KAPITEL 3

Dienstag abend

Warum haben sie mich nicht verprügelt? fragte sich Tommy. Das letzte, was er wahrgenommen hatte, bevor sie die schwarze Haube über seinen Kopf gezogen hatten, war die Hand eines Mannes, die eine Pistole gegen den verhüllten Kopf seines Großvaters richtete. Als er dann auf dem Boden des Autos lag, hörte er den flachen Atem des alten Mannes, aber er war beruhigt, daß der Atem regelmäßig ging. Für Tommy war das ein vertrautes Geräusch, denn oft war sein Großvater abends beim Vorlesen, wenn Tommy sich an seine Brust gelehnt hatte, friedlich eingeschlafen.

Er wollte sich nicht bewegen, um Großvater nicht weh zu tun, aber seine Beine begannen, sich zu verkrampfen, und er wußte nicht, ob er die Schmerzen aushalten würde.

Er versuchte herauszufinden, wie lange sie wohl schon im Wagen lagen. Wahrscheinlich erst ein paar Minuten, aber er war sich nicht sicher, denn es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.

Er hörte den Motor, das Geräusch der Reifen auf dem Asphalt und spürte jede Unregelmäßigkeit der Straße.

Niemand sprach, deshalb wußte er nicht, wie viele Leute mit ihm und dem Großvater im Wagen waren.

Er hatte keine Ahnung, warum sie ihn und Großvater gekidnappt hatten und was sie mit ihnen anstellen würden.

Er wußte nur, daß er große Angst hatte, und deshalb verhielt er sich ganz ruhig.

In die Stille hinein hörte er jemanden lachen, anscheinend mehr aus Erleichterung denn aus Freude.

»Mensch«, sagte die Stimme, »das war einfacher, als ich gedacht habe.«

Eine Männerstimme, stellte Tommy fest. Das war also Nummer eins.

»Ich wußte, daß es leicht sein würde, ein Kinderspiel«, antwortete eine weitere, tiefere Männerstimme. Das war also Nummer zwei.

»Die einfachste Art, jemanden zu schnappen, ist, ihn total zu überraschen. Dann, wenn er sich überhaupt nicht vorstellen kann, was eigentlich geschieht. Wenn er gar nicht weiß, daß jemand hinter ihm her ist. Der ist dann verdammt geschockt und unfähig, auch nur einen Gedanken zu fassen. Deshalb macht er auch brav alles mit, was du von ihm verlangst. Diese beiden hier sind wirklich super. Sie funktionieren perfekt.«

Das sagte Nummer eins.

»Hast du schon mal jemanden geschnappt, der wußte, was du vorhattest?« fragte Nummer zwei.

»Nee, aber ich habe mal ’ne Sache mitgeplant …«

»Haltet die Klappe!«

Unwillkürlich schauderte Tommy beim Klang dieser Frauenstimme. Sie jagte ihm Angst und Schrecken ein.

»Hört mit der Quatscherei auf, bis wir zu Hause sind!«

fuhr die Frau fort. »Warum gebt ihr dem Alten und dem Kleinen nicht gleich eure Visitenkarten? Seid doch nicht so blöd!«

»Tut mir leid«, erwiderte Nummer eins.

»Wir sind noch nicht zu Hause«, sagte sie jetzt und lachte unangenehm.

Tommy kamen jetzt zum ersten Mal Tränen. Er war traurig, weil er an seine Mutter und seinen Vater denken mußte. Ich will nach Hause, dachte er, und seine Lippen zitterten.

»Wir sind aber schon bald da, verdammt bald.« Nummer eins und Nummer zwei lachten mit ihr zusammen.

Tommy spürte, wie sich die Atmosphäre entspannte. Der Wagen fuhr stetig weiter, gelegentlich spürte er ein Rucken. Für ein paar Minuten waren alle still. Dann sagte die Frau: »Da wären wir.«

Der Wagen bog von der Straße ab und fuhr auf einen Kiesweg. Tommy konnte das Knirschen der Steine unter den Reifen hören. Langsam zählte er bis fünfunddreißig und dachte: Das muß aber eine lange Einfahrt sein, nicht wie bei uns zu Hause. Als der Wagen hielt, suchte Tommy in der Dunkelheit die Hand seines Großvaters. Er fand sie und hielt sie fest. Als sein Großvater den Händedruck erwiderte, wurde er froh. Er durfte jetzt nicht mehr weinen.

»So«, hörte er die Frau sagen, »ihr könnt langsam aussteigen.«

Sein Großvater drückte ihm noch einmal fest die Hand und ließ sie dann los. Tommy fühlte sich bestärkt und wartete, was jetzt mit ihnen geschehen würde.

Der Wagen wurde geöffnet, zwei Hände griffen nach ihm, er wurde aus dem Wagen gehoben, auf die Erde gestellt. Als er draußen stand, schüttelte Tommy das eine Bein, das ihm eingeschlafen war. Die Luft war kalt, und ihn fror.

Unter dem übergestülpten Sack war tiefe Nacht. Er hoffte, sie würden den Sack bald herunternehmen. Sein Großvater stöhnte leise, als er aus dem Wagen geführt wurde. Tommy konnte seinen unsicheren Schritt hören.

Dann fühlte er ihn plötzlich ganz nah bei sich und griff wieder nach seiner Hand. Das gab ihm Kraft. Als er sich nah an ihn herandrängte, legte der Großvater ihm den Arm um seine Schultern.

»Alles in Ordnung, Tommy. Ich bin bei dir. Tu schön, was sie sagen. Ich werde nicht zulassen, daß dir etwas geschieht.«

»Hübsche Ansprache«, hörte Tommy die Frau sagen, »starke Worte.«

Sein Großvater wollte etwas erwidern, hielt sich aber zurück.

»Wir gehen jetzt ins Haus«, sagte die Frau. »Geht langsam! Alter, du behältst den Jungen an der Hand. Ich gehe neben euch und führe euch. Seid ihr fertig? Ihr müßt zehn Schritte geradeaus gehen, dann kommen einige Stufen.«

Tommy ging los, er umklammerte immer noch fest die Hand seines Großvaters. Seine Füße knirschten erst über Kies, dann spürte er eine Art Trampelpfad. Er blieb stehen, als der alte Mann anhielt.

»Gut«, sagte die Frau. »Jetzt drei Stufen hoch, dann ist da eine kleine Veranda, und dann geht’s eine Stufe rauf durch die Tür.«

Sie taten, was die Frau ihnen sagte. Tommy fand, es war ein bißchen wie das Blindekuhspiel, das er beim Kinder-geburtstag im Nachbarhaus gespielt hatte. Da hatten sie ihn ein paarmal um sich selbst gedreht und dann in einer bestimmten Richtung losgeschickt.

»Gut. Und jetzt ein ganz kleines bißchen nach rechts. Richter, strecken Sie die Hand aus! Fühlen Sie das Geländer? … Gut. Und jetzt die Treppe hinauf. Oben angekommen, wenden wir uns nach rechts, da ist der Treppenabsatz. Dann geht es noch eine kleine Treppe hinauf, ein paar Stufen.«

Die beiden Tommys stiegen die Treppe hinauf. Tommy stolperte einmal, aber die Hand seines Großvaters packte ihn schnell und hielt ihn fest.

»Gut, gut«, sagte die Frau. »Wir wollen ja nicht, daß euch was passiert.« Sie gab dem alten Mann von hinten einen Stoß, so daß er aufpassen mußte, daß er nicht hinfiel. Sie stiegen die zweite Treppe hinauf. »All right, jetzt gehen wir den Gang hinunter, fünfzehn Schritte geradeaus … genau! Und jetzt wartet, ich mache die Tür auf. Und jetzt geht’s wieder los. Vorsichtig, die Treppe hier ist schmal.« Das muß der Dachboden sein, dachte Tommy.

»Na also!« sagte sie schließlich. »Willkommen in eurer neuen Behausung.«

Tommy spürte, daß sie neben seinem Großvater stand und ihn zu etwas hinschob. Er hielt sich dicht bei ihm.

»Hinsetzen«, sagte sie. Sie fühlten ein Bett unter sich und nahmen vorsichtig darauf Platz.

»So, nun könnt ihr die Dinger abnehmen.«

Richter Pearson faßte den Rand des schwarzen Stoffbeu-tels an, den sie ihm über den Kopf gestülpt hatten, er erstickte fast darunter und wollte ihn mit einem Ruck herunterreißen. Er fühlte sich halbtot, verletzlich wie ein Neugeborenes. Er hatte gedacht: Ich will es sehen, wenn es passiert. Wenn sie mich umbringen wollen, sollen sie mir ins Auge sehen, bevor sie es tun. Er lüftete den Beutel bis zur Nasenspitze, zögerte dann aber. Ein scheußlicher Gedanke kam ihm: Wenn wir wissen, wer sie sind … Er ließ den Beutel einen Augenblick dort, wo er war, und sagte: »Wir brauchen nicht zu wissen, wer ihr seid. Jetzt haben wir keine Ahnung. Es ist doch besser, wenn wir-«

Sie unterbrach ihn wütend und schrie:

»Die Dinger runter! Los!«

Der Richter tat, was sie ihm sagte, aber er wandte die Augen von dem Gesicht der Frau ab.

»Sie verstehen wohl nicht, was ich sage, Alter!« rief sie ärgerlich.

Sie streckte den Arm aus und packte den Richter mit ihrem Daumen und Zeigefinger am Kinn und drehte seinen Kopf herum, so daß sie sich, ein paar Zentimeter voneinander entfernt, direkt in die Augen sahen. Sie stand über ihn gebeugt wie eine zornige Lehrerin, die ihren unartigen Schüler züchtigt.

»Sehen Sie mich an«, flüsterte sie. Tommy kamen ihre Worte schrill vor, wie ein Schrei. »Prägen Sie sich mein Gesicht genau ein. Alles, jede Einzelheit. Können Sie sehen, daß es einmal ein sehr schönes Gesicht war? Sehen Sie jetzt die Falten an den Augenbrauen? Sehen Sie sich mal die Krähenfüße an in den Winkeln der Augen! Und das Fett, das von meinen Kinnbacken herunterhängt! Was für eine Farbe haben meine Augen? Welche Form hat meine Nase? Und mein Kinn? Sehen Sie die Backenknochen? Und hier auf meiner Stirn, unterm Haaransatz, diese kleine Narbe?«

Sie schob sich mit einer jähen Bewegung das Haar aus der Stirn und zeigte ihm die kleine gezackte, von weißer Haut umrandete Linie.

»Erkennen Sie sie? Denken Sie dran. Die dürfen Sie nie vergessen, prägen Sie sich die genau ein.«

Sie richtete sich auf, sah dann herunter auf die beiden Tommys.

»Bis das hier alles vorbei ist, werden wir einander ja noch ganz genau kennenlernen«, sagte sie. »Sie müssen ’ne Menge lernen. Ihr beide.«

Die Frau beugte sich über sie und stieß plötzlich den Richter auf das Bett zurück. Sie griff ihm in die Tasche und zog seine Autoschlüssel heraus. Dann stand sie wieder aufgerichtet, lachend da und sah auf ihn herab.

»Du Schwein mußt besonders viel lernen. Dir werden wir hier schon die richtigen Flötentöne beibringen.«

Sie lächelte. Tommy hatte Angst vor ihrem Lächeln.

»Sehen Sie sich ruhig einmal um, Richter. Gehen Sie auf und ab, von einer Wand bis zur anderen und wieder zurück. Waren Sie schon mal in einer von diesen Zellen, in die Sie die Leute schicken? Schon mal eingelocht gewesen wie ein Krimineller? An der Wand da können Sie Ihre Striche machen. So ist das üblich im Knast. Nun stellen Sie sich bitte sechstausendfünfhundertsiebzig Striche vor. Alles klar?«

Sie machte eine Pause, und ihr Haß lag erstickend über dem engen Gefängnis.

Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. »Ich bringe euch bald euer Abendessen.« Dann wandte sie sich um und fügte im Gehen hinzu: »Es wäre am besten, wenn Sie sich hier nicht mucken würden.«

»Wir tun, was Sie uns sagen«, antwortete der Richter.

»Genau, ganz genau«, sagte die Frau. »Denn sonst werdet ihr krepieren.«

Sie sah Tommy an und sagte: »Ihr beide. Du auch.«

Dann ging sie. Sie hörten den Riegel, der ins Schloß krachte, als sie die Tür hinter sich zuzog.

Richter Pearson nahm seinen Enkel in die Arme und drückte ihn an sich.

»Nun, da stecken wir ja ganz schön in der Patsche«, sagte er. »Aber mach dir keine Sorgen. Wir kommen hier schon wieder raus.«

»Wie denn, Großvater?« Tommys Stimme zitterte.

»Ich weiß noch nicht genau, aber wir schaffen es bestimmt.«

»Ich will nach Haus«, sagte Tommy und kämpfte gegen die Tränen an. »Ich will nach Haus zu Mom und Dad.«

Die Tränen fingen an, ihm über das Gesicht zu laufen.

Der Großvater wischte sie ihm zärtlich von den Wangen.

»Wird schon wieder gut«, sagte er leise. »Mach dir keine Sorgen. Ich bin doch bei dir.«

Tommy schluchzte los und preßte das Gesicht gegen das Hemd des Großvaters, während sein Oberkörper zuckte.

Der alte Mann wiegte ihn in den Armen, hielt ihn fest und flüsterte immer wieder dieselben Worte: »Ich bin doch hier, ich bin doch hier.« Nach einigen Minuten ließ das Schluchzen des Jungen nach.

»Es tut mir leid, Großvater.«

»Schon gut, Tommy. Wenn man so ein bißchen weint, fühlt man sich hinterher besser.«

»Ich fühle mich auch besser.« Er rückte ganz nahe an seinen Großvater heran. »Paß mal auf, ich bin ganz stark. Ich werde später sicher ein Soldat, genau wie du.«

»Bestimmt.«

»Großvater, es ist aber schwer, tapfer zu sein, wenn man Angst hat. Sie hat gesagt, daß sie uns umbringen will.«

»Sie will uns nur Angst einjagen. Das ist alles.«

»Sie jagt mir Angst ein.«

»Mir auch, Junge. Ich weiß nicht so richtig, was sie mit uns vorhat, aber ich glaube, vor allem will sie uns Angst einjagen, damit wir das tun, was sie will. Je mehr Angst wir vor ihr haben, um so mehr hat sie uns in der Gewalt. Darum müssen wir aufpassen, daß unsere Angst nicht zu groß wird. Wenn wir gut aufpassen, fällt uns irgendwas ein, um hier rauszukommen.«

»Großvater, haben die uns entführt?«

Der alte Mann lächelte und wiegte den Enkel hin und her.

»Es sieht ganz so aus.« Er versuchte, es leicht dahinzusagen. »Wo hast du denn das Wort schon wieder aufgeschnappt?«

»Dad hat mir letztes Jahr so ein Buch vorgelesen. Ist sie eine Piratin?«

Richter Pearson versuchte sich an das Buch zu erinnern, aber es fiel ihm nur die Schatzinsel ein, und er mußte an Billy Bones und Long John Silver denken.

»Könnte man, glaube ich, sagen. So ein moderner Typ.«

Tommy nickte. »Sie benimmt sich genauso.«

Richter Pearson preßte den Jungen an sich. »Wirklich, ja«, sagte er. »Ganz genau.«

»Meinst du, daß sie uns umbringt?« fragte er.

»Nein, nein, nein, wie kommst du denn darauf?« widersprach ihm der Richter. Wahrscheinlich klang es nicht sehr überzeugend.

Tommy antwortete nicht, er schien angestrengt nachzudenken.

»Ich glaube, sie möchte das. Ich weiß nicht, warum, aber ich glaube, sie haßt uns.«

»Nein, Tommy, da irrst du dich. Das kommt dir nur so vor, weil sie auch Angst hat. Was weißt du denn über Entführungen?«

»Nicht viel.«

»Es ist verboten, darum ist sie so nervös.«

»Könntest du sie ins Gefängnis bringen, Großvater?«

»Und ob, Tommy. Sie aus dem Verkehr ziehen, damit sie keinen kleinen Jungen mehr Angst einjagen kann.«

Tommy lächelte, Tränen in den Augen.

»Ob die Polizei hierherkommt?«

»Ich glaube, ja.«

»Tun die ihr was?«

»Nur wenn sie sich wehrt.«

»Ich hoffe, sie tun ihr was. Sie hat dir weh getan.«

»Hat mir gar nichts ausgemacht.«

Richter Pearson hob die Hand an die Schläfe und berührte eine Beule. Etwas angeschwollen, dachte er, aber nichts Ernstes. Das würde wieder weggehen.

»Es sind drei Leute. Zwei Männer.«

»Das stimmt, Tommy. Aber vielleicht sind es noch mehr. Drei Stimmen haben wir gehört, aber es können noch andere dasein. Darum laß uns vorsichtig sein. Wir halten die Ohren steif und passen auf, wie viele es sind.«

»Wenn sie dich noch mal schlägt, schlage ich sie.«

»Nein, Tommy, das laß bitte!« Er drückte den Jungen wieder fest an sich. »Du kannst jetzt noch nichts gegen sie ausrichten. Warte, bis wir mehr wissen über das, was hier los ist. Für uns ist es ganz wichtig, nur zu tun, was uns hier wieder rausbringt.«

»Großvater, was ist hier denn eigentlich los?«

»Meistens geht es um Geld, das die Entführer verlangen.

Wahrscheinlich ruft sie jetzt gerade Mammi und Daddy an und sagt ihnen, uns geht es gut, und wenn sie ihr etwas Geld zahlen, läßt sie uns wieder frei.«

»Wieviel Geld?«

»Das weiß ich nicht.«

»Können wir ihr denn nicht das Geld geben und dann nach Haus fahren?«

»Nein, mein lieber Junge, so einfach geht das leider nicht.«

»Warum hat sie nicht Karen und Lauren entführt?«

»Ich glaube, sie hat sich ausgerechnet, wie lieb dich deine Mammi und dein Pappi haben, und da hat sie gedacht, die würden ihr eine Menge zahlen, damit sie dich wiederbekommen.«

»Wenn sie aber nicht genug Geld haben?«

»Mach dir darüber keine Sorgen. Dein Dad kann in seiner Bank immer etwas bekommen.«

Der Junge schien darüber nachzudenken, und Richter Pearson wartete auf seine nächste Frage.

»Großvater, ich habe immer noch Angst, aber ich habe auch Hunger. In der Schule gab’s heute gebackenen Käsetoast, und den mochte ich nicht so gern.«

»Sie bringen uns etwas zu essen. Du mußt nur etwas warten.«

»Ja, gut, aber ich warte nicht so gern. Mammi hat bestimmt Schmorfleisch und Gemüse gemacht, und das mag ich sehr.«

Richter Pearson hätte am liebsten auch losgeweint. Er sah seinen Enkel an und strich ihm mit der Hand durch das zerzauste Haar, dann nahm er sein Gesicht in beide Hände.

Auf ihnen zeichneten sich blau und geschwollen die Adern ab, und Altersflecken bedeckten die Handrücken; darunter lag die blasse, zarte Haut des Kindes. Er holte tief Luft, zog das Gesicht seines Enkels näher zu sich heran und dachte: Mach dir bitte keine Sorgen, Tommy. Ich lasse nicht zu, daß sie dir etwas antun. Er lächelte dann, und der Junge lächelte zurück. Sie wissen nicht, daß du noch dein ganzes Leben vor dir hast, und ich werde nicht zulassen, daß sie es dir nehmen.

»Einverstanden, Tommy, wir sind jetzt wieder zwei Soldaten.«

Sein Enkel nickte.

Der alte Mann sah sich um in dem Dachraum, in den sie eingesperrt waren. Fenster gab es nicht, nur eine niedrige, staubige Zimmerdecke und zwei primitive eiserne Bettstellen. Der Raum war kaum größer als eine Gefängniszelle, genau wie die Frau gesagt hatte, und ebenso beängstigend. Hoffnungslos. Die Decke fiel schräg nach einer Seite hin ab und gab der Dachkammer eine dreieckige Form. Auf dem einen Bett lagen ein paar Wolldecken, aber der Raum war warm. Er ging zur Treppe und sah hinunter auf die einzige Tür, durch die man hinein- und hinausgelangte. Er sah das nagelneue Schloß, das sich nur von außen mit einem Schlüssel öffnen ließ.

Dann schritt er den Raum ab, warf einen Blick in alle Ecken und fand nichts Bemerkenswertes. Aber irgendwo muß etwas sein, dachte er. Jeder Raum hat seine Geheimnisse. Man braucht nur Zeit, um sie zu entdecken.

Er sah sich die Eisenbetten und den Stapel olivfarbener Wolldecken an und erinnerte sich, wo er das alles schon einmal gesehen hatte. In einem anderen Leben, dachte er.

Er erinnerte sich, wie er durch das warme Wasser gewatet war, das sich wie Blut angefühlt hatte, und den Sand geschmeckt hatte, in den er sich warf, als der Strand erreicht war. An den Tod zu denken war keine Zeit gewesen, so sehr hatte die Angst ihn in Atem gehalten.

Damals war ich jung, dachte er, fast noch ein Kind, und trotzdem bin ich elfmal unter Beschuß gelandet. Er wußte noch, wie der Feldwebel sie angeschrien hatte: »Wenn Marinesoldaten hier fallen, dann lohnt es sich, darum zu kämpfen!« Er hatte nicht verstanden, was der Mann meinte - erst als es losging zum Strand, hatte er es begriffen: Erst kam Guadalcanal, dann Tarawa, dann Okinawa.

Jedesmal hatte er gedacht, es wäre der letzte Einsatz, wenn er sich über Bord des Truppentransportschiffs in das dröhnende, stampfende Landungsboot herabließ. Er hatte sich zwingen müssen, und immer hatte er gedacht, nun würde er dort fallen und nie mehr nach Haus kommen, außer in einer Kiste. Er wußte noch, wie überrascht er war, als er den Krieg überlebte. Er dachte: Ich habe doch nicht als Junge den ganzen Pazifikkrieg überlebt, nur um mich hier als alter Mann wie ein Rindvieh abschlachten zu lassen!

Er packte Tommys Schulter und drückte sie fest.

»Tommy, weißt du, wir werden uns etwas einfallen lassen.«

Der Junge nickte.

Richter Pearson dachte: Es ist zwar kein richtiges Schlachtfeld, aber wenn’s sein muß, lohnt es sich, auch hier zu fallen.

Olivia Barrow schloß die Tür hinter sich ab und schob den Riegel vor. Das Krachen erinnerte sie an all die haßerfüllten Jahre im Gefängnis, und ihr war, als verschlösse sie sie nun in jener Kammer. Aber sie dachte: Sei vorsichtig, das ist nur der Anfang, leg die Karten eine nach der anderen auf den Tisch!

Sie spürte ein Kribbeln der Erregung.

Es klappt, dachte sie. Sie hatte soviel Zeit und Mühe und Grips investiert, und nun zahlte es sich aus. Achtzehn Jahre habe ich mir das alles bis ins letzte ausgedacht, und nun schnurrt es ab, dachte sie. Ich finde es großartig.

Sie sprang die Treppe hinunter und traf Bill Lewis in der Küche an, wo er die Sandwiches zubereitete. »Was meinst du?« fragte er. »Möchten sie lieber Mayonnaise oder Senf?« Sie sahen einander an und platzten vor Lachen.

Immer noch lachend wandte er sich wieder dem Büffet zu und schmierte die Brote zu Ende. »Ich mache ihnen auch ein bißchen Suppe«, sagte er. »Sie sollen wissen, daß wir sie hier gut behandeln. Ihnen muß klarwerden, daß sie uns völlig ausgeliefert sind.«

Olivia trat hinter ihn und preßte ihren Körper gegen seinen Rücken.

»Wir haben sie in der Hand«, flüsterte sie.

Er legte Brot und Messer hin und wollte sich zu ihr umdrehen.

»Nein«, sagte sie und wich einen Schritt zurück. »Später.«

Sie strich ihm mit den Fingern über die Brust und die Gürtelschnalle und den Reißverschluß. Er wendete sich zu ihr, aber sie hob die Hand.

»Es gibt zuviel zu tun.«

»Ich kann nicht dagegen an«, sagte er. »Es ist so viele Jahre her.«

Sie beruhigte ihn mit einem strengen Blick. »Wo ist Ramon?« fragte sie.

»Er ist ein Stück die Landstraße hinuntergegangen, um festzustellen, ob jemand uns gesehen haben könnte.«

»Gut. Ich rufe jetzt an. Er kann mich hinfahren.«

»Und was ist mit unseren Gästen?«

»Für die bist du verantwortlich.«

»All right«, sagte er. »In einer Stunde seid ihr wohl wieder da.«

»So lange wird’s wahrscheinlich nicht dauern.«

Sie ließ Bill Lewis, den sie nun nicht mehr Ché nannte, am Büffet stehen, wo er gerade eine Dose Tomatensuppe öffnete. Sie hob eine kleine Stofftasche auf, die sie am Eingang bereitgestellt hatte, und trat in die kühle Abendluft hinaus. Dann spähte sie in die Dunkelheit und suchte Ramon Gutierrez. Schließlich hörte sie seine Schritte auf dem Kiesweg der Einfahrt und wartete, bis er heran war.

Er war ein drahtiger, kleiner Mann mit einem glänzenden, schwarzen Schnurrbart und Kraushaar. Sogar seine Bewegungen haben etwas Öliges, dachte sie. Bill hatte ihn angeheuert, er war früher mal sein Liebhaber gewesen, vor Jahren, als die beiden im Untergrund gelebt hatten.

Ramon war bei der Puertoricanischen Nationalistischen Bewegung gewesen, aber die hatte ihn wegen eines Zwischenfalls mit der zehnjährigen Tochter eines Führers der Bewegung abgehängt. Er war ein nervöser Mann, kriminell erfahren und knastologisch voll ausgebildet, ein Opfer seiner heftigen, widerstreitenden sexuellen Wünsche. Er hatte eine Zeit wegen der Vergewaltigung einer alten Frau abgesessen. Ein kleines Mädchen, eine alte Frau, eine Affäre mit einem anderen Mann diese Schwächen waren es gewesen, die ihn zu Olivia hingezogen hatten. Solange sie seinen erotischen Neigungen zuvorkam und sich bemühte, sie zu beherrschen, konnte sie alles von ihm verlangen. Er will mich, dachte sie. Bill will mich.

Jetzt gehören sie mir beide.

»Ramon«, sagte sie barsch, »hol die Schlüssel. Wir müssen jetzt anrufen, und wir müssen das Auto von dem alten Schwein da wegholen, bevor es jemand entdeckt.«

Er lächelte. »Du hast das alles prima ausbaldowert«, sagte er.

»Stimmt«, sagte sie. »Ich hatte ja auch Jahre Zeit dafür.«

Als sie im Auto saßen, sagte er: »Ich hab’ dem Alten nicht gern eins übergebraten, aber das hat mich so gepackt. Ich mußte an all die Brüder und Schwestern denken, die er wahrscheinlich schon verknastet hat, und da habe ich zugeschlagen. Wenn er eine Verletzung abbekommen haben sollte, würde mir das leid tun, weil wir ihn noch brauchen.«

»Was du gemacht hast, war genau richtig. Aber du mußt immer dran denken, daß es darauf ankommt, nicht den Kopf zu verlieren. Wenn etwas schiefgeht, dann immer deshalb, weil jemand nicht mehr weiß, was er tut. Bei uns läuft alles nach Plan. Wir wissen, was wir tun, sie haben keine Ahnung. Darum bleiben wir immer Herr der Lage.

Sie wissen nicht, was Sache ist, und sind deshalb aktions-unfähig. So muß es bleiben, und das gilt für beide, für unsere Gäste und unsere Gegner.«

Eine Zeitlang rollten sie schweigend dahin. Es fuhren noch andere Autos auf der Landstraße, und die Scheinwerferlichter bohrten sich durch die Abenddämmerung. Sie fahren alle von der Arbeit nach Hause, dachte sie. Ein nettes Abendessen, vielleicht noch ein bißchen Fernsehen.

Dann machen sie eine Dose Bier auf und sehen sich ein Baseballspiel an oder Football oder auch eine der zwei von diesen Komödien und dann eine Krimiserie, irgendwas mit Bullen. Ein bißchen Brutalität vor den Nachrichten und vielleicht noch ein bißchen Beinebreit und Stoß-und-Ächz unter der Bettdecke vor dem Einschlafen. Alles so selbstgefällig und gleichgültig und gewöhnlich. Und sie haben keine Ahnung, wer hier ist, mitten unter ihnen.

»So wie du es einem erklärst, ist alles ein Kinderspiel«, sagte er, und es war so etwas wie Bewunderung in seiner Stimme.

»Bisher läuft ja auch alles wie am Schnürchen«, sagte sie. »Und weißt du was?«

»Was?«

»Jetzt kommt der zweite Teil des Kinderspiels.«

Sie fuhren die Hauptstraße des Städtchens hinunter. Am Postamt vorbei, an der Polizeiwache vorbei, dann kamen das College Inn und noch ein paar Restaurants. Sie sah eine Menge Studenten auf Pizzabäckereien und Sandwich-Bars zusteuern, Geschäftsleute und Frauen in Mänteln und mit Aktentaschen strebten ihre geparkten Autos an. So ein richtiges, gemütliches Kleinstadtgewimmel.

Sie deutete auf eine Telefonzelle an der Ecke gegenüber einem bescheidenen, modernen Bürohaus. »Laß mich dort raus und bleib im Wagen sitzen, während ich anrufe.«

»Ist es hier?« fragte Ramon. Seine Stimme klang etwas nervös.

»Ja, hier!« lachte sie ihn aus. »Genau hier. Da drin ist sein Büro, und er weiß nicht, was jetzt mit ihm passiert.«

Ramon nickte und schluckte.

»Ich tanke«, sagte er. »Man sollte immer einen vollen Tank haben.«

»Richtig«, sagte sie.

Sie sah ihren Atemhauch in der Dämmerung, er sah wie Rauch aus. Sie blickte zu Ramon, der vom Bordstein abfuhr, auf die Selbstbedienungstankstelle zu. Er winkte, als er losfuhr.

Er hat keinen Mumm in den Knochen, dachte sie. Wenn er irgendwas macht, tut er es entweder aus Angst oder aus Schwäche.

Dann schob sie den Gedanken von sich und konzentrierte sich auf die vor ihr liegende Aufgabe. Sie betrat die Telefonzelle und steckte einen Vierteldollar in den Schlitz.

Sie hatte sich die Nummer eingeprägt und wählte rasch. Es war kurz nach siebzehn Uhr. Sie wußte nicht genau, ob die Sekretärin noch da war. Das Telefon läutete zweimal, und dann hörte sie die Stimme. Die Stimme, die sie hören wollte, auf die sie all die Jahre gewartet hatte.

»… Hallo! Hör mal - ich bin schon so gut wie weg«, sagte er ohne irgendeine Einleitung. »Ich komme.«

Ohne nachzudenken sagte sie:

»Ach tatsächlich? Kann ich mir aber nicht vorstellen, daß du noch irgendwohin kommen wirst. Jetzt nicht mehr.«

Ihr Herz machte einen Freudensprung, als er nicht antwortete.

Er hat’s kapiert! dachte sie. Er hat verstanden!

Ich wußte das. Ich wußte es die ganze Zeit.

Und in diesen wenigen Sekunden, als Duncan Richards in Panik über diese Erinnerung geriet, war ihr, als hätte es diese achtzehn Jahre nie gegeben. Sie konnte sich kaum noch beherrschen.

 

Oben in der Dachkammer hatte Richter Pearson gehört, daß jemand den Motor des Wagens startete und dann über den Kies die Einfahrt hinunterrollte. Jetzt fahren sie los, um anzurufen, dachte er. Sie sind schlau genug, nicht ihr eigenes Telefon zu benutzen. Er saß auf der Bettkante und hielt Tommy im Arm. Dann richtete er sich rasch auf.

Eine Gelegenheit, dachte er. Vielleicht.

Er erhob sich mit einem Ruck.

»Paß auf, Tommy, wir probieren jetzt etwas aus. Du versteckst dich hinter dem Bett. Duck dich, daß man deinen Kopf nicht sieht, falls wir Ärger kriegen. Mach schnell.«

Tommy nickte und quetschte sich hinter das Bett, bis man ihn nicht mehr sah. Der Richter ging an die Tür der Dachkammer und klopfte sehr laut.

»He! He da draußen! Herkommen! Hilfe!«

Er zögerte, dann fing er an, gegen die Tür zu hämmern.

Er merkte, daß das Schloß sehr fest zu sein schien, aber die ganze Tür vibrierte leicht, als er dagegenschlug. Die Tür selbst, das begriff er, war nicht massiv, sondern bestand wie viele moderne Türen aus zwei Spanplatten mit einem leeren Zwischenraum in der Mitte.

»Hallo da draußen!«

Er wartete und hörte endlich Schritte die Treppe heraufkommen.

»Was willst du denn, Alter?«

Nummer zwei, dachte Tommy. Er duckte sich tiefer hinunter, aber er hielt den Kopf oben, damit er seinen Großvater sehen und hören konnte, was vor sich ging.

»Hören Sie mal, ich muß einmal austreten. Ich habe es an der Blase und - und« - der Richter zögerte - »diese ganze Aufregung hat es noch schlimmer gemacht.«

»Was?«

»Ich muß auf die Toilette.«

»Himmelherrgott!«

»Hören Sie, einer von Ihnen kann auf mich aufpassen und mitkommen, und der andere paßt auf den Jungen auf. Bitte …«

»Nein, nein, nicht jetzt.«

Er ist allein, dachte der Richter. Es sind nur drei, und zwei sind mit dem Wagen weggefahren. Er überlegte, was jetzt zu tun war.

»Hören Sie mal, benutzen Sie den verdammten Eimer«, sagte Bill Lewis.

»Was für einen Eimer?«

»Mist, es ist kein Eimer da?«

»Nein.«

»Himmelherrgott!«

Bill Lewis sah sich um und entdeckte den Eimer, den er vor der Aktion in die Dachkammer hatte stellen wollen, in einer Ecke der Diele. Er verfluchte seine Gedankenlosigkeit. Verdammt, dachte er, die ganze Sache gefällt mir gar nicht. Ich traue diesem Alten kein bißchen. Wo, zum Teufel, ist Olivia?

Richter Pearson atmete tief durch.

Der Mann war allein, das wußte er jetzt. Die anderen waren tatsächlich im Wagen weggefahren und hatten ihn hiergelassen. Er war unerfahren und unsicher und hatte Angst.

Er atmete durch. Jetzt, dachte er. Jetzt.

Wenn er die Tür öffnet, um mich zur Toilette zu begleiten oder um mir diesen Eimer zu geben, ist die Gelegenheit da. Ganz gleich, was er für eine Waffe hat.

Der alte Mann duckte sich, sprungbereit, und redete seinen uralten Muskeln gut zu: Beine, ihr müßt auf ihn draufspringen. Arme, ihr müßt ihn packen. Hände, würgt ihn, bis er tot ist. Er spannte sich, beugte sich vor und wartete, daß die Tür aufging.

Bill Lewis zögerte.

Es ist so lange her, dachte er. Und so etwas habe ich noch nie gemacht. Plötzlich ergriffen ihn Zweifel, und sein Herz schien sich zusammenzukrampfen. Dann schob er alles Zögern von sich und sagte sich: Dazu bin ich ja hier.

Das bringt doch die Kohle. Eine Menge Kies. Sei nicht albern. Mach keine Sachen.

Einen kurzen schwankenden Augenblick lang fragte er sich, ob er sich das alles nur vormache.

Dann schluckte er heftig und nahm die Waffe, die er sich über die Schulter gehängt hatte, als er den Alten rufen hörte. Es war eine kleine Maschinenpistole, und er sah zweimal nach, ob der Ladestreifen richtig eingerastet war.

Er schnippte den Sicherungsflügel los und drückte den kleinen Hebel an der Seite vorwärts auf Vollautomatik. Er dachte, es wäre wohl besser gewesen, wenn er mehr als einmal Gelegenheit gehabt hätte, die Waffe zu benutzen.

Vorsichtig und ängstlich berührte er den Abzug.

Dann legte er die Hand auf den Türriegel.

»Bitte, ich muß ganz dringend …«

Richter Pearson hockte sprungbereit mit verkrampften Muskeln hinter der Tür. Er lauschte auf seine heuchlerisch zittrige Stimme, als ob sie von jemand anderem käme. Er schloß einmal die Augen, konzentrierte sich und bereitete sich vor, über den Mann da draußen vor der Tür herzufallen.

»Also gut, einverstanden«, sagte Lewis.

Aber statt die Tür zu öffnen, zögerte er noch einmal.

»Hören Sie mal«, sagte er, nachdem er einen Augenblick nachgedacht hatte. »Alter, paß mal auf: Ich bin bewaffnet, und mit mir macht man keine Spielchen und keine krummen Touren. Ich stelle den Eimer neben die Tür.

Dann mache ich die Tür auf, das heißt: Ich schiebe den Riegel beiseite. Und du wartest, bis ich dir sage, daß du die Tür aufmachen und den Eimer nehmen kannst.«

Er holte tief Luft und schob den Eimer mit dem Fuß bis an die Tür der Dachkammer.

»Hör mir jetzt mal genau zu, Alter. Ich bring’ dich um.

Ich mach’ dich so schnell kalt, daß du nicht mal Zeit hast zu kapieren, daß du auf dem Weg zur Hölle bist. Wenn du irgendeine Bewegung machst, die mir nicht gefällt, dann bist du tot, Alter.«

Er machte eine Pause, damit der Richter über seine Worte nachdenken konnte.

»Und dann haben wir immer noch den Jungen.«

Bill Lewis wartete, die Hand auf dem Türriegel.

»Alter, was sagst du? Ich will hören, was du sagst.«

»Ja, gut«, sagte Richter Pearson. Er erstarrte in der gekrümmten Haltung, die er eingenommen hatte.

»Hör mal genau zu«, sagte Bill Lewis.

Er riß den Hebel zurück, der die erste Patrone des Ladestreifens in die Gewehrkammer drückte, so daß die Waffe voll schußbereit war.

»Kennst du das Geräusch, Alter?«

»Nein …«

»Das ist eine schußbereit gemachte Maschinenpistole.«

Er legte wieder eine Pause ein.

»Eine häßliche Art zu sterben. Lauter Kugeln und eine blutverschmierte Leiche.«

»Ich verstehe.« Er spürte, daß seine Muskeln erschlafften, die Spannung ließ nach. Er fühlte sich hin- und hergerissen. Ist das jetzt der richtige Augenblick? Er ist allein, aber werde ich mit ihm fertig? Einfach drauf! Nein, warte! Warte. Nein, jetzt ist der Moment! Los!

Es war, als schrien zwei unbekannte Stimmen in ihm aufeinander los, die beide seine Aufmerksamkeit heischten.

Er richtete sich auf. Eine dritte Stimme, seine eigene, ihm bekannte, die nach so vielen Streitigkeiten Entscheidungen gefällt hatte, meldete sich:

Nein. Nicht jetzt. Warte.

»Ich kann gar nicht danebenschießen. Nicht mit dieser Waffe.«

»Ja, ich habe verstanden«, sagte der Richter. Einen Augenblick fühlte er die Last all seiner Jahre, eine große, deprimierende Müdigkeit.

Bill Lewis schrie: »Bist du soweit, Alter?«

»Ja.«

»Ich höre dich nicht, Alter.«

»Ja, ich bin soweit. Ich nehme den Eimer.«

Während Richter Pearson noch sprach, nahm Bill Lewis den Schlüssel, steckte ihn ins Schloß, drehte ihn herum und schob den Riegel zurück, dann trat er beiseite. Er hob die Maschinenpistole bis in Hüfthöhe und richtete sie auf die Tür.

»So. Jetzt mach die Tür auf und nimm dir den Eimer.«

Er sah die Tür langsam aufgehen, hinter der der Richter erschien, der ihn von unten bis oben ansah, bis sein Blick an der Maschinenpistole haften blieb. Lewis deutete mit der Maschinenpistole auf den Eimer. Der Richter nickte und nahm ihn beim Henkel.

»Danke«, sagte der Richter. »Wir sind Ihnen dankbar dafür.«

Lewis starrte ihn an.

»Kein Problem. Wir wollen, daß Sie sich während der ganzen Dauer Ihres Aufenthalts bei uns so richtig wohl fühlen.« Er rollte seine R’s genüßlich und grinste, als der alte Mann nickte.

»Ach - Herr Richter?«

»Ja?«

»Möchten Sie Mayonnaise oder Senf auf Ihre Brote?«

Bill Lewis lachte, als er die Tür hinter dem alten Mann wieder abschloß und verriegelte. Er ging fort und erinnerte sich nicht einmal mehr daran, was für eine Angst er zuerst gehabt hatte - was eine ebensogroße Schwäche wie die Angst selbst war.

 

Olivia Barrow ließ das Schweigen in der Telefonleitung anwachsen, bis es sich in alle Endlosigkeit auszudehnen schien. Sie konnte sich das käsebleiche Gesicht ihres Opfers vorstellen.

»Wer spricht denn da?« hörte sie ihn schließlich fragen.

»Duncan, na hör mal! Wirklich! Du weißt, wer ich bin.«

Sie sprach diese Worte wie eine Lieblingstante, die ihren verzärtelten Neffen halbherzig ausschilt, weil er ihr eine häßliche alte Vase zerbrochen hat.

»Müssen wir wirklich solche Ratespiele spielen?« fragte sie ihn.

»Nein«, antwortete er.

»Dann sag meinen Namen«, bat sie ihn. »Sag, wie ich heiße.«

»Olivia. Tanya.«

»Richtig.«

»Ja, willst du deine alte Kampfgefährtin denn nicht begrüßen?« fragte sie. »Es ist doch so lange her, und da hatte ich mir ein nettes, herzliches Hallöchen vorgestellt und wie es mir geht und wie es mir ergangen ist und was all die Jahre aus mir gemacht haben. So eine Art Klassentreffen-Hallöchen, weißt du.«

»Es ist lange her«, erwiderte er.

»Aber wir erinnern uns doch wohl noch, oder etwa nicht? Wir erinnern uns an alles, auch wenn es schon sehr lange her ist.«

»Ja. Ich erinnere mich.«

»Tatsächlich, Duncan. Du erinnerst dich, wie du mich im Stich gelassen hast, damit ich krepiere, du feiger Hundesohn?«

»Ich erinnere mich«, sagte er.

»Du erinnerst dich, wie Emily krepiert ist, weil du nicht da warst? Weil du uns alleingelassen hast auf der Straße mit all den Bullenkanonen, die auf uns gerichtet waren, du schleimige feige Ratte, du Bastard du?«

»Ich erinnere mich.«

Olivia konnte sich nicht mehr beherrschen. Der Hörer zitterte in ihrer Hand.

»Weißt du, wie lange ich an diesen Tag gedacht habe?«

»Ich kann es mir vorstellen.«

»Jede Minute und jeden Tag, achtzehn Jahre lang.«

Duncan sagte nichts.

Olivia holte Luft und atmete zweimal tief durch. Dann hielt sie den Atem an und lauschte in die anbrechende Nacht hinaus, horchte auf die Atemgeräusche, die durch die Telefonleitung kamen. Sie hörte, daß er Angst hatte, und sie sog die kalte Luft tief ein, um ihre Beherrschung wiederzugewinnen.

»Hast du irgend etwas zu sagen?« fragte sie ihn.

Er schwieg und wartete.

»Damit hatte ich auch nicht gerechnet.«

Sie holte noch einmal tief Luft und fühlte, wie der wahnsinnige Zorn, der in ihr hochgekommen war, von dem altbekannten, stetigen Haßgefühl abgelöst wurde.

»Der Zahltag ist da«, sagte sie.

Sie ließ das Wort aushalten.

»Wie meinst du das?« fragte er.

»Das ist ein Knastausdruck, Gefängnissprache, Duncan, etwas, worin ich mich sehr gut auskenne und du nicht, meinetwegen nicht. Weil ich denen nie gesagt habe, wer du warst. Dieses Wort benutzt man, wenn einem jemand etwas schuldet und man kommt, um die Schulden einzutreiben. Darum bin ich hier, Duncan. Ich komme, um dich abzukassieren.«

Sie flüsterte ins Telefon: »Ich habe sie, du Ratte, du Bastard. Ich hab’ sie, und du wirst zahlen.«

»Wen? Was? Wovon redest du? Was sagst du?«

Sie spürte seine Panik, und eine tiefe Zufriedenheit erfüllte sie.

»Ich hab’ sie beide. Ich hab’ sie auf dem Parkplatz an der Schule abgefangen, und jetzt habe ich sie. Du weißt, von wem ich rede.«

»Bitte …« Duncan wollte etwas sagen.

Das Wort versetzte sie in Wut.

»Bitte mich nicht! Bettele nicht, du Feigling, du hast deine Chance gehabt, und du hast versagt. Du hättest dasein sollen, und du warst nicht da!«

Wieder herrschte Schweigen in der Leitung.

»Was willst du?« fragte Duncan, nachdem ein paar elende Sekunden verronnen waren.

Sie zögerte.

»Nun, Duncan, es scheint dir ja ganz gut zu gehen. Du hast Glück gehabt, hast es zu etwas gebracht, es hat sich für dich gelohnt. Du hast verdammt gut abkassiert.«

Sie holte tief Luft und ließ eine Pause eintreten. »Ich will alles haben, alles.«

»Bitte, tu ihnen nichts. Du kannst alles haben.«

»Richtig. Ich kann.«

»Bitte«, sagte Duncan wieder, vergaß, wozu sie ihn gerade ermahnt hatte.

»Du willst sie wiedersehen, dafür mußt du zahlen, Duncan.«

»Das tue ich.«

»Ich nehme nicht an, daß ich all diese albernen Drohungen aufzählen muß, oder muß ich das? So wie sie das im Fernsehen machen. Daß du nicht die Bullen anrufen sollst.

Zu keinem Menschen einen Ton. Nur das tun, was ich dir sagen werde. Muß ich dir das alles erzählen?«

»Nein, nein, nein, alles, was du willst, ich tu alles - alles-«

»Gut. Wir unterhalten uns bald wieder darüber.«

»Nein - warte! Großvater, mein Sohn, wo -«

»Er ist okay. Auch der Alte, dieses Faschistenschwein, der Richter. Keine Angst. Ich habe sie noch nicht umgelegt. Noch nicht - so, wie du Emily umgelegt hast. Sie haben immer noch eine Chance -«

»Bitte, ich weiß nicht -«

»Aber ich, Duncan. Ich lege sie genauso locker um, wie du Emily umgelegt hast und mich beinahe auch. Verstehst du das?«

»Ja, ja, aber –«

»Ob du das verstehst?!« schrie sie.

»Ja.« Er sagte nichts mehr.

»Gut, Duncan. Jetzt brauchst du etwas Geduld. Ich melde mich wieder bei dir. Ich habe achtzehn Jahre dringesessen. Jetzt kannst du bestimmt ein paar Stunden warten.«

Sie lachte ihn aus.

»Gute Nacht. Viele Grüße an deine Puppe, Rechenkünstler.«

Dann hängte sie den Hörer auf.

Olivia Barrow trat rasch aus der Telefonzelle. Dann starrte sie gedankenversunken auf die Zelle wie ein Vermessungsbeamter, der ein Grundstück abmißt. Dann entdeckte sie Ramon, der den Wagen ein Stück weiter die Straße hinauf auf einen Parkplatz gefahren hatte. Sie winkte und ging rasch zu ihm hinüber. Er öffnete ihr die Tür, und sie setzte sich in das Fahrzeug.

»Wie war’s?« fragte Ramon.

Sie war furchtbar erregt. Sie ballte die Fäuste und schlug auf das gepolsterte Armaturenbrett, und es hörte sich an wie ein Trommelwirbel.

»Irgendwas schiefgelaufen?« fragte Ramon besorgt.

»Nein«, sagte sie. »Es ist nur so ’n tolles Gefühl, ich muß irgendwas tun.«

Ramon schien sich zu entspannen.

»Gut, gut«, sagte er. »Erzähl mir, wie es war.«

»Später, wenn wir zu Hause sind«, sagte sie. »Ich erzähl’s euch dann, beiden, dir und Bill.«

»Okay«, sagte er, immer noch nervös. »Er kommt mit dem Zaster rüber? Was?«

»Er zahlt. Keine Angst.«

Ramon lächelte.

»Okay«, sagte er. Er schaltete die Zündung ein.

»Warte«, sagte sie.

»Wollen wir jetzt hier nicht weg?«

»Nein«, sagte sie. »Da ist noch was.«

»Ich versteh’ nicht«, sagte er. Aber sie schwieg und sah aus dem Fenster des Wagens.

»Dauert bestimmt nur noch ein oder höchstens zwei Minuten.«

Sie beobachtete die Vorderseite der Bank. Komm, Duncan, dachte sie. Ich möchte dein Gesicht sehen.

Während sie die Front der Bank anstarrte, begannen die Lichter im Inneren zu erlöschen. Ein Moment verging, dann öffnete sich die Eingangstür. Sie sah über die Straße hinweg und erblickte Duncan.

»Na also«, lachte sie. »Wenigstens hat er keinen Herzanfall gekriegt.«

Olivia sah, wie er die Schlüssel für die Bank auf die Erde fallen ließ. Sie sah, wie er sich bückte und noch einmal anfing, die Türen abzuschließen. Sein Regenmantel hing schief an seinem Rücken, seine Hände bewegten sich in rasender Eile. Sein Aktenkoffer war offen und voll von Papieren. Sie sah, mit welch panischer Eile er seine Handlungen verrichtete. Sie stellte fest, daß er zwei Sorten Schlüssel benutzte, und dann schloß er einen elektrischen Kontrollkasten neben der Eingangstür auf. Sie sah ihn eine Reihe von Zahlen auf etwas drücken, das sie für ein Schaltbrett hielt. Sie wunderte sich, wie ruhig seine Hand war.

»Also, ich glaube, ich …«, sagte sie laut. »Der Bastard weiß, wie man die Sicherungsanlage aktiviert.« Sie sah zu, wie Duncan die Vorderfront der Bank verließ und halb stolpernd zu einem kleinen Parkplatz rannte.

Ramon grinste sie nervös an.

»Wollen wir jetzt los?« fragte er.

»Geduld, Ramon, Geduld. Wir erfahren hier was.«

Sie sah Duncans Wagen aus der Einfahrt herauskommen und beschleunigen, als er an dem Parkplatz vorbeifuhr, auf dem sie standen.

»Okay, Ramon, jetzt ganz schnell hinter dem Bastard und seinem hübschen neuen BMW her.«

»Warum?«

»Tu’s einfach!«

Ramon fuhr los, bog um die Ecke auf die Straße und hatte Duncans Wagen bald erreicht.

»Angenommen, er knallt dich ab …«

»Wie soll er das denn schaffen? Der blöde Hund ist doch froh, wenn er es ohne einen Unfall bis nach Haus schafft.

Aber wenn es dich glücklich macht, gib ihm einen kleinen Vorsprung und achte nur darauf, daß du ihn im Auge behältst.«

»Alles klar.«

Ramon nahm den Fuß einen Augenblick lang vom Gaspedal, bis sich der Abstand zwischen ihnen vergrößert hatte, und beschleunigte dann wieder.

»Warum machen wir das? Wir wissen, wo er wohnt. Wir waren doch schon da.«

»Stimmt. Ich möchte nur sicher sein, daß er wirklich nach Hause fährt und nicht zum FBI.«

»Ach, ich verstehe. Nur zur Sicherheit.«

»So ist es.« Mit der Erklärung konnte Ramon etwas anfangen. Er fuhr mehrere Minuten lang mit größerer Anteilnahme hinter dem BMW her. Sie gelangten rasch aus der Stadtmitte in von Bäumen gesäumte, stille Vorortstraßen. Olivia behielt Duncans Scheinwerfer im Auge.

»Er biegt jetzt in die East Street ab.«

»Noch ein halber Block. Gib ihm eine Minute Vorsprung, und dann fahren wir ganz langsam und gemütlich vorbei.«

Sie drehte sich um, als sie an dem Haus vorbeikamen, und sah Megan und Duncan im Eingang stehen, wie erstarrt von dem Ereignis, das sie über sie gebracht hatte.

»All right«, sagte sie mit größter Befriedigung. »Jetzt lassen wir ihnen noch einmal viel Zeit, damit sie in Ruhe über alles nachdenken können. Damit die Sorgen und die Angst sich langsam steigern, bis es in ihnen kocht.«

Ramon nickte und griente. »Zurück nach Haus?«

»Erst muß ich mir den Wagen von dem Richter holen und irgendwo in den Wald fahren. Dann kümmern wir uns um unsere Gäste.«

Sie dachte: Es ist, als ob man sich etwas zu essen kocht.

Jetzt lassen wir es eine Zeitlang schmoren, bevor wir die Hitze voll andrehen.

 

Megan und Duncan taumelten in das Wohnzimmer ihres Hauses und setzten sich einander gegenüber, überwältigt von der Flut der Fragen und unfähig, etwas zu sagen. Nach dem ersten Schock und dem Tränenschwall, der auf Duncans Heimkehr folgte, waren die beiden nun wie gelähmt und am Rand der Panik.

Megan versuchte sich zu beherrschen, wußte nicht mehr genau, ob eine Stunde oder erst eine Viertelminute vergangen war. Es kam ihr vor, als hätte die Zeit sich ihrem Zugriff entzogen und wirbelte nun außer Kontrolle um sie herum. Sie versuchte ihre Gedanken auf ein paar einfache Dinge zu konzentrieren: Es ist Dienstag. Wir sind zu Haus. Es ist Zeit zum Abendessen.

Aber die Anstrengung war zu groß, sie schaffte es nicht.

Ich muß mich auf etwas konzentrieren, redete sie sich zu.

Sie blickte im Raum herum und sah all die bekannten Gegenstände, suchte sich einige aus und zwang sich, daran zu denken, wie sie sie erworben hatte: Die antike Kommode dort hatte sie in einem Laden in Hadley erstanden und mühevoll selbst restauriert; die Keramikschalen stammten aus der Töpferei in Mystic; das Aquarell mit den Schiffen im Hafen war von einer Freundin, die wieder zu malen angefangen hatte, nachdem die Kinder aus dem Haus waren. Jeder dieser Gegenstände war mit ihrem Leben erfüllt, erinnerte sie daran, wer sie an jenem Tag gewesen war, wer sie am folgenden werden sollte.

Trotzdem zerfloß alles vor ihren Augen. Sie fand keinen Trost in den Sachen, sie war gar nicht da, irgendwo anders hin hatte es sie geschleudert. So muß es sein, wenn man tot ist, dachte sie.

»Ich versteh’ nichts«, sagte sie schließlich.

»Was verstehst du nicht?« schnauzte er sie an.

»Also: Ich weiß auch nur folgendes: Kurz nach fünf, ein paar Minuten nach deinem Anruf, klingelt das Telefon und Olivia Barrow ist dran. Sie sagt, sie hat die beiden Tommys vom Schulhof abgeholt und in ihrer Gewalt. Sie sagt, wir müssen Geld zahlen, wenn wir sie wiederhaben wollen.«

»Aber ich dachte, sie wäre im Gefängnis …«

»Offenbar ist sie das aber nicht!«

»Bitte, laß deinen Spott!«

»Ich verstehe nicht, wieso es nicht scheißegal ist, wie sie hergekommen ist! Sie ist hier! Nur das zählt!«

Megan sprang auf und rannte durchs Zimmer, von ihrer Angst getrieben, wußte sie nicht mehr, was sie tat. »Du hast das gemacht! Du warst das! Meinen Tommy! Meinen Dad! Es ist alles deine Schuld! Das waren deine blöden Freunde! Ich wollte ja nichts mit ihnen zu tun haben!

Revolution spielen! Wie konntest du?! Du Hund!« Sie schlug auf Duncan ein, der überrascht zurückwich. Ihr erster Hieb traf ins Leere, den zweiten fing er ab. Sie warf sich auf ihn und drosch mit beiden Armen wild auf ihn ein und stöhnte. Er hielt sie fest, und schließlich brach ihr Widerstand in seinen Armen zusammen. Er legte die Arme um sie, und zusammen wiegten sie sich hin und her.

Nachdem sie eine Zeitlang geschwiegen hatten und nur das Knarren des Sessels von ihren Schaukelbewegungen und ihr leises Schluchzen zu hören gewesen waren, brachte sie schließlich die Worte heraus: »Es tut mir leid.

Ich konnte einfach nichts dagegen tun. Ach, Duncan.«

»Ist schon gut«, flüsterte er. »Ich verstehe dich ja.«

Er machte eine Pause. »Damals waren wir anders«, sagte er.

Sie sah durch die Tränen zu ihm auf. »Duncan, bitte, du mußt vernünftig sein. Mein ganzes Leben lang, seit wir uns zum erstenmal getroffen haben, warst du immer der ruhige Punkt, bitte, bleib jetzt so. Sonst weiß ich nicht, wie wir das durchstehen sollen.«

»Ja«, sagte er. »Ich werde mein Bestes versuchen.«

Sie waren still. Sie spürte ein Würgen im Hals. »Oh, mein armes Baby«, sagte sie. Sie drückte seine Hand ganz fest, und hunderterlei Gedanken schossen ihr wie wild durch den Kopf. Sie schluckte heftig.

»Was sollen wir tun?« fragte sie schließlich mit gleichmäßiger, tonloser Stimme.

»Ich weiß es nicht.«

Sie nickte, und sie wiegten sich weiter hin und her.

»Mein Baby«, sagte sie. »Mein Vater.«

»Megan, hör mir zu. Sie kommen gesund wieder. Er als Richter weiß, wie er sich zu verhalten hat. Er wird aufpassen, daß Tommy nichts geschieht. Ich weiß es.«

Sie richtete sich auf und sah ihn an.

»Glaubst du das?«

»Klar. Der alte Junge hat noch eine Menge auf dem Kasten.«

Sie lächelte.

»Das hat er.«

Megan legte die Hand auf Duncans Wange. »Sogar wenn es nicht stimmt, der Gedanke tut jedenfalls gut.«

»Worauf es ankommt, ist, daß wir nicht in Panik geraten.«

»Aber wie sollen wir das verhindern, Megan?«

»Ich wollte, ich wüßte das.«

Sie fing wieder an zu weinen, hörte jedoch augenblicklich auf, als eine andere Stimme sie rief: »Mom? Dad? Was ist los?« Es war Karen, sie stand in der Türöffnung.

Hinter ihr steckte Lauren den Kopf herein.

»Wir haben gehört, wie du geweint hast, und dann habt ihr euch gestritten. Wo ist Tommy? Wo ist Großvater? Ist irgend etwas passiert? Geht es ihnen gut?« In beiden Stimmen hörte man die Angst.

»Oh, Gott, Mädchen«, sagte Megan.

Duncan sah die Mädchen bleich werden. Einen Augenblick lang konnte er nicht sprechen, als er den Schreck über ihre Gesichter huschen sah.

»Sind sie verletzt?« fragte Karen, und ihre Stimme erhob sich, als ob sie plötzlich begriff, daß sie etwas verloren hatten.

»Wo sind sie? Was ist los?« fragte Lauren wieder.

»Mom? Dad?« Beide Mädchen fingen vor Verwirrung und Angst zu weinen an.

Duncan holte tief Luft.

»Kommt her, Mädchen, setzt euch. Es geht beiden gut, soweit wir wissen …«

Er sah die beiden ins Zimmer treten, ihre Bewegungen waren wie immer gleichmäßig, als ob sie unsichtbar miteinander verbunden wären. Er sah ihr Entsetzen, etwas Unverständliches hatte sie getroffen. Sie nahmen auf einem Sofa gegenüber ihren Eltern Platz.

»Nein, kommt näher«, sagte er.

Die Zwillinge setzten sich auf den Boden, nahe den Füßen ihrer Eltern. Sie weinten beide leise vor sich hin, wußten noch nicht, weshalb, ahnten nur, daß etwas das Gleichgewicht der Familie gestört hatte.

Duncan packte den Stier bei den Hörnern:

»Tommy und Großvater sind entführt worden«, sagte er.

Die Gesichter der beiden Mädchen wurden rot, ihre Augen weiteten sich.

»Entführt! Wer?«

»Wie?«

Er wußte nicht, wie er darauf antworten sollte. Das Schweigen breitete sich im Zimmer aus. Er sah, daß etwas anderes als Traurigkeit ihre Tränen ersetzt hatte. Es war auch keine Angst. Er konnte sich nicht vorstellen, was in ihren Köpfen vor sich ging, und das machte ihm Sorgen.

Er hob die Hand. »Ihr müßt einfach ein bißchen abwarten und Geduld haben.«

Er fühlte Megans Hand auf dem Knie, drehte sich um und sah einen anderen Ausdruck als zuvor auf ihrem Gesicht.

»Wir müssen es ihnen erzählen«, sagte Duncan. »Sie gehören mit dazu. Wir sind immer noch eine Familie, und wir stecken alle genauso drin. Sie müssen irgendwann die Wahrheit erfahren.«

»Was ist die Wahrheit? Wieviel Wahrheit?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht.«

»Duncan, sie sind noch Kinder!« Sie streckte die Arme nach den beiden aus, drückte sie an sich. Die Zwillinge machten sich frei.

»Sind wir nicht! Wir müssen es wissen!«

»Genau! Komm, Mama!«

Duncan schwieg einen Augenblick. »Megan, da ist mir gerade noch etwas eingefallen: Woher wissen wir, daß sie nicht auch in Gefahr sind?«

Megan brach in ihrem Sessel zusammen, als ob sie etwas erschlagen hätte.

»Oh, nein, glaubst du wirklich?«

»Ich weiß es nicht. Wir wissen gar nichts.«

Megan nickte. Sie schluckte schwer und zwang sich dazu, gerade zu sitzen.

»Mädchen, ich möchte, daß ihr in die Küche geht und Kaffee kocht. Wenn ihr Hunger habt, nehmt euch etwas zu essen. Laßt euern Vater und mich ein paar Minuten allein, während wir das ein bißchen durchsprechen, dann könnt ihr wiederkommen, und wir erzählen euch alles«, sagte Megan mit ihrer Mutter-weiß-es-am-besten-Stimme, die sie immer benutzte, wenn sie ein uferloses Gespräch beenden mußte.

»Aber Mom!«

»Los!« befahl sie.

Duncan sah, daß Karen ihre Schwester am Ärmel zog.

Sie wandten sich ihm zu, und er nickte. Sie machten mürrische, enttäuschte Gesichter, aber sie standen auf und gingen in die Küche, ohne sich weiter zu beklagen.

Duncan wandte sich Megan zu. »So«, sagte er. »Was wollen wir ihnen erzählen?« Seine Stimme wurde immer schneller. »Fangen wir damit an, ihnen zu sagen, daß ihr Dad ein Verbrecher ist? Daß ihn die Polizei draußen in Lodi, Kalifornien, immer noch liebend gern einlochen würde, obwohl es schon achtzehn Jahre her ist? Oder sagen wir ihnen besser erst mal, daß er ein Feigling ist, der seine Genossen im Stich gelassen hat, damit sie auf der Straße krepierten, während er den Schwanz einklemmte und weglief? Und was ist damit, daß sie vor der Ehe gezeugt sind? Ich bin sicher, daß sie das total durcheinanderbringen wird. Wie erklären wir ihnen, daß das Leben, das wir gelebt haben, eine einzige Lüge ist, eine Tarnung für etwas, das inzwischen längst Geschichte sein sollte?«

»Das stimmt nicht!« schrie Megan zurück. »Unser Leben ist keine Tarnung für irgendwas. Wir sind, wer wir sind. Wir sind nicht mehr die, die wir waren. Keiner ist das!«

»Olivia aber.«

Das brachte Megan zum Schweigen.

»Stimmt«, sagte sie voller Angst. Dann dachte sie angestrengt nach: Ist sie das wirklich? Das wissen wir nicht.

Noch nicht.

»Also«, sagte Duncan, »wo fangen wir an? Wie erklären wir es ihnen?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Megan. »Ich finde, wir fangen einfach an.«

Duncans Zorn war so rasch verraucht, wie er gekommen war. Er überlegte und nickte dann.

»Gut«, sagte er. »Wir erzählen es ihnen und hoffen, daß alles gutgeht.«

Aber in diesem Augenblick rechneten sie beide mit dem Schlimmsten. Nur konnten sie sich nicht vorstellen, wie es aussehen würde.

 

Olivia Barrow stand auf dem Parkplatz neben dem Wagen des Richters und spürte, wie die kühle Nachtluft sie einhüllte. Ihre Augen suchten in der Dunkelheit. Als sie niemanden entdeckte, schloß sie die Tür auf und glitt hinter das Steuer der teuren Limousine des Richters. Einen Augenblick lang streichelte sie die Ledersitze. Dann ließ sie den Motor an, legte den Gang ein und horchte auf das dumpfe Krachen des Getriebes.

Sie fuhr schnell, aber vorsichtig durchs nächtliche Greenfield. Das Städtchen wirkte noch provinzieller als am Tage; nur wenige Menschen befanden sich auf den Straßen. Sogar die Neonreklamen der Fast-food-Restaurants und Läden schienen kleiner geworden zu sein.

Sie brauchte nicht lange vom Zentrum zum Stadtrand, wo sie eine Wohngegend durchquerte. Sie warf kaum einen Blick auf die gepflegten Häuser und Grundstücke, die gediegene Ordnung, sondern fuhr zügig auf ihr Ziel zu, und bald lagen die Lichter der Stadt hinter ihr.

Sie bog auf eine Landstraße ab und dann auf eine andere, bis sie die Zufahrt zu ihrem Haus sah und den Fuß vom Gashebel nahm. Sie fuhr noch vierzig oder fünfzig Meter weiter und bog dann auf einen halb mit Gras bewachsenen Feldweg ein, der in den Wald führte. Dort mußte sie langsamer fahren, und die Limousine bewegte sich holpernd immer tiefer in den Wald hinein. Baumäste und Buschwerk kratzten an den Seiten des Wagens, es klang, als wären es brünstige Tiere. Nach einiger Zeit fand sie die Stelle, die sie vor Wochen bei einem Gang über den Besitz entdeckt hatte. Sie achtete darauf, daß die Räder nicht im Schlamm steckenblieben, und wendete.

Sie schaltete den Motor aus, nahm die kleine Stofftasche und prüfte noch einmal den Inhalt: Kleidung zum Wechseln, ein paar Toilettensachen, ein falscher Ausweis, hundert Dollar in bar, falsche Kreditkarten und die 357er Magnumpistole.

Zufrieden schloß sie die Tasche und ließ sie auf der Beifahrerseite zu Boden gleiten. Dann stieg sie aus dem Wagen, ließ aber die Schlüssel drin. Meine Rückversiche-rung, dachte sie. Falls was schiefgeht.

Dann lief sie zwischen den dunklen Bäumen und Brombeerbüschen hindurch und erreichte bald das in der Nähe gelegene Farmhaus.

Tommy löffelte eifrig seine Suppe, und deren Wärme ließ ihn momentan die Umgebung vergessen. In Gedanken war er zu Haus, und einen Augenblick lang fragte er sich, ob seine Eltern und Schwestern jetzt wohl alle bei Tisch saßen und ihr Abendessen zu sich nahmen. Dann wurde ihm klar, daß sie wahrscheinlich seinetwegen und Großvaters wegen nicht dazu kamen, und er überlegte, was sie wohl sonst tun mochten. Ob sie auch Angst hatten? Er stellte sich seine Schwestern vor und wünschte sich, daß sie bei ihm wären. Er dachte, so gute Soldaten wie er und sein Großvater würden sie wohl nicht sein, aber sie kannten so viele Spiele, mit denen man sich die Zeit vertreiben könnte. Sie hatten immer mit ihm gespielt, auch wenn die anderen Kinder nicht wollten, sogar wenn die ihn ausgelacht und beschimpft hatten, ihnen hatte das nie etwas ausgemacht. Er wußte noch, einmal hatte es geschneit, und er stand eine Stunde lang draußen und versuchte, eine Schneeflocke auf der Hand einzufangen.

Die anderen Kinder aus der Nachbarschaft hatten ihn gehänselt und gesagt, das könnte er nicht, aber dann waren Karen und Lauren herausgekommen und hatten versucht, ihm zu helfen, und ziemlich bald versuchten die anderen Kinder es auch alle. Und ein Kind war da, ein Junge, der früher eine Querstraße weiter wohnte, der hatte ihm immer so fest auf den Arm geboxt, bis Karen ihn eines Tages zurückboxte, und da hörte er auf. Bei der Erinnerung daran mußte Tommy lächeln. Sie hatte ihm richtig eine heruntergehauen, dachte er; er kriegte Nasenbluten, und sie wollte sich nicht entschuldigen. Er dachte an die Nächte, wenn er Angst vor der Dunkelheit gehabt hatte, dann brachten Karen und Lauren ihre Schlafsäcke in sein Zimmer und schliefen auf dem Teppich, bis er eingeschlummert war und sie gehen konnten. Er wußte genau, daß sie wieder weggingen, aber trotzdem war die Angst vor der Nacht dann nicht mehr so groß. Er sah das Brot an, daß er in der Hand hielt. Zu Haus hätten sie ihm extra Tomaten und Salat und ein paar Chips dazu gegeben. Und Lauren hätte ihm noch einen Schokoladenkeks von dem Regal ganz oben heruntergeholt, wo Mom sie aufbewahrte.

Sie kommen her, alle vier, und retten uns, dachte er. Und Dad haut dann die Frau, die mir so angst macht, und nimmt sie fest, damit Großvater sie ins Gefängnis stecken kann, wo sie hingehört.

Hoffentlich vergaßen Karen und Lauren nicht, ihm ein paar Kekse mitzubringen.

Er machte Pause, um etwas Milch zu trinken, die mit etwas Schokoladensirup darin besser geschmeckt hätte, und biß dann wieder von seinem Butterbrot ab. Als er kaute, sah er seinen Großvater, der auf dem Rand des anderen Betts saß und vor sich hinstarrte.

»Großvater, du mußt etwas Suppe essen. Sie schmeckt gut«, sagte er.

Richter Pearson schüttelte den Kopf, aber er lächelte dem Jungen zu.

»Ich habe im Augenblick keinen Hunger«, sagte er.

»Aber wir brauchen beide viel Kraft, wenn wir kämpfen wollen.«

Richter Pearson lächelte. »Habe ich das gesagt?«

»Das hast du.«

Tommy stellte seinen leeren Teller beiseite und setzte sich neben den alten Mann.

»Bitte, Großvater«, sagte er mit etwas zittriger Stimme.

»Bitte iß.« Er nahm die Hand seines Großvaters. »Mom sagt immer, mit leerem Magen kann man nicht laufen. Da kann man weder spielen noch sonstwas.«

Richter Pearson sah herab auf das Kind und nickte.

»Alles, was du sagst, ist sehr vernünftig, Tommy.«

Er zog seinen eigenen Teller zu sich heran und fing an, die Suppe hinunterzuschlürfen. Er war überrascht, wie gut sie schmeckte. Er aß weiter, während sein Enkelsohn zusah, wie ein Löffelvoll nach dem anderen in seinem Mund verschwand.

»Du hast recht, Tommy. Ich fühle mich jetzt schon stärker.«

Der Junge lachte und klatschte in die Hände.

»Tommy, ich glaube, du solltest das Kommando übernehmen. Du solltest der General sein, und ich bin der Gefreite. Du scheinst zu wissen, was für die Armee am besten ist.«

Richter Pearson fing an, auf seinem Brot herumzukauen.

Nicht genug Mayonnaise.

Mein Gott, dachte er, es ist Jahre her, seit ich eine Mahlzeit aus Milch, Suppe und einem Butterbrot zu mir genommen habe. Eine Kindermahlzeit. Ich frage mich, ob sie denken, daß wir dadurch abhängiger von ihnen werden - daß sie mich unmündig machen können, dadurch, daß sie mich mehr wie ein Kind behandeln.

Zum erstenmal kam Richter Pearson der Gedanke, daß noch etwas anderes als Gewalt nötig sein könnte, wenn sie aus der Dachkammer heraus wollten. Er beschloß, sich zu einem späteren Zeitpunkt mit den psychologischen Folgen seiner Gefangenschaft zu befassen. Zuerst, dachte er, mußte etwas geschehen.

»Tommy, ist dir klar, daß wir schon mehrere Stunden gefangen sind und immer noch nicht unsere Gefängniszelle untersucht haben?« Er warf einen Blick auf die Armbanduhr. Es war nach einundzwanzig Uhr. Sie waren ziemlich dumm, dachte er. Sie hätten ihm die Uhr wegnehmen sollen. Damit wären wir noch orientierungsloser gewesen. Aber so wissen wir, wie spät es ist und daß fast genau fünf Stunden seit unserer Gefangennahme vergangen sind. Damit haben wir etwas in der Hand.

»Was meinst du, Großvater?«

»Was wissen wir über den Ort, an dem wir uns befinden?«

Richter Pearson stand auf. Er spürte, daß seine Energie zurückkehrte.

»Es ist eine Dachkammer«, antwortete Tommy.

»Und wo befinden wir uns? Was meinst du?«

»Auf dem Land irgendwo.«

»Wie weit von Greenfield entfernt?«

»Es kann nicht sehr weit sein, wir sind ja nicht so weit gefahren.«

»Was wissen wir sonst noch?«

»Die Zufahrt zum Haus ist sehr lang.«

»Woher weißt du das?«

»Ich habe bis fünfunddreißig gezählt von dem Augenblick, als wir von der Straße abgebogen sind.«

»Das war klug von dir.«

»Da haben Mom und Dad es nicht so weit, wenn sie uns holen kommen.«

Er lächelte. »Wahrscheinlich werden sie uns zu ihnen bringen. Meist ist das so in diesen Fällen.«

»Okay. Ich möchte, daß sie sich beeilen. Großvater, glaubst du, daß wir heute nacht noch nach Haus kommen?«

»Nein, glaube ich nicht.«

»Dad könnte ihnen einen Scheck schreiben.«

»Sie wollen wahrscheinlich Bargeld.«

»Ich habe fast fünfzig Dollar in meiner Spardose zu Haus. Meinst du, sie würden die nehmen?«

Richter Pearson lächelte wieder. »Nein. Du wirst dein Geld behalten. Hast du für etwas gespart?«

Tommy nickte, aber er antwortete nicht.

»Na?«

»Du mußt mir versprechen, Mom nichts zu sagen.«

»Okay. Ich verspreche es.«

»Ich möchte ein Skateboard.«

»Sind sie nicht ein bißchen gefährlich?«

»Ja, aber ich werde immer einen Helm und Kniepolster tragen, wie die älteren Kinder in der Schule.«

»Aber du hast so ein schönes Rad. Weißt du noch, als dein Vater, du und ich es ausgesucht haben?«

Er nickte.

»Jetzt magst du es nicht mehr?«

»Doch … aber es ist, na ja …«

»Du möchtest auch ein Skateboard.«

»Ja.«

»Ich werde es niemandem erzählen. Und weißt du was, Tommy? Wenn wir nach Haus kommen, dann kriegst du von mir einen Fünfdollarschein, und den kannst du zu deinen Ersparnissen dazutun.«

»Toll.«

Richter Pearson sah sich wieder in der Dachkammer um.

Eine einzige helle Glühbirne hing in der Mitte der Decke.

Der Schalter befand sich neben der Tür.

»Tommy, ich glaube, es ist Zeit, daß wir unsere Dachkammer ein bißchen besser kennenlernen.«

»Okay«, sagte Tommy und stand auf.

»Zieh einfach die Schuhe aus«, sagte der Richter leise.

»Laß sie nicht auf den Boden fallen, stell sie aufs Bett. Dann gehen wir ganz vorsichtig umher, okay?«

»Warum, Großvater?«

»Die Leute da unten brauchen nicht zu merken, daß wir hier herumspazieren.«

Tommy nickte und tat, was der Großvater ihm gesagt hatte.

»So«, sagte Richter Pearson. »Jetzt kann’s losgehen.«

Der alte Mann und der Junge fingen an, in den Ecken der Dachkammer herumzutasten. »Was suchen wir?« flüsterte der Junge.

»Ich weiß nicht. Mal sehen.«

Sie suchten an der einen Wand entlang, und Tommy fand einen langen Nagel, der am Boden verstaubte. Er gab ihn dem Großvater. »Gut, gut«, sagte der alte Mann und steckte ihn in die Tasche. Sie setzten ihre Untersuchung längs der anderen Wand fort. Plötzlich hielt der alte Mann an. Er legte die Hand auf eine Holzplanke. »Fühl mal.«

»Es ist kalt. Das ganze Stück hier ist kalt.«

Richter Pearson preßte eine Hand gegen einen kalten Fleck.

»Vielleicht könnten wir hier durchbrechen. Hier ist keine Isolierung. Was mag da sein? Vielleicht war da früher mal ein Fenster, das sie zugebaut haben.«

Sie suchten weiter. Als sie die Tür der Dachkammer erreichten, wies Tommy darauf hin, daß die Nägel, mit denen die Tür an der Angel befestigt war, nicht ganz drinsteckten.

Sie prüften auch die beiden Eisenbettstellen. Eine Strebe an einer von beiden war locker. Richter Pearson lockerte sie noch etwas mehr. »Ich könnte sie losbekommen«, sagte er. Er setzte sich auf das Bett und zog die Schuhe wieder an. Tommy tat dasselbe.

»Wir haben nicht viel gefunden«, sagte der Junge.

»Nein, nein, nein, da irrst du dich. Du hast den Nagel gefunden, und wir haben den schwachen Punkt entdeckt, durch den wir vielleicht hinauskommen, und dazu ein Stück Metall, aus dem wir eine Waffe machen könnten, außerdem haben wir eine Schwachstelle der Tür gesehen, wenn wir auch noch nicht wissen, wozu es gut sein kann.

Wir haben mehr Erfolg gehabt, als ich erwartet hatte. Viel mehr.«

Der Optimismus in seiner Stimme gab dem Jungen neue Hoffnung.

»Ach, Großvater«, sagte er nach einem Augenblick. »Ich bin müde und wünschte, ich wär’ zu Haus.« Er kletterte hoch und legte den Kopf in den Schoß des Großvaters.

»Ich hab’ auch immer noch Angst. Nicht mehr soviel, aber immer noch etwas.«

Der Junge schloß die Augen, und Richter Pearson hoffte, daß er einschlafen würde. Er streichelte die Stirn des Jungen und merkte, daß auch seine eigenen Augen müde wurden und zufallen wollten. Er fragte sich, wo seine innere Spannung geblieben war. Er merkte, wie er einzunicken anfing, wie sein Körper sich gegen die Anspannung und Angst zur Wehr setzte. Er ließ den Kopf nach vorne sinken.

Plötzlich sprang Tommy hoch. »Sie kommen!« sagte er.

Richter Pearson schlug die Augen auf.

Er hörte Schritte auf der Diele und Geräusche an der Tür.

»Ich bin bei dir, Tommy. Keine Angst.« Was für ein albernes Gerede, dachte er. Aber es fiel ihm nichts anderes ein.

Olivia Barrow riß die Tür auf und betrat die Dachkammer. Sie sah, daß ihre Schützlinge bis zur Wand zurückgewichen waren, sie schienen sich vor ihr verkrie-chen zu wollen, und sie sah auch die Angst in ihren Gesichtern.

»Habt ihr alles aufgegessen?« fragte sie.

Tommy und der Großvater nickten.

»Gut. Ihr müßt bei Kräften bleiben«, fuhr sie fort, wobei sie unbewußt Tommys Ermahnung wiederholte. »Keiner weiß, wie lange das hier dauern wird.«

Sie näherte sich dem Paar.

»Alter, laß mich mal deine Stirn ansehn.«

»Da ist nichts weiter«, sagte Richter Pearson. Ich lasse mich von ihr nicht herumkommandieren, dachte er.

Einmal reicht.

»Laß mich sehen!«

»Ich sagte, es ist nichts.«

Sie zögerte. »Willst wohl deine Spielchen machen, ha?«

Er schüttelte den Kopf.

»Du kapierst wohl immer noch nichts, du alter Bastard?«

»Was?«

»Ich habe dich etwas gefragt!«

»Was verstehe ich nicht?«

»Daß wir alles mit euch machen können.«

»Hören Sie mal«, sagte Richter Pearson und begann mit einer Art juristischem Plädoyer: »Sie haben uns. Sie haben uns ergriffen, ohne uns auch nur eine Chance zu geben.

Sie haben mich geschlagen und dem Jungen Angst eingejagt. Sie haben uns in dieses Loch von einer Dachkammer geworfen. Sie haben seinen Eltern wahrscheinlich eine schreckliche Angst eingejagt. Sie sind der Boß.

Warum kümmern Sie sich jetzt nicht um Ihr Geschäft?

Was ist das hier für ein Unternehmen? Sie sind offenbar blutige Anfänger. Bringen Sie die Sache zu Ende, meine Dame, und dann hat sich’s. Wir brauchen das hier nicht unnötig in die Länge zu ziehen. Holen Sie sich Ihr verdammtes Geld, und lassen Sie uns nach Haus!« Olivia lächelte.

»Ach, der Herr Richter versteht nicht.«

»Hören Sie auf, in Rätseln zu sprechen.« Sie schüttelte den Kopf, als lache sie über einen nur ihr verständlichen Witz.

»Ach Alter, du bist mir ja ein Herzchen. Meinst, du kannst noch irgendwas retten, indem du dich wehrst. Nicht körperlich natürlich, aber geistig. Mit denen, die dich gefangen haben, argumentieren, was? Daß sie dir irgendwelche Sachen bringen - zum Beispiel einen Eimer. Versuchen, uns zu manipulieren. Als nächstes verlangst du wahrscheinlich ein paar Extradecken - obwohl es hier wirklich warm genug drin ist -«

»Ja, wir könnten noch ein paar gebrauchen, und noch ein paar Extrakissen -«

»Oder Klagen äußern über das Essen -«

»In der Tat, Suppe und Sandwiches sind wohl kaum ausreichend für -«

»Fünf Stunden sind um, und dein erster Schock ist vorbei. Du hast schon ein bißchen Zeit gehabt, dich mit deiner Situation zu beschäftigen. So schlimm sieht’s gar nicht aus. Keiner von euch beiden ist verletzt. Die Dachkammer? Du hast schon Schlimmeres erlebt. Wir, die Leute, die euch gefangengenommen haben, sind vielleicht ein bißchen unberechenbar, aber du meinst, du kannst mit uns fertig werden. Wie so eine Entführung läuft, hast du als Richter bestimmt schon mal mitgekriegt. Also? Es gibt Schlimmeres. Und schon fängst du an herumzuknobeln, stimmt’s?«

»Kommen Sie bitte zur Sache.«

Olivia holte einen großen Revolver heraus und wedelte damit in der Luft herum. »Die Sache ist, daß ich euch jeden Augenblick abknallen kann. Ich kenne euch Typen. Gefangenenaufseher sind alle gleich. Die werden mit jeder Art von Gewalt fertig. Die haben ihre Häftlinge in der Hand. So läuft das im Knast, Richter, obwohl du wahrscheinlich noch nie einen von innen gesehen hast. Hunderte und Aberhunderte der brutalsten und gemeinsten, der gewalttätigsten Knackis fressen ein paar uniformierten Aufsehern aus der Hand. Ist alles oben in der Birne gespeichert - Autorität, Gewalt, Macht. Und hier läuft das auch so. Ich bin der Aufseher. Ihr seid die Gefangenen. Ich kann mit euch machen, was ich will. Ihr versucht, noch ein bißchen von eurer Menschenwürde zu retten. Aber da passe ich auf.« Sie grinste und richtete den Revolver auf sie, schwenkte ihn dann beiseite. Ihre Bewegungen hatten beinahe etwas Spielerisches. »Eins müßt ihr lernen: Ich bin hier der Experte.«

Sie sah plötzlich herab auf Tommy.

»Jetzt nehme ich den Jungen mit.«

»Was?«

»Klarer Fall, Richter. Ihr beide unterstützt einander moralisch. Ich werde euch wohl trennen. Es gibt hier auch noch einen Keller, weißt du. Wir haben schon überlegt, ob wir euch da unten einlochen, aber dann dachten wir, das wäre zu grausam. Wirklich. Schlimmer als irgendein Loch, in dem ich je gesessen habe. Kein Licht. Kalt, feucht, schimmlig. Und riecht nach Kloake. Sehr deprimierend, voller Krankheiten und sonstwas. Vielleicht legen wir den Jungen da unten eine Weile gefesselt rein.«

»Bitte, nein! Ich möchte hierbleiben!« rief Tommy mit halberstickter Stimme. Richter Pearson fühlte, wie der Körper seines Enkels sofort zu zittern anfing.

»Das wird nicht nötig sein«, sagte er. »Wir tun alles, was Sie sagen.«

»Zeig deine Stirn her.«

»Bitte! Sehen Sie sich es an!«

Olivia steckte den Revolver weg und holte ein Erste-Hilfe-Kästchen heraus. Sie tupfte etwas Betadin auf die Beule an der Stirn des Richters.

»Irgendwelche Kopfschmerzen?« fragte sie.

»Nicht mehr als in so einer Situation zu erwarten ist.«

»Wenn du Schwindelgefühle hast, sag’s.«

»Wenn ja, sage ich Bescheid.«

Sie steckte das Medizinkästchen ein und richtete sich auf. »Du hast nur etwas noch nicht kapiert, Richter.«

»Was denn?«

»Ich hab’s dir vorhin schon gesagt. Daß das hier keine normale Entführung ist. So was wie hier hast du noch nicht erlebt.«

Sie lachte.

»Paß gut auf. Wir zeigen euch jetzt, was Angst ist.«

Er starrte sie an, ohne zu begreifen.

Sie klatschte energisch in die Hände.

»All right, Jungs, wer muß vor dem Schlafengehen noch mal auf den Topf?«

Weder der Richter noch Tommy reagierte.

»Also, jetzt hopp hopp. Hier ist eure Chance - jetzt könnt ihr euch die schmachvolle Benutzung des Kübels ersparen. Wer will gehen?«

Sie rührten sich nicht.

»Na, ihr geht beide. Richter, du bist zuerst dran. Steh auf, geh durch die Tür. Mein Landsmann erwartet dich da draußen mit seiner hübschen kleinen MP-ausgezeichnetes Gerät, Richter. Schon mal eine benutzt? Weißt du, man hört fast gar nichts, wenn man jemanden damit umnietet.«

Richter Pearson wußte nicht, ob sie sich nur aufspielen wollte oder ob sie aus Erfahrung sprach.

Sie lachte wieder.

»Ich sehe, was du denkst, Herr Richter. Aber dieses kleine Geheimnis wollen wir euch noch nicht verraten, nicht wahr?«

Sie veränderte jäh ihren Tonfall, aus dem Spiel wurde Ernst: »Jetzt geht’s ab mit Karacho, Alter, soll ich dir Beine machen? Los, in die Toilette, ich bleibe hier und leiste unserem kleinen Tommy Gesellschaft.«

»Großvater, bitte, laß mich nicht allein!«

Richter Pearson stand da und zögerte.

»Zisch los, Alter!«

»Großvater!«

Olivia stand neben dem Bett und legte die Hand auf Tommys Schulter.

»Bitte, laß mich nicht allein, Großvater. Bitte! Ich will nicht, daß du gehst! Großvater!«

»Siehst du, Richter, wie schwer zu durchschauen all unsere Entscheidungen sind? Fühlst du dich hin- und hergerissen? Was werde ich hinter deinem Rücken tun?

Was wird nun passieren? Vielleicht gehst du jetzt los, und wenn du zurückkommst, ist der Junge weg und liegt schon unten im Keller. Aber wenn du nicht gehst, nehme ich ihn mir vielleicht einfach, und es läuft auf dasselbe hinaus.

Komm, Richter, triff deine Entscheidung. Das tun Richter doch immer, oder? Es kann schieflaufen, wenn du gehst, aber auch, wenn du nicht gehst. Komm, Alter, rate mal! Was werde ich wohl tun? Wie grausam kann ich sein? Welches ist die richtige Entscheidung?«

»Großvater?«

»Ich gehe«, sagte der Richter. »Tommy, du bleibst hier. Ich bin gleich wieder da.«

»Großvater! Bitte!«

Olivia packte den Jungen bei der Schulter. Sie starrte den Richter an.

Du Bestie! dachte er. Er drehte sich um, eilte zur Tür der Dachkammer hinaus und hörte bei jedem Schritt, den er tat, den Jungen schreien und schluchzen. Das belastete ihn so schrecklich, daß er schwankte, ob er nicht auf Tommys Schreien reagieren sollte, statt sich von den Drohungen beeindrucken zu lassen. Was wird sie tun? Tommy! Er wollte rufen, um seinen Enkel zu beruhigen, der nicht aufhörte zu schreien. Dann sah er Bill Lewis, der ihn grinsend mit der Maschinenpistole unten in der Diele erwartete.

»Hier rein«, sagte Lewis mit einer Geste. »Die Tür bleibt offen. Du möchtest das bestimmt hören.«

Der Richter beeilte sich, stand ungeduldig vor dem Klosettbecken, während er urinierte.

»Los, Beeilung, Richter!«

Er betätigte die Spülung und rannte zur Dachkammer zurück, aus der er Tommy ununterbrochen schreien und weinen hörte. Er atmete erleichtert auf: Wenigstens hatte sie ihn nicht fortgebracht!

»Ich bin ja hier, Tommy, ich bin ja wieder hier, beruhige dich doch, ist ja alles wieder gut.«

Er nahm den Jungen in die Arme und tröstete ihn. Er war voller Wut, als er den Jungen drückte und wiegte.

Olivia ließ sie etwa eine Minute lang so fortfahren. Dann schritt sie ein und sagte:

»Das war doch gar nicht so schlimm. Aber jetzt wird’s unangenehm. Tommy! Steh auf! Du bist dran!«

»Er kann den Eimer benutzen«, sagte der Richter zornig.

»Nein, das kann er nicht. Jetzt nicht. Das ist nicht erlaubt.«

»Bitte«, sagte Richter Pearson. »Lassen Sie mich mit ihm gehen.«

»Ausgeschlossen.«

»Großvater!« stöhnte Tommy. »Sie bringt mich in den Keller, ich weiß es!«

Olivia grinste. »Kann sein. Gut möglich. So ist das Leben nun mal. Gehen wir?«

»Nein, Großvater, nein, bitte. Ich möchte hier bei dir bleiben. Ich muß gar nicht. Nein! Bitte, laß mich hierbleiben, bitte, Großvater, bitte!«

Richter Pearson wußte, daß die Frau auf die Bitten des Jungen nicht reagieren würde. »Ist ja gut, Tommy. Sei tapfer. Du kannst doch tapfer sein. Du schaffst es, und dann wird alles gut.«

Vorsichtig half er Tommy auf.

»Ich bleibe hier. Nun geh, mach dein Geschäft und komm gleich zurück. Ich bleibe hier, keine Angst.«

Der Junge weinte bitterlich, und seine Schultern zuckten.

Aber sein Großvater sah, wie er mit dem Kopf nickte.

Richter Pearson legte die Arme um seinen Enkel und drehte ihn zur Tür herum. Er war plötzlich ganz verdammt stolz auf ihn. »Beeil dich. Ich warte.«

Tommy marschierte entschlossen hinaus.

Olivia sah einen Augenblick hinter ihm her, dann wandte sie sich dem Richter zu und deutete auf das Bett.

»Hinsetzen!«

Er gehorchte. Er rechnete damit, wieder eine ihrer absurden, weitschweifigen Reden zu hören. Statt dessen drehte sie sich um und ging schnell hinaus.

»He!« sagte der Richter.

Sie verschwand, und der Riegel krachte ins Schloß.

»He! Verdammt! Warte! Tommy!«

Er hörte den Jungen »Großvater! Großvater!« schreien.

Richter Pearson sprang auf. Er hechtete durch die winzige Kammer und die Treppe hinunter. Er fing an, mit der Faust gegen die Dachkammertür zu hämmern.

»Bringen Sie ihn zurück! Bringen Sie ihn zurück! Tommy! Tommy! Bringen Sie ihn zurück, Sie verdammte …«

Wut und Angst, Überraschung und Entsetzen kochten in ihm durcheinander, er fühlte sich betrogen, und ein unbändiger Haß erfüllte ihn. Er merkte, wie seine Augen sich mit Tränen füllten. »Tommy! Tommy!« schluchzte er los.

Er kippte vorwärts, lehnte sich an die Wand, verzweifelt über diese Niederlage.

Und ebenso rasch öffnete sich die Tür.

Er streckte, ohne nachzudenken, die Arme aus, sofort überwältigt von der Freude und der Erleichterung, den kleinen Jungen vor sich zu sehen. Dann erstarrte er. Olivia hatte Tommy gepackt und hielt ihm mit der einen Hand den Mund zu. Dann ließ sie ihn los, und er warf sich seinem Großvater in die Arme.

Richter Pearson schlang sie um den schluchzenden Jungen, und seine eigenen Tränen vermischten sich mit denen seines Enkelsohns. »Ich bin hier, Tommy, keine Angst, ich bin ja bei dir. Ich passe auf dich auf. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin doch hier, hier, hier …«

Er flüsterte ihm die letzten Worte ins Ohr, beruhigte ihn langsam, aber sicher.

Richter Pearson hob die Augen auf. Er strich Tommy übers Haar und drückte den Kopf des Jungen an die Brust.

Aber sein Blick traf den Olivias.

»Wer führt hier das Kommando, Alter?« fragte sie ihn brutal.

»Sie.«

»Das ist alles ein Teil unserer Ausbildung, du Schwein«, erwiderte sie, drehte sich um und verschloß die Tür hinter sich.