KAPITEL 2
Lodi, Kalifornien. September 1968
Kurz nach Morgendämmerung erwachte die Brigade. Das Licht des frühen Morgens schimmerte durch die schweren Vorhänge vor den Fenstern und drang in die letzten Winkel des kleinen eingeschossigen Blockhauses. Die Bewohner regten sich träge. Ein Teekessel pfiff in der Küche. Mit einigem Stöhnen und Murren wurden Matrat-zen vom Boden hochgenommen und gegen die Wand des Wohnzimmers gestellt. Schlafsäcke wurden zusammengerollt, wiederholt hörte man die Klospülung rauschen.
Jemand stieß eine halbvolle Bierflasche um, deren Inhalt sich von Flüchen begleitet auf den Boden ergoß. Aus dem hinteren Teil des Hauses drang rauhes Lachen. In der stickigen Luft hingen noch Reste von Zigarettenrauch.
Olivia Barrow, die sich mit Kriegsnamen Tanya nannte, ging zu einem der vorderen Fenster und zog vorsichtig die Vorhänge zurück. Sie blickte aufmerksam hinaus auf die staubige Straße, um festzustellen, ob irgend etwas Auffälliges zu sehen wäre. Jede Person, jedes vorbeikommende Fahrzeug unterzog sie einer gründlichen Inspektion. Sie beobachtete den haltenden Zeitungswagen, den Penner in einem Hauseingang, der einen eher munteren als teilnahmslosen Eindruck machte. Dann forschte sie nach etwas, das vielleicht zu normal erschien - der Straßenrei-nigungswagen, die Schlange an der Bushaltestelle. Ihre Blicke verweilten auf jedem Detail, wachsam suchte sie nach irgendeinem Alarmzeichen. Schließlich stellte sie zufrieden fest, daß man sie nicht beobachtete, schloß die Vorhänge und trat vom Fenster zurück.
Sie stieß einen Stapel alter Zeitungen und Abfälle beiseite. Ihr Blick fiel einen Moment in die Ecke, die sie Bibliothek nannten. Dort waren politische Zeitschriften, Handbücher und Militärwaffen und Sprengstoffe gestapelt.
Die gammeligen Wände waren mit politischen Parolen und Rock ’n’ Roll Plakaten bedeckt.
Olivia übersah das Durcheinander und den Schmutz. So etwas war unvermeidlich, wenn zu viele Menschen zusammen in einer engen und baufälligen Hütte hausten.
Die begrenzten Verhältnisse im Hause waren ihr jedoch recht. Kein Platz, um Geheimnisse zu wahren, dachte sie.
Geheimnisse sind Schwachstellen. Wir sollten uns nackt gegenüberstehen. Das stärkt die Disziplin der Truppe, und Disziplin macht stark.
Sie lud ihre 45er Halbautomatik durch und drückte die ungeladene Pistole mehrmals ab. Das scharfe Klicken durchdrang die verschwommene Müdigkeit des Raumes und zog die Aufmerksamkeit der anderen Personen sofort auf sich. Sie liebte das Geräusch, das das Durchladen der Waffe vor dem Schuß verursacht.
»Zeit für unser Morgengebet!« rief sie laut.
Das Tappen schneller Schritte und das metallische Klicken von Waffen, die überprüft werden, ertönte, als sich die übrigen Mitglieder der Truppe in einem Kreis um Olivia versammelten. Es waren zwei weitere Frauen und vier Männer. Zwei der Männer hatten Bärte und schulter-lange Haare, die anderen beiden waren Schwarze und trugen wilde Afro-Frisuren. Sie waren mit Jeans und alten Militärklamotten bekleidet. Einer der Schwarzen trug ein helles Stirnband und zeigte beim Lachen einen Goldzahn.
Einer der weißen Männer hatte eine rote Narbe an der Kehle. Beide Frauen waren blaß und dunkelhaarig. Alle legten ihre Waffen in der Mitte des Kreises ab, verschiedene Pistolen, zwei Schrotflinten und ein halbautomatisches Browning-Gewehr. Dann gaben sie sich die Hände, und Olivia begann feierlich: »Wir sind das neue Amerika.« Sie betonte immer die letzte Silbe und genoß sichtlich ihren Redefluß. »Ob schwarz, braun, rot, weiß, gelb, Frauen, Männer, Kinder, wir sind alle gleich.
Wir haben uns aus der Asche der Alten erhoben. Wir sind die Phönix-Brigade, die Fackelträger der neuen Gesellschaft. Wir kämpfen gegen die faschistischen, rassistischen, kriegsgewinnlerischen Werte unserer Väter und zeigen der Menschheit einen neuen Horizont. Heute ist der erste Tag der neuen Welt. Die Welt, die wir mit Waffen aus dem Kadaver dieser korrupten Gesellschaft erschaffen wollen. Uns gehört die Zukunft, wir glauben an die Gerechtigkeit. Wir sind das neue Amerika.«
Die Truppe wiederholte: »Wir sind das neue Amerika!«
»Die Zukunft?«
»Sind wir!«
»Heute ist?«
»Der erste Tag!«
»Wir sind?«
»Die Phönix-Brigade!«
»Womit kämpfen wir?«
»Mit Waffen!«
»Die Zukunft gehört …?«
»Uns!«
»Tod den Ausbeutern!«
»Tod den Ausbeutern!«
Olivia hob ihre Pistole hoch und schwenkte sie über dem Kopf. »Gut so«, rief sie. »Gut so.«
Einen Moment herrschte Stille, und die Gruppe blickte reglos auf die waffenschwenkende Olivia. Eine der Frauen preßte sich die Hände an den Leib und flüsterte: »Entschuldigt bitte.«
Sie stieg eilig über den Waffenstapel und hastete aus dem Kreis. Ihre Turnschuhe quietschten auf dem Linoleum, als sie durch den Flur in das Badezimmer lief und die Tür hinter sich zuschlug. Schweigend starrten die anderen hinter ihr her.
Olivia durchbrach die Stille.
»He, Zahlentyp, paß besser auf dein Püppchen auf!« Ihre Stimme klang spöttisch.
Einer der Bärtigen trat aus dem Kreis heraus, eilte den Flur hinunter und blieb zögernd vor der Badezimmertür stehen. Er flüsterte: »Meg, hörst du mich? Geht’s dir nicht gut?«
Die Gruppe hinter ihm geriet in Bewegung. Die Leute nahmen die Waffen wieder an sich und sicherten sie. Aus der Küche, in der sie jetzt anfingen zu frühstücken, erscholl Gelächter.
Der Bärtige hörte, wie sich jemand übergab.
»Meg, sag doch was. Geht’s dir besser?« flüsterte er wieder.
Er merkte nicht, daß jemand hinter ihm stand, und schrak auf, als er die Stimme hörte.
»Scheint, dein Püppchen ist nicht einsatzbereit, Zahlentyp.«
Der Bärtige drehte sich hastig um. Seine Stimme überschlug sich vor Anspannung.
»Ich habe dir doch gesagt, daß sie fit ist. Du hast mich gefragt, und ich habe dir ehrlich geantwortet. Sie ist so zuverlässig wie jeder von uns. Sie weiß, weshalb wir hier sind. Gib doch endlich Ruhe, Tanya!«
»Du mußt dich auch noch ganz schön ändern«, sagte Olivia, die sich ungern unterbrechen ließ. Ihre Stimme klang geringschätzig. »Du mußt deine alten bourgeoisen Ideen ausmerzen und sie durch revolutionäres Feuer ersetzen.«
»Ich habe es dir gesagt: Wir sind bereit.«
»Du bist das schwächste Glied in der Kette, Zahlentyp. Vollgestopft mit all dem Kram, den man dir im College eingetrichtert hat. Und immer noch bist du ein kleiner Student, der Revolution nur spielt.«
»Hör mal, Tanya, ich spiele überhaupt nicht! Laß mich doch endlich in Ruhe. Schließlich sind wir hier, oder? Ich bin kein Mathematiker mehr, zum Teufel! Das liegt jetzt alles hinter mir. Nur du quatschst immer wieder davon. Wir haben schon so oft darüber diskutiert, mir hängt es jetzt langsam zum Hals raus. Das College ist Vergangenheit, es liegt weit hinter mir. Mir ist die Phönix-Brigade genauso wichtig wie dir. Du hast schließlich auch nicht von Geburt an Revolution gemacht, oder?«
»Nein«, erwiderte Olivia mit einem bitteren Ton in der Stimme. »Ich war auch mal so ein bourgeoises Schwein. Aber jetzt nicht mehr. Ich habe alles in die Bewegung gesteckt. Deshalb habe ich auch den anderen Namen angenommen, deshalb könnte ich noch heute sterben, und zwar glücklich. Könntest du glücklich sterben, Zahlentyp? Was hast du denn aufgegeben? Die Herrschenden kennen Sundiata und Kwanzi mit ihren alten Knastnamen, wir reden sie mit ihren Revolutionsnamen an. Sie haben im Ghetto überlebt und sind bereit, in dem Krieg heute zu sterben. Auch die anderen, Emily und Bill Lewis, nette, ganz normale amerikanische Namen, oder? Aber jetzt heißen sie Emma und Ché. Sie sind richtige Soldaten, keine Schauspieler. Über euch beide zerbreche ich mir den Kopf.«
»Laß doch endlich das Gerede!«
»Du redest doch dauernd. Alles, was wir hier von dir gehört haben, ist nichts als Geschwätz. Über die Zeit, in der man dich eingesperrt und geschlagen hat. Aber wo sind deine Wunden, Zahlentyp? Jetzt wollen wir sehn, was du kannst. Jetzt hast du die Chance zurückzuschlagen, aber ich frage mich, ob du das auch schaffst. Kein pazifistisches Gelabere mehr. Schluß mit der Wochenendrevolution! Krieg! Sie haben es so gewollt, und jetzt bekommen sie ihn.«
Er zögerte. Schließlich sagte er: »Ich habe dir doch gesagt, daß wir bereit sind zu kämpfen. Und wir werden unsere Pflicht auch tun.«
»Das werden wir sehen, und wir werden es bald sehen.«
Olivia sah den Bärtigen durchdringend an. Sie war beinahe so groß wie er und konnte ihm direkt in die Augen sehen. Dann lachte sie höhnisch. Bevor er etwas erwidern konnte, drehte sie sich auf dem Absatz um und verschwand in ihrem Schlafzimmer hinten im Haus. Der Bärtige sah ihr einen Moment ärgerlich nach. »Sie bildet sich ein, sie macht die ganze Show allein«, sagte er leise.
Aber irgendwie wußte er, daß es stimmte.
Er klopfte an die Badezimmertür und rief: »Meg, sag mal, was ist mit dir?«
Er hörte das Rauschen der Toilette, dann ging langsam die Tür auf.
Das Mädchen sah bleich und angestrengt aus.
»Tut mir leid, Duncan, mir ist schlecht geworden. Wahrscheinlich die Nerven. Mach dir nichts draus. Es ist wieder gut. Du mußt mir nur sagen, was ich tun soll.« Sie sah den Flur hinunter zu dem Zimmer, in dem Olivia gerade verschwunden war.
»Du weißt, wie ich darüber denke. Aber ich werde tun, was du mir sagst.«
»Es wird schon gut ausgehen. Sieh mal, das ist mehr eine Demonstration. Und auf jeden Fall wird keiner dabei verletzt, du brauchst also nicht nervös zu sein.«
Megan wußte, daß es nicht die Nerven waren. Es lag an dem neuen Leben, das in ihr heranwuchs. Einen Moment überlegte sie, ob es nicht an der Zeit wäre, es ihm zu sagen. Nein, dachte sie schließlich, nicht hier und nicht jetzt. Aber wann? Die Zeit war knapp.
Megan streichelte ihm übers Gesicht. »Und du, geht es dir gut?«
»Sicher, warum denn nicht?«
»Ich wollte es nur wissen.«
»Aber warum? Ich meine, was sollte nicht in Ordnung sein?«
Sie sah ihn einfach nur an.
»Verdammt«, sagte er schließlich zornig, »nun fang nicht wieder von vorne an. Wir werden durchkommen, wir haben oft genug darüber diskutiert, und jetzt ist Schluß.
Ich will nicht mehr nur protestieren. Das hat uns nicht weitergebracht. Damit sind wir endgültig fertig. Das einzige, was die Leute verstehen, die in unserer Gesellschaft an der Macht sind, ist, auf gleiche Weise zurückzuschlagen. Triff sie ins Herz, vielleicht ändert das den Lauf der Welt. Das ist der einzige Weg!« Nach einigem Zögern fügte er hinzu : »Das ist die Sprache, die sie verstehen. Das wird sie aufmerksam machen, und das ist dringend nötig.«
Sie antwortete zunächst nichts. Dann sagte sie ruhig:
»Na gut, an Veränderungen zu glauben ist eine Sache.
Aber hör auf so zu reden wie Tanya, das paßt nicht zu dir.« Sie seufzte leise.
»Wir waren uns doch darüber im klaren.«
Sie nickte.
»Also, dann laß es doch jetzt.«
Er faßte sie an den Schultern, um sie auf Abstand zu halten, sie klammerte sich an ihn.
»Jetzt nicht«, flüsterte er. »Ich hätte dich wirklich nie hierher bringen sollen. Das ist nicht deine Welt. Ich habe das gewußt.«
»Meine Welt ist deine Welt«, antwortete sie und lächelte ihn an. »Klingt ganz schön kitschig, was?« fügte sie dann lachend hinzu.
Sein Blick war angestrengt, und sie hoffte, daß er an der Richtigkeit der Unternehmung zweifelte. Ich muß einen Weg finden, Duncan und mich hier herauszubringen, dachte sie. Wir müssen beide hier weg.
Nach einer Weile löste er sich aus ihrer Umarmung.
»Komm, laß uns etwas essen gehen«, sagte er in normalem Ton und faßte sie am Kinn.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich habe überhaupt keinen Appetit«, sagte sie, fügte aber nach kurzem Nachdenken hinzu: »Komisch, wenn ich so daran denke, ich könnte ein ganzes Pferd verspeisen. Mit Schlagsahne.«
»Zum Frühstück?« fragte er lachend.
»Komm«, sagte sie und nahm seine Hand. Eigentlich müßte ich es ihm sagen. Alles ist jetzt anders, es geht nicht mehr nur um uns beide. Verzweifelt suchte sie nach den passenden Worten und nahm sich vor, die nächste Gelegenheit wahrzunehmen..
Olivia Barrow stand vor dem kleinen Frisiertisch in ihrem engen Schlafzimmer und betrachtete sich im Spiegel. Ihr Haar war kurz geschnitten, wodurch ihr Gesicht ein wenig kantig wirkte. Sie prüfte ihr Aussehen: die gerade Nase, die hohen Wangenknochen und die hohe Stirn. Ihre Mutter hatte ihr früher immer über den Kopf gestreichelt, wenn sie vor dem Spiegel standen, und ihr gesagt, daß sie später auf jeder Party sicher das hübscheste Mädchen sein würde. Bei dieser Erinnerung mußte sie lächeln. Ihre Mutter hatte wohl kaum an die Art von Party gedacht, zu der sie heute gehen würde. Sie schnaubte verächtlich, als sie an die Modellagentur dachte, die sie unter Vertrag nehmen wollte, als sie gerade ins College kam. Ich brauchte eine Narbe, dachte sie. Irgendein rotes Mal, das sich mitten durch diese hübsche Fassade zieht wie ein Riß durch das Gemälde eines Künstlers. Ich würde lieber etwas plumper sein, ein bißchen unscheinbarer. Ich wäre besser ein Hippie-Mädchen mit Hängebusen und schlaffem Hintern, das Lieder über den Frieden singt, über Liebe und Blumen und sich in Wirklichkeit für nichts anderes interessiert als den nächsten LSD-Trip. Man würde mich dann schwerer wiedererkennen. Zugleich war sie sich jedoch bewußt, daß ihre Schönheit sie auch stark machte. Sie beugte sich plötzlich nach vorn, berührte ihre Zehen und legte dann die Handflächen auf den Fußboden.
Es war wichtig, körperlich fit zu sein.
Ihre Mutter war Tänzerin gewesen. Olivia erinnerte sich, wie sie ihr im Studio bei Sprüngen und Drehungen zugeschaut hatte. Immer war ihre Mutter stark. Aber warum hatte sie zum Schluß nicht gekämpft? Warum hatte sie sich so wenig gegen ihre Krankheit gewehrt? Sie hatte zusehen müssen, wie der Krebs ihrer Mutter innerhalb von kürzester Zeit alle Kraft raubte. Sie erschien klein und bemitleidenswert. Olivia dachte mit Abscheu an diese Zeit. Noch immer haßte sie die Niederlage, die Unfähigkeit der Ärzte und ihre diversen Ausreden. Und die schwächliche Schicksalsergebenheit ihres Vaters.
Was machte er wohl gerade? Vermutlich hockte er in seiner Höhle am Washington Square, las in Gesetzbüchern und brütete über die Verteidigungsstrategie für irgendeinen hoffnungslosen Fall, der unweigerlich scheitern würde. Immer kämpft mein Vater gegen Windmühlen, dachte sie. Wenn keine zu ihm kommen, sucht er sich selbst welche.
Sie haßte und liebte ihn in merkwürdiger Widersprüchlichkeit. Sie war sich bewußt, wieviel er ihr beigebracht hatte und wie sehr ihr die Art imponiert hatte, mit der er an seine Rechtsfälle heranging. Er hatte ihr beigebracht, daß ein Leben ohne Leidenschaft und Glauben kalt und leer ist. Er hatte ihr gezeigt, daß aktives Handeln, soziale Verantwortung und Protest die Grundlagen eines gerechten Sozialwesens waren. Wie oft war sie mitten in der Nacht in den Armen ihres Vaters aufgewacht, der sie aus ihrem Zimmer ins Elternschlafzimmer trug, weil irgendein wichtiger Besuch, meistens mit Bart und Gitarre, ihr Bett für die Nacht brauchte. Das waren meine ersten Opfer für den großen Kampf, dachte sie.
Im dritten College-Jahr, als die anderen Interpretationen über Jane Austens ›Stolz und Vorurteil‹ oder Thackerays ›Barry Lyndon‹ schrieben, arbeitete sie über Joe Hill und die Internationale Arbeiterbewegung. Sie dachte an all die Demonstrationen, zu denen sie mit ihrem Vater gegangen war. Mit sieben oder acht, sie wußte es nicht mehr genau, hatte er sie in einen riesigen Saal in Greenwich Village mitgenommen. Dort hatten Hunderte von Menschen wie mit einer Stimme »Freiheit! Freiheit! Freiheit!« gerufen.
Es war eine Solidaritätskundgebung für Julius und Ethel Rosenberg gewesen. Sie erinnerte sich daran, wie beeindruckt sie von dieser Solidarität der Menschen in der heißen, überfüllten Halle gewesen war.
Die Begeisterung der Menschen war ungeheuer groß, und Olivia war überzeugt, den Angeklagten würde geholfen. Auch deshalb, weil ihr Vater an dem Prozeß beteiligt war. Als sie dann ein paar Monate später die Schlagzeilen von der Hinrichtung der Rosenbergs in der Zeitung las, weinte sie vor Zorn und Enttäuschung.
Typisch Vater, dachte sie jetzt. Er steckte seine ganze Kraft und sein Geld in solche Sachen, immer war er voller Mitgefühl, aber geführt hat es zu nichts. Der Staat hat die Rosenbergs umgebracht, er hat über Idealisten wie Vater doch nur gelacht. Aber über mich, das schwöre ich, werden sie nicht lachen!
Sie sah ihren Vater vor sich. Immer trug er blaue, graue oder braune Nadelstreifenanzüge. Kollektive Tarnung nannte er das. Sieh aus wie dein Feind! pflegte er lächelnd zu sagen.
Er verlor zwar die meisten Prozesse, nie jedoch seinen Humor. Diesen Humor hatte Olivia geliebt, nicht aber seine ständigen Niederlagen. Seine Grundsätze waren stets untadelig, seine Einstellung war immer gerecht. Seine Fälle waren meistens brisant, seine Beweise messerscharf, seine Prozeßführung war klug, sein Vortrag eindrucksvoll, aber er verlor immer.
Olivia sah wieder in den Spiegel und versuchte, die Gedanken an ihren Vater beiseite zu schieben.
Heute zeige ich denen, daß Handeln Stärke ist. Sie sah einen Moment lang die Schlagzeilen vor sich. Die Vorfreude auf ihre Aktion erregte sie. Prüfend sah sie in ihre graublauen Augen und lächelte zufrieden.
Kein Makel. Der Plan war perfekt. Lange genug hatte sie gewartet und die Szene beobachtet. Sie kannte die Route des gepanzerten Fahrzeugs, sie wußte, wie die Geldübergabe vonstatten ging. Es geschah immer am Ende der Geschäftszeit an jedem zweiten Mittwoch. Eine ruhige Stunde in der Bank. Sie dachte an die beiden Wachbeam-ten. Diese machten sich nicht einmal die Mühe, ihre Revolverriemen zu lösen. In der letzten Woche hatte einer der beiden seine Waffen am Boden abgelegt, als ein Geldsack vom Wagen fiel. Der Mann hatte gestöhnt, als er sich bückte, so beleibt und träge war er. Beide Männer machten einen gelangweilten, sorglosen Eindruck. Sie waren gänzlich unvorbereitet auf das, was sie mit ihnen veranstalten würde.
Das war im Grunde nicht verwunderlich. Lodi lag in einer Weinbaugegend. Hier war nichts zu spüren von der Hitze wie in San Francisco, das zwei Stunden entfernt lag, aber ein Jahrhundert weit weg zu sein schien. Was auf den Straßen der großen Städte geschah, nahm man hier nur in Fotos in der Abendzeitung wahr. Niemand hatte besonderes Interesse daran.
Das hat sich durch meine Ankunft hier geändert, dachte Olivia stolz.
Ihr Plan hatte zwei politische Momente: Erstens kam das Geld, das sie rauben wollten, hauptsächlich von einer Niederlassung des Dow-Chemical-Konzerns. Obwohl hier nur Unkrautvernichtungsmittel hergestellt wurden, gehörte der Betrieb doch zu der Kette von Fabriken, in denen Napalm und andere Stoffe für die chemische Kriegführung produziert wurden. Zweitens traf der Überfall eine ganze Reihe von reaktionären Eisenhower-Anhängern, die endlich aus dem Schlaf geweckt werden mußten. Sie waren reif zum Ausnehmen. Die meisten Polizisten am Ort waren Söhne armer Bauern, die ihre Höfe an die Bank verloren hatten. Jetzt würden sie endlich kapieren, daß nur eine Revolution ihre Situation verbessern konnte.
Am besten gefiel Olivia der Überraschungseffekt. Aus lauter Vorfreude lächelte sie ihr Spiegelbild an. Sie nahm ihren Revolver zur Hand, richtete ihn auf die Gestalt im piegel und blieb einige Zeit so stehen. Das Gefühl, eine Waffe zu halten, tat ihr gut und erregte sie. Mit der freien Hand streichelte sie ihre Brust.
So fühlen sich alle Kämpfer vor der Schlacht, dachte sie.
Als sich die Tür hinter ihr öffnete, reagierte sie nicht.
Emily Lewis trat ein. Olivia sah sie im Spiegel.
»Tanya«, sagte Emily. »Können wir einen Augenblick miteinander reden?«
»Haben wir nicht schon genug gequatscht?«
»Eigentlich hast du recht, aber in unserm Plan gibt es ein paar Sachen, die ich für falsch halte.«
Olivia drehte sich um und umarmte die andere Frau. Sie streichelte ihr die Schultern und fuhr ihr mit der Hand durch das schwarze, lockige Haar. Dann führte sie sie zum Bett.
»Sag mir, was du hast.«
»Der Fluchtplan. Mir leuchtet das mit den zwei Fluchtautos ja ein, und ich verstehe auch, daß es besser ist, sie auszuwechseln. Aber warum muß die Fluchtroute wieder direkt vor der Bank vorbeiführen? Das halten wir nervlich doch nie durch!«
»Das ist ja gerade das Schöne an der Flucht. Wir hauen in die eine Richtung ab, und bevor die Schweine es kapiert haben und mit der Verfolgung beginnen, fahren wir schon wieder zurück, an ihnen vorbei in die Gegenrichtung. Du hast recht, das kostet ein paar Nerven, aber wir sind stark.
Es wird schon alles klappen, du wirst sehen.«
»Meinst du, sie kann das schaffen, ich meine das mit dem Fahren? Was zum Beispiel ist, wenn wir angehalten werden?«
»Deshalb habe ich Duncan doch gerade veranlaßt, sie in die Brigade mitzubringen. Erst mal tut sie alles, was ihr Typ von ihr verlangt. Außerdem hatte sie noch nie eine Verkehrsstrafe. Sie ist auf keiner Liste, in keinem Computer. Und dann guck dir an, wie sie aussieht. Wie eine harmlose, kleine, ein bißchen flippige College-Mieze.
Stell dir vor, ein aufgeregter Bulle, der Berufsrevoluzzer sucht, muß sich mit ihr abgeben, und er findet nichts! Er muß sie einfach laufen lassen. Und wir sitzen alle hinten drin und lachen uns tot!«
Emily lehnte sich zurück. »Wenn du das erzählst, klingt es so einfach.«
»Es ist auch einfach, Kwanzi und Sundiata haben so was schon ein halbes Dutzend Mal gemacht. Die kennen sich bestens aus.«
»Einmal sind sie auch geschnappt worden.«
»Da hatten sie noch nicht die richtige Einstellung.«
»Und jetzt?«
»Jetzt haben sie sie«, antwortete Olivia, überrascht, wie leicht ihr diese Lüge über die Lippen ging. Und sie log weiter: »Sie waren mal Kriminelle, jetzt sind sie Revolutionäre. Jetzt können sie alle Kenntnisse nutzen, die sie damals erworben haben.«
Die schwarzhaarige Frau schloß die Augen.
»Also«, sagte sie, »ich hätte mir für den Anfang eine ruhigere Sache gewünscht, aber ich vertraue dir.«
»Gut. Denk an das Geld! Neue Waffen, ein besseres Quartier, neue Mitstreiter. Die Phönix-Brigade wird allen ein Begriff sein. Wir sind eine revolutionäre Organisation.
Die Öffentlichkeit wird aufwachen.«
Emily lachte. »Lieber Gott, die Schweine werden angeschmiert sein!«
Olivia beugte sich zu ihr hinunter und strich ihr mit dem Finger über den Nacken. »Du mußt mir vertrauen«, sagte sie. »Du mußt tun, was ich dir sage. Zusammen sind wir wie eine ganze Armee.«
»Ja, das werde ich. Wir alle werden tun, was du sagst.«
Olivia öffnete die Knöpfe von Emilys Jeans-Hemd und strich ihr über die Brust. Emily schloß die Augen.
»Bill wird ganz eifersüchtig, wenn wir das tun«, sagte sie und begann zu zittern.
Olivia berührte ihren Unterleib. Emily streichelte ihr die blonden Haare.
»Er wird begreifen müssen, daß ich dich auch liebe«, sagte sie dann.
»Ich liebe dich sehr«, sagte Olivia, während sie die Jeans der Freundin öffnete. »Ich habe dich immer geliebt und werde dich auch weiter lieben.« Sie sagte nicht: »Du bist die einzige, die mir etwas bedeutet, und wenn hier alles vorbei ist, gehen wir fort, irgendwohin, und fangen ein neues Leben an. Dann sind wir all die Herumtreiber und Politparasiten los. Wir sind die wahre Phönix-Brigade, du und ich.«
Emily kicherte: »Wir sind schon alle ganz aufgeregt. Am liebsten wäre es uns, wenn alles schon heute losginge.«
Beide Frauen lachten. Dann zogen sie sich eilig aus. Als Olivia sich auf die andere Frau legen wollte, hörte sie, wie die Tür einen Spalt aufging.
»Komm rein!« befahl sie und wartete, bis sie das bärtige Gesicht von Emilys Mann erblickte.
»Du kannst ruhig zusehen«, sagte sie herrisch zu ihm.
»Aber sag kein Wort und bleib ein Stück abseits.« Sie sagte das in einem Befehlston, der keinen Raum für Diskussionen ließ. Mit einer Kopfbewegung wies sie ihn in die Ecke des Zimmers.
Bill Lewis errötete vor Zorn, die Narbe an seinem Nacken rötete sich. Einen Moment zögerte er, dann nickte er und ging an die ihm zugewiesene Stelle, ohne ein Wort zu sagen.
Olivia lächelte, glitt über den Körper ihrer Partnerin, und die beiden liebten sich leidenschaftlich.
Kurz vor Mittag des folgenden Tages versammelte sich die Brigade im Wohnzimmer.
»Also«, sagte Olivia. »Laßt uns die Aufgabenverteilung noch einmal durchgehen. Es ist wichtig, daß jeder genau weiß, welche Rolle er hat.«
Sie zeigte auf Emily: »Was ist deine Aufgabe?«
»Ich gehe in die Bank und fülle am Schalter ein Formular aus. Ich übernehme die Wachleute in der Bank, wenn sie auf den Geldtransporter zugehen.«
Olivia wandte sich den beiden Schwarzen zu. »Und ihr?«
Kwanzi antwortete: »Wir fangen mit dem Spiel an. Wir nehmen die beiden bewaffneten Wächter aus dem Transportwagen in Empfang, gerade wenn sie durch die Tür kommen. Sundiata kommt von innen, ich von außen.«
»Und Ché?«
»Ich halte die Kassierer in Schach und sorge dafür, daß keiner Alarm auslöst.«
Olivia nickte und wandte sich an Duncan. »Und?«
»Ich fahre den ersten Lieferwagen. Ich parke an der Ecke River- und Sunset-Street, von dort aus kann ich den Haupteingang der Bank beobachtet. Sobald ich Kwanzi und Sundiata sehe, fahre ich vor die Bank und öffne die hinteren Türen.«
»Und dann?«
»Nerven behalten.«
»Megan?«
Megan holte tief Luft und gab sich Mühe, mit ruhiger Stimme zu antworten: »Ich warte in dem zweiten Wagen hinter der Drogerie. Den Motor lasse ich laufen. Ich warte, bis ich den ersten Wagen sehe. Wenn alle eingestiegen sind, fahre ich los Richtung Sunset, an der Bank vorbei.«
»Gut.«
Nach einer kurzen Pause fragte Olivia: »Was passiert in der Bank?«
Kwanzi antwortete schnell: »Keine Schießerei, nur wenn es nicht anders geht. Und wenn du schießt, dann nur in die Decke. Denkt daran, nichts macht den Schweinen mehr Beine als Schüsse.«
Alle nickten.
»Und ich will keine Toten!«
»Wir sollten besser unsere Waffen nicht entsichern«, sagte Duncan. »Auf diese Weise können wir vermeiden, Fehler zu machen. Wir müssen uns auf unser Hauptziel konzentrieren: das Geld nehmen und eine Erklärung zurücklassen. Wenn wir den Laden zusammenschießen, wird uns die kapitalistische Presse eine Horde von Bankräubern nennen.«
Die anderen nickten. Olivia sagte: »Unser Bruder hat recht. Denkt daran. Keiner darf nervös werden und die Waffe gebrauchen.«
»Und wenn die Wächter zu den Revolvern greifen?« fragte Emily.
»Das wird nicht passieren«, erwiderte Olivia.
»Wenn wir die Waffen zuerst zücken, werden sie alles stehen und liegen lassen.« Sie lachte. »Es ist ja auch nicht ihr Geld!«
Die anderen grinsten.
»Wir sind drin und wieder draußen, bevor die überhaupt kapieren, was los ist«, fuhr Olivia fort.
Sundiata meldete sich zu Wort: »Noch ’ne andere Sache.
Laßt die Schalter in Ruhe. Die haben zwar viel Geld, aber die Scheine sind markiert. Ihr dürft da nicht so gierig drauf sein. Wir wollen nur das Geld aus dem Transporter. Also, Brüder und Schwestern! Nerven behalten!«
Sundiata erhielt allgemeine Zustimmung.
»Könnten fast hundert Mille sein.«
Alle schwiegen beeindruckt. Nach einer Weile durchbrach Olivia die Stille.
»Noch Fragen?«
»Wer überwacht den Zeitplan?« fragte Duncan.
Olivia antwortete: »Das mache ich selbst. Ich stehe vor der Tür und beobachte die Straße. Vier Minuten fürs Rein- und Rausgehen. Wenn irgendeiner blöd genug ist, Alarm auszulösen, haben wir genau fünf Minuten. Bevor die erste Streife auftaucht, haben wir also noch sechzig Sekunden, um die Sache drinnen zu erledigen. Die Bullen werden zuerst in die Bank rennen und nicht an uns denken. Denkt daran: Wenn ich sage ›Abhauen!‹, dann hauen wir auch ab. Hat das jeder begriffen?«
»Die Schwester hat recht«, sagte Kwanzi. »Ich bin mit Sundiata in dem Schnapsladen nur geschnappt worden, weil wir nicht rechtzeitig abgehauen sind. Ha’m wir selbst versaut, Mann.«
»Wir sind eine Armee«, sagte Olivia. »Benehmt euch auch so.«
»Schon gut«, sagten die beiden Schwarzen gleichzeitig.
»Denkt daran«, sagte Olivia mahnend, »wir verlassen die Bank in derselben Reihenfolge, in der wir reingehen.«
Nervöses Lachen der anderen.
»Gut«, sagte Olivia und sah auf die Uhr. »Es ist bald soweit, in einer Stunde gehen wir.«
Die Gruppe wartete auf den Aufbruch. Kwanzi zog eine Flasche Scotch heraus, nahm einen langen Zug und reichte ihn Sundiata weiter. »Das beruhigt die Nerven«, sagte er.
Die beiden Schwarzen sahen sich an und lachten.
Verdammte Tunten, spielen hier die großen Machos, dachte Olivia. Im Knast das edelste Schwulenpärchen. Die glauben wahrscheinlich, ich wäre so blöd, ihnen zu trauen.
Sie benutzen uns nur mit all ihrem vorgetäuschten revolutionären Geschwätz und ihren schönen neuen afrikanischen Namen. Ich durchschaue sie. Sie haben keine Ahnung, mit wem sie es zu tun haben. Sie kennen mich nicht und werden sich noch die Finger verbrennen.
Megan traf Duncan in der Küche. Er saß an einem kleinen, wackeligen Tisch mit Linoleumbelag und starrte auf eine Pistole und einen Ladestreifen. Als sie hereinkam, sah er auf.
»Ich glaube nicht, daß ich so was brauche, Meg. Ich hab’
doch nur zu fahren und brauche beide Hände fürs Steuer.«
Er versuchte zu lächeln, was ihm jedoch nur schlecht gelang. »Weißt du, die ganze Woche über habe ich Angst gehabt, mich ins Bein zu schießen. Es ist ganz verrückt, wie sich alle Ängste in so einer konkreten Vorstellung konzentrieren. Ich sehe mich vor der Bank, neben dem Lieferwagen, die Waffe in der Hand, und alles klappt.
Dann geht das Ding los. Alles geschieht wie in Zeitlupe.
Ich sehe, wie die Kugel mein Bein trifft. Ich spüre keinen Schmerz, aber überall ist Blut, und ich kann den Wagen nicht mehr fahren. Sie müssen mich zurücklassen. Allein wenn ich darüber spreche, bricht mir der kalte Schweiß aus.«
Er schüttelte den Kopf. »Verrückt, was?«
»Ich weiß nicht, du hast dich im Schlaf dauernd gedreht und mit den Armen gerudert.«
»Kein vernünftiger Schlaf in letzter Zeit. Ich fühle mich ziemlich am Ende.«
Megan holte tief Luft und sah sich eilig um. Die anderen waren im Haus verstreut. Jeder wollte offenbar noch eine Weile mit sich allein sein. Jetzt ist die Gelegenheit, es ihm zu sagen, dachte sie.
»Duncan, bist du dir darüber im klaren, was wir da tun?«
Duncan wurde zornig, und Megan machte sich den Vorwurf, das Gespräch völlig falsch angefangen zu haben.
»Ich weiß, was du jetzt sagen willst«, fuhr sie schnell fort und bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Ich habe volles Verständnis für dein Engagement und für diese Aktion. Ich weiß doch auch, daß etwas geschehen muß. Aber wenn du uns so ansiehst, glaubst du, für uns ist das der richtige Weg?«
»Darüber will ich nicht schon wieder reden«, fuhr er sie an.
Verbohrter Kerl, dachte sie. Wenn er sich so benimmt, hasse ich ihn richtig. Nimmt an so einer Sache teil und denkt kein bißchen über die Folgen nach. Aber eins gibt es, darüber hat er sich noch nie Gedanken gemacht.
»Gut«, erwiderte sie, ohne ihren Zorn zu verbergen.
»Wir reden nicht mehr darüber. Reden wir über etwas ganz anderes. Ich glaube, ich bin schwanger.«
Mit einem Ausdruck von Freude und Überraschung sah er sie an und fragte: »Was sagst du da?«
»Du hast mich richtig verstanden.«
»Sag das bitte noch mal.«
»Ich glaube, daß ich schwanger bin.«
»Schwanger, ein Baby?«
»Mein Gott, Duncan.«
»Also, das ist ja, das ist …«
»Was?«
»Also, das ist ja phantastisch! Wir bekommen ein Baby. Da bringen wir schnell alles in Ordnung. Heiraten und so. Bist du dir denn sicher?«
»Nicht ganz. Aber alle Anzeichen sind da. Ich könnte zum Arzt gehen und es mir bestätigen lassen. Ich bin aber auch so ziemlich sicher.«
Sie sah ihn an und erkannte den typischen alten Duncan wieder. Halb vergnügter, ausgelassener Junge, halb vorausdenkender erwachsener Mann. Sein Gesicht strahlte vor Begeisterung, seit Monaten hatte sie ihn nicht mehr so erlebt. Beruhigt stellte sie fest, daß die gefährliche revolutionäre Aktion für ihn plötzlich an Bedeutung verlor. Duncan lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll«, sagte er grinsend. »Weißt du, jeder fragt sich doch, wie er in so einem Fall wohl reagiert. Das ist wirklich toll. Es ist wie auf eine fahrende Achterbahn zu springen. Mannomann! Wir müssen unseren Eltern Bescheid sagen, oder? Seit Monaten hast du keinen Kontakt mehr mit zu Hause. Die werden ja vielleicht überrascht sein …«
Megan sah ihn zärtlich an. Er war wieder der Duncan, den sie liebte, in seinem Gesicht eine Mischung aus Freude, Erstaunen und Verwirrung. Plötzlich sah er sie besorgt an. »Sag mal, Meg, ich habe gar nicht daran gedacht, was ist mit dir, willst du das Baby überhaupt?«
»Duncan, um Gottes willen!«
»Schon gut, tut mir leid. Ich wollte es nur genau wissen, weißt du.« Wieder grinste er froh. Alles andere schien er völlig vergessen zu haben.
»Das haut mich wirklich aus den Socken, Meg! So was Schönes und …« Er brach mitten im Satz ab und starrte auf die Waffe, die vor ihm lag. »O verdammt, jetzt kapier’ ich erst …«
Er sah Megan durchdringend an. »Machst du mir auch nichts vor, Meg?«
Sie fiel ihm ins Wort. »Duncan, du Vollidiot! Glaubst du, daß ich bei so was Wichtigem lügen könnte?«
Ihr plötzlicher Zorn gab ihm Gewißheit.
»Nein, nein, nein, ich denke nur an das, was du gesagt hast, und das, was wir mit der Gruppe vorhaben.«
Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Das ist vielleicht eine Scheiße, eine Riesenscheiße!«
Sein Blick ging zwischen ihr und der Waffe hin und her.
»Was sollen wir jetzt bloß tun?«
»Das ändert alles«, sagte sie eindringlich.
»Was ändert es? Ich meine, wir können doch jetzt nicht mehr zurück. Wie stehen wir da? Wir haben uns den anderen und der Sache gegenüber verpflichtet.«
Sie hätte tausend Sachen antworten können. Sie kam jedoch nicht dazu, weil sie hastige Schritte hörte.
Bill und Emily betraten die Küche.
Ché und Emma, dachte Megan, die großen Revolutionäre!
Was machen wir jetzt bloß?
Es blieb keine Zeit mehr zu überlegen.
Emily hielt eine halbautomatische Zwölf-Millimeter-Schrotflinte in der Hand, sie öffnete den Lauf und lud eine Patrone. Das Geräusch ließ Megan erstarren. »Es ist Zeit«, sagte Emily kalt und sachlich, »Zeit zu gehen.«
»Achtung, fertig, los!« sagte Bill. Er hatte sich ein Tuch um den Hals gebunden, das die Narbe verbarg. »Zeit zum Aufbruch. Gehen wir!«
Mit wachsender Verzweiflung beobachtete Megan, wie Duncan den Ladestreifen in die Pistole schob, aufstand und die Waffe in seinen Gürtel steckte.
Duncan war wie benommen, so als ob Hunderte von Armen ihn in verschiedene Richtungen zogen. Als wären sie von einer Flut ins offene Meer gerissen worden, folgten Duncan und Megan den beiden anderen durch die Tür.
Vor der Niederlassung von American Pesticide hielt ein alter gepanzerter Lieferwagen in der Nähe des Haupteingangs. Zwei Männer stiegen aus und gingen hinein. Der eine war untersetzt und um die Fünfzig; sein Gesicht war vor Anstrengung rot angelaufen. Sein Begleiter war eher drahtig und nur halb so alt. Er wirkte ein wenig nervös, aber energisch. Immer wieder nahm er seine blaßblaue Kopfbedeckung ab, die Imitation einer Polizeimütze, fuhr sich durchs Haar und setzte sie wieder auf. Schließlich faßte der ältere Mann seinen Begleiter am Arm und redete beruhigend auf ihn ein. »Hör mal, Bobby, immer mit der Ruhe. Ich will noch meine Pension genießen, aber wenn du weiter so rennst, schaffe ich das nicht, weil ich ’n Herzanfall kriege. Das kannst du dann dem Boß erklären!«
»Tut mir leid, Mr. Howard. Ich halte mich jetzt zurück.«
»Und, Bobby, nenn mich bitte Fred.«
»Gern, Mr. Howard.«
In gemäßigterem Tempo gingen sie weiter. Der Ältere fragte: »Das ist wohl dein erster Einsatz? Du bist ziemlich nervös.«
Der Jüngere nickte. »Klar, in den letzten Monaten bin ich jede Nacht in irgendwelchen Lagerhallen rumgelaufen. Bin erst seit April aus der Army. Das war nicht so ’n richtiger Job wie hier.«
»Stimmt. Warst du auch in Übersee?«
»Klar.«
»Was vom Krieg mitgekriegt?«
»Ja, etwas schon. Ein paar Dutzend Schießereien. Aber meistens hab’ ich’s so gemacht wie die anderen: im Dschungel unterkriechen, nicht viel sehen und versuchen, nicht verrückt zu werden und die eigene Haut zu retten.«
»Hast du schon was mitgekriegt. Wieso bist du denn jetzt so nervös?«
»Ich mußte noch nie Geld schleppen. Jedenfalls nicht das von anderen Leuten.«
Der Ältere lachte. »Gewöhn dich beizeiten dran, Junge, das paßt zu deiner Mütze.«
Der Jüngere zögerte. »Für mich ist das nur so ’ne Art Wartejob.«
»Hast du dich bei der Polizei beworben?«
»Ja, ich hab’ schon beide Prüfungen gemacht, bei der kommunalen und der Staatspolizei. Mein Onkel war auch Polizist. Is’ ’n guter Job.«
»Richtig für dich, Junge. Die meisten in deinem Alter haben nix für die Polizei übrig. Tragen die Haare lang und rauchen Dope. Polizei, is’ ’ne gute Sache. Menschen helfen. Was für die Gesellschaft tun und so, weißte. Ich war auch mal Polizist.«
»Wirklich? Hab’ ich nicht gewußt.«
»Hm. Militärpolizei in Korea, dann zwanzig Jahre Parkersville. Nur ich und noch drei Mann. Vor ein paar Jahren wurde ich entlassen und habe bei Pinkerton’s angefangen. In acht Monaten gehe ich das dritte Mal in Rente. Die Army, Parkersville und dann das hier.«
»Nicht schlecht, Mr. Howard. Und was machen Sie dann?«
»Kauf mir ’n kleinen Wohnwagen und gehe mit der Frau ’ne Weile nach Florida. Richtig angehn, weißte?«
»Klingt verdammt gut.«
»Kannste drauf wetten.«
Der Ältere zeigte auf ein Büro. »Hier rein. Hey, Junge, haste schon mal« - er sah auf einen Zettel - »einundzwanzigtausend-neunhundertdreiundzwanzig Eier und siebenunddreißig Cent auf einem Haufen gesehen?«
»No, Sir.«
»Na, dann fängt jetzt deine Ausbildung an. Fang aber bloß nich’ wieder an, nervös zu werden, das sind nur kleine Fische. Warte ab, bis es ’ne Million zu schleppen gibt.«
Er grinste den Jüngeren an und öffnete die Tür zur Buchhaltung. Die beiden traten ein.
Eine junge Sekretärin begrüßte den älteren Wachmann.
»Fred Howard, fünf Minuten später als sonst! Wie geht’s denn?«
»Gut, Martha. Und wer guckt ständig auf die Uhr?«
Sie lachte und sagte: »Wo ist denn Mr. Williams heute?«
»Der alte Dummkopf liegt mit ’m Hexenschuß im Bett.«
»Wollen Sie mir Ihren neuen Kollegen nicht vorstellen?«
»Klar doch, Martha, das ist Bobby Miller. Bobby, Martha Matthews.«
Die jungen Leute begrüßten sich mit Handschlag. Bobby brachte nur ein verlegenes Hallo heraus.
»Du solltest dieses hübsche Mädchen mal einladen«, sagte der Ältere.
Die beiden wurden rot. »Fred«, rief Martha, »Sie sind unverbesserlich!«
»Das verstehe ich nicht«, antwortete er lachend.
Die junge Frau wandte sich an Bobby: »Hören Sie besser nicht auf ihn. Er ist ein altes Fossil, den hätte man schon vor hundert Jahren auf die Weide schicken müssen.«
Der ältere Mann lachte entzückt über diese Frozzelei.
»Wird das Ihr richtiger Job?« fragte sie Bobby.
Er nickte. »Eine Zeitlang. Bis ich meine andere Bewer-bung durchhabe.«
»Schön!« sagte sie lächelnd, »wirklich gut. Ich bin immer hier. Dann sehen wir uns sicher auch beim nächsten Mal.«
Der ältere Wachmann stieß einen vielsagenden Pfiff aus.
Die Sekretärin sagte: »Okay, Fred, Sie wissen, wo das Geld ist. Quittieren Sie’s mir und verschwinden Sie, Sie alter Hecht, bevor die Bank geschlossen hat.«
Sie lächelte den älteren Mann an, während er seine Unterschrift auf irgendein Dokument kritzelte.
Als sie wieder im Lieferwagen saßen und zur Bank fuhren, bemerkte der Ältere: »Glaube, das Mädchen hat was übrig für dich. Oder haste schon ’ne Freundin?«
»No, Sir. Glauben Sie das wirklich?«
»Na klar!«
Der junge Mann freute sich. »Ich kann’s ja mal versuchen bei ihr.«
»Sie is’ ’n richtig nettes Mädchen. Ich kenne sie schon ungefähr ein Jahr. Hat als Schreibkraft und Buchhalterin angefangen und hat sich ziemlich schnell zur Sekretärin der Bilanzbuchhaltung hochgearbeitet. Sie hat ’n verdammt helles Köpfchen.«
»Das haben nich’ viele«, antwortete der Jüngere.
Beide lachten.
Nach längerem Schweigen fragte der Ältere: »Sag mal, als du draußen warst, ging’s da wirklich hart zu?«
»Paarmal, bei Schießereien. Wissen Sie, es war meistens dunkel, und ich habe auf alles geschossen. Keine Ahnung, ob ich jemand erwischt habe. War aber trotzdem die Hölle. Und wie war’s bei Ihnen?«
»Korea war hart. Ihr habt euch wenigstens nicht den Arsch abgefroren. Das schlimmste war für mich ’ne Verfolgungsjagd. Ich war hinter ’n paar Jungen her, die ’n Schnapsladen überfallen hatten. Die fuhren ’ne Corvette, weißte, un’ ich mein’ Streifenwagen. Auf ’ner Geraden hab’ ich sie eingeholt, aber immer wenn’s um ’ne Ecke ging, konnten sie runterschalten und abhauen. Ich dachte, mit hundertzwanzig kannste sie kriegen. War das ’n Glück, als die ins Schleudern kamen! Mit ’n paar von der State Police haben wir’s dann mit denen ausgeschossen.
Überall flogen Kugeln rum, aber ich hatte wenigstens Boden unter den Füßen, wenn du mich verstehst.«
Der jüngere Mann nickte, und beide lachten.
»Dabei kannst du schnell alt werden«, sagte der Ältere grinsend.
Vor der Bank hielt das Fahrzeug an.
»Okay, gehen wir, ich nehme die Flinte …«
»Ach, Mr. Howard, wenn es Ihnen recht ist, möchte ich sie nehmen.«
»Wieso? Irgendwas nicht in Ordnung?«
»Wissen Sie, ich hab’ noch nie soviel Geld geschleppt, und das macht mich nervös. Ich möchte wenigstens die Knarre tragen.«
Der ältere Mann lachte. »Nur ’ne kleine Summe. Aber das nächste Mal, mein Junge, schleppst du die Säcke, nicht ich.«
Der Jüngere nickte zustimmend, grinste und lud das Gewehr durch. Dann löste er den Riemen über seinem Revolver.
»Mach’ mir sonst nicht viel aus den Vorschriften«, sagte der Ältere, »wir brauchen nur die Säcke auf die Karre laden, durch die Tür gehn, in den Tresorraum rein, das Papier abzeichnen, und wieder weg.«
»Beim Training haben die sich wie wild auf die Vorschriften gestürzt. Wir wurden richtig getrimmt.«
»Hör mal, mein Junge, nur weil du’s bist, heute machen wir mal alles genau so, wie’s in den Büchern steht. Wirst schon sehen, das ist reine Routinesache. Keine große Angelegenheit. Also, der Kollege da drinnen ist Ted Andrews. War früher Polizist in Frisco, hat vor ’n paar Jahren einen Schuß ins Bein bekommen. Weiß nich’, was du von Schwarzen hältst, aber er is’ ’n prima Kerl, mußt nett zu ihm sein.«
»Ja, Sir.«
»Kannst dir mal von ihm ’n paar Geschichten erzählen lassen. Kannst ’ne Masse über Polizei lernen. Wie’s da so zugeht.«
»Ja, Sir.«
Der Ältere löste den Riemen seiner Pistole.
»So, alles nach Vorschrift.« Er grinste. Dann warf er einen Blick durch die Windschutzscheibe vorne auf die Straße. Dann sah er in den Rückspiegel nach hinten.
»Linke Seite klar!«
»Rechte Seite klar!«
»Ich geh’ raus, gib mir Deckung!«
»Okay.«
Der ältere Mann stieg aus und ging zur Beifahrerseite.
»Alles klar, ich übernehme die Deckung.«
»Ich komme.«
Der Jüngere stieg mit entsicherter Waffe aus.
»Ich gehe nach hinten«, sagte der Ältere.
»Geb’ dir Deckung, der Kollege kommt gerade raus.«
»Tür ist geöffnet. Ich habe das Geld. Geld ist auf dem Karren.«
»Decke Sie, Sir, ’s kann losgehen.«
»Okay, mein Junge, bin schon dabei.«
Der ältere Mann hielt eine Hand am Revolver, mit der anderen schob er den Handkarren, auf dem drei Geldsäcke lagen, durch die erste Eingangstür. Als er dem Bankwächter drinnen zuwinkte, bemerkte er einen Schwarzen, der sich von hinten auf den Kollegen zubewegte. Er überlegte nicht lange, sondern schrie: »Aufpassen, ’s gibt Stunk!«
Der Jüngere drehte sich hastig um und sah einen anderen Schwarzen, der um die Ecke bog und nur wenige Meter vor ihm stehenblieb. Er stutzte und griff nach etwas.
»Träume ich?« fragte sich der junge Wachmann, schrie aber laut: »Halt, stehenbleiben!«
Der Schwarze hörte nicht auf ihn, zog eine Schrotflinte unter seinem Regenmantel hervor und legte auf ihn an.
Damit haben wir wirklich nicht gerechnet, dachte er, und als er den Schuß hörte, rief er laut: »Sie schießen!«, schoß zurück und ging hinter dem Lieferwagen in Deckung. Er war jedoch nicht schnell genug und wurde von Kwanzi in die Hüfte getroffen. »Hilfe, Mr. Howard! Helfen Sie mir! Ich bin verletzt! Einen Arzt, einen Arzt! Schnell!«
Der Ältere drehte sich nicht um, sondern versuchte, den Karren weiter vorwärts durch die Tür zu schieben. Als er die Pistole in der Hand des Schwarzen sah, zog auch er seine Waffe. Er zog einmal durch, bevor er das Geräusch von Schüssen hörte. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, daß ihn eine Faust an der Brust traf. Er fiel rückwärts in die Splitter der zerschossenen Türscheibe. Ihm war vage bewußt, daß ihm etwas Schreckliches passiert war, und er fragte sich, warum er solche Mühe hatte zu atmen. Er begriff nicht, was das Blut zu bedeuten hatte, das ihm aus dem Hemd rann.
In der Bank richtete Sundiata seine Waffe auf die Kassierer und suchte nach dem Wächter. Im Innenraum war die helle Panik ausgebrochen.
An einem der Schalter stand Emily und zog ihre Waffe unter dem Mantel hervor. In der Aufregung hätte sie sie beinahe fallen lassen. Jetzt schrie sie: »Halt! Keine Bewegung!« und suchte ebenfalls nach dem Bankwächter.
Bill, der seine Waffe auf einen Bankangestellten hielt, schrie: »Halt, keiner bewegt sich!«
Die Leute sprangen in alle Richtungen davon, verbargen sich hinter Schreibtischen, Stühlen, Schaltern und allem, was Deckung bot. Einige krochen auf allen vieren in die Ecken. Überall hörte man laute Entsetzensschreie.
Der Bankwächter hatte sich bereits nach dem ersten Schuß hinter einem der Schalter versteckt. Er atmete tief durch, kroch mit entsichertem Revolver aus seinem Versteck hervor und hielt die Waffe mit beiden Händen fest im Anschlag. Aus einer Entfernung von weniger als drei Metern schoß er schnell viermal hintereinander auf Sundiata, der sich wie ein Kreisel drehte und zusammenbrach.
Das laute Schreien der Menschen in der Bank vermischte sich mit dem jaulenden Geräusch der Alarmsirene, das der Phönix-Brigade mit einem Schlag die Geistesgegenwart raubte und Olivias Plan zunichte machte.
Mit aufgerissenem Mund starrte Emily auf Sundiatas Leiche zu ihren Füßen, erst dann erinnerte sie sich, daß sie sich um den Bankwächter zu kümmern hatte. Sie begann auf ihn zu feuern. Die Scheiben des Bankschalters zersplitterten, den Mann traf sie nicht. Der Wächter verschoß seine beiden letzten Kugeln, um Emily unschädlich zu machen. Dann duckte er sich wieder hinter den Schalter und versuchte aufgeregt, die Waffe neu zu laden.
Dazu mußte er die Patronen einzeln aus ihrer Halterung in seinem Gürtel holen. Er war immer der Ansicht gewesen, daß er sie nur zur Dekoration trug. Er blickte plötzlich auf, als er Schritte hörte, die sich ihm näherten. Dann sah er eine hochgewachsene Frau, die mit einer 45er auf ihn zielte. Sie war totenblaß im Gesicht.
»Du Schwein!« brüllte sie und drückte ab. Das Geschoß pfiff an seinem Ohr vorbei und traf den Schaltertisch.
Holzsplitter sprangen ihm ins Gesicht. Wie durch einen Stoß wurde er nach hinten geworfen.
Olivia fluchte laut, zielte und zog wieder den Abzug durch. Die Waffe hatte Ladehemmung. Verzweifelt hantierte sie am Abzug.
Der Wächter drückte die Patronen in die Trommel seines Revolvers, schloß den Zylinder und richtete die Waffe auf die wehrlose Olivia. Er zielte sorgfältig, überrascht, noch am Leben zu sein. Er nutzte die unerwartete Chance zurückzuschlagen.
Aber er übersah Emily, die, ohne zu zielen, einen zweiten Schuß abgab, der den Wächter am Kopf traf und zur Seite schleuderte. Sein Körper rutschte über eine Tisch-platte - er war tot.
Olivia warf ihre Pistole weg und ergriff den Revolver des Toten. Sie sah zu Emily hinüber und dachte: So haben wir uns das wirklich nicht vorgestellt.
Schräg gegenüber der Bank wartete Duncan, vor Angst wie erstarrt. Er hatte Kwanzi wie geplant um die Ecke der Bank kommen sehen und pflichtbewußt wie abgesprochen den Lieferwagen in Gang gesetzt. Er war eben erst ein kurzes Stück gefahren, als der erste Schuß durch den ruhigen, heißen Nachmittag hallte. Als er sah, wie der junge Wächter seine Waffe abfeuerte und in Deckung ging, trat er auf die Bremse. Er konnte nicht in die Bank hineinsehen, weil sich die schrägstehende Nachmittags-sonne in den Scheiben brach. Er drehte sich um und sah, wie Kwanzi durch den Schuß gegen die Gebäudewand geworfen wurde und langsam blutüberströmt nach unten glitt.
Duncan wollte irgend etwas rufen, aber ihm versagte die Stimme. Dann sah er, wie ein Bankfenster durch einen Schuß zertrümmert wurde. Er hörte, daß in der Bank mehrmals geschossen wurde. Er war dem Zusammenbruch nahe. Ohne zu überlegen, griff er nach der Waffe in seinem Gürtel, öffnete die Fahrertür, um aus dem Wagen zu springen. Plötzlich begannen in der Bank die Alarmsirenen zu heulen. Duncan erstarrte. Jetzt hörte er auch in der Ferne Sirenen, zuerst eine, dann mehrere. Sie kamen näher und wurden immer lauter.
»O Gott, die Bullen! Die Bullen kommen!« rief er.
Er sah Olivia und die anderen vor seinen Augen, wie sie erschossen im Schalterraum der Bank lagen. Er dachte an Megan, die ein paar Straßen weiter wartete. Sie ist allein, ganz allein, dachte er. Einen Moment lang wußte er nicht, ob er ein- oder aussteigen sollte, seine Waffe hatte er noch in der rechten Hand auf dem Lenkrad liegen. Er war unfähig, irgend etwas zu tun.
Olivia schrie: »Lauft, lauft! Es ist alles vorbei!«
Sie hörte die Polizeisirenen näher kommen und rannte los. Emily stand bewegungslos vor der Leiche des Bankwächters. Olivia ergriff ihren Arm. »Wir hauen ab, mach schnell!«
»Wo ist Bill?« fragte Emily.
Olivia hatte keine Ahnung. »Er kommt, los, lauf schon!«
»Was ist passiert?« fragte Emily. »Ich kapier’ nichts mehr!«
»Da ist nichts zu kapieren! Es ist vorbei«, sagte Olivia.
Sie zog Emily Richtung Ausgang hinter sich her. Beide hörten, wie sich die Streifenwagen näherten. Sie liefen durch die inneren Türen des Eingangs, wo Emily die Leiche des älteren Wachmanns liegen sah. Abrupt blieb sie stehen.
»O mein Gott«, rief sie.
»Komm weiter, komm weiter!« schrie Olivia und packte Emily erneut am Arm.
»Wir müssen hier raus. Komm, los, komm doch!«
Sie schob Emily an der Leiche vorbei auf die Straße. Auf dem Bürgersteig rutschte Emily aus. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie Kwanzi tot daliegen. »O nein, er auch!« jammerte sie.
»Hör auf, sieh nicht hin und bring dich in Sicherheit!« forderte Olivia sie auf.
Wir fangen neu an, wenn wir es schaffen, hier wegzukommen, dachte sie und zerrte Emily hinter sich her.
»Alles wird gut«, rief sie. »Wir schaffen es.«
Sie sah Duncan, der vor dem Fluchtauto stand. Er schien zu zögern. Dann trafen sich ihre Blicke.
Wo bleibst du, warum kommst du nicht her? fragte sich Olivia. Los, komm her, hier sollst du warten! Duncan, los, komm her und rette uns!
Sie winkte ihm zu, doch Emily stolperte erneut, und sie mußte sie wieder auf die Füße bringen.
Wieder sah sie zu Duncan und fuchtelte mit dem Arm in der Luft. »Hierher!« schrie sie. »Du feiger Lump, du gemeiner Verräter!«
Sie zog Emily weiter. »Wir müssen laufen, los, wir schaffen es schon, wir kommen hier raus. Es ist nicht mehr weit!« Die beiden Frauen liefen auf Duncan zu. In diesem Moment kam der erste Streifenwagen mit quietschenden Reifen um die Ecke gefahren und hielt mit jaulenden Bremsen ungefähr sechs Meter hinter ihnen. Olivia hob die Waffe des toten Bankwächters und feuerte auf einen Polizisten, der aus dem Wagen heraussprang. Der weitere Weg zu Duncan wurde ihr durch den nächsten Streifenwagen abgeschnitten. Jetzt hielten ein dritter und vierter Wagen. Sie wandte sich wieder zur Bank, immer noch Emily neben sich.
»Komm!« rief sie ihrer Geliebten zu. »Wenn wir wieder reinkommen, können wir Geiseln nehmen.«
Bis zu diesem Augenblick hatte sie den angeschossenen jungen Wächter nicht bemerkt. Er war um den Kühler seines Fahrzeugs herumgekrochen, hinter sich eine dünne Blutspur. Olivia feuerte auf sein Gesicht. Er hatte sich jedoch rechtzeitig geduckt, und das Geschoß erwischte nur einen der Scheinwerfer. Schnell richtete er die Waffe auf Olivia. »Nein!« schrie sie.
Emily hob ihr Gewehr.
»Nein!« schrie Olivia wieder.
Der junge Wächter schoß.
»Nein!« schrie Olivia ein drittes Mal.
Die Kugel riß Emily, die dicht bei ihr stand, zur Seite.
Olivia weinte laut auf, versuchte, die Freundin festzuhalten. Emily stürzte jedoch mit einem Röcheln zu Boden.
Ihre Brust war nur noch eine blutige Masse aus gebrochenen Knochen und zerfetztem Fleisch. Sie sah Olivia seltsam fragend an, als ob sie vertrauensvoll auf eine Antwort wartete. Dann brachen ihre Augen.
Olivia fiel neben Emily auf die Knie, schrie laut: »Nein, nein, nein!«, ließ ihre Waffe fallen und bettete den Kopf der Freundin in ihren Arm. Sie warf den Kopf vor und zurück und weinte verzweifelt.
Plötzlich überkam sie große Wut. Töte, töte sie alle, sagte sie zu sich selbst. Sie langte nach ihrer Waffe. Da hörte sie eine Stimme hinter sich: »Lassen Sie das!«
Als sie sich umwandte, blickte sie in den schwarzen Lauf eines Polizeirevolvers.
Mit einem kehligen Aufschrei wandte sie sich wieder Emily zu. Dann drehte sie sich um und suchte mit den Augen Duncan. Sie konnte jedoch nichts erkennen, weil sie von einem dichten Ring Polizeibeamter umgeben war.
Verzweifelt schloß sie die Augen und ergab sich ihrem Schicksal. Zugleich empfand sie unbändigen Haß.
Duncan hatte das Geschehen beobachtet. Er war ausgestiegen und hatte seine Waffen unter dem Hemd verborgen. Am liebsten wäre er davongelaufen. Keiner hat dich gesehen, hau ab, sagte ihm eine innere Stimme. Hau ab, verdammt noch mal! Los!
Langsam ging er die Straße hinunter. Am Ende des Häuserblocks sah er sich noch einmal um und ging dann ohne Eile weiter. Nachdem er um die Ecke gebogen war, begann er zu rennen. Sein Atem ging schwer. Er hatte Angst. Sein Puls raste. Während er lief, erwartete er, jeden Moment die Polizeisirene des Verfolgungsautos zu hören.
Auch Bill Lewis hatte vom Schalterraum aus das Geschehen beobachtet. Er hatte gesehen, wie Olivia Emily ergriffen und mit sich weggezerrt hatte. Das Geld haben wir nicht, dachte er. Wir haben gar nichts. Die Leute um ihn herum waren auseinandergelaufen, einige liefen mit über dem Kopf erhobenen Händen, andere nahmen schützend den Kopf in die Arme, so als könnten sie ihn dadurch vor einer Kugel schützen. Was ist nur passiert?
fragte sich Bill fast träge. Alles ist schiefgegangen.
Nachdem er ein paar Schritte auf die Eingangstür zugegangen war, sah er, wie der erste Streifenwagen auf der Straßenmitte bremste, schlingerte und dann stehenblieb.
Nein, dachte er. Das darf nicht sein.
Er zog sich zurück, um dem Gewehrfeuer zu entkommen.
Ich muß hier raus. Raus, raus!
Bill packte eine Kassiererin am Arm und hielt ihr die Pistole unter das Kinn. Bei all der Schießerei hatte er selbst seine Waffe nicht abgefeuert. Wie seltsam, dachte er, das ändert gar nichts.
»Gib mir das Geld!« schrie er, überrascht, seine eigene Stimme zu hören und zu spüren, daß er, statt wie betäubt dazustehen, handelte. Der durch den Schock hervorgerufene Adrenalinstoß bestimmte sein Tun. Er ließ die Kassiererin los, sie gehorchte, und er schaufelte bündelweise Geld in sein Hemd.
»Wo geht’s hier raus?« schrie er. »Die Hintertür! Bring mich raus!«
Sie zeigte ihm die Richtung, und er zog sie mit sich. Sie kamen vor eine schwere, verriegelte Tür mit der Aufschrift »Notausgang«. Er schob kräftig den Riegel zurück, stieß sie auf und löste damit einen neuen Alarm aus. Er stieß die Frau heftig zur Seite und rannte in eine kleine Gasse. In der Ferne hörte er Schüsse. Sein einziger Gedanke war, sich so weit wie möglich von der Schießerei zu entfernen.
Die anderen sind alle tot, dachte er plötzlich entsetzt. Er blieb stehen. Seine Kehle schnürte sich zu. Er hatte Mühe zu atmen, ihm wurde schwindelig.
Du hast die Möglichkeit, aus diesem Hexenkessel zu entkommen, sagte er sich mit letzter Kraft. Lauf, los, lauf!
Als Megan die Alarmsirenen hörte, begann sie zu weinen. Kurz zuvor hatte sie entfernt Schüsse gehört. Eine Zeitlang saß sie da wie gelähmt. Sie wußte nicht, was sie tun sollte. Als die Schüsse und die Sirenen nicht aufhörten, war sie der Verzweiflung nahe.
Ich wußte es, ich wußte es! dachte sie. Alles ist vorbei, bevor es angefangen hat. Warum habe ich ihn nicht daran gehindert? Warum habe ich es ihm erlaubt?
Sie weinte hemmungslos. Er ist tot, ich weiß es, er ist tot!
Sie schlug die Arme um sich, so gut sie konnte, und schaukelte auf dem Fahrersitz des Wagens vor und zurück.
Ich will nach Hause, dachte sie. O mein kleines Baby, es tut mir so leid! Ich hab’ zugelassen, daß sie dir deinen Vater nehmen, ehe du überhaupt auf der Welt warst! Mein Gott, ich habe alles falsch gemacht.
Weil ihr entsetzlich übel war, öffnete sie die Tür und taumelte aus dem Wagen. Sie lehnte sich gegen eine Hauswand und versuchte, sich wieder in die Gewalt zu bekommen. Tut mir so leid, kleines Baby. Ich habe einen Riesenfehler gemacht, jetzt aber werde ich dich hier herausbringen. Du sollst nicht in einer Gefängniszelle zur Welt kommen. Du wirst zu Hause sein und es gut haben.
Das verspreche ich dir. Hörst du?
Sie trug wie alle anderen dünne Gummihandschuhe, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Sie streifte die Handschuhe ab und warf sie in einen Abfallkorb, der in der Nähe stand. Danach fühlte sie sich erleichtert.
Sie ging zum Lieferwagen zurück und überlegte, ob es eine erkennbare Verbindung zwischen dem Auto und der Phönix-Brigade gab. Er war gemietet worden, nicht gestohlen wie der andere. Olivia hatte gemeint, daß der eine Wagen ruhig heiß sein konnte, weil sie ihn sowieso zurückließen. Das zweite Fahrzeug war korrekt gemietet und mit den notwendigen Papieren versehen. Erst in drei Tagen mußte es die Firma in Sacramento zurückerhalten.
Damit können wir hier wegkommen, dachte Megan. Sie zwang sich, wieder in das Fahrzeug einzusteigen. Sie dachte an die anderen, die alle tot waren.
Sie ließ den Motor an und wischte sich mit dem Ärmel ihres Pullovers die Tränen weg. Sie schaltete den ersten Gang ein und fuhr langsam an. An der Kreuzung hielt sie, sah sich nach beiden Seiten um und bog nach rechts in den fließenden Verkehr ein. Aus der Ferne hörte sie noch Sirenengeheul, aber die Situation auf der Straße erschien ihr normal. Ich bin hier so gut wie unsichtbar, dachte sie.
Ich könnte genausogut eine alte Dame sein wie die dort nebenan in dem Sedan. Oder der Mann in dem Cadillac vor mir. In einem fluoreszierend angemalten VW-Bus fuhr eine Gruppe langhaariger Teenager vorbei. Ich könnte sein wie sie, sie könnten sein wie ich. Ihr war, als hätte sich eine Art Schutzschild um sie gebildet, hinter dem sie sich sicher fühlte.
»Wir schaffen das«, sagte sie laut.
Vor einer roten Ampel hielt sie. Als sie zur Seite blickte, sah sie Duncan halb laufend, halb gehend zwischen zwei Häusern auftauchen.
»Duncan!« flüsterte sie. Ohne an die Gefahr zu denken, stieg sie aus und winkte ihm zu. Da war er, der Mann, den sie liebte, der Vater ihres Kindes. Sie vergaß vollkommen, daß er vielleicht verfolgt wurde. Als die Ampel auf Grün schaltete, sprang sie wieder hinter das Lenkrad. Sie überquerte die Kreuzung, fuhr in eine Bushaltespur.
Duncan schöpfte Hoffnung, als er Megan sah. Er lief auf den Wagen zu und sprang auf den Beifahrersitz.
»Wo sind sie, wo sind die anderen?« fragte Megan.
»Fahr los, bitte, schnell! Sie sind wahrscheinlich tot. Oder die Bullen haben sie geschnappt. Fahr los!«
Megan fädelte sich in den Verkehr ein und war bald auf der Ausfallstraße.
»Was ist passiert?« fragte sie, als sie einen vierspurigen Highway erreicht hatten. Sie achtete nicht auf den Weg, es war ihr gleichgültig, wohin sie fuhren.
»Alles ist schiefgegangen, von Anfang an. Sie sagte, die Wachmänner würden die Waffen gleich weglegen und gar nicht mehr beachten. Dabei haben sie sofort geschossen, und dann gingen auch gleich die Sirenen los. Es war die Hölle. Alles ging so schnell, daß ich nicht wußte, was ich tun sollte.« Er zog sein Hemd hoch und zeigte auf die Pistole. »Ich hätte ihnen helfen können, ich hätte es gekonnt.«
Megan beruhigte ihn. »Es war schon gut so. Du hättest gar nichts ausgerichtet. Wir hätten das wissen können, wir hätten das wirklich vorher wissen können.«
Sie brauchte ihn nicht weiter zu ermahnen oder an das Leben in ihrem Bauch zu erinnern. Er wußte vermutlich genau, was sie empfand, obwohl er es noch nicht in Worte fassen konnte. Er lehnte sich im Sitz zurück und schloß die Augen. »Wahrscheinlich werden sie uns sofort verhaften. Du wehrst dich am besten erst gar nicht. Tu alles, was sie sagen. Wir werden uns einfach und ganz selbstverständlich ergeben. Ich werde aussagen, daß du mit der Sache nichts zu tun hast. Dein Vater wird dir einen guten Anwalt besorgen. Du wirst es gut haben mit dem Baby. Ich möchte nicht, daß man dir etwas antut …« Er lachte bitter. »Ich möchte auch nicht gerne sterben.«
Nach einer Weile fuhr er fort: »Ich hätte sie retten können. Ich habe nicht getan, was ich hätte tun können. Ich habe sie einfach im Stich gelassen. Ich war ein Feigling.«
Megan erwiderte ärgerlich: »Sie waren von Anfang an verloren. Wir sind auf eine Verrückte hereingefallen. Diese Hexe von Tanya hat uns verführt. Du hast das Richtige für mich und das Baby getan. Du bist abgehauen, das war gut.«
»Habe ich das wirklich? Ich glaube, ich habe für keinen das Richtige getan.«
Verzweifelt lehnte er sich wieder zurück und schloß die Augen. Nach einer Weile sah er auf die Straße und fragte:
»Wohin fahren wir?«
»Nach Hause«, antwortete Megan.
Sie sah ihn beruhigt nicken.
Ihre Antwort verlieh ihr Kräfte, die sie bei sich nie vermutet hatte. Sie sagte zu dem Baby in ihrem Leib: »Sei ruhig, mein Liebling, es wird alles gut werden, wir fahren nach Hause.«
Schweigend fuhren sie Richtung Osten, in den dämmernden Abend.