraut wie ein altes Paar Schuhe, das man lange nicht mehr getragen hat.

Olivia hatte ihm erzählt, wie fahrig und schwach Bill Lewis sei. Sie hatte ihn offensichtlich unterschätzt.

»Ihre Kinder! Sie haben mich auf dem Gewissen!« schrie er.

»Warum, weil sie es besser getroffen haben? Sie haben niemanden auf dem Gewissen.«

»Sie haben doch keine Ahnung, Sie Schwein!«

»Ich weiß nur, daß Sie unrecht haben und noch immer Unrecht tun!«

»Abgedroschene Herrschaftsmoral!«

»Abgedroschene Revoluzzersprüche!«

Bill war kurz davor, dem Richter einen Hieb zu versetzen. Dann drehte er sich um sich selbst, lief im Zimmer auf und ab und blieb an der gegenüberliegenden Wand stehen, genau an der Stelle, die sie bearbeitet hatten.

Tommy erstarrte und stöhnte leise.

Es sah so aus, als blicke Lewis auf die losgemachten Bretter. Der Richter konnte von seinem Platz aus deutlich die Spuren von Tommys Arbeit erkennen. Verräterische Holzsplitter lagen auf dem Boden. Pearson erstarrte und wußte kein Wort zu sagen.

Plötzlich sagte Tommy in die Stille: »Warum bist du nicht einfach nach Hause gegangen?«

»Was?« Bill fuhr herum und zitterte immer noch vor Wut.

»Warum du nicht nach Hause gegangen bist.«

»Das konnte ich nicht.«

»Und warum nicht?«

»Nach Hause?« Bill Lewis lachte bitter. Nur mit Mühe beherrschte er seine Wut. Dann wurde er plötzlich ruhig.

»Ich hätte mir nichts mehr gewünscht, als nach Hause zu gehen, Tommy. Aber ich hatte kein Zuhause so wie du.«

Er kehrte zum Bett zurück, sah auf das Tablett mit den Sandwiches und fragte: »Kann ich eins haben?«

»Gewiß«, sagte der Richter.

Lewis nahm einen großen Bissen. Dann sagte er zu Tommy:

»Ich hab’ das nicht gehabt, ein Zuhause.«

»Wirklich nicht?«

»Nein. Meine Eltern wollten mit mir und Emily nichts zu tun haben. Mein Vater war Berufsoffizier. Rekruten drillen, das war alles, was ihn interessierte. Er mochte keine langen Haare, keine Intellektuellen, keine radikalen politischen Ideen, aber ich, ich mochte das alles sehr.« Er lächelte. »Vor allem die langen Haare.«

Er faßte nach der roten Narbe an seinem Hals und fuhr dann fort: »Als ich sieben war, hat mein Vater mich am Hals verletzt. Da sieht man noch die Spuren. Ich war damals ungefähr so groß wie du, Tommy. Ich sollte irgend etwas tun, er stand neben mir mit einem Koppel in der Hand. Und als ich nicht gehorchte, schlug er zu. So!«

Lewis klatschte die Hände zusammen. Beide Tommys erschraken. »Meine Mutter rief die Militärpolizei, als sie all das Blut sah. Ich wurde ins Lazarett gebracht, genäht, und damit hatte sich’s.«

Lewis grinste. Nach einer Pause fuhr er fort: »Wir alle haben unsere Wunde, nur diese hier fällt am meisten auf.«

Richter Pearson gab ihm recht. Die beiden Männer aßen schweigend, die Atmosphäre hatte sich beruhigt. »Gute Sandwiches machen Sie immerhin«, sagte der Richter.

»Man muß wohl dankbar sein.«

Bill Lewis nickte. »Ich muß mich wirklich entschuldigen wegen der ganzen Sache«, sagte er. »Ich habe wirklich nichts gegen Sie oder gegen Tommy. Aber ein Plan muß bis zum Ende durchgehalten werden. Man muß das Verfahren konsequent durchziehen. Das wissen Sie sicher besser als jeder sonst. Vor Gericht ist es doch auch so, oder?«

Pearson schluckte den Bissen, an dem er gerade kaute, und sagte: »Das stimmt schon. Waren Sie mal in einer Verhandlung?«

»Nee. Außer bei einem Verkehrsdelikt in Miami. Aber ich habe Glück gehabt. Wissen Sie, das Verrückte ist, damals, achtundsechzig, als wir alle in der Brigade waren, wollte ich, daß Duncan und Megan ausgeschlossen werden. Sie hatten nicht das Zeug zu solchen Sachen. Sie konnten mit unseren Ideen und Aktionen im Grunde gar nichts anfangen. Hätte ich mich bloß durchgesetzt!«

»So ist das im Leben. In mindestens sechzig Prozent der Fälle, die ich behandelt habe, waren die Leute an einem Punkt, an dem sie alles hätten anders machen können, wenn irgendwas Bestimmtes passiert wäre. Aber eben das passierte nicht, und so endeten sie vor Gericht.«

»Die Launen des Schicksals«, sagte Bill.

Der Richter nickte. Während die Männer aßen, legte Tommy sein halbgegessenes Brot hin. Er verließ den Platz neben seinem Großvater und schlüpfte an das Fußende des Bettes. Er hatte eine Idee, aber etwas in ihm verbot ihm, sie in die Tat umzusetzen. Jetzt mach’ ich’s, dachte er, aber dann sagte seine innere Stimme: Laß es bleiben!

Er wußte nicht, ob er der einzige war, der bemerkt hatte, daß Bill Lewis die Tür nicht abgeschlossen hatte, als er das Essen brachte. Er wandte sich um und fragte sich, ob er sich unsichtbar machen könnte, so leise aufstehen, daß es niemand merkte, so leise auftreten, daß seine Fußtritte unhörbar waren.

Gerade beugte sich Bill Lewis nach vorne, um sich ein Brotzunehmen. Das war die Gelegenheit. Jetzt oder nie.

»Hey, Tommy!«

»Tommy, was machst du denn da?«

Die Stimmen von Großvater und Bill klangen überrascht, aber sie schienen von weit her zu kommen. Tommy hatte das Gefühl zu fliegen. Er lief zum Ausgang, fiel beinahe hin, stützte sich an der Wand ab, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit einem Satz war er an der Tür, suchte nach der Klinke und nahm kaum die beiden Männer hinter sich wahr.

»Halt!« rief Bill Lewis erschrocken. Seine Stimme klang schrill.

»Verflucht noch mal, Tommy! Bleib hier!«

Tommy faßte nach der Türklinke, riß die Tür auf, ignorierte Bill, der ihm auf dem Fuß folgte.

»Olivia! Ramon! Der Junge! Hilfe!« schrie Lewis.

Tommy war ihm durch die Tür entwischt. Er hörte seinen Großvater rufen: »Los, Tommy, lauf! Lauf, was du kannst!«

»Haltet ihn auf, schnappt ihn, los!«

Lewis war nur einen halben Schritt hinter ihm, Tommy aber warf die Tür mit einem Schlag gegen seinen ausgestreckten Arm.

»Verfluchter Bengel!« brüllte Lewis.

»Lauf, Tommy, lauf!« rief sein Großvater aufmunternd.

»Lauf in die Freiheit, so schnell du kannst!«

Tommy rannte über den Flur, an verschiedenen offenen Türen vorbei auf die Treppe zu. Im Vorbeirasen sah er einen Wäscheständer, einen Berg schmutziger Kleider.

Auf einem Bett lagen Waffen und Munition. Er achtete nicht darauf, sondern lief weiter. Er fühlte Lewis dicht hinter sich, ahnte, daß dieser seine Arme weit nach ihm ausstreckte. Er lief im Zickzack, um sich nicht fangen zu lassen, erwischte den obersten Pfeiler des Treppengeländers und schwang sich herum. Lewis hatte mit seiner Hand seinen Pullover erwischt, aber es gelang ihm, sich loszu-reißen. Lewis glitt aus, fiel hin und fluchte. Tommy sah nach unten. Olivia und Ramon liefen ihm mit gezückten Waffen entgegen. Als er sich umsah, rappelte sich Lewis gerade wieder hoch und sprang von hinten auf ihn los.

Blitzschnell duckte er sich und stand plötzlich hinter Bill, der sich umwandte und wieder ausrutschte. Tommy lief weiter nach oben und in das erstbeste Zimmer, warf die Tür hinter sich zu und stürzte zum Fenster.

Hinter sich hörte er Olivia rufen: »Ich schieße, du verdammter Bengel, ich schieße!«

Tommy achtete nicht auf sie. Er erreichte das Fenster und versuchte verzweifelt, den Griff zu öffnen. Er sah hinaus, entdeckte gleich unter sich ein Vordach und in der Ferne eine Reihe großer, dunkler Bäume unter einem weiten, grauen, wolkenverhangenen Himmel. Er hörte seinen Atem gehen, als ob das Geräusch von ganz woanders käme. Es wurde ihm klar, daß seine Verfolger dicht hinter ihm waren, und er spürte ihre Wut.

Dann hörte er den lauten Knall eines Schusses, der ihn so erschreckte, daß er zu Boden fiel, während sich Gips- und Holzstückchen aus der Wand lösten und auf ihn herunterregneten.

Ich bin tot, dachte er, dann aber hörte er die Stimme seines Großvaters, der rief: »Laß ihn in Frieden, du sadistisches Weib! Ich bring’ dich um, wenn du ihn verletzt!«

Und Olivia hörte er antworten: »Aus dem Weg, Alter! Sonst bist du dran!«

Stimmengewirr, laute Rufe, wildes Durcheinander.

Tommy merkte plötzlich, daß er selbst ebenfalls schrie.

Mit hoher, hysterischer Stimme kreischte er: »Nach Hause, nach Hause!«

Er taumelte hoch, wich den Armen aus, die nach ihm greifen wollten, und langte nach einem Stuhl, den er gegen die Fensterscheibe zu werfen versuchte.

Ich will raus! Ich springe durchs Fenster, dachte er.

Doch da packte ihn jemand am Kragen und zerrte ihn nach hinten. Der Stuhl glitt ihm aus den Händen und fiel krachend zu Boden. Tommy wurde geschüttelt, geschlagen und hin und her gezerrt wie ein Sack.

Durchs Fenster sah Tommy ein kleines silberblaues Stück Himmel, das sich durch die Wolkendecke gekämpft hatte, wenn auch nur für Sekunden. Er empfand, daß es trotz allem wert war, dieses Stück Himmel gesehen zu haben. Dann krümmte er sich zusammen, um sich zu schützen, schloß die Augen, legte seine Arme über die Ohren, um die fürchterlichen Schreie um sich herum nicht hören zu müssen.

Jetzt töten sie mich, dachte er. Hoffentlich erzählt Großvater den anderen, daß ich versucht habe zu fliehen! Dann sind sie bestimmt stolz auf mich. Plötzlich hörte er durch all den Lärm die tiefe Stimme seines Großvaters, der ihn energisch verteidigte. Für Sekunden gab sie ihm Trost.

Dann sank er in einen Zustand tiefer Bewußtlosigkeit.

 

Megan saß in ihrem Büro, aber es gelang ihr nicht, sich auf die Arbeit zu konzentrieren und still zu sitzen. Sie mußte fortwährend an Olivia denken: an diese Stimme, die von ungewöhnlicher Tiefe war, deren kehliger, maskuliner Klang schon früher die Frauen eingeschüchtert und die Männer mitgerissen hatte. Sie hatte eine Fülle dichten Haars und beeindruckte durch ihre Schönheit. Sie war originell und voller Durchsetzungskraft. Sie dachte sich die verrücktesten Dinge aus, tat, als seien sie das Normalste von der Welt. Die anderen fielen darauf herein, beteiligten sich nur zu gerne daran. Plötzlich verspürte Megan großen Ärger. Ärger über sich selbst. Wie konnte ich nur so dumm sein, fragte sie sich. Ich war wohl noch ein Kind! Als wir in dem Haus in Lodi lebten, hätte ich hinausgehen und Duncan dazu bringen sollen, mir zu folgen. Ich hätte laut meine Meinung sagen sollen, aber Olivia hatte ja auf alles eine Antwort und kannte unsere Fragen schon immer im voraus. Niemand durfte irgendwie an ihren Plänen mitwirken. Entweder alles lief so, wie sie es wollte, oder es fand gar nicht erst statt. Megan war mit Olivia vor dem Überfall den Fluchtweg abgegangen.

Immer hin und zurück, mindestens zwölfmal. Dann kannte sie jedes Detail, sogar Dauer und Wechsel der Ampeln.

Einmal hatte sie versucht, Olivia einen anderen Weg vorzuschlagen, aber davon hatte sie nichts hören wollen.

Für Megan war das alles falsch gewesen.

Wir haben den verkehrten Weg eingeschlagen, damals.

Wir sind von völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen. Wir wußten nicht, was wir taten. Egal, wie gut Olivia sich alles ausgedacht hatte, es war einfach durch und durch illusionär.

Durch Klopfen an der Tür wurde Megan aus ihren Gedanken gerissen. Zwei ihrer Kollegen steckten die Köpfe ins Zimmer und sagten: »Meg, gehst du mit uns essen?«

»Nein danke, ich bleibe heute hier und esse Joghurt.«

»Willst du wirklich nicht mit?«

»Vielen Dank, heute nicht.«

Als sich die Tür schloß, vertiefte Megan sich wieder in ihre Erinnerungen. Das Haus in Lodi, was für ein abscheulicher Ort es doch gewesen war, häßlich, verkommen und ungepflegt. Und wir hielten es alle für etwas Besonderes.

Wir machten uns etwas vor und wiegten uns in Illusionen.

Damals war sie mit Olivia zum Vermieter gefahren, und sie hatten zwei Monatsmieten im voraus bezahlt. Dabei hatte Olivia kräftig mit dem Mann geflirtet. Sie hatte auch darauf bestanden, daß sie beide dem Vermieter gegenüber wie zwei Hippie-Mädchen auftraten, die dort mit ihren Freunden wohnten. Megan hatte auf ihre Anweisung hin keinen BH getragen und ein weitgeschnittenes Hemd mit Paisleymuster angezogen. Sie wirkten wie zwei harmlose Kinder, die an Frieden, Liebe und Blumen glaubten und deren gefährlichste Handlung das Rauchen von Marihuana war. Olivia hatte ihnen lange Vorträge gehalten, daß es wichtig sei, ganz anders zu erscheinen, als sie in Wirklichkeit waren. Der Vermieter wurde rot bis unter die Haarwurzeln, als die Mädchen ihm schöne Augen machten. Die Aufmerksamkeit zweier junger Mädchen genoß er restlos, und so wickelten sie ihn erfolgreich ein.

Warum haben wir eigentlich in Lodi gewohnt? Ach ja, da war die Bank. Aber warum dieses Haus? Weil Olivia in der Nähe des Tatorts wohnen wollte. Und was war der Grund? Sie wollte die Gegend und alle Umstände genau studieren. Auf diese Weise konnten wir alle Schritte unserer Aktion genau festlegen. Olivia kannte alles bis ins Detail.

Und genauso muß es auch diesmal sein, dachte Megan.

Sicher war sie oft hier in der Gegend und hat alles ausgekundschaftet. Sie weiß, wann Duncan in der Bank ist, wann die Zwillinge aus der Schule kommen, an welchen Tagen Tommy von meinem Vater abgeholt wird und wann er den Bus nimmt. Sie ist noch dieselbe wie früher. Der einzige Unterschied ist, daß diesmal wir die Bank sind und daß sie uns ausspäht.

Wo könnte sie also sein? Bestimmt in einem ähnlichen Haus wie dem in Lodi. Sie muß es vor zwei, drei Monaten gemietet, mehrere Mieten im voraus bezahlt und sich für eine andere Person ausgegeben haben. Also ist sie irgendwo hier in der Nähe. Nicht gerade so nah, daß wir sie entdecken können, aber doch nicht so weit entfernt, daß sie uns nicht dauernd beobachten könnte. Und es muß so sicher gelegen sein, daß sie dort die beiden Tommys versteckt halten kann, ohne bemerkt zu werden.

Megan sprang plötzlich auf. Natürlich, warum war sie nicht eher darauf gekommen? Sie ging zu ihrem Aktenschrank und nahm einige Ordner heraus. Darauf stand: Grundstücksverzeichnis für Greenfield und Umgebung-Greenfield, Westfield, Deerfield, Pelham, Shutesbury, Sunderland und ländliche Gebiete. Juli/August, September/Oktober, November/Dezember. Vermietungen und Verkäufe.

Megan nahm eine Gebietskarte in großem Maßstab aus ihrer Schublade und breitete sie auf ihrem Schreibtisch aus. Dann nahm sie einen spitzen Bleistift und einen gelben Schreibblock. Sie verhielt einen Moment wie in Trance.

Olivia, hier irgendwo bist du. Ich kenne dich fast so gut wie mich selbst; ich hatte es nur vergessen. Du hast nicht an alles gedacht, das bildest du dir nur ein. Deine Gleichung geht nicht auf. Dies hier ist meine Domäne.

Megan schlug den Ordner auf und durchforstete alle Mietregistrierungen der letzten Monate.

Kurz vor Schulschluß trafen sich Karen und Lauren in der Bibliothek, einem Raum mit niedriger Decke, flackerndem Neonlicht und langen Tischen. Die Atmosphäre war nicht sehr anheimelnd. Außer ihnen war nur die Bibliothekarin dort, eine Dame mittleren Alters, die eifrig hinter ihrer Theke Bücher sortierte. Sie lächelte freundlich, als Karen die Bibliothek betrat, und sagte mit routinemäßigem Flüstern, obwohl keine anderen Leser da waren: »Ihre Schwester ist schon da, irgendwo da hinter den Regalen.« Sie wies mit dem Arm dorthin.

Karen fand Lauren, die am Boden hockte, neben sich ein Dutzend schwerer Bildbände. Sie winkte Karen zu einem Tisch in der Ecke.

»Hast du’s gefunden?« fragte die erwartungsvoll.

»Ich weiß es nicht, aber wenn überhaupt, dann ist es hier, glaube ich.«

Sie breiteten die Bücher vor sich aus. Karen nahm wahllos eines in die Hand und schlug es auf. Auf der Seite war ein Foto mit sechs Helikoptern zu sehen, die in der Dämmerung dicht über den Dschungel flogen. Die Propeller hoben sich vor einem trüben grauen Himmel ab.

Ein Soldat in grüner Uniform hing mit halbem Oberkörper aus dem vordersten Hubschrauber und feuerte mit einem Maschinengewehr nach unten. Es war Leuchtspurmunition, die auf dem Foto in Form gelber Streifen zu erkennen war. Karen blätterte weiter. Auf dem nächsten Bild war ein behelmter Polizist zu sehen, der mit einem Gummiknüppel zum Schlag auf eine Demonstrantin ausholte.

Sein Blick wirkte irr und fanatisch. Die Frau war noch jung, kaum älter als Karen selbst. Sie reichte das Buch ihrer Schwester, die ihrerseits weiterblätterte und sich ein Bild ansah, das eine brennende Straße zeigte und im Vordergrund einen Mann der National Guard mit Kampfjacke. Auf dem nächsten Foto sah man einen Studenten mit langen Haaren und Sonnenbrille, der eine Zigarre rauchte und am Schreibtisch eines Universitätsrektors saß.

Lauren blätterte ein paar Seiten weiter, die russische Panzer in der CSSR zeigten und Olympiakämpfer, die mit gebeugtem Kopf und erhobener Faust dastanden, während die Nationalhymne gespielt wurde. Dann folgten Bilder von Babys aus Biafra mit Hungerödemen und wieder andere mit Revolutionsführern, die, von mörderischen Kugeln getroffen, zusammenbrachen.

Nach einer Weile sagte Lauren: »Ich sehe diese Bilder, aber ich verstehe das alles trotzdem nicht.«

Karen sagte nichts darauf. Sie nahm ein anderes Buch zur Hand. ›Book of the Year 1968‹ lautete der Titel. »Hier muß es drin sein«, sagte sie. Dann sah sie auf die Uhr.

»Viel Zeit haben wir nicht mehr«, flüsterte sie. »Sonst macht sich Mutter zu Hause Sorgen um uns.«

Lauren nickte. »Gut, guck du da rein, es muß gegen Ende des Jahres sein. Ich suche hier weiter. Vielleicht finde ich doch noch was.«

Einige Zeit war es still, beide Mädchen blätterten aufmerksam die Seiten durch. Plötzlich stutzte Karen, stieß ihre Schwester mit dem Ellbogen an und zeigte auf eine Textkolumne. Lauren beugte sich darüber und las: Im ganzen Land gab es eine Welle von Demonstrationen und Aktionen zivilen Ungehorsams, an denen sich auch Radikale beteiligten. Kalifornien war ein Brennpunkt für Aktivitäten selbsternannter Revolutionäre, besonders die Umgebung von San Francisco, in der es immer wieder zu gezielten Gewalttaten kam. In der Bank of America in Lodi explodierte eine Bombe, eine Brigade brach in die Selective Service Headquaters in Sacramento ein und beschmierte Akten mit Blut. Es gab eine ganze Reihe von Bankeinbrüchen, was als bestes Mittel galt, um Geld für weitere Aktionen zu beschaffen. Bei einem Überfall in Lodi, Kalifornien, kam es zu einer Schießerei. Zwei Wachmänner und drei Terroristen wurden getötet.

 

»Ist es das?« fragte Lauren.

»Das reicht mir nicht, ich will noch mehr darüber wissen«, antwortete Karen verärgert. »Ich muß genau erfahren, was sie gemacht haben.«

Lauren betrachtete jetzt ein Foto, das eine Gruppe von Studenten zeigte, die dicht beieinander standen und irgendwelche Parolen riefen. Sie sahen zornig aus. Einer in der Mitte der Gruppe machte obszöne Gesten in Richtung Kamera. »Was war denn das?« fragte Karen.

Lauren las die Bildunterschrift: »Chicago. Democratic Convention.« Sie seufzte. »Wenn ich das sehe, kommt es mir vor wie aus der Dinosaurierzeit.«

Karen schüttelte den Kopf. »Damals war alles im Umbruch. Nichts galt mehr als normal. Und sie wurden davon mitgerissen. Das ist alles.«

»Aber es verfolgt sie bis heute.«

»Sie sind nicht die einzigen, nur können die anderen es besser verbergen.«

»Ich frage mich immer, ob wir dasselbe tun würden, wenn wir von einer Sache wirklich überzeugt wären, wenn wir wirklich ganz fest daran glauben würden.«

Karen wollte gerade antworten, aber da ging die Schulklingel. Eilig stellten sie die Bücher in die Regale zurück.

Laurens Frage blieb unbeantwortet.

 

Kurz nach drei Uhr nachmittags rief Duncan seine Sekretärin an und sagte: »Doris, ich gehe mal eben in die Apotheke und mache ein paar Besorgungen. Bitte halten Sie die Fahne hier solange hoch.«

»Aber Mr. Richards, gehen Sie doch besser gleich nach Hause. Ich werde hier schon …«

Duncan unterbrach sie: »Ich muß noch ein paar Dinge erledigen. Ich erkläre es Ihnen, wenn ich zurück bin.«

Er zog seinen Mantel an und fragte sich, ob ihm vor Angst oder vor Aufregung so heiß war. In seiner Situation konnte beides richtig sein. Er schob den Gedanken beiseite, nahm seinen leergeräumten Aktenkoffer und ging.

Zuerst fuhr er seinen Wagen vom reservierten Platz in ein Parkhaus, das drei Straßen entfernt lag. Es war nur halb besetzt. Er fuhr nicht auf den ersten freien Platz, sondern weiter nach hinten an eine Stelle, an der sonst nur zwei Wagen standen. Er wählte die dunkelste Ecke, die er finden konnte.

Er nahm den Aufzug nach unten, hob eine Zigarettenkippe auf und steckte sie sorgfältig in einen Umschlag, den er in der Innentasche seines Anzugs unterbrachte.

Draußen ging er zu einem Friseurladen, einem Damen- und Herrensalon, den vor allem Studenten und Schüler besuchten. Die Frau an der Kasse fragte: »Was wünschen Sie bitte?«

»Ich möchte eine Punkfrisur«, antwortete er.

Die Frau sah ihn entsetzt an. »Das ist doch nicht Ihr Ernst, oder?« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen?«

»Also gut, ein andermal«, sagte Duncan. »Ich wollte eigentlich nur ein Shampoo für meine Töchter kaufen. Ich weiß nur leider nicht mehr die Marke.«

»Redken vielleicht oder Natural Wave? Was für Haare haben die Mädchen denn?«

»Es ist in einer rotweißen Flasche.«

»So wie diese hier?«

»Also, ich weiß nicht genau …«

Die Frau lächelte. »Gucken Sie doch mal hinten nach, wo das Haar gewaschen wird. Vielleicht steht es dort irgendwo.« Duncan nickte. Er zog seinen Autoschlüssel aus der Tasche, sah sich um, bis er hatte, was er suchte.

Dann wartete er auf den geeigneten Augenblick, ließ die Schlüssel fallen, und während er sich bückte, um sie aufzuheben, sammelte er zugleich abgeschnittene Haare auf. Er steckte Haare und Schlüssel blitzschnell in die Tasche, ging zum Regal mit dem Shampoo, nahm eine Flasche und ging zur Kasse zurück.

»Ich glaube, es ist das Zeug hier«, sagte er.

»Schön«, antwortete die Frau und packte die Flasche ein.

»Zwölf Dollar, bitte.«

»Für das bißchen?« fragte Duncan erstaunt. »Ich glaube, ich sollte den Beruf wechseln und Haarpflegemittel verkaufen.«

Die Frau lachte, nahm das Geld und winkte ihm nach.

Auf der Straße legte Duncan das Haar in den Umschlag mit dem Zigarettenstummel. In der Apotheke an der Ecke kaufte er ein Paar Gummihandschuhe, Mülltüten aus Plastik, zwei dicke Gummibänder und diverse Mittel gegen Erkältung.

Danach nahm er ein Taxi und fuhr in den nächsten Supermarkt. Er ging schnell hinein, sah auf die Uhr. Er wollte nicht zu lange der Bank fernbleiben. Das Einkaufszentrum war schon älter, ringsum von einem Zaun umgeben und bedeckte eine Fläche von einigen Morgen Land. Früher war es ein leicht hügeliges Weideland gewesen. Damals war es wunderschön grün, Kühe und Pferde weideten darauf, und im Sommer reiften Maispflanzen in der warmen Sonne. Aber jetzt warf es Geld ab.

Vor achtzehn Jahren hätte ihn diese Verschandelung der Natur traurig gestimmt, und er schämte sich, daß es ihn jetzt kalt ließ. Die Bank hatte die Kaufsumme beliehen und die Finanzierung übernommen. Es war eines seiner ersten großen Projekte. Abendelang war er dort vorbeigefahren, hatte die Wagen auf den Parkplätzen gezählt.

Während der Ferien war er durch die Gänge gelaufen, um festzustellen, wieviel Leute da waren. Je dichter das Gedränge, desto zufriedener war er gewesen. Jetzt eilte er durch einen kleinen Seiteneingang zur Sportabteilung. Er fand einen Verkäufer und sagte: »Ich brauche ein Paar Turnschuhe für meinen Neffen.«

»Welche Größe bitte?«

»Zehneinhalb.«

»Wir haben ein paar gute im Sonderangebot, fünfzig Dollar nur.«

»Mein Gott, als ich jung war, haben die höchstens zehn gekostet!«

»Wann war denn das?«

»In den Tagen der Dinosaurier.« Der junge Mann lachte und holte die Schuhe. Genau die richtigen, dachte Duncan, eine Nummer kleiner als meine sonstige Größe.

Nach den Schuhen kaufte er ein graues T-Shirt und einige Schritte weiter einen blauroten Pullover aus billigem Acryl, wie ihn oft Studenten trugen. Er bezahlte wieder in bar.

In einem Eisenwarengeschäft erstand er ein paar Klem-men, Kabel, Isolierband, mehrere Schraubenzieher und einen kleinen Hammer. In der Bank ist es sicher dunkel, dachte er und nahm noch eine Taschenlampe und Batteri-en dazu. An der Kasse stand eine Menge Leute. Er war zufrieden. Hier fällt niemand auf, dachte Duncan. In diesem Supermarkt werden Menschen zu anonymen Wesen.

Er verließ das Zentrum durch den Seiteneingang. Draußen warf er die Verpackung in die Mülltonne und verstaute die Ware in seinem Aktenkoffer. Der graue Spätnachmittagshimmel wurde immer dunkler. Es wird so schnell dunkel, dachte er. So, als ob das Licht zu schwach wäre, um gegen den Abend zu kämpfen, und einfach aufgibt und stirbt. Es war kalt, und er konnte seinen Atem sehen. Es ist Zeit anzufangen, dachte er. Einen Augenblick lang krampfte sich sein Herz zusammen, und die Knie wurden ihm weich. Er fühlte sich wie ein Sprinter, bevor er den Startblock betritt, sich hinkniet und auf den Schuß wartet. Er hob die Hand, ahmte den Schuß nach. »Peng!« rief er leise. Dann knöpfte er seinen Mantel zu und winkte nach einem Taxi.

 

Ramon Gutierrez spürte die Nachmittagskälte diesmal nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, auf die Zwillinge zu warten, die jeden Moment den Parkplatz vor der Schule betreten mußten. Er hatte den Kragen hochgeschlagen und den Hut tief ins Gesicht gezogen und beobachtete von einer Querstraße aus, wie die Schüler auf ihre Mofas oder in ihre kleinen buntbemalten Wagen stiegen und quietschend über den schwarzen Asphalt des Parkplatzes fuhren. Die Anlage erinnerte ihn an seine eigene Schule in der South Bronx. Da allerdings waren die Schüler zum Bus oder zur U-Bahn gelaufen und nicht mit Sportautos oder Mofas gefahren. Es war ein gefährlicher, aufregender Augenblick, der Zeitpunkt, wo Bandenmitglieder loszogen oder sich Leute fürs Wochenende verabredeten. Jetzt hatte er sein eigenes, ganz spezielles Stelldichein, und niemand wußte davon.

Die Mädchen stiegen jetzt in ihren Sportwagen. Gutierrez grinste. Sie kamen nur wenige Meter voran, dann wurde ihr Auto von ein paar schlacksigen Teenagern aufgehalten, die sich herunterbeugten und durch die Fensterscheibe mit den Mädchen sprachen. Er ließ seiner Phantasie freien Lauf und malte sich aus, worüber sie sprachen.

Seit Tagen machte ihm das Leben endlich mal wieder Spaß. Olivia hatte ihm nach Tommys mißglücktem Fluchtversuch den Auftrag erteilt, den Rest der Familie mal ein bißchen aufzumischen. Er sah den Jungen vor sich, zusammengekauert wie ein Embryo auf dem Fußboden im Mansardenzimmer. Ob Kinder, die starben, wohl genauso aussahen? Es war ihm gleichgültig, ob Tommy überlebte, Hauptsache sie bekamen ihr Geld. Der Großvater hatte mit aller Kraft versucht, den Jungen zu schützen, bis Olivia ihn auf ihre Weise zum Schweigen brachte. Als er laut protestierte und schrie, hatte sie ihren Revolver gespannt und ihn kurzerhand gegen seine Schläfe gehalten. Dann hatte sie zu ihm gesagt: »Reizen Sie mich nicht. Diesmal zögere ich keinen Moment!«

Kaum waren die Gefangenen wieder eingesperrt, da brach es aus ihr heraus. Sie war vollkommen außer sich und brüllte Bill Lewis unbeherrscht an. Er hatte stocksteif dagestanden, ohne sich zu rühren, und hatte nichts geantwortet.

Er sollte sich tatsächlich schämen, dachte Ramon. Beinahe hätte er die ganze Sache platzen lassen! Nach all der Mühe, den ganzen Vorbereitungen und dem Risiko!

Einen Augenblick hatte er geglaubt, Olivia würde Bill erschießen. Oder vielleicht die Geiseln. Sie war im Wohnzimmer auf-und abgegangen, eine Waffe in der Hand, und sie hatte vor Wut gezittert. Sie faßte offenbar den Fluchtversuch des Jungen als persönlichen Angriff gegen sich auf und begriff nicht, daß er sich nur hatte retten wollen.

Wenn ich gefangen wäre, würde ich auch versuchen zu fliehen, dachte Ramon. Er hatte als Junge in einem Erziehungsheim versucht, ein Abflußrohr hinunterzurutschen, war aber abgestürzt und hatte sich den Fuß verstaucht. Er hatte trotz allem Respekt vor dem Jungen.

Er hatte selbst oft in seiner Kindheit unter Mißhandlungen der Erwachsenen gelitten und hatte sich nie gewehrt, war nie weggelaufen, hatte nie gekämpft.

Die Zwillinge hatten inzwischen die Straße erreicht.

Olivia hatte Ramon aufgetragen, den Mädchen einen Besuch abzustatten, nachdem sie ihren Ärger wieder ein wenig unter Kontrolle gebracht hatte. »Megan ist im Büro, das Haus ist leer. Mach ihnen mal die Hölle heiß, daß ihnen richtig der Arsch auf Grundeis geht!«

»Aber wie denn?« hatte Ramon gefragt.

»Denk dir selber was aus, verdammt noch mal!« Die Erinnerung an sein schlechtes Gefühl, das er hatte, als er dem gefangenen Jungen die Arme festhielt, verging. Er legte den Gang ein und beschleunigte seinen Wagen.

Karen und Lauren bemerkten nichts von dem alten Sedan, der sie auf der Pleasant Street überholte, und noch weniger von den verstohlenen Blicken des Fahrers.

Zu sehr waren sie in eine heftige Debatte vertieft.

»Wir sollten endlich etwas tun!« sagte Lauren, aber Karen schüttelte den Kopf.

»Wir tun doch schon was, wir machen alles, was sie sagen.«

»Ich weiß nicht, ob das reicht.«

»Woher sollen wir das wissen?«

»Das ärgert mich ja gerade so! Wie hältst du es bloß aus, nur dazusitzen und nichts zu tun?«

»Ich will nicht riskieren, daß alles noch schlimmer wird.«

»Aber das weißt du doch gar nicht. Wie kannst du beurteilen, was richtig und falsch ist? Was wissen Dad und Mom denn schon darüber, wie man mit solchen Leuten umzugehen hat? Vielleicht machen wir alles ganz falsch.«

»Aber vielleicht ist es auch richtig«, erwiderte Karen trocken.

»Ich kann es nicht ausstehen, wenn du so redest. Du tust dann immer so erwachsen.«

»Also, dann sag mir doch mal, was du unternehmen willst.«

»Es klingt vielleicht verrückt«, sagte Lauren und seufzte.

»Wir dürfen deswegen nicht auch noch durchdrehen.«

»Als Jim Harris den Jungen erwischte, der immer die Autos auf dem Schulparkplatz aufgebrochen hat, weißt du noch, was er da gemacht hat? Er nahm ihm einfach den Führerschein ab und rief die Polizei. Und die Bullen sind sofort gekommen.«

»Das kann doch nicht wahr sein! Gestern wollte ich die Polizei rufen, und du warst dagegen!«

»Das war ich überhaupt nicht!«

»Und ob!«

Lauren nickte. »Ja, du hast recht. Ich sag’ ja auch nichts mehr. Ich möchte doch nur so gerne was tun, ich vermisse Tommy so schrecklich!«

»Ich auch, das ist doch klar.«

»Aber was mir fehlt, ist nicht, was du denkst. Heute zum Beispiel bin ich aufgewacht, aber Tommy kam nicht ins Zimmer, um uns aus dem Bett zu jagen.«

Karen lachte. »Und keiner läßt mehr die Zahnpasta offen.«

»Und seine Kleider liegen nicht mehr überall rum.«

Karen schüttelte den Kopf. »Wir können doch damit rechnen, daß er wiederkommt! Dad hat gesagt, morgen klappt es bestimmt.«

»Glaubst du daran?«

»Ich glaube gar nichts, ich warte lieber.«

»Am liebsten würde ich den ganzen Tag nur heulen.«

»Mir geht es nicht anders. Ich war nur zwischendurch ein bißchen abgelenkt. Aber dann mußte ich wieder an Tommy denken, und alles war viel schlimmer als vorher.«

»Hast du dich heute mit Will getroffen?«

»Wir haben nur ein bißchen gequatscht.«

»Und was hat er gesagt?«

»Daß er mit mir ausgehen möchte.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Er soll irgendwann nächste Woche anrufen.«

»Ein ganz süßer Typ!« sagte Lauren und grinste.

»Ja«, sagte Karen kichernd.

»Und außerdem ziemlich sexy. Er war letztes Jahr mit Lucinda Smithson zusammen, das war ein Pärchen, sag’ ich dir! Die haben vielleicht losgelegt!«

»Ich weiß, aber das kratzt mich nicht weiter. Überhaupt, was ist mit Teddy Leonard? Er war letztes Jahr in Paris mit dem Schulaustausch, und da sind sie angeblich in ein echtes Bordell gegangen!«

»Das ist totaler Quatsch!«

Karen lachte. »Ich glaube, die würden sich das nie trauen.«

Die Mädchen mußten grinsen.

»Weißt du, was ich an Teddy so mag?« fragte Lauren.

»Als er einmal bei uns war, hat er ganz lange mit Tommy gespielt. Ich finde es immer so schade, daß Tommy nie mitkriegt, was große Jungen machen. Er sieht immer nur uns. Teddy hat draußen eine halbe Stunde Fußball mit ihm gespielt. Tommy war total begeistert, und abends hat er zu mir gesagt: ›Lauren, der Ted ist ja so toll, du kannst ihn ruhig heiraten.‹ Super, was?«

Wieder lachten sie, aber dann verstummten sie plötzlich.

Sie hatten über ihre Gespräche die Wirklichkeit völlig vergessen, und um so heftiger brach sie jetzt über sie herein.

»Wenn sie ihm etwas antun, wenn sie ihm weh tun«, begann Karen energisch, »dann bringen wir sie um«, beendete Lauren den Satz. Wie sie das anstellen sollten, wußten sie beide nicht.

Sie fuhren schweigend weiter. Als sie sich ihrem Haus näherten, sagte Karen: »Kaum zu glauben, Mom ist noch nicht zu Hause!«

»Ob sie vielleicht …«, begann Lauren.

»Quatsch! Sie ist sicher auf dem Heimweg«, sagte Karen beschwichtigend.

Karen stellte das Auto ab, aber sie stiegen nicht aus.

Besorgt sahen sie zum Haus hinüber. Alles war dunkel.

»Hätte Dad doch bloß eine Lichtautomatik einbauen lassen«, sagte Karen.

»Ich finde das Haus richtig gruselig«, sagte Lauren leise.

»Hör auf!« rief Karen energisch. »Jetzt übertreib mal nicht! Stell dich bloß nicht so an! Du bist ja ’ne richtige Porzellanpuppe! Los, komm! Wir gehen jetzt rein.«

Sie stiegen aus und schlugen die Wagentüren zu. Lauren mußte sich beeilen, um mit Karen Schritt zu halten, so energisch ging sie auf das Haus zu. Sie steckte den Schlüssel ins Schloß der Eingangstür und öffnete mit einem Ruck. Dann ging sie zum Schalter und machte Licht. Beide Mädchen zogen ihre Mäntel aus und hängten sie in den Garderobenschrank. Karen wandte sich an Lauren und sagte: »Na, siehst du, was ist schon dabei?

Jetzt machen wir uns Tee und warten auf Mom. Sicher ist sie gleich zu Hause.«

Lauren nickte, schien jedoch immer noch besorgt und ängstlich.

Plötzlich blieb Karen stehen und lauschte. »Hörst du das?«

»Was?« fragte Lauren. »Du willst mich wohl verarschen, ich …«

»Pst!«

»Was ist denn?«

»Ach, nichts. Ich habe mich nur erschrocken. Und das kommt nur, weil du so ein Angsthase bist. Wenn wir nicht aufhören, bilden wir uns noch wer weiß was ein.«

»Es ist verdammt kalt hier drin. Wie kommt das bloß?« fragte Lauren.

»Woher soll ich das wissen?« sagte Karen schnell. »Sie haben bestimmt die Heizung runtergestellt, als sie heute morgen gegangen sind.«

»Nee, da muß irgendwo ein Fenster offen sein, es zieht doch furchtbar.«

Karen wollte ihr antworten, aber plötzlich schwieg sie.

»Komm, wir gehen besser nach draußen«, sagte sie dann schnell.

»Wir können doch erst mal sehen, woher der Zug kommt«, sagte Lauren.

Karen sah ihre Schwester an. »Nichts wie weg hier«, sagte sie flüsternd.

»Nein, noch nicht«, antwortete Lauren und lief ein paar Schritte Richtung Wohnzimmer. Ihre Schwester folgte ihr.

»Siehst du was?«

»Nein, aber ich fühle, wie die kalte Luft reinkommt.«

»Ja, ich spür’s auch.«

»Was machen wir jetzt?«

»Weitergehen.«

»Und wohin?«

»In die Küche, wohin sonst?«

Leise tappten sie die Diele entlang. »Gib mir deine Hand«, sagte Lauren, und Karen packte sie am Handgelenk.

»Hörst du jetzt was?«

»Nein.«

Vorsichtig betraten sie die Küche.

»Ist da was?« fragte Karen. »Siehst du was?«

»Nein, aber es ist eiskalt hier drin.«

»O Gott!« schrie Karen plötzlich laut.

»Was ist denn?« fragte Lauren.

»Da, guck!«

Karen zeigte auf die Speisekammer, deren Tür offen-stand. Beide starrten auf das Fenster. Ein Fenster stand offen, eine Scheibe war herausgeschlagen worden und lag in tausend Scherben auf dem Linoleum.

»Wir müssen hier weg!« rief Lauren.

»Nein, jetzt gucken wir erst mal im ganzen Haus.«

»Glaubst du, daß …«

»Ich weiß nicht.«

»Vielleicht ist …«

»Ich weiß nicht, meinst du wirklich?«

Karen ging auf Zehenspitzen zur Küchenkommode und nahm ein großes Hackmesser aus der Schublade. Sie reichte es ihrer Schwester und bewaffnete sich selbst mit dem Nudelholz.

»Los, jetzt gehen wir mal nach oben und sehen uns da um!«

Leise stiegen sie die Treppe hinauf. Zweimal blieben sie stehen, um zu lauschen, dann gingen sie weiter und hielten sich gegenseitig an der Hand. In der freien Hand hielten sie ihre Waffen.

Als sie das obere Stockwerk erreicht hatten, warfen sie zuerst einen Blick ins Schlafzimmer der Eltern.

»Scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte Lauren, die sich allmählich sicherer fühlte. »Ich wette, daß da einer war. Als er uns hörte, hat er Angst gekriegt und ist abgehauen.«

»Pst!« flüsterte Karen.

»Wir gucken am besten zuerst mal bei Tommy nach. Vielleicht waren sie hier, um etwas für ihn zu holen.«

»Wie sollen wir feststellen, ob etwas fehlt?« fragte Karen. »Guck dir das ganze Zeug da mal an!«

Als nächstes schlichen sie in ihr eigenes Zimmer. Die Tür war nur angelehnt, und Lauren stieß sie mit dem Fuß auf.

»Nein!« schrie sie plötzlich laut.

Karen fuhr erschrocken zurück, dann sah auch sie ins Zimmer.

»Das kann nicht wahr sein«, sagte sie.

In dem Raum herrschte das reinste Chaos. Kleider und Bettwäsche waren überall verstreut. Schubladen waren aufgerissen und auf den Boden geleert, die Bücher aus den Regalen gerissen. Schmuck und Nippsachen lagen in wildem Durcheinander herum.

Lauren war blaß geworden und begann zu weinen. Karen zitterte am ganzen Leib.

»Das haben die uns angetan«, sagte sie.

»Aber warum?«

»Das weiß ich auch nicht.«

»Aber …« Jetzt konnte auch Karen die Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie ging zu einem Haufen Kleider und zog ein Teil Unterwäsche hervor. Es war offensichtlich mit einem Messer zerfetzt worden.

Lauren preßte die Hand vor den Mund. »Ich muß gleich kotzen«, sagte sie.

Plötzlich hörten sie ein seltsames Geräusch. Sie wußten nicht, ob es aus der Nähe kam oder von weiter weg, ob es harmlos war oder bedrohlich. Beide Mädchen waren vor Angst wie gelähmt. Ihre Augen waren weit aufgerissen.

»Die müssen noch hier sein«, flüsterte Lauren.

Sie sahen einander an. »Nichts wie weg!« rief Karen.

Wie vom Blitz getroffen rannten sie die Treppe hinunter und vergaßen alle Vorsicht. Sie wollten nur noch nach draußen. Auf der letzten Stufe stolperte Lauren, aber Karen hielt sie fest, und so erreichten sie die Haustür.

Karen riß sie auf. Draußen stand Megan.

Die Zwillinge schrien vor Schrecken. Erst als sie ihre Mutter erkannten, beruhigten sie sich.

Megan war zu Tode erschrocken und riß die Mädchen an sich. Dann ließ sie Schlüssel, Mantel und Aktentasche fallen und zog sie von der Tür weg.

»Was ist denn los?« rief sie.

»Da ist einer im Haus!«

»Unser ganzes Zimmer ist durchwühlt!«

»Die sind hier eingebrochen!«

Ein paar Minuten standen alle drei reglos im Eingang.

Megan versuchte die Mädchen zu trösten, blickte aber zugleich aufmerksam ins Treppenhaus. Nachdem sie aufgehört hatten zu schluchzen und ihr Atem wieder normal ging, sagte Megan:

»So, und jetzt zeigt mir, was los ist.«

»Ich will hier nicht mehr rein«, sagte Lauren.

»Da war so ein gräßliches Geräusch«, sagte Karen.

»Natürlich gehen wir rein«, sagte Megan fest. »Das ist doch unser Haus! Los, kommt mit!«

Sie ging voraus und hob das Hackmesser und Nudelholz auf, die die Mädchen am Fuß der Treppe hatten fallen lassen.

»Also, was habt ihr gesehen, und wo war das?«

»Es fing hier unten an«, begann Lauren, »wir fanden das Fenster von der Speisekammer offen und-« Plötzlich kreischte sie los.

Megan lief in Richtung Küche. Jetzt schrie auch Karen auf. Megan sah ein grinsendes Männergesicht, das von draußen durch das Küchenfenster starrte. Aber die Erscheinung verschwand sogleich wieder.

Megan fühlte die Wut in sich aufsteigen und stürzte mit gezücktem Messer in die Küche. Die Mädchen, überrascht von so viel Mut, hörten auf zu schreien und folgten ihr.

Megan schlug das Herz bis zum Hals, ihr schwindelte.

Sie sah durchs Fenster nach draußen, konnte aber nichts sehen.

Inzwischen war es stockdunkel. Es ist vorbei, Gott sei Dank, dachte sie. Dann aber wurde ihr schnell klar, daß es erst der Anfang gewesen war.

Sie setzte sich zusammen mit den Mädchen ins Wohnzimmer, und dort warteten sie auf Duncans Rückkehr.

 

Kurz vor sechs, eine Stunde vor Schließung der Bank, bereitete sich Duncan in seinem Büro auf den Überfall vor. Er hatte das Rouleau vor der Glastür heruntergelassen, damit ihn niemand von der Schalterhalle aus beobachten konnte. Es würde nicht allzu sehr auffallen. Er trug Mantel und Hut. Sein Aktenkoffer war verschlossen.

Es war nicht ungewöhnlich, daß ein Banker Unterlagen mit nach Hause nahm. Aber der Koffer enthielt die Einkäufe vom Nachmittag. Zwei Schlangen standen vor den letzten geöffneten Schaltern. Ein Bankangestellter brachte einen Stapel Akten fort. Klienten holten sich Bargeld fürs Wochenende oder lösten Gehaltsschecks ein und zahlten einen Teil auf ihr Sparkonto. Es war wie immer um diese Zeit viel los, aber es waren nur noch wenige Angestellte im Haus. Niemand blieb freiwillig länger am Freitagabend, alle beeilten sich, um bald zu Hause zu sein. Für Duncan war dieser Umstand äußerst günstig. Der einzige Wachmann, der noch im Haus war, hatte die Aufgabe, die Alarmanlage anzustellen, wenn alle Bediensteten das Haus verlassen hatten.

Duncan sah, daß seine Sekretärin sich zum Gehen fer-tigmachte. Er wartete, bis sie aufgeräumt hatte, dann rief er sie per Sprechanlage an und sagte: »Doris, immer noch da?«

»Ich will gerade gehen.«

»Ich gehe auch sofort. Könnten Sie mir noch einen kleinen Gefallen tun?«

»Natürlich.«

Er nahm das Antragsformular für Kredite und brachte es Doris. Er fürchtete, seine Hand würde zittern und seine Stimme ungewohnt klingen. Er schwitzte heftig und hoffte, daß sie ihm die Aufregung nicht anmerkte.

Er schloß einen Moment die Augen, holte Luft und sagte: »Doris, wir brauchen Montag früh ein paar Exemplare, könnten Sie bitte die erste Seite sechsmal kopieren? Sie können sie bis Montag liegenlassen und dann gleich verteilen.«

»Gerne, Mr. Richards. Sonst noch irgendwas?«

Er reichte ihr das Formular und ging zu seinem Tisch zurück. 

»Nein, vielen Dank. Hoffentlich werde ich diese scheußliche Erkältung übers Wochenende los. Manchmal habe ich Angst, den ganzen Winter bis März damit herumzulaufen. Nichts als Schniefen und Niesen.«

Er knöpfte seinen Mantel bis oben zu, nahm seinen Aktenkoffer und sah sich um wie jemand, der gleich den Raum verläßt.

»Sie sollten vorsichtig sein!«

Er lachte gezwungen. »Vielleicht verkauft Megan so viele Grundstücke, daß wir auf die Bahamas oder sonstwohin ziehen. Da kann ich dann eine kleine Bank aufmachen und ein paar dunkle Geschäfte tätigen. Was ist mit Ihnen, Doris, sind Sie dabei?«

Doris grinste. »Es soll heute nacht eiskalt werden. Also, Ihr Angebot ist verlockend, aber nur, wenn ich die Katzen mitnehmen kann.«

Wieder lachte Duncan, machte seine Bürotür halb zu, faßte ostentativ in die Manteltasche und zog seinen Schlüssel heraus. Er klapperte damit und wandte sich noch einmal an Doris: »Bitte gehen Sie gleich, wenn Sie die Kopien fertig haben.«

»Gut, mach’ ich. Bis Montag dann.«

»Ach, ich hab’ ja meine Schreibmaschinenlampe angelassen. Ich mach’ sie noch eben aus. Bis Montag also.«

Doris ging hinaus zum Kopiergerät. Schnell schlüpfte Duncan in sein Büro. Leise schloß er die Tür und drehte den Schlüssel herum. Er löschte das Licht am Schreibtisch und blieb eine Weile in der Dunkelheit stehen.

Sie hat mich gesehen, kurz bevor ich nach Hause ging.

Mit Hut und Mantel. Sehr gut. Gleich geht der Wachmann durch die Räume und kontrolliert alle Türen. Erst dann macht er den Bewegungsdetektor an. Dann geht er durchs Hauptportal, schließt zweimal ab und stellt die Außenan-lage an. Er guckt dann nicht mehr zurück ins Gebäude, denn er weiß, daß alles gesichert ist. Falls jemand die äußere Alarmschranke durchbricht, muß er innerhalb der nächsten dreißig Sekunden das System innen lahmlegen.

Da hat er keine Chance.

Daß es einer umgekehrt machen könnte, darauf würde nie jemand kommen.

Ich werde es schaffen, ich weiß es.

Er legte Hut und Mantel ab und verstaute sie in einer Nische. Dann kroch er unter seinen Schreibtisch und setzte sich so bequem wie möglich hin. Den Aktenkoffer legte er sich auf den Schoß. Auf dem Leuchtzifferblatt sah er, daß es erst kurz nach sechs war. Er mußte noch eine Weile warten. So etwas Verrücktes, sich im eigenen Büro zu verstecken! In Wahrheit habe ich mich ganze achtzehn Jahre hier verborgen gehalten, dachte er.

Er bemühte sich, sich auf die nächsten zwei Stunden zu konzentrieren, aber er dachte auch fortwährend an Tommy. Auf diese Weise verging die Zeit, und erst nach einer halben Stunde merkte er, daß ihm die Knie steif wurden. Er hatte nicht die Spur eines schlechten Gewissens.

Er versuchte sich zu zerstreuen, indem er nach den Geräuschen in der Bank lauschte, aber er hörte nichts.

Sich zu rühren, wagte er nicht. Er wußte nicht, ob der Wächter seine Bürotür auf-und hinterher wieder zuschloß oder ob er nur am Türgriff probierte, ob abgeschlossen war. Hängt wohl von seinem Hunger ab, dachte Duncan.

Er wollte auch unbedingt vermeiden, daß einer der Angestellten auf dem Weg zum Parkplatz sah, daß er sich bewegte, falls er zufällig einen Blick auf das dunkle Gebäude warf. Seine Beine schmerzten, er rieb sich die Muskeln und versuchte zu entspannen. Langsam ließ der Schmerz nach. Er sah auf die Uhr und versuchte sich vorzustellen, was jetzt draußen gerade geschah. Die letzten Kunden mußten bereits abgefertigt sein, die beiden Kassierer schlossen ihre Kassen, der Chefkassierer stellte das Computersystem ab. Der stellvertretende Direktor prüfte die Safe Verschlüsse. All das vollzog sich innerhalb weniger Minuten. Niemand hatte gerne am Freitag Spätdienst. Deshalb waren alle besonders pünktlich. Die letzten Aktivitäten des Tages beobachtete der Wachmann genau. Dann ließ er die Leute hinaus und machte sich auf seine Runde.

Duncan wunderte sich, wo der Mann blieb. Dann erstarrte er plötzlich. Er hörte, daß jemand von außen die Türklinke anfaßte. Der Wachmann prüfte das Schloß, und die Tür zitterte im Rahmen.

Hoffentlich kommt er nicht rein, dachte Duncan.

Hoffentlich.

Er wagte kaum noch zu atmen und hielt mit aller Kraft seine Beine in ihrer Stellung. Er hatte das Gefühl, sein Herz schlüge so laut, daß der Geräuschdetektor ihn entdecken müßte und der Wächter zu ihm ins Zimmer käme.

An der Tür wurde es wieder still, und Duncan atmete erleichtert auf.

Gut, jetzt die nächste Tür und dann das Büro vom alten Phillips.

Inzwischen mußte der Wachmann in der Gebäudemitte stehen, von der aus er die gesamte Bank überblicken konnte. Gleich würde er zu der Wand mit dem Alarmsystem für den inneren Sicherheitsbereich gehen. Dort gab er den Siebenzahlencode ein.

Ich muß mich beeilen, sagte sich Duncan. Ich habe nur dreißig Sekunden Zeit, um bis zu den ersten Türen zu kommen, die außerhalb des Bereichs mit den automatischen Kassen liegen. Sobald das System geladen war, gingen automatisch die Lichter aus. Um sieben wurden sie von einem automatischen Hauptschalter wieder eingeschaltet.

Duncan wartete. Tür abschließen, dann kontrollieren.

Gut. Und jetzt raus, um das Perimetersystem zu laden.

Er sah auf die Uhr, es war zwanzig nach sieben. Warten, sagte er sich, ich muß noch warten.

Jetzt ist es gleich soweit. Der Wachmann hat sich ins Auto gesetzt und fährt. Ich bin ganz allein in der Bank, ich kann loslegen.

Zur Sicherheit wartete er noch zehn Minuten länger.

Plötzlich überkam ihn eine seltsame Ruhe. Er wußte nicht, ob er jetzt, wo er sicher sein konnte, ganz allein zu sein, überhaupt in der Lage war, sich zu bewegen. Er versuchte, seinen Beinen Befehle zu geben, sich auszustrecken und aus dem Versteck zu kriechen. Sie bewegten sich nicht.

Fast hätte er gelacht. Sollen sie mich Montag morgen in dieser Stellung vorfinden?

Langsam kroch er schließlich vorwärts zum Vorhang, den er vorsichtig zur Seite zog, um durch die Glastür in die Bankhalle zu sehen. Es war dunkel dort und leer. Er blickte zu den Kameraaugen, die an den Glasscheiben der Kassenschalter befestigt waren, und zu den Infrarotpeilstrahlern, die jede Bewegung registrierten. Die elektrischen Kameras waren ungefährlich, denn sie hingen am Lichtstrom, und der wurde nachts abgeschaltet. Die Bewegungsdetektoren waren ein Problem. Sie überwachten zwar nur den Kassenraum, aber sie waren unfehlbar.

Sie waren mit Sensoren ausgestattet und würden Alarm geben, sobald man sich an ihnen zu schaffen machte. Es gab nur die Möglichkeit, sie auszuschalten. Er robbte wieder zum Schreibtisch und öffnete den Aktenkoffer.

Dann zog er Schuhe und Anzug aus und schlüpfte in Jogginghose und Hemd. Die Füße ließ er nackt. Er legte sich auf den Rücken und machte ein paar Übungen, um die Steifheit aus seinen Gliedern zu vertreiben. Als er sich wieder gelenkig genug fühlte, kroch er zur Tür zurück.

Bevor ihn Zweifel an seiner Tat überkommen konnten, verbot er sich jeglichen Gedanken und sagte sich: Es gibt nur diesen Weg. Du mußt nur handeln, sonst gar nichts.

Er schloß die Tür auf. Dann machte er sich auf den Weg.

Er öffnete die Tür und rannte über den Flur. Dabei zählte er die Sekunden. Die Neonbeleuchtung der Straße tauchte die Bank in ein überirdisches, unheimliches Licht. Er stieß im Laufen mit der Hüfte gegen einen Tisch und stolperte, von Schmerz erfüllt. Er raffte sich wieder auf und hastete weiter auf die Wand zu. Dort angekommen, beugte er sich zum elektronischen Keypad hinunter. Ich darf nichts falsch machen, dachte er. Er konnte den Keypad in dem schwachen Licht kaum erkennen und hatte seine Taschenlampe im Büro liegenlassen. Aber es blieb keine Zeit mehr. Ich muß es tun, jetzt sofort! dachte er. Dann gab er den Code ein.

Ich habe mich geirrt, dachte er einen Moment lang.

Gleich wird der Alarm losgehen. Er schloß die Augen, lehnte sich gegen die Wand und biß sich auf die Lippen.

Erst nach einer oder zwei Minuten wurde ihm bewußt, daß es geklappt hatte. Er war ganz benommen und ging in sein Büro. Dort ließ er sich in seinen Sessel fallen, um innerlich wieder zur Ruhe zu kommen. Als er seine Konzentration wiedererlangt hatte, sagte er sich: Folge dem Plan und denke an nichts sonst! Konzentriere dich!

Folge dem Plan!

Er zog die Turnschuhe an. Kein sehr angenehmes Gefühl, aber auszuhalten. Dann zog er sich die Gummihandschuhe über. Dann schlüpfte er in den Pullover. Er ging durch die Halle bis zur Damentoilette. Er kletterte auf ein Becken und konnte von dort ein Paneel an der Decke erreichen und losmachen. Von einer der Trennwände aus konnte man dann mühelos in den darüberliegenden Hohlraum klettern. Er wußte von der Stelle, weil er während der Bauarbeiten alle Pläne kennengelernt hatte. Neben der Damentoilette lagen die Warm- und Kälteschächte, oben war ein Freiraum, groß genug, daß ein Handwerker hineinkonnte, um von dort aus die Belüftungsanlage zu erreichen. Er lehnte sich hinein, leuchtete den Hohlraum aus und streute ein paar der vorbereiteten Haare am Boden aus. Er legte die Zigarettenkippe daneben und zerdrückte sie. An der Stelle, an der er das Deckenpaneel entfernt hatte, rieb er den Pullover gegen das Holz, bis sich genügend Fasern gelöst hatten.

Er kletterte wieder nach unten und dachte: Wunderbar.

Da werden die Experten im Untersuchungslabor einiges zu tun bekommen.

Als nächstes machte sich Duncan zum Büro des Bankdirektors auf und öffnete die Tür mit dem Schraubenzieher und dem spitzen Hammerende. Er war beinahe erschrocken, wie einfach es war, die Tür aufzubrechen.

Es würde schwer werden, dem alten Phillips all das zu beichten, wenn die Zeit dafür gekommen ist.

Aber es war ihm klar, daß er den Bankraub anders erscheinen lassen mußte, als er in Wirklichkeit war. So gewann er durch die Untersuchungen Zeit, die letztlich wichtiger war als Phillips Freundschaft zu ihm.

Er öffnete mit dem Schraubenzieher das Schloß der Schreibtischschublade und wühlte in den dort liegenden Papieren. Als ihm die Unordnung groß genug erschien, öffnete er eine weitere Schublade, in der er die Schlüssel fand, die der Direktor immer bei sich trug. An der Hinterseite der Schublade war ein Papier aufgeklebt. Darauf standen mehrere Zahlenkombinationen. Die versteckt er, wie ein kleiner Junge seine Geheimnisse vor den Eltern verbirgt. Er ist schon alt und gehört halt einer anderen Generation an. Alle in der Bank wußten, daß der Chef sowohl Schlüssel als auch die Kombinationen bei sich selbst aufbewahrte.

Duncan verließ das Büro des Direktors wieder und ging zu einem Schreibtisch im Schalterraum. Er spannte ein Blatt Papier in eine Schreibmaschine und schrieb die Sieben-Zahlen-Kombination für den Interior keypad sowie die vierstellige Nummer für den äußeren Sicherheitsbereich auf. Dann entnahm er das Blatt der Maschine, faltete es zusammen und steckte es in die Tasche seines Sweatshirts.

So, und jetzt zum Geld, dachte er.

Er ging zu dem Safe, in dem die Kassierer ihre Schatullen lagerten, und öffnete ihn. Es waren acht Schatullen mit je fünftausend Dollar darin. Sie enthielten außerdem jeweils zehn Hundert-Dollar-Scheine, die mit Infrarotunterschriften gekennzeichnet und deren Nummern im Bankcomputer gespeichert waren. Sie waren bestimmt für kleine Bankräuber, die einem Kassierer die Pistole unter die Nase hielten und Geld forderten. Duncan nahm auch diese. Vielleicht erwischten sie ja Olivia, diese Hexe, mal damit. Um so besser.

Er legte das Geld in seinen Aktenkoffer. Ein zweiter Safe enthielt die Bargeldreserven der Bank. Nachdem er ihn geöffnet hatte, fand er dort fünfzigtausend Dollar in kleinen Stapeln. Auch die legte er in den Aktenkoffer.

Seine Hände zitterten dabei, und er spürte einen schlechten Geschmack im Mund.

Weiter so, sagte sich Duncan. Jetzt ging er an die Geldautomaten. Normalerweise konnte man darin bis zu fünfundzwanzigtausend Dollar unterbringen, aber die Bank bewahrte weniger darin auf. Montags wurden sie dann wieder nachgefüllt. Im ersten waren siebzehntausend, im zweiten zwölf, im dritten vierzehn und im vierten nur acht, denn der lag am weitesten von der Tür weg und wurde am wenigsten benutzt. In jedem Automaten ließ er zweitausend Dollar und kam somit auf eine Summe von vierunddreißigtausend. Wenn die Automaten leer waren, wurde der Karteneinführschlitz gesperrt. Duncan wollte vermeiden, daß ein Bankangestellter am Wochenende vier leere Automaten vorfand und vielleicht Verdacht schöpfte.

Duncan sah sich ein letztes Mal um und überlegte, ob er je wieder in der Lage sein würde, diesen Ort zu betreten.

Dann aber schob er den Gedanken beiseite und ging wieder in sein Büro.

Er warf keinen Blick auf das Geld. Er hoffte inständig, daß die Summe genügen würde. »Wieviel?« hatte er gefragt, und Olivia hatte nur geantwortet: »Was ist ein Leben wert?« Er schloß die Augen: meines nicht sehr viel.

Ihn überkam ein Gefühl von Unbehagen und Verzweiflung. Dann aber dachte er an Tommy. Alles andere ist unwichtig, sagte er sich.

Er legte seine Kleider ab und zog wieder seine normale Berufskleidung an. An einem Fuß behielt er einen Turnschuh. Er stopfte die Kleider in einen Plastikbeutel, nahm Kabel und Isolierband zur Hand und ging zum kodierten Sicherheitsschalter. Er schraubte ihn auf, zog ein paar Drähte heraus und legte ein paar Querleitungen. So ist das Durcheinander noch etwas größer, dachte er.

Zurück im Büro, zog er Hut und Mantel an. Den Fuß mit dem Turnschuh umwickelte er sorgfältig mit einem Plastikbeutel. Dann nahm er Geld, die Kleider und alle anderen Utensilien und ging hinaus. Vor der Tür machte er einen Augenblick halt und betrachtete die hell erleuchtete Vorhalle und die Dunkelheit dahinter. Jetzt ist der gefährlichste Augenblick: Wenn jetzt einer die Bank betritt, ist alles aus. Aber es ist sinnlos zu warten. Ich muß weiter. Er schloß die Tür nach draußen mit dem eigenen Schlüssel auf, drückte sich an den Geldautomaten vorbei und war draußen. Der Lichtschein fiel auf ihn, und ihm wurde beinahe übel. Als ihn dann die kalte Dunkelheit umgab, fühlte er sich wohler. Die äußere Alarmanlage war mit dem Haupteingang verbunden. Er warf das Papier mit den Zahlenkombinationen ins Gebüsch. Mit dem umwickelten Turnschuhfuß schleifte er über den Boden, um einen Abdruck zu hinterlassen. Dann zog er Sack und Turnschuh von seinem Fuß und legte sie in einen anderen Plastikbeutel. Er schlüpfte in seinen zweiten Schuh und entfernte sich schnell.

Er hatte es geschafft. Er war frei und spürte die Kälte der Nacht. Erleichtert atmete er auf. Die Straßenlaternen waren von feinem Nebel umgeben, der auch ihn einhüllte.

Jetzt ging er zu dem Parkhaus, in dem er sein Auto abgestellt hatte. Ihm war, als wären Plastikbeutel und Aktenkoffer in seinen Händen aufgeladen, gäben ein grelles Licht ab und könnten ihn jederzeit verraten. Ein Auto fuhr an ihm vorüber, und er hätte fast aufgeschrien.

Eine weitere Autolampe beleuchtete ihn kurz, und er fühlte sich, als habe ihn eine Woge in ein stürmisches Meer geschleudert. Die Straßen von Greenfield erschienen ihm fremd und ungastlich. Läden, in denen er seit Jahren kaufte, erkannte er nicht wieder. Er beschleunigte seinen Schritt, schließlich rannte er, war aber bald außer Atem und blieb stehen. Dann setzte er seinen Weg langsamer fort. Wie einen Trauermarsch, langsam, finster, geisterhaft.

Es ist vollbracht, dachte er. Ich habe sie alle betrogen, bis auf meinen Sohn.

Seine Tat lastete schwer auf ihm. Mit diesem Gefühl ging er weiter durch die Nacht.