KAPITEL 6
Mittwoch nachmittag - Mittwoch abend
Duncan blieb nach Olivias Abgang wie mit seinem Schreibtisch verwurzelt.
Er wußte nicht, wie lange er in dieser Stellung verharrte; fünf Minuten, fünfzehn, vielleicht eine halbe Stunde. Die Zeit schien mit einemmal geschmeidig, dehnbar, gefügig.
Ihm war, als ob ein subtropisches Fieber ihn überkommen hätte; sein Gesicht war gerötet, er konnte den Schweiß auf der Stirn fühlen, er sah hinab auf seine zittrigen Hände.
Stiehl es!
Ein Telefonsummen auf dem Schreibtisch riß ihn aus seiner Träumerei. Er starrte es begriffsunfähig an, als es ihn in die Realität zurückrief. Er wollte dann den Arm ausstrecken, um den Hörer abzunehmen, hielt aber an und ließ es wie eine wütende Hornisse summen. Als es nicht aufhörte, legte er schließlich die Hand auf den Hörer und hob ihn langsam auf. »Ja?« sagte er ausdruckslos.
»Duncan.«
»Ja?« erwiderte er noch einmal, als ob er aus einem Traum aufwachte. »Megan? Was ist?«
»Duncan, er war hier!«
»Megan, was gibt’s, wer war da?«
Er zuckte kerzengerade hoch am Schreibtisch, sprang auf, beunruhigt von der Angst in der Stimme seiner Frau.
»Bill Lewis! Ich dachte, er wäre tot! Er hilft ihr, Duncan. Er hat auch Tommy.«
»Bill Lewis?« Duncan kam sich vor, als rissen die letzten Stricke, die ihn noch zusammengehalten hatten, einer nach dem anderen.
»Er sagte, er würde Tommy umbringen. Er sagte, er würde die Mädchen umbringen, er würde dich umbringen, wenn du nicht tätest, was Olivia dir sagt. Er ist bei ihr. Ich habe es nicht glauben können. Er sah noch genauso aus, nur anders. Es war, als ob -«
»Bill Lewis? Aber ich dachte, er wäre verschwunden?«
»Er ist hier. Er war fürchterlich. Er war gar nicht mehr so, wie er früher war …«
»Er ist bei Olivia?«
»Ja. Ja. Sie stecken beide drin.«
»Mein Gott! Wer sonst noch?«
»Ich weiß nicht«, seufzte sie.
»Bill Lewis ist ein Wilder.« Duncan sah Lewis vor sich, als er in Lodi am Küchentisch saß und einen leergeräumten 45er Revolver auf ihn richtete und auf den Abzug drückte. Er erinnerte sich an das hallende Klicken des Schlagbolzens und Lewis’ spöttisches Lachen, als er aufsprang und ihn wütend anbrüllte.
»Bill war ein Psychopath und ein Feigling«, sagte Duncan, ohne an die Wirkung seiner Worte zu denken. »Er würde jeden erschießen, solange der ihm den Rücken zukehrt.«
»Nein, nein, nein, würde er nicht, Duncan. Er war damals durcheinander wie wir alle, aber so schlimm war er auch nicht …«
»Du sagtest, er wäre schrecklich …«
»Das war er, das war er, Gott, Duncan, es tut mir leid, ich bin so durcheinander.«
»Was hat er gesagt?«
»Er hat ein Bild von Tommy zerbrochen. Er sagte, er würde ihn töten.«
»Nicht, wenn Olivia da ist. Wir brauchen uns darüber keine Sorgen zu machen. Sie hat ihn immer unterm Daumen gehabt. Er hat immer genau getan, was sie sagte.«
»Duncan, ich dachte nicht, daß ich noch mehr Angst kriegen könnte, aber jetzt weiß ich überhaupt nicht mehr, was ich denken soll.«
»Megan, reiß dich zusammen. Wo sind die Mädchen?«
»Sie sind los. Milch holen.«
»Was sind sie?«
»Sie mußten mal raus, und ich dachte nicht - es war, bevor er kam und -«
Duncan holte tief Luft und meisterte sein rasendes Herz.
»Es ist okay. Wenn sie zurückkommen, behalte sie im Haus, bis ich nach Hause komme. Öffne niemandem die Tür, außer wenn du sie persönlich kennst …«
Er machte eine Pause und dachte daran, was das für eine alberne Ermahnung war: Das war das Blöde, sie kannten ihre Folterer persönlich.
»Kommst du jetzt?« fragte Megan.
»Bald. Ich muß etwas tun …«
»Was?«
Duncan hob den Umschlag auf, den Olivia ihm auf dem Schreibtisch zurückgelassen hatte.
»Sie hat mir eine Art Nachricht hinterlassen. Ich muß sie entziffern. Das hat sie gesagt. Ich weiß nicht, was es ist oder wie lange es dauern wird.«
»Hat sie dir gesagt, wieviel wir bezahlen müssen, um die Tommys zurückzubekommen?«
»So ungefähr.« Er zögerte und hörte die schreckliche Angst in der Stimme seiner Frau. »Ich erklär’s, wenn ich nach Haus komme. Sammle einfach die Mädchen ein und reiß dich etwas am Riemen. Ich bin in Kürze zu Haus.«
»Bitte, beeil dich.«
»Ich beeile mich.«
Er legte das Telefon weg und hob den Umschlag auf. Sie ist am Rande der Hysterie, dachte er. Er wußte nicht, was er tun würde, wenn seine Frau mit dem Druck nicht mehr fertig wurde.
Er schüttelte den Kopf und fragte stumm sich selbst, was er tun würde, wenn er den Druck nicht mehr aushielt. Er holte tief Luft.
»All right, Olivia«, sagte er laut. »Ich spiele dein verdammtes Spiel mit.« Es war leichter, tapfer zu agieren, wenn sie ihm nicht ins Gesicht starrte, sah er reuevoll ein.
Nachdem sie weg ist, fallen mir immer die besten Antworten ein, dachte er.
Er öffnete den Briefumschlag und ließ dessen Inhalt auf den Schreibtisch fallen. Zuerst fiel ihm ein Foto auf. Es war von den beiden Tommys. Er sah in die erschrockenen Augen seines Sohnes, und es war, als hätte ihn jemand mit einem Eispickel erstochen. Es stammte aus einer Sofortbildkamera. Der Richter hielt die Morgenzeitung hoch. Es war gestellt, so wie andere solcher Fotos, an die er sich aus den Abendnachrichten erinnerte. Er versuchte zu entziffern, soweit er das vermochte, an was für einem Ort man sie gefangenhielt. Es schien eine Dachkammer irgendwo zu sein. Er konnte gerade noch die braunen Leisten ausmachen, die schräg aufwärts in den Dachfirst reichten.
Die beiden scheinen da wenigstens sauber und trocken zu sitzen, dachte er.
Er sah die Decken, sie beruhigten ihn. Er forschte im Gesicht des Richters nach Anzeichen von Streß und war erleichtert, nur Unbehagen und Ekel darin zu erkennen. Er erlaubte sich einen revolutionären Gedanken: Du alter, anmaßender, strenger Son-of-a-bitch, mach ihnen die Hölle heiß! Er war hin und her gerissen zwischen dem Wunsch, der Richter möge sie mit Worten zerfetzen, und dem Bewußtsein, wie gefährlich es sein würde, vor allem, wenn man bedachte, wie instabil Lewis’ Persönlichkeit war und wie gefährlich. Bill Lewis lachte in den falschen Augenblicken, erinnerte er sich, und weinte manchmal über die albernsten, rührseligsten Sachen, zum Beispiel über unglückliche Spielfilm-Enden. Er hatte eine Psyche, die wie ein Gezeitenpool hin-und herschwappte.
Duncan strich sich über die Stirnfalten, als ob er fühlen wollte, wie sie sich dort konzentrierten. Er versuchte, wieder Tommy anzusehen und erlaubte sich nur die Feststellung, daß sein Sohn gesund, aber ängstlich wirkte.
Er zwang sich, aus dieser Beobachtung Beruhigung zu schöpfen. Er wollte nicht die Trauer und Verwirrung des kleinen Jungen ausloten, die er in dem Gesicht sich abzeichnen sah. Aber es fiel ihm schwer, und er holte tief Luft und sagte sich, als könnte er seine Gefühle durch die Luft wellen zu dem Raum hin senden, wo sein Sohn gefangensaß: Ich versuche es, Tommy, ich versuche es.
Ich will mein Bestes versuchen. Ich hole euch da wieder heraus.
Er legte das Foto hin und fragte sich, ob er es seiner Frau zeigen sollte oder nicht. Dann hob er den einzigen anderen Gegenstand auf, der aus dem Umschlag herausgeflattert war. Es war ein undatierter Zeitungsausschnitt von einer Todesanzeigenseite einer unbekannten Zeitung. Er las die Anzeige zweimal, mit wachsender Bestürzung, durch:
MILLER, ROBERT EDGAR, 39, zu Hause am 4. September 1986. Geliebter Mann von Martha, geborene Matthews, und liebender Vater zweier Söhne, Frederic und Howard. Er hinterläßt seine Eltern, Mr. und Mrs. E. A. Miller aus Lodi, sein Onkel, Mr. R. L. Miller aus Sacramento, ein Bruder, Wallace Miller aus Chicago, zwei Schwestern, Mrs. Martin Smith aus Los Angeles und Mrs. Wayne Schultz aus San Francisco, und ungezählte Neffen und Nichten. Memorial Service wird gehalten in Our Mother of the Sacred Redemption Church um 1 Uhr mittags, Freitag, den 8. September. Der Verstorbene wird mittags in der Kirche aufgebahrt liegen. Die Familienangehörigen bitten, an Stelle von Blumen einen Beitrag an die Vietnam-Veteranen vom Orange County Outreach Center zu zahlen. Beerdigung ausgerichtet vom Johnson Funeral House, 1120 Baker Street, Lodi.
Duncan wußte nicht, wer Robert Miller war und welche mögliche Verbindung es zwischen ihm, Olivia und ihm selbst geben könnte. Er konnte sehen, daß dieser Mann offenbar vor etwas über zwei Monaten gestorben war und daß sie beide ungefähr Altersgenossen waren. Er war ein Mann aus Lodi, und damit stammte er aus derselben Stadt, in der sie vor dem Bankjob gelebt hatten, aber weiter sagte es ihm nichts. Er sah auch, daß der Mann ein Vietnamve-teran gewesen war, aber er konnte sonst wenig erkennen, was ihn mit der Situation im Augenblick verband. Duncan wälzte den Namen immer wieder im Kopf herum, versuchte einen Anhaltspunkt zu finden. Er starrte den Zettel an und fragte: Wer bist du? Was bedeutest du für mich?
Wie bist du gestorben?
Und warum?
Zuerst fiel ihm nichts ein, wie er es herausbekommen könnte. Dann hob er den Hörer auf und wählte den Informationsdienst in Lodi an und bekam die Nummer des Begräbnisinstituts. Er zögerte einen Augenblick, versuchte sich eine Geschichte einfallen zu lassen, die seine Anfrage erklären könnte.
Als er die Nummer wählte, merkte er, daß er zum erstenmal seit achtzehn Jahren eine Nummer in Kalifornien anrief.
Einen Augenblick hatte er Angst, daß jemand am Ton seiner Stimme erkennen könnte, daß er etwas mit der Geschichte von 1968 zu tun hatte. Nach dem zweiten Läuten meldete sich eine Frau.
»Johnson Funeral Home. Wie dürfen wir Ihnen helfen?«
»Hallo«, sagte Duncan. »Mein Name ist, öh, Roger White, und ich habe gerade von einer Beerdigung erfahren, die Sie damals im September abgewickelt haben, und ich, ich bin nicht sicher, ob dieser Bursche ein alter Freund von mir war oder nicht. Ich war im Ausland und lange außer Kontakt, und es hat mich sehr betroffen gemacht …«
Die Frau unterbrach ihn.
»Wie hieß der Verstorbene?«
»Robert Miller, damals im …«
»Im September, oh, ja, ich erinnere mich. Woher kannten Sie sich doch noch mal?«
Duncan tippte: »Vietnam.«
»Oh, ja, natürlich. Auch Veteran. Lassen Sie mich mal in meinen Akten nachsehen. Wissen Sie, ich erinnere mich nicht, daß die Polizei irgend jemanden danach verhaftet hat.«
»Die Polizei?«
»Ja. Es tut mir leid. Wußten Sie nicht, daß man Mr. Miller ermordet hat?«
»Nein, nein, ich höre zum erstenmal davon.«
»Ich habe wirklich nicht die Einzelheiten darüber. Ich weiß, es war eine Art Raubüberfall. Sie könnten Ted Reese hier in der Zeitung anrufen. Er hat darüber berichtet.«
Duncan schrieb den Namen auf, während er die Frau mit Papieren rascheln hörte.
»… Jedenfalls war er bei der Einhundertsten Luftlandedivision von neunzehnhundert-undsechsundsechzig bis Ende neunzehnhundert-siebenundsechzig in Vietnam. Er hat zwei Purple Hearts und einen Bronze Star für Tapferkeit bekommen. Er war aktiv hier im Ort bei den Elchen und bei der Little League und der Pee Wee Football Leage.
Er war Mitglied in der Society of Security Professionals.
Eine Menge ehemalige Polizisten und solche Typen kamen zur Beerdigung.«
»Es war eine große Beerdigung?«
»O ja. Der Mann war sehr beliebt. Sehr bekannt hier in der Gegend. Der Mann von der Zeitung könnte Ihnen mehr sagen. Ist das der Mr. Miller, den Sie aus Vietnam kannten?«
»Ja«, log Duncan. »Er war es.«
»Oh«, sagte sie. »Das tut mir leid.«
Duncan hängte auf, drückte den Hörer kurz herunter, um die Verbindung zu unterbrechen. Dann wählte er die Zeitung an und fragte nach dem Reporter. Er verstand immer noch nicht, was für eine Botschaft Olivia ihm übermitteln wollte, noch sah er die Verbindung zwischen diesem ermordeten Mann und sich selbst.
»Reese hier.«
»Hallo«, sagte Duncan. »Hören Sie, mein Name ist White, und ich bin gerade nach sechs Monaten ins Land zurückgekehrt, um festzustellen, daß ein alter Freund von mir ermordet worden ist. Die Leute in dem Funeral Home sagten, Sie könnten mir erklären, was Robert Miller zugestoßen ist.«
»Oh - dem Sicherheitsbeamten?«
»Ja.«
»Sie sagen, Sie waren ein Freund von ihm?«
»Aus dem Krieg. Hundertste Luftlandedivision.«
»O ja. Nun, es tut mir leid, Ihnen sagen zu müssen …«
»Was ist geschehen?«
»Hat einfach Pech gehabt, der Junge, glaube ich. Glück hatten seine Frau und Kinder allerdings. Sie waren zum letzten Wochenende vor dem Schulanfang weggefahren, also war er allein zu Haus. Jedenfalls, soweit die besten Bullen es rausfingern können, hat jemand an die Tür geklopft, und er hat geöffnet und hat sie reingelassen. Sie haben ihn gezwungen, seinen Safe zu öffnen, den sie durchwühlt haben. Sie haben das Haus ganz schön demoliert. Der Junge hatte auch eine ziemlich gute Waffensammlung, darunter ein paar automatische Gewehre. Hatte sogar eine Genehmigung für diese Sachen, wenn Sie sich das vorstellen können. Wissen Sie, was die Polizei sagt, für wieviel man eine von denen auf dem Schwarzmarkt verkaufen kann? Tausende. Jedenfalls, ein bißchen später haben sie ihn mit einer Maschinenpistole weggeblasen, in seinem Haus. Haben eine höllische Schweinerei angerichtet … oh, tut mir leid …«
»Das macht nichts«, sagte Duncan rasch. »Bitte, erzählen Sie weiter.«
»Nicht mehr viel zu erzählen. Er wollte offenbar gerade zu seinem Schreibtisch gehen, in dem er eine Pistole versteckt hatte. Er war nicht der Typ, der aus dem Haus ging, ohne irgendeinen Streit vom Zaun zu brechen, alle haben das gesagt. Schätze, sie sind gleich wieder weg, nachdem sie das Haus verwüstet hatten. Haben außer den Waffen noch ein paar Sachen mitgenommen, darunter, was sagen Sie dazu: die rote Perücke seiner Frau. Schätze, sie haben an die siebentausend Dollar kassiert. Er ließ immer eine Menge Bargeld herumliegen, was nicht gerade klug war. Aber er war Abteilungsleiter bei einer Sicherheitsfirma - er hatte sich hochgearbeitet vom Geldtransportbegleiter - und er hatte die beste Sicherungsanlage am Haus. Nur funktioniert die ganze Elektronik nicht, wenn man seinem Mörder die Tür öffnet. Das hat die Schnüffler verblüfft. Sie verstehen nicht, wieso er das getan hat.«
»Vielleicht kannte er den Killer.«
»Ja, das denken alle, aber bisher hatten die möglichen Verdächtigen alle Alibis. Er war auch einer von denen, die ihren Angehörigen lebendig mehr wert sind als tot, wissen Sie. Er hatte keine hohe Lebensversicherung oder so etwas.«
»Hat irgend jemand etwas gesehen oder gehört?«
»Er hat in einem ganz hübschen Viertel gewohnt, wo die Häuser ziemlich weit auseinanderliegen. Und einer von den Beamten sagte, diese Pistolen hört man sowieso fast nicht, also müßte nicht unbedingt jemand etwas gehört haben. Nur so einen Rülpslaut, so, als ob jemand ganz schnell ein paar Blätter Papier zerreißt. Außerdem war es Nacht.«
Duncan wußte nicht, was er noch fragen sollte. Sein Hirn zeigte ein einziges Bild: Olivia steht im Eingang zum Haus des Mannes, geduldig wartet sie, daß er die Tür öffnet und sie hereinläßt. Sie weiß, daß er es tun wird: Wer könnte einer nett aussehenden, gut angezogenen Frau mittleren Alters den Eintritt verweigern, selbst wenn es mitten in der Nacht war, selbst wenn man sie nicht kannte? Man sieht durch das Guckloch, und dann öffnet man die Tür, verwundert, was sie zur Schwelle des Hauses bringt. Man würde ohne zu zögern öffnen.
Aber er sah immer noch nicht, warum sie dort gewesen sein sollte.
Er hörte die Stimme des Reporters durchs Telefon reden.
»… Es ist jammerschade. Stellen Sie sich vor. Schafft mehrere Jahre in Vietnam, kommt nach Hause, wird bei einem Banküberfall angeschossen, schließlich bringt er es bis zum Abteilungsleiter und endet dann so, nur weil er es sich wegen seiner Sicherungsanlage angewöhnt hat, zu Hause Bargeld herumliegen zu lassen. Ich will Ihnen sagen, die Leute hatten ziemliche Angst, als das passiert war, denn wenn es einen Burschen wie Miller erwischen konnte, dann konnte jeder …«
»Entschuldigung«, sagte Duncan abrupt, »was haben Sie gesagt?«
»Ich sagte, es ist jammerschade.«
»Danach.«
»Der Bursche leistet seinen Wehrdienst in Nam, wird dann bei einem Bankraub angeschossen -«
Duncan unterbrach ihn: »Bei einem Bankraub?«
»Ja - damals 1968. Stand tagelang in den Schlagzeilen.
Paar verrückte Hippies haben eine Bank zu berauben versucht, ein paar Sicherheitsbeamte sind dabei draufgegangen, und Miller kriegte einen Schuß ins Bein. Ein paar von den Verrückten hat’s auch erwischt. Miller bekam die Gouverneursmedaille wegen Tapferkeit.«
»Ich erinnere mich«, sagte Duncan.
»Klar. War in dem Jahr ungefähr zehn Minuten lang eine große Story. Eine spannende Story folgte in diesem achtundsechziger Jahr auf die nächste. Es war so ein Jahr.«
»Ich erinnere mich«, sagte Duncan.
Seine Schultern sackten vorwärts, und der Ekel kam ihm hoch. Einen Augenblick wußte er nicht, ob er verhindern konnte, daß er sich vor Angst übergab.
Ich weiß, sagte er zu sich selbst. Ich weiß es jetzt. Er schluckte die Galle hinunter, die ihm hochgekommen war, und fragte: »Hat die Polizei irgend jemanden verdächtigt?«
»Eine Menge Theorien. Hauptsächlich glauben sie, daß es diese Gang war, die von San Francisco aus operiert.
Offenbar hat’s hier in den letzten Monaten auch noch ein paar andere Einbrüche dieser Art gegeben. Aber er war im Sicherheitsgeschäft, und wer weiß, was für Leuten er da in all den Jahren übern Weg gelaufen ist. Vergessen Sie nicht: Das hier ist Kalifornien. Hier gibt es alles.«
»Danke«, sagte Duncan, seine Stimme war nur noch ein Flüstern.
»He, wissen Sie irgendwas über den Fall, was den Schnüfflern weiterhelfen könnte? Seine Firma hat zwanzigtausend Dollar Belohnung ausgesetzt.«
Duncan hängte ein.
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und dachte darüber nach, wer Robert Miller war: der Mann, der 1968 auf der Straße in Lodi Emily Lewis erschossen hatte.
Und Duncan wußte, warum er gestorben war. Aus Rache.
Richter Thomas Pearson beobachtete seinen Enkel.
Der Junge schien etwas von seiner Nervosität zu verlieren, während die Vertrautheit mit seiner Umgebung zunahm. Aber Tommy fuhr immer noch sichtbar hoch, wenn irgendein Geräusch von unten in die Enge des Raums herauf drang. Er konnte sehen, wie diese Mischung aus Angst und Langeweile den Jungen allmählich zur Verzweiflung brachte. Er ging einen Augenblick auf und ab, rollte sich dann auf dem Bett in Fötusposition zusammen, nur um sich ein paar Minuten später wieder aufzurichten und wieder mit dem Auf- und Abgehen anzufangen. Tommy hatte alle Versuche seines Großvaters, ihn abzulenken, abgewehrt. Sie hatten die Morgenstunden allein zusammen verbracht und sich gefragt, was als nächstes geschehen würde; dann, nachdem Olivia sie fotografiert hatte, verging der Nachmittag ohne Nachricht, es herrschte völliges Schweigen. Der Richter hatte sich mehrmals gefragt, ob sie wohl allein im Haus waren; aber selbst dann hätte er nicht gewußt, was er hätte tun können.
Er starrte in der Kammer umher. Was für eine teuflische Falle das ist, eingesperrt zwischen Wänden und Verantwortung, dachte er. Wenn ich Tommy verliere, könnte ich Duncan und Megan nie mehr vor die Augen treten. So ein Leben würde mich umbringen.
Er sah auf die Armbanduhr und stellte fest, daß es schon über die Dinnerzeit hinaus war. Es ist Abend, dachte er.
Unsere zweite Nacht hier. Draußen wird es stockdunkel, und der Himmel hat sich bezogen. Es wird kälter, die übriggebliebene Wärme des Tages verkriecht sich in den Schatten.
Er winkte Tommy, er solle kommen und sich zu ihm setzen, und als er da war, nahm er ihn in die Arme.
»Es ist so still, Großvater«, sagte das Kind, wie ein Echo seiner Gedanken. »Manchmal bin ich nicht sicher, daß sie noch da sind.«
»Ich weiß«, sagte der Richter. »Und dann, gerade wenn du denkst, wir sollten das Bett nehmen und damit versuchen, die Tür einzurammen, hörst du irgendein Geräusch und merkst, daß sie die ganze Zeit dagewesen sind.«
»Wie lange, glaubst du, müssen wir hierbleiben, Großvater?«
»Du hast das schon mal gefragt, und ich weiß keine Antwort.«
»Schätze.«
»Tommy, wozu soll schätzen gut sein?«
»Bitte.«
Er konnte die Spannung in dem Jungen spüren und wußte nicht, ob er lügen oder die Wahrheit sagen sollte. Ist das nicht immer das Problem bei Kindern? dachte er. Wir sind nie ganz sicher, ob die Wahrheiten der Erwachsenen sie befreien oder belasten werden. Er erinnerte sich plötzlich an eine Ferienreise mit Frau und Kindern im Auto, das war viele Jahre her. Megan war damals ungefähr in Tommys Alter. »Wie weit noch?« hatte sie mit kläglicher Stimme immer wieder gejammert. »Bis wir ankommen«, hatte er geantwortet.
»Aber wie weit?« hatte sie auf ihrer Frage bestanden.
»Meilen und Meilen«, hatte er geantwortet.
»Aber wie weit?«
Schließlich, nachdem es zwanzig Minuten so hin und hergegangen war, hatte er gedacht: Sag ihr die Wahrheit.
»Megan, es sind noch wenigstens zwei Stunden, darum versuche dich zu entspannen und sieh aus dem Fenster oder spiel ein Zählspiel mit deiner Mutter oder irgendwas, aber hör auf zu fragen, wie weit noch.« Sie hatte vor Verzweiflung losgeheult: »Zwei Stunden! Zwei Stunden!
Ich will nach Haus!« Und er hatte die Zähne zusammengebissen, während sie jammerte und weinte.
Aber das war nur eine dieser kleinen Wahrheiten, die nach hinten losgingen. Was war mit den großen Wahrheiten? Wie war es mit Leben und Tod?
»Tommy, ich fürchte, wir werden hier noch wenigstens einen weiteren Tag bleiben.«
Er konnte die Lippen des Jungen zittern sehen.
»Warum?«
Der Körper des Jungen zitterte plötzlich heftig, als er die Frage stellte.
»Ich nehme an, sie haben von deinem Dad Geld verlangt, und er braucht etwas Zeit, um es zu beschaffen. Ich habe das schon einmal erklärt.«
Tommy nickte mit dem Kopf, sein Körper zitterte immer noch.
»Ich will hier raus«, sagte er. »Ich will nach Hause«, redete er weiter, und seine Stimme, von Schluchzern unterbrochen, wurde lauter. »Ich will nach Haus, nach Haus, nach Haus, nach Haus …«
Sein Großvater nahm ihn fest in die Arme und drückte ihn an sich.
Aber der Junge, anstatt sich in den tröstenden Armen des Großvaters aufzulösen, explodierte und stieß Richter Pearson zurück.
»Ich will raus! Ich will raus! Ich will nach Haus!« fing Tommy an zu schreien. Er stampfte wütend mit dem Fuß auf den Boden. Dann sprang der Junge durch die Dachkammer an die Tür und fing an, mit der flachen Hand gegen die Tür zu hämmern, daß es hallte wie Pauken-schläge. »Ich will raus! Nach Haus!« brüllte er.
Der Richter sprang auf und packte den Jungen bei den Schultern. Er versuchte ihn zurückzuzerren, aber Tommy riß sich los.
Nein, dachte Richter Pearson, nein, bitte, Tommy, nicht jetzt. Bitte, nicht jetzt.
Der Junge strampelte sich ein zweites Mal vom Zugriff seines Großvaters frei und warf sich gegen die verschlossene Tür, die unter dem starken Anprall des Knabenkörpers knirschte.
»Raus! Raus! Raus! Raus! Nach Haus! Nach Haus! Nach Haus!« schrie Tommy.
Als Richter Pearson ihn ein drittes Mal zu packen versuchte, drehte der Junge sich herum und trommelte mit den Fäusten auf den alten Mann ein. »Nein! Nein! Nein! Meins! Meins!«
Der Richter taumelte zurück, überrascht von dem Angriff des Jungen.
Oh, mein Gott, dachte der Richter. Er dreht durch. Ich kann ihn nicht mehr halten, ich weiß, ich kann nicht mehr … Duncan und Megan mußten ihn immer beide halten, wenn er durchdrehte. Ich schaff’s allein nicht.
Tommy hämmerte wieder mit den Fäusten gegen die Tür. Der Lärm schien das ganze Haus zu erschüttern, dröhnte wie Donnerkrachen durch die alten Bretter.
Der Richter hörte Füße durch die Diele laufen und dann die Treppe heraufkommen. Oh, mein Gott, dachte er, sie kommen!
»Tommy, hör auf! Hör auf! Bitte, hör auf!« bettelte er, versuchte den Jungen zurückzuhalten, aber so erfolgreich, als ob er dastände und die Hände gegen den Winterwind hochhielte.
»Laß mich los! Laß mich los!« schrie der Junge hysterisch.
»Tommy! Tommy! Ich bin’s - bitte - Großvater …«
Wieder versuchte Richter Pearson den Jungen von der Tür zurückzureißen. Er sah Tommys Hände bluten, und der Anblick des Blutes erschreckte ihn. »Tommy!« rief er.
»Tommy!«
»Nein! Nein! Nein!« schrie Tommy, als er die Hände des Richters wieder auf den Schultern spürte.
Der Richter konnte das Knacken in der Tür hören, als jemand den Schlüssel herumdrehte, und er packte das Kind und zerrte es für einen Augenblick aus der Türöffnung zurück.
Tommy stieß einen langen, gedehnten Schrei aus, der kaum wie aus dieser Welt wirkte, in der winzigen Kammer widerhallte und ihn mit Entsetzen erfüllte.
Olivia Barrow und Bill Lewis standen beide mit dem Revolver in der Hand da, und dann kamen sie herein, selbst etwas verstört und in Panik, wie man ihren Gesichtern ansah. Sie starrten das sich windende, sich wehrende Kind an, das von den grimmigen Armen des Großvaters festgehalten wurde.
»Ich will! Ich will! Ich will!« schrie Tommy. »Laß mich los! Los! LOS! LOS!«
»Halt’s Maul!« brüllte Bill Lewis.
»Ruhe!« schrie Olivia gellend. Es hatte keine Wirkung auf Tommy, dessen Augen geschlossen waren und dessen Körper sich wie ein elektrischer Bogen krümmte.
»Ich kann ihn nicht halten!« rief der Richter plötzlich aus, als er den Jungen seiner Umklammerung entgleiten spürte.
Er ließ den Enkel lieber los, als dem Kind den Arm zu brechen. Tommy warf sich in Richtung auf die Tür, er schien die beiden Erwachsenen mit den Pistolen, die ihm den Weg verlegten, nicht zu sehen.
»Jesus!« schrie Bill Lewis gellend, als er Tommy fing und unter dem Ansturm des Jungen zurücktaumelte.
Das Kind schrie weiter, nun von anderen Armen festgehalten. Tommy kämpfte wild, er boxte und trat mit dämonischer Kraft um sich.
»Ich knalle ihn ab! Ich knalle ihn ab!« schrie Lewis den Richter an.
»Er kann doch nichts dafür - versuchen Sie lieber, ihn festzuhalten!«
»Bewegen Sie sich nicht!« brüllte Olivia und richtete ihre Waffe auf den Großvater.
»Mann! Helfen Sie mir!« schrie Lewis und stieß dann selbst einen schrillen Schrei aus, als er durch die Kammer taumelte und Tommys Angriff zu bändigen versuchte.
Seine Waffe stieß klappernd gegen die Wand, als er den beißenden Jungen abwehren wollte. »Jesus, Olivia!« schrie er.
»Keiner bewegt sich!« brüllte Olivia wieder mit gellender Stimme.
»Ach, Blödsinn«, sagte der Richter, warf sich auf das ineinander verbissene Paar auf dem Boden und versuchte Bill Lewis zu helfen, den Jungen unter Kontrolle zu bringen. Es dauerte nur ein paar Sekunden, dann hielten die beiden Erwachsenen Tommy bei den Armen und Beinen und nagelten ihn am Fußboden fest.
»Keiner bewegt sich«, sagte Olivia wieder, aber diesmal war es ein überflüssiger Befehl, da sie wegen der angespannten Muskeln des Kindes ohnehin alle in einer Position erstarrt waren.
Der Richter sah hinunter und erblickte Bill Lewis’ Pistole auf dem Fußboden in Reichweite.
Mein Gott, dachte er, die Waffe!
Er zögerte. Seine Hand zuckte etwas vorwärts.
Aber er hörte Olivias gleichmäßige, ruhige Stimme, jetzt in normaler Lautstärke, die nach dem Geschrei wie ein Flüstern schien: »Du krepierst, Alter. Ich sehe es, und du krepierst.«
Der Richter schloß die Augen und dachte: Wie viele Gelegenheiten werde ich noch verpassen?
Aber er sagte: »Wovon, zum Teufel, reden Sie denn?«
Bill Lewis, der den Vorgang zwischen Olivia und dem Richter nicht mitbekommen hatte, sah Richter Pearson an und flüsterte: »Danke. Ich hätte ihn nicht festhalten können.« Er knirschte mit den Zähnen, als Tommy wieder hochkam.
Dann erschlaffte Tommys Körper plötzlich in ihren Armen.
»Christus!« schrie Bill Lewis. »Was ist denn das, zur Hölle! Hab’ ich ihm weh getan? Ist er tot?«
»Nein«, sagte Richter Pearson und entspannte sich langsam. »Es ist eine Art Fluchtzustand. Er hat das immer nach so einer Episode wie der hier. Helfen Sie mir, ihn auf das Bett zu legen.«
Tommys Augen waren weit offen, sein Atem ging langsam und war flach. »Komm«, sagte der Richter. Er sah Olivia an. »Gehen Sie aus dem Weg - schnell.«
Sie zögerte, dann sprang sie auf und räumte eines der Betten frei.
»Wird er wieder okay?« fragte Bill Lewis. »Christus! Das war was …«
»Er wird okay sein, wenn er hier rauskommt.«
Richter Pearson sah Olivia an, zeigte mit dem Finger auf sie. »Holen Sie jetzt Betadin und ein paar Pflaster für seine Hände, sie sind völlig aufgeschürft. Sie wußten das doch! Sie haben das alles geplant, und Sie wußten doch, daß er diese Anfälle hat, nicht wahr?«
»Ich wußte, daß er die Sonderschule besucht, aber ich habe nicht -«, fing sie an. Dann starrte sie den Richter an.
»Bedauerlich. Tut mir leid, aber das ist eben Pech. Es ist Ihr Job, ihn unter Kontrolle zu halten.«
»Ich tue, was ich kann!« schnauzte der Richter sie an.
»Braucht er irgendeine Medizin oder so was? Ich meine, wir können alles besorgen, was er braucht …« sagte Bill Lewis. Er stand am Bett und starrte auf den Jungen hinab.
»Wollen Sie ihn nicht mit ’ner Decke zudecken?« fragte er.
»Ja«, sagte der Richter, während er Olivia immer noch fixierte.
»Ich werd’ was besorgen«, sagte Bill Lewis. »Noch nie so was gesehen.«
Olivia warf Lewis einen Blick zu: »Du holst den Erste-Hilfe-Kasten«, sagte sie. »Versorge das Kind.«
Dann drehte sie sich um und ging hinaus und ließ den Richter auf dem Bett sitzend zurück, wo er auf Lewis’ Rückkehr wartete.
Ramon Gutierrez parkte ungefähr drei Blocks von Duncans und Megans Haus entfernt und stieg in der Dunkelheit und Kälte aus. Er zog den Parka enger um den Körper, als er die erste Morgenluft auf der Haut spürte. Er dachte an Winternächte in der South Bronx, als er jung gewesen war, als die Kälte und das Elend zusammengekommen waren, und er dachte, damals waren die Zeiten viel schlimmer, weil er keine Hoffnung hatte. Er versuchte sich an Puerto Rico zu erinnern und sich die tropische Wärme vorzustellen, die auf der Insel herrschte, aber es gelang ihm nicht. Er war als Kind in die Vereinigten Staaten gekommen und nur einmal auf die Insel zurückgekehrt, als Teenager, um seinen Onkel zu besuchen. Die Bewegung, die Insel unabhängig zu machen, war in den Gettos von New York entstanden; er war zuerst aus einer Art Neugier eingetreten und dann, weil er merkte, daß die Gruppe ihn aufnehmen würde, wenn er eine bestimmte politische Rolle übernahm. Da er sich einen großen Teil seiner Teenagerzeit lang mißachtet und ausgestoßen gefühlt hatte - erst durch seine Familienangehörigen, dann durch die Nachbarschaft -, war es eine angenehme Überraschung für ihn gewesen. Er hatte sich die politische Rhetorik von ganzem Herzen zu eigen gemacht, ohne das geringste bißchen echte Überzeugung.
Als er rasch an den dunklen Bäumen und gut beleuchteten Häusern vorbeiging, auf Megans und Duncans Haus zu, dachte er an die Gegend, in der er aufgewachsen war: Immer entweder zu heiß oder zu kalt. Er dachte an einen jungen Fixer, der das Abrißhaus am Ende seiner Straße bewohnte. Der Mann war eines Nachts erfroren, als die Temperatur jäh gefallen und der Sturm durch die Löcher und Risse des Hauses geblasen hatte. Ramon und ein paar andere Jungen hatten ihn im Tode erstarrt um ein altes Waschbecken herumgekrümmt gefunden. Die braune Haut des Mannes war heller geworden und sah wie Dreck aus, der auf einem Feld gefroren war. Sein Gesicht sah wie eine Halloween-Maske aus.
Er schüttelte den Kopf.
Ich gehe nie wieder dahin zurück, dachte er.
Ich brauche nie wieder dahin zurück, wenn das alles hier vorbei ist.
Er blieb stehen, um einen Cadillac in einer Einfahrt zu bewundern, und schritt dann weiter. Er dachte an Olivias Ermahnung, die Familie nur im Auge zu behalten, nachzusehen, ob sie alle im Haus waren und, wie zuvor, ob keine Polizei da war. Ein sechs Blocks weiter Weg, hatte sie gesagt: Parke, steig aus, zögere nicht, geh einfach daran vorbei, geh weiter, geh rund um den Block, zurück zum Wagen, steig ein, fahr noch einmal daran vorbei, und komm zum Farmhaus zurück.
Er zwang sich, seine Gedanken auf das Geld zu konzentrieren, das sie bekommen würden, als könnte ihn das warm halten. Er wünschte sich, sie hätte ihn eine der Waffen mitnehmen lassen, aber er verstand die Gründe, die dagegen sprachen. Trotzdem, dachte er, ich wollte, ich hätte meine Kanone.
Er fragte sich einen Augenblick lang, ob irgend jemand von den Leuten, deren Gestalten und Schatten er hinter den Fenstern der Häuser sah, an denen er vorbeikam, schon einmal in einem Gefängnis gewesen war. Das Leben ist immer ein Gefängnis, dachte er. Als ich in Attica im Zuchthaus saß, war es nicht anders als in der South Bronx, wo ich aufgewachsen bin. Er lachte innerlich: Der einzige Unterschied war, daß die Schlösser in Attica funktionierten, und zu Hause waren sie immer kaputt.
Wenn das Schloß funktioniert hätte, hätte ich nicht soviel Ärger bekommen.
Die Erinnerung war so peinlich, daß er beinahe stehenblieb. Sie sagte, sie wäre dreizehn. Woher sollte ich wissen, daß sie erst zehn war? Einen Augenblick lang erinnerte er sich an die glatte olivfarbene Haut, die unter seinen Händen gezittert hatte. Ich wußte nicht, daß sie geistig zurückgeblieben war, dachte er wütend, und was war da schon für ein Unterschied? Er schob die Erinnerung beiseite, auch die an seine auf spanisch schreiende Mutter, die einen Schwall von obszönen Ausdrücken und Flüchen ausstieß, und an seinen Vater, der den Militärgürtel losschnallte und vielsagend um die Faust wand.
Er atmete die Luft ein, sie war so kalt, daß er die Schneide eines Messers zu verschlucken glaubte. Er hielt vor Megans und Duncans Haus und erhaschte einen flüchtigen Blick auf die Zwillinge, die durchs Wohnzimmer gingen. Er fühlte, wie sein Herz schneller zu schlagen anfing, und einen Augenblick erlaubte er sich die Phantasie, daß er sie allein erwischte: Sie sagt, sie will, daß alle zahlen, was gibt es da für eine bessere Art? Es durchrieselte ihn, aber nicht von der Kälte, und er ballte die Fäuste zusammen. Er sah das Haus an und dachte: Vielleicht können wir das durchziehen, hm? Bevor das hier alles vorbei ist.
Er wollte laut loslachen. Ich hasse euch nicht, sagte er zu sich selbst. Ich hasse nur die, die ihr seid.
Die Reichen denken, Geld wäre Macht, aber das ist es nicht. Es bringt nur neue Ängste. Sie glauben, sie können sich dafür Sicherheit kaufen, aber sie kaufen dafür nur neue Gefahren.
Er mußte an Olivia zweieinhalb Monate zuvor in Kalifornien denken. Sie saß ruhig vorn im Wagen und prüfte die Maschinenpistole, ob sie schußbereit war, wandte sich dann an ihn und an Bill Lewis und sagte: »Paßt auf. Das Schwein wird die Tür öffnen. Ich werde klopfen, und er wird durch das Guckloch in der Tür sehen und die Tür öffnen. Er wird höflich, entgegenkommend und freundlich sein und mich auffordern einzutreten. Ich werde euch ein Zeichen geben, wenn ich ihn mir vorknöpfe. Duckt euch bis dahin.« Er war voll Angst und Bewunderung gewesen; er verstand, warum sie den Mann töten wollte, er hätte sich nur gewünscht, daß sie ihn nicht dabei gebraucht hätte. Aber sie hatte darauf bestanden und gesagt: »Das wird unser gemeinsames kleines Geheimnis sein. Wir stecken hier und in den späteren Sachen zusammen drin.«
Ramon wußte noch, wie selbstsicher sie auf die Kühlerhaube zugegangen war und sie hochgekippt und so getan hatte, als wäre etwas mit dem Wagen nicht in Ordnung.
Dann war sie unverzüglich zum Haus des Mannes hinaufgegangen und hatte geläutet. Er hatte sich ein paar Sekunden lang gefragt, ob der Mann, der sich rasch im erleuchteten Eingang zeigte, irgendeine Ahnung davon hatte, daß der Tod draußen auf ihn wartete.
Und es spielte sich genauso ab, wie sie vorhergesagt hatte.
Er sah die Mädchen wieder, und abrupt träumte er von anderen Dingen.
Wir machen eine Party, sagte er sich. Eine Party, die ihr nie vergessen werdet. Eine, die ihr irgendwann in der Zukunft euren neuen Ehemännern nicht werdet erklären können.
Er lächelte vor sich hin. Ich wollte, ich hätte mein Messer.
Die Scheinwerfer eines Autos, das aus der Einfahrt eines anderen Hauses herauskam, strahlten ihn plötzlich an, und er geriet einen Augenblick in Panik. Er sprang in den Schatten eines Baumes und beobachtete, wie der Wagen an ihm vorbeirollte.
Sie hat recht, dachte Ramon. Sie hat in allem recht gehabt. In dieser Stadt wissen sie nicht, was Angst ist. Wir können hier alles machen.
Er sah wieder zum Haus hin. Die Zwillinge waren außer Sicht.
»Gute Nacht, meine Damen«, sagte er laut. »Wir sehen uns bald wieder.«
Er ging weiter durch die Nacht. Er dachte an das Geld und fragte sich, wieviel es sein mochte. Genug, daß ich hingehen kann, wohin ich will, und neu anfangen. Er fragte sich, ob Bill Lewis mit ihm kommen würde. Er bezweifelte es, und das machte ihn einen Augenblick lang traurig. Er wird Olivia folgen, die wird ihn nie so lieben, wie ich es tun würde. Sie wird ihn nur immer weiter als Werkzeug benutzen und ihm wieder und wieder das Herz brechen. Er hat ihren Duft in der Nase, und den wird er nie wieder los, und eines Tages wird er daran krepieren. Mit mir zusammen wäre er viel glücklicher. Vielleicht in Mexiko, wo ich als Einheimischer durchgehen könnte und wo wir reich wären, weil sie so wenig haben. Wir würden zusammen wie Könige leben, unten am Meer, wo es immer warm und nie so dunkel ist wie heute nacht. Er begreift es nicht, dachte Ramon. Was anderes als das eigene Vergnügen gibt es nicht. Aber bei ihm ist alles mit schlechtem Gewissen verbunden, und deshalb ist er traurig und verletzlich.
Aber ich nicht, dachte er zufrieden. Ich bin frei.
Er vergrub die Hände in den Manteltaschen, bis die Fäuste seinen Schwanz berührten. Er schlenderte durch die Nacht, leicht erregt, was ihn im Hinblick auf die Dunkelheit, die ihn umgab, aufwärmte.
Tommy konnte die Hand seines Großvaters fühlen, die ihm über die Stirn strich, aber es war wie eine Erinnerung, als geschähe es nicht in diesem Augenblick. Er starrte zur Dachkammerdecke hinauf und stellte sich vor, daß das Dach weg war und einen riesigen schwarzen Raum freigab mit funkelnden Sternenpunkten und von einem sanften Mondlicht übergossen. Seine Augen standen offen, aber sein Bewußtsein war weit entfernt; er hatte das Gefühl, in den Nachthimmel hochgehoben zu werden und einen freien Flug anzutreten. Er konnte den Wind auf den Wangen spüren, und er war warm und wohltuend, so, als würde man in eine alte, vertraute Decke eingewickelt. Als er in die endlose Dunkelheit hinaustrudelte, konnte er hören, wie seine Mutter und sein Vater etwas hinter ihm herriefen, und er konnte seine Schwestern winken sehen, daß er zu ihnen kommen sollte. Er lächelte, lachte und winkte zurück und fing dann an, durch die Dunkelheit in ihre Richtung zu schwimmen. Aber als er auf sie zuzusteuern versuchte, spürte er, daß der Wind wechselte, und plötzlich kämpfte er gegen einen Wirbelsturm, der ihm ins Gesicht blies, an seinen Kleidern zerrte und ihn von seinen Familienangehörigen wegriß. Er streckte die Arme nach ihnen aus, aber sie verschwammen in der Ferne, wurden immer kleiner, ihre Stimmen verstummten, bis sie verschwanden.
Dann hörte er die Stimme seines Großvaters:
»Tommy, Tommy, ich bin ja hier, ich bin ja bei dir. Alles wird okay werden, ich bin hier, ich bin hier.«
Er zuckte zusammen und drehte sich zu seinem Großvater.
Er sah Bill Lewis’ Gesicht über der Schulter des Großvaters, aber diesmal hatte er keine Angst.
»Er kommt wieder zu sich«, sagte Lewis. »Jesus, war das unheimlich.«
Tommy streckte die Arme aus und packte seines Großvaters Hand. Er sah, wie Lewis’ Gesicht sich zu einem Grinsen verzog.
»Hey, Kid? Wie fühlst du dich?«
Tommy nickte.
»Brauchst du irgendwas? Hungrig? Durstig vielleicht?«
Tommy nickte wieder.
»Ich hab’ dir was zu essen raufgebracht. Es ist draußen.«
Lewis verschwand, und Tommy sah seinen Großvater an. »Ich bin okay«, sagte er. »Tut mir leid, Großvater. Es ist einfach so über mich gekommen.«
»Mach dir darüber keine Sorgen«, sagte der alte Mann.
»Meine Hände tun weh«, sagte Tommy.
»Du hast sie dir aufgeschürft, als du gegen die Tür geschlagen hast.«
»Tatsächlich?«
Der Richter nickte.
Tommy hob die Hände hoch und betrachtete sie.
»Es ist nicht so schlimm«, sagte er. »Sie sind nur ein bißchen aufgeschrammt.«
Bill Lewis kam herein, ein Tablett in der Hand.
»Ich habe etwas zu essen gemacht. Es ist aus der Dose, aber es schmeckt ganz gut. Tut mir leid, mein Junge, ich bin nicht so ein guter Koch. Aber ich habe dir auch eine Flasche Soda mitgebracht. Und ein paar Aspirin, falls deine Hände weh tun.«
»Danke«, sagte Tommy und setzte sich auf. »Ich habe jetzt Hunger.«
»Sie, Richter, sollten auch was essen. Ich bleibe und helfe dem Jungen beim Essen, falls es ihm schwerfällt.«
Bill Lewis setzte sich auf die Bettkante und nahm Richter Pearsons Platz ein. Der Richter sah zu, wie Tommy etwas von dem Eintopf hinunterlöffelte, und fing dann auch an zu essen. Plötzlich merkte er, wie ausgehungert er war, und hieb wie wild ein.
»Nehmen Sie sich Zeit«, sagte Bill Lewis. »Brot und Butter sind auch da. Ich habe ein paar Kekse als Nachtisch auf den Teller gelegt. Schokoladenchips, okay?«
»Ja, danke.«
Tommy zögerte. »Ich weiß Ihren Namen nicht«, sagte er.
»Nenn mich einfach Bill.«
»Danke, Bill.«
»Keine Ursache.«
»Bill?«
»Ja?«
»Weißt du, wann wir nach Hause gehen können?«
Der Richter erstarrte und dachte: Nicht jetzt!
Aber Bill Lewis lächelte nur.
»Hast’s satt hier oben, was?«
Tommy nickte.
»Ich mach’ dir deshalb keine Vorwürfe. Ich mußte auch mal einen Monat lang in einem Zimmer in einem Haus bleiben, das ist lange her. Ich wagte nicht hinauszugehen, ich hab’ mich nichts getraut. Es war schlimm.«
»Warum?«
Lewis zögerte und überlegte: Ach, zum Teufel, dachte er. »Na ja, die Bullen waren hinter mir her, und ich wartete auf ein paar Leute, die mir helfen sollten. Ich war im Untergrund. Weißt du, was das bedeutet?«
»Wie ein Murmeltier?«
Lewis lachte.
»Nicht genau. Das heißt, sich verstecken.«
»Oh«, sagte Tommy. »Jetzt sind wir im Untergrund.«
»So ’ne Art.«
»Haben sie dich je geschnappt?« fragte Tommy.
Lewis grinste. »Nee, Kid, ich war ihnen immer einen Schritt voraus. Und nach einer Weile haben sie einfach aufgehört zu suchen, glaube ich. Wenigstens hatte ich so ein Gefühl. Nach ein paar Jahren geriet’s dann einfach in Vergessenheit.«
»Wann war das?« fragte der Richter.
»In den sechziger Jahren damals«, sagte Lewis, ohne zu überlegen.
»Warum erzählst du ihm denn nicht gleich alles?« fragte Olivia Barrow hart.
Ihre Stimme schien die Luft im Raum zum Erzittern zu bringen und den friedlichen Augenblick zu zerschlagen, alles war wieder aufs äußerste gespannt. Sie stand in der Türöffnung und starrte Bill Lewis an, den Finger am Abzug des Revolvers.
Lewis sprang auf.
»Ich habe nichts gesagt. Nichts, das sie sich nicht auch selbst denken können.«
»Bist du sicher?« fragte sie.
Lewis sah hinunter auf Tommy. »Tut mir leid, Kid.«
»Es ist okay«, sagte Tommy. »Danke für das Essen.«
»Hey, behalte die Kekse. Du kannst sie nachher essen.«
»Danke.«
Lewis stellte die Teller aufs Tablett und schritt an Olivia vorbei, die ihn keinen Augenblick aus den Augen ließ. Sie blieb im Hintergrund und starrte den Richter an.
»Er ist ein emotionaler Mann«, sagte sie, nachdem ein paar Augenblicke vergangen waren. »Sehr quecksilbrig. Fähig zu äußerster Zärtlichkeit im einen Augenblick« sie machte eine Pause - »und extremer Gewalt im nächsten. Bitte vergessen Sie nicht seine Instabilität, wenn Sie mit ihm umgehen; es wäre scheußlich, wenn etwas Unangenehmes passieren würde.«
Richter Pearson nickte.
»Vielleicht sollte ich nächstes Mal Ramon mit dem Essen hereinschicken. Er mag kleine Kinder, Richter. Aber nicht auf die Art, mit der Sie sehr einverstanden sein würden.«
Der Richter antwortete nicht.
Olivia ging auf Tommy zu und sah auf ihn hinab.
»Jungs in diesem Alter sind immer entwaffnend«, sagte sie. »Sie machen einen verrückt vor Liebe oder verrückt vor Verzweiflung.«
»Haben Sie Kinder?« fragte der Richter leise. Wenn du welche hättest, dachte er, würdest du so etwas niemals tun.
Olivia lachte.
»Nee, keine Chance. Ein Gefängnis ist nicht der richtige Ort, um Kinder zu zeugen. Nein, im Gefängnis macht man Pläne und baut seinen Haß und die Notwendigkeit der Rache auf. Das sind meine Babys.«
»Sie sind sehr verbittert«, sagte er.
Sie lachte wieder. »Natürlich bin ich verbittert. Ich habe einen völlig ausreichenden Grund, verbittert zu sein.«
»Warum?«
Sie lächelte. »Nun paß mal auf, wer sich jetzt das Maul abschießt.«
Der Richter antwortete nicht.
Olivia zuckte die Schultern. »Warum nicht?« fragte sie.
»Richter, haben Sie schon mal drüber nachgedacht, warum wir keine Masken tragen?«
»Ja, das hat mich von Anfang an gewundert.«
»Sie dürften eine ganze Menge Entführungen und Er-pressungsversuche behandelt haben, als Sie noch auf der Richterbank saßen.«
»Stimmt. Aber nichts von dieser Art.«
»Richtig. Ich habe das schon früher gesagt. In dieser ganzen Sache gibt es ein geniales Element, Herr Richter, ein kleines Ding, das die Sache ticken macht.«
»Ich verstehe nicht.«
»Es sind Ihre Tochter und Ihr Schwiegersohn, Richter.«
Sie zögerte.
»Was wissen Sie über die beiden?«
»Was meinen Sie? Es sind meine -«
»Was haben sie vor achtzehn Jahren getan?« Richter Pearson überlegte: 1968. Ich war jünger damals, stärker.
Meine Frau lebte noch, und wir machten uns Sorgen. Wir hatten keine Ahnung, was die beiden taten. Sie erzählten uns nichts. Ich war zu wenig flexibel und zu anspruchsvoll, und sie ließen uns einfach stehen und warten.
Worauf? Da war der Krieg, den wir alle haßten. Da waren Unruhen und lange Haare und Demonstrationen, und sie waren auch dabei. Ich saß im Gericht, und wir waren ein Teil des Systems, und das System war böse. Er erinnerte sich an dutzendfache Anschreiereien mit Duncan und an Streitigkeiten, deren Inhalt er fast völlig vergessen hatte - die sich in den paar Monaten der Ruhe auflösten, als sie nach Kalifornien gingen. Dann veränderte sich alles. Er sah noch vor sich, wie Megan und Duncan wieder in Greenfield ankamen, unerwartet, spätnachts. Megan war schwanger mit den Zwillingen. Es war zauberhaft. Sie waren so verloren gewesen, und dann kamen sie so plötzlich nach Haus zurück, und all unsere Ängste verschwanden über Nacht, dachte er. Sie wollten, daß wir ihnen halfen, sie wollten ein neues Leben anfangen, ein normales Leben, hier in Greenfield. Keine verrückte politische Rhetorik mehr, keine Anklagen mehr gegen das böse System und die verfaulte Gesellschaft. Wir haben nie gefragt, dachte er, wir waren so froh, sie wieder dazuha-ben, und dann, als die Zwillinge kamen, war’s, als ob alles von vorn losging, da waren wir wieder eine Familie, ohne Zorn und ohne Bitterkeit.
»Was haben die beiden damals 1968 getan?« fragte Olivia wieder, ihre Frage klang wie ein Befehl.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen. Megan war mit der Kunsthochschule fertig, und sie zog mit Duncan nach Kalifornien, während er seinen Magister in Berkeley machte. Sie lebten da draußen … das ist alles, woran ich mich erinnere.«
Olivia schnaubte verächtlich.
»Wie waren sie politisch eingestellt?« fragte Olivia sarkastisch.
»Nun, Duncan war aktiv in den Bewegungen gegen den Krieg und gegen den Wehrdienst. Er war als Student in Columbia bei den Students for a Democratic Society aktiv gewesen, und er nahm dort an Demonstrationen teil. Ich glaube, er hatte eine vage Verbindung zu den Weathermen. Aber er gab alles auf. Er ließ es sein, als sie beide wieder zurück in den Osten kamen.«
Olivia unterbrach ihn. Sie schnaubte wütend.
»Port Huron und die Weathermen kamen später.«
»Ich wußte das nicht. Es sind sowieso nur alles Namen … Namen -«
»Seien Sie nicht so schwer von Begriff.«
»Ich wußte nichts, verdammt. Was sagen Sie?«
»Sie waren beide mehr als ein bißchen in den Bewegungen drin«, sagte Olivia, und ihre Stimme klang gereizt.
»Wir waren alle drin. Und er hat es nicht so einfach ›aufgegeben‹, wie Sie sagen. No, Sir, keineswegs.«
»Ja?«
»Seien Sie nicht so schwerfällig.«
»Ich bin’s nicht, verdammt. Wir haben nie gefragt. Wir waren einfach froh, sie wieder zu Haus zu haben.«
»Sie sind mit Waffen in den Bergen von Marin County herumgerannt und haben für die Revolution trainiert. Sie haben gelernt, wie man Bomben baut und Propaganda macht. Das haben sie getan.«
»Nun …«
Richter Pearson wußte nicht, was er sagen sollte. Ihn überkam plötzlich das Gefühl, daß er nicht hören wollte, was sie sagte.
»Da habe ich sie kennengelernt. Und die Sache wurde intensiver. Wir waren eine Bande von Revolutionären.
Wir hatten ein Ziel. Wir waren bewaffnet. Wir hatten uns von allen anderen abgespalten, was sehr richtig war, denn alle anderen liefen den FBI-Agenten und Informanten ins Netz. Aber nicht wir! Wir taten uns zusammen, und wir wußten, was wir wollten.«
Olivia hatte angefangen, in der Kammer auf-und abzu-gehen, sie schwenkte ihren Revolver, um ihren Gesten Nachdruck zu verleihen. Der Richter spürte, daß ihre Leidenschaft die kleine Kammer erfüllte.
»Wir wollten diesem vergammelten Land das Herz aus der Brust reißen und ganz neu anfangen. Und sie waren ein Teil davon, genau wie ich und Bill und Emily und die anderen. Nur haben die beiden Mist gebaut, Herr Richter, sie haben Mist gebaut und sind weggerannt. Sie waren Feiglinge! In einer Armee wird man wegen Feigheit in der Schlacht erschossen, wenn man einen Befehl im Angesicht des Feindes nicht ausführt. Das haben sie getan, als sie Angst bekamen und wegliefen. Sie sind geradewegs in diese alberne kleinbürgerliche Gesellschaft zurückgerannt, in der sie sich versteckten. Sie hatten auch die perfekte Tarnung: Sie wurden graue Mäuse, Durchschnitt. Sie fügten sich ein. Sie fingen an, sich für Dinge wie Hypotheken und neue Autos und Elternabende und United-Way-Hilfsaktionen und ihre Beförderungen und Immer-mehr-Geld-verdienen zu interessieren, für immer mehr und immer mehr Geld. Sie, Sie haben ihnen dabei geholfen, sich unsichtbar zu machen, Richter, anonym, genauso wie all die anderen Verräter unserer Generation, nur daß die beiden noch ein bißchen schlimmer waren, nicht wahr? Ich ging in den Knast, und Bill ging in den Untergrund, und Emily kam um, und die Zeit verging. Sie aber wollten anonym bleiben, also wurden sie glücklich und fett und reich und Durchschnitt, Richter, sie wurden typischer Otto Normalverbraucher.«
Sie spuckte aus: »Sie waren Verräter!«
Er sah sie stehenbleiben und die Pistole so fest umklammern, daß ihre Knöchel weiß wurden.
»Aber ich nie. Ich bin nie fett und glücklich und bürgerlich geworden. Ich bin nur magerer geworden und härter, und achtzehn Jahre lang habe ich nur auf diesen Augenblick gewartet, in dem ich es ihnen zurückzahle, daß sie mich damals im Stich gelassen haben. Ich habe achtzehn Jahre abgesessen, keine angenehmen Jahre, für mich gab es keine Vergünstigungen. Und dann ließen sie mich auf Bewährung raus. So funktioniert das System, Sie wissen das, nicht wahr? Sie gaben mir ein Papier mit dem Namen meines Bewährungshelfers, neue Kleidung und hundert Dollar. Und so kam ich raus und dann hierher, weil ich wußte, die beiden würden hier sein, Richter. Sie sind vielleicht für andere unsichtbar gewesen, aber nicht für mich!«
Sie sah Richter Pearson an.
»Sie schulden mir achtzehn Jahre. Und es gibt nichts, was die beiden - oder Sie - dagegen tun können. Sie waren genauso schuldig wie ich, es war dasselbe Verbrechen.«
Sie setzte sich jäh neben ihn auf das Feldbett und kam ihm mit ihrem Gesicht sehr nah.
»Glauben Sie, daß die beiden bereit sind, für achtzehn Jahre ins Gefängnis zu gehen?«
Er schüttelte den Kopf. »So geht das nicht.«
»Nein?«
»Sie haben sich verändert. Alles hat sich verändert. Man würde sie nicht einmal anklagen -«
Olivia wich zurück.
»Nein? Sie meinen nicht? Sagen Sie mir nur eins, Richter. Wie sieht es bei gemeinem Mord mit Verjährung aus?«
Er schluckte schwer. O nein, dachte er. Nein, nicht möglich. Sie können doch nicht »Es gibt keine«, sagte er.
Sie warf das Haar zurück, lehnte sich rückwärts und brüllte:
»Was für ein Gesetzesbewußtsein Sie doch haben, Richter!«
Dann beugte sie sich zu ihm vor, und ihre Stimme wurde so leise wie ein Verschwörerflüstern:
»So, nun wissen Sie etwas von Ihren lieben Kindern, was Sie noch nicht wußten. Vielleicht haben Sie irgend etwas vermutet, aber die Wirklichkeit ist viel schlimmer als jede Vorstellung, nicht? Und du, hübscher kleiner Junge, weißt jetzt was Neues über deine liebe Mommy und über Daddy, nicht wahr?«
Olivia stand abrupt auf und schritt rasch durch die Kammer zur Tür. Sie machte eine Pause, bevor sie sprach.
»Sie sind Killer. Genau wie wir.«
Sie schlug die Tür hinter sich zu, krachend fiel sie ins Schloß.
Duncan hob das Foto von Tommy auf, bei dem das zerschlagene Glas noch immer im Rahmen steckte. Ohne zu überlegen, berührte er die Kante, wo ein Riß quer durch das Gesicht des Sohnes lief, und schlitzte sich den Finger auf. Er stieß nicht sofort einen Fluch aus, wie er das bei fast jeder Gelegenheit getan hätte, sondern ließ diesen neuen Schmerz statt dessen mit all den anderen Schmerzen zusammenlaufen, die ihn beherrschten.
Er steckte den Finger in den Mund und schmeckte das süße, salzige Blut.
»Oh, Duncan, brauchst du ein Pflaster?« fragte Megan.
Er schüttelte den Kopf. Ich brauche viel mehr als das, dachte er. Er sah zu Karen und Lauren hinüber, die still in der Ecke saßen.
»Wenn euch beiden etwas passierte -«, fing er an, aber sie unterbrachen ihn.
»Wir kommen schon klar!« sagte Karen.
»Wir lassen uns von keinen fremden Leuten bedrohen«, redete Lauren weiter.
»Ihr Mädchen versteht das nicht«, sagte Megan. »Ihr seid zu jung, um zu verstehen, wie verletzlich wir alle sind.«
Sie hatten seit Duncans Heimkehr darüber geredet.
Megan erzählte ihm und den Zwillingen von Bill Lewis’
Besuch. Die Zwillinge reagierten trotzig und relativ unbeeindruckt darauf - auf eine Weise, die sie, so fand Megan, von ihrem Vater übernommen hatten. Wie wütend sie auch auf die beiden war, weil sie nie dieselbe Angst und Panik wie sie selbst verspürten, so war sie deswegen doch auch unendlich stolz auf ihre Töchter. In ihrem Alter hält man sich noch nicht für verletzbar und sterblich, dachte sie. Sie erinnerte sich noch, wie Duncan und sie damals, kaum älter als die beiden, dasselbe gemeint hatten: Sie begriffen nicht, daß die Waffen, mit denen sie da oben in den Bergen übten, tatsächlich treffen und jemanden töten konnten. Sie spürten keine Gefahr, nur das berauschende Gefühl, im Zentrum der Dinge zu stehen.
Megan sah zu Duncan und den Mädchen hinüber, die still geworden waren, und sie begriff, daß alle denken würden, sie hätten in dieser Auseinandersetzung gewonnen. So funktionierte eine Familie: Jeder sagte seine Meinung und glaubte, da er selbst ja zweifellos recht hatte, daß alle anderen mitmachen würden - was natürlich nie jemand wirklich tat. Alle Familienbeziehungen waren auf dieselbe Illusion gegründet, dachte sie. Jeder zimmerte sich dieselbe Art funktionierender Beziehung. Sogar Tommy wußte das.
Sie hörte Duncan sagen: »Laßt uns vorsichtig sein. Ich glaube sowieso nicht, daß Bill Lewis unser größtes Problem darstellt. Unser größtes Problem ist Olivia.«
»Aber was verlangt sie?« fragte Megan.
»Das ist ja gerade so schwierig«, sagte Duncan. »Sie sagt nicht, wieviel Geld. Ich glaube nicht, daß es ihr auf die Höhe der Zahlung ankommt. Es geht darum, wie ich es besorgen soll.«
»Wie denn?«
»Sie möchte, daß ich meine eigene Bank beraube.«
Im Zimmer herrschte Schweigen. Megans Kopf drehte sich, und sie versuchte eines einzigen Gedankens habhaft zu werden, ihn in Worte fassen und aussprechen zu können, aber es gelang ihr nicht. Sie hörte die Stimmen der Mädchen, sie hallten wie aus weiter Entfernung.
»Was?«
»Aber wie?«
»Ich kann es tun«, sagte Duncan. »Ich müßte die Details ausarbeiten, aber ich kann es tun.«
»Aber Dad! Wenn du geschnappt wirst -«
»Könntest du im Gefängnis landen. Was würde es uns nützen, wenn wir Tommy und Großvater wieder hätten, wenn du ins Gefängnis gehst? Und wieso will sie denn überhaupt -«
»Von ihr aus gesehen ist es völlig vernünftig. Sie meint, ich hätte bei dem einen Banküberfall versagt. Jetzt möchte sie, daß ich den Job zu Ende bringe. So hat sie gesagt. Es ist schon irgendwie logisch.«
»Duncan!«
»Nun, es stimmt doch. Olivia ist nicht dumm.«
»Aber nimm an -«
»Nimm was an? Karen, Lauren, was nehmt ihr an? Welche anderen Möglichkeiten haben wir?«
»Ich finde immer noch, wir sollten zur Polizei gehen. Dann würden die dir das Geld geben.«
»Wir können das nicht tun, wir können das einfach nicht tun. Seht mal, laßt uns das ein für allemal klären: Erstens: Wenn wir zu den Polypen gehen und Olivia kriegt’s heraus, dann sagt sie vielleicht, was soll’s, und bringt sie beide um. Laßt mich euch eins sagen: Sie ist fähig dazu.
Glaubt nicht einen Augenblick, daß sie so etwas nicht fertigbekäme. Im Augenblick ist sie ziemlich selbstsicher und hat die Sache im Griff, aber wir dürfen nichts tun, wodurch sie irgendwie mißtrauisch werden könnte, denn dann weiß man nicht, was sie alles anstellt …«
Duncan zögerte und dachte an den Brief in seiner Tasche und an das, was er an jenem Nachmittag erfahren hatte.
»Sie ist ein Killer, daran müssen wir denken.«
Er machte eine Pause und wartete auf die Reaktion im Raum. Er sah, was für eine Wirkung das Wort auf die drei Frauen hatte. Er redete weiter:
»…Zweitens, wenn wir zur Polizei gehen, werden eure Mutter und ich wegen der Sache in Kalifornien angeklagt, und wäre euch das recht? Drittens, selbst wenn wir zur Polizei gehen, gibt es keine Garantie, daß sie die beiden Tommys besser zurückbekommen können als wir, wenn wir mitspielen. Denkt mal darüber nach!«
»Was meinst du?« fragte Megan.
»Die Mädchen werden sich nicht daran erinnern, aber wir kennen uns aus: Das Lindbergh-Baby zum Beispiel: Die Polizei wurde angerufen, und das Baby starb. Was ist mit Patty Hearst? Jeder verdammte FBI-Agent im ganzen Land suchte sie, und erst nachdem sie selbst eine Revolutionärin geworden war und ihre eigene gottverdammte Bank ausgeraubt hatte, fanden sie sie. Sie nannte sich sogar Tanya.«
»Ich erinnere mich«, sagte Megan leise. »So nannte sich Olivia damals, lange vor Patty Hearst.«
Duncan lächelte halb. »Sie verlor sogar ihren Spitznamen, als sie ins Gefängnis ging.«
Er fuhr fort: »Jedenfalls glaube ich nicht, daß die Polizei hier viel helfen würde. Meint ihr?«
Megan schüttelte den Kopf.
»Lauren? Karen? Erinnert ihr euch, irgend etwas in der Zeitung gelesen zu haben, das die Polizei von Greenfield empfehlenswert erscheinen lassen könnte?«
Es war eine unfaire Frage, aber er stellte sie trotzdem.
Sie blieben still.
»All right also. Nun, vielleicht, nachdem wir sie zurückbekommen haben, werden wir die Polypen rufen. Aber nicht bevor wir sie wiederhaben.«
»Aber Duncan«, hörte Megan ihre Stimme, als ob sie von jemand anderem käme, »wenn du die Bank ausraubst, um an das Geld zu kommen, wird die Polizei in Schwärmen über Greenfield herfallen. Wie können wir damit durchkommen?«
»Müssen wir ja nicht.«
»Ich versteh’ nicht.«
»Hör zu«, sagte Duncan. »Alles, was wir brauchen, ist das Geld und ein bißchen Zeit. Wenn ich das, sagen wir, Freitag abend mache, wird es erst montags entdeckt. Wir können die Tommys über das Wochenende zurückbekommen. Dann, am Montag, kann ich zu Phillips gehen und ihm die Wahrheit sagen - oder genug, um ihm zu erklären, warum ich das getan habe, was ich getan habe. Wir können der Bank den Schaden ersetzen - wir verkaufen alles, wenn es sein muß. Dein Vater wird uns helfen. Aber unter diesen Umständen glaube ich nicht, daß man mich unter Anklage stellen wird.«
»Das klingt lächerlich.«
»Hast du eine bessere Idee?«
»Ich meine, es ist voll von -«
»Klar, Glück gehört dazu. Guter Wille. Das weiß ich doch selbst! Aber was können wir sonst tun?«
»Wir könnten …«
»Was? Morgen rufe ich unseren Makler an, er soll all unsere Aktien verkaufen. Ich rufe den Grundstücksmakler oben in Vermont an und bringe den Besitz da auf den Markt. Wir können alles zu Geld machen, aber es wird Zeit brauchen. Mehr als zwei Tage, und soviel Zeit gibt sie uns nur.«
»Glaubst du wirklich, du schaffst es?«
Duncan lachte bitter. »Es ist wahrscheinlich eine häufiger vorkommende Phantasievorstellung, als ein Banker zugeben würde. Und gewöhnlich unterschlagen korrupte Bankleute das Geld. Aber was ich tun werde, ist, die verdammte Bank auszurauben. Genau wie so ’n gottverdammter Jesse James oder wie Bonnie und Clyde.«
»Sie wurden alle geschnappt«, sagte Megan abrupt.
»Und umgelegt.« Sie überging Duncans blasphemischen Ruch, denn sie hatte das Gefühl, er gehöre irgendwie zur Stimmung ihres Gespräches.
Duncan runzelte die Stirn.
»Zwei Tage. Mehr haben wir nicht. Und überhaupt, worum geht’s bei diesem Glücksspiel? Unser Einsatz ist das Leben unseres Sohnes. Und das des Richters. Wir müssen tun, was sie verlangt, selbst wenn es falsch scheint oder wenn es künftig üble Folgen haben wird. Wir müssen jetzt sofort mit diesen Dingen fertigwerden! Und Megan, du mußt sehen, worum es hier wirklich geht: Sie ist nicht an dem Geld interessiert. Geld zählt vielleicht für die anderen, für Leute wie Bill Lewis und wer ihr sonst noch helfen mag, aber für Olivia, da bin ich sicher, ist es nicht das Geld …«
Er sah sich die Gesichter seiner Familie an.
Langsam holte er den Umschlag mit der Todesanzeige und dem Foto der beiden Tommys aus der Tasche. Er ließ ihn auf den Kaffeetisch vor seine Frau und die Töchter fallen.
»…sie will uns.«