24
Miguel stand in der dunklen, verlassenen Gasse hinter der South Audley Street und fluchte leise, als er versuchte, das Fenster hochzuschieben, welches, als er das letzte Mal nachgeschaut hatte, noch ungesichert gewesen war. Es hätte ihn ein paar lächerliche Sekunden gekostet, den Riegel zu knacken. Aber in der Zwischenzeit hatte sich jemand die Mühe gemacht, das Schloss zu verstärken. Natürlich wäre es ein Leichtes gewesen, das Schloss aufzubrechen; aber es würde Zeit kosten, und Zeit war mehr als kostbar für ihn.
Er arbeitete, so schnell er konnte, schnitt mit dem fein geschliffenen Diamanten in seiner Werkzeugschachtel ein Loch in die Scheibe. Durch dieses Loch konnte er den inneren Riegel greifen, den er mit unendlicher Geduld so lange bearbeitete, bis sich das Schloss öffnen ließ. Dann drückte er das Fenster gerade so weit auf, dass es ihm gelang, sich seitlich hindurchzuschieben.
Die Bibliothek lag im Dunkeln, und im ganzen Haus herrschte Stille. Miguel wusste, dass nur wenige Angestellte im Haus schliefen, überwiegend Dienstmädchen. Lediglich der Nachtwächter konnte ihn in Schwierigkeiten bringen. Lautlos schlich er zur Bibliothekstür, öffnete diese ein Stück und spähte in die Halle, die durch einen Wandleuchter an der Treppe schwach erhellt wurde. Die Nachtwache hockte auf einem Stuhl neben der Eingangstür und schlief, leise schnarchend mit halb geöffnetem Mund.
Der Mann kann sich glücklich schätzen, dachte Miguel, während er in die Halle schlich und sich dem Mann von hinten näherte, dass die Natter ihn nicht schlafend auf seinem Posten erwischt. Ein Nackenschlag reichte, und das Schnarchen hörte auf. Der Mann kippte nach vorn und glitt langsam von seinem Stuhl zu Boden.
Lautlos schlich Miguel die Treppe hinauf, hielt auf dem oberen Treppenabsatz inne und lauschte. Alles war ruhig. Die Treppe zum Kinderzimmer lag vor ihm am Ende des Korridors, und als er in der Mitte angekommen war, hörte er es: ein leises, kehliges Knurren, das ihm die Haare zu Berge stehen ließ.
Dann sprang der Hund auf ihn zu. Die schweren Pfoten auf seiner Schulter ließen ihn zu Boden stürzen, der Hund beugte sich über ihn, sein Atem schlug ihm heiß ins Gesicht. Beim Anblick der entblößten Zähne schloss Miguel die Augen, dachte sekundenlang an den wutentbrannten Blick des Tieres und wartete darauf, dass ihm die Zähne die Kehle zerfleischen würden.
Würdevoll tanzte Don Antonio die Quadrille. Er schien vollkommen bei der Sache zu sein, und gemessen an der Leichtigkeit, mit der er die komplizierten Schrittfolgen der Quadrille zu bewältigen schien, würde seine Tanzpartnerin niemals auf die Idee kommen, dass er mit den Gedanken ganz woanders war. Aurelia dagegen musste sich voll und ganz auf ihren Part konzentrieren. Der Tanz war in der Londoner Gesellschaft noch recht neu, und wie die meisten ihrer Freunde hatte Aurelia ihn erst ein paar Mal getanzt. Trotz ihrer Abneigung gegen Don Antonio war sie dankbar für seine Fähigkeiten, die über ihre gelegentlichen Fehltritte hinwegtäuschten.
Nachdem die letzten Klänge sich endlich verflüchtigt hatten, gestattete Aurelia ihm, sie vom Parkett in Richtung der kühlen Brise zu führen, die aus der Halle in den Tanzsaal wehte. »Es war eine angenehme Übung, Sir«, meinte Aurelia, schlug ihren Fächer auf und fächelte sich Luft zu. »Sie sind mit dem Tanz vertrauter als ich.«
»Ich habe ihn vor vielen Jahren in Paris getanzt«, bemerkte er und führte sie, die Hand an ihrem Ellbogen, zu einem offenen Fenster am entlegenen Ende der Halle. »Lassen Sie uns ein wenig frische Luft schöpfen.«
Aurelia folgte ihm bereitwillig. Aber anstatt die Fenster noch weiter zu öffnen, trat er hinter einen Schirm, der eine schmale Tür verdeckte. Der Griff seiner Hand um ihren Ellbogen wurde stärker. Sofort reagierte sie panisch, beherrschte sich aber und schaute ihn misstrauisch an. Inzwischen hatte er sie längst durch die Tür in ein enges, dunkles Dienstbotentreppenhaus gezerrt.
»Wehe, wenn Sie auch nur einen einzigen Ton von sich geben«, flüsterte er sanft, »die Sicherheit Ihrer Tochter hängt davon ab.«
»Meine Tochter … Franny … Was soll das heißen?« Die Angst schnürte ihr förmlich die Kehle zu, sodass sie kaum sprechen konnte.
»Sie ist einigermaßen sicher. Es liegt an Ihnen, ob das auch so bleibt oder nicht.« Er führte sie die Treppe hinunter. Nach kurzer Zeit hatte Aurelia ihre Fassung wiedergewonnen.
Sie blieb mitten auf der Treppe stehen, umklammerte das Geländer mit festem Griff. »Wo ist sie?«, fragte sie ebenso ruhig wie eiskalt. »Ich mache keinen Schritt mehr und bleibe hier stehen, bis Sie es mir verraten haben.«
»Sie befindet sich in meiner Gewalt, und ich werde Sie zu ihr bringen. Aber wenn unser kleines Rendezvous nicht zu einem bestimmten Zeitpunkt stattfindet, werden Sie sie niemals wiedersehen. Ich schlage vor, dass wir uns beeilen.« Er zerrte an ihrem Ellbogen.
Kann ich ihm glauben? Oder besser: Kann ich es mir leisten, ihm nicht zu glauben? Schließlich war es Greville gewesen, der ihr eingetrichtert hatte, niemandem zu vertrauen. Aber jetzt war eine andere Situation eingetreten. Auf keinen Fall durfte sie ein Risiko eingehe. Entschlossen stieg sie die Treppe nach unten bis in eine kleine Halle und hielt wieder inne. »Ich verlange einen Beweis, dass ich meine Tochter sehen werde. Andernfalls werde ich Sie nicht begleiten.« Die flackernde Kerze im Wandhalter verströmte nur wenig Licht, aber trotzdem konnte sie seinen harten Mund und die Kälte in den ausdruckslosen Augen gut erkennen.
»Draußen werden Sie Ihren Beweis bekommen«, erwiderte er und entriegelte die Tür in seinem Rücken. Inzwischen würde Miguel mit der Kutsche zurück sein und sämtliche Beweise mitführen, die die Frau sich nur wünschen konnte. Dann würde sie endlich den Mund halten, und der Rest würde sich wie von selbst erledigen.
Aurelia dachte fieberhaft nach. Sobald sie das Haus verlassen hatte, wäre sie vollkommen auf sich selbst gestellt; solange sie sich unter dem Dach der Bonhams aufhielt, wusste sie Greville in der Nähe, auch dann, wenn sie im Moment keine Möglichkeit sah, ihn zu benachrichtigen, was ihr zugestoßen war.
»Wenn wir nicht pünktlich zu dem Rendezvous erscheinen, werden Sie Ihre Tochter niemals wiedersehen«, wiederholte Don Antonio mit einer Stimme so hart und kalt wie ein geschliffener Diamant. Er öffnete die Tür, die, wie Aurelia feststellte, auf einen schmalen Durchlass seitlich des Hauses hinausführte.
Greville würde ihre Abwesenheit früh genug bemerken und die richtigen Schlüsse daraus ziehen, sobald er entdeckt hatte, dass der Spanier ebenfalls verschwunden war. Trotzdem musste sie irgendeine Spur hinterlassen, irgendein Zeichen geben. Aurelia hatte keine Ahnung, wie oft diese Treppe benutzt wurde, aber sie musste ihre Chance nutzen, denn eine zweite würde sie nicht bekommen.
Don Antonio spähte hinaus in den Durchlass. Genau in diesem Moment ließ sie den Fächer so leise wie möglich auf die Treppenstufe hinter ihr gleiten. Vielleicht war die Hoffnung vergeblich, dass der Fächer schnell gefunden werden würde. Aber mehr konnte sie nicht tun, und Greville würde wenigstens wissen, an welcher Stelle sie verschwunden war. Der Fächer war das Werkzeug gewesen, mit dem sie sich verständigt hatten, und deshalb würde er die Bedeutung des Zeichens keinesfalls unterschätzen. Es schrie geradezu danach, dass der Spanier seine Finger im Spiel hatte, was ihr Verschwinden betraf.
Aurelia zögerte, an Don Antonio vorbei nach draußen in den Durchlass zu treten, wusste sie doch, dass sie nun all ihre Verteidigungsmöglichkeiten aufgab. Es klang grauenhaft endgültig, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Wieder umklammerte er ihren Ellbogen und schob sie bis zum Ende des Durchlasses, der sich auf eine schmale Gasse hinter den Häusern öffnete. Bis auf eine einzelne unauffällige Kutsche lag die Gasse still und verlassen in der Dunkelheit. Aus den offenen Fenstern des Anwesens drangen die Klänge der Musik nach draußen, Stimmen, Gelächter, die üblichen Geräusche eines rauschenden Festes, und sie fühlte sich, als spazierte sie durch ein zweites Universum.
Die Nacht war kühl, und Aurelia fror in ihrem dünnen Kleid. »Es wäre ritterlich gewesen, wenn Sie wenigstens für einen Umhang gesorgt hätten«, schnappte sie in Richtung ihres Begleiters. Die Beschwerde heiterte sie auf. Denn trotz ihrer Entführung hatte sie weder verängstigt noch verwirrt geklungen, sondern nur verärgert, wie jeder andere es unter gewöhnlichen Umständen auch gewesen wäre. Sein überraschter Blick trug noch mehr zu ihrer Erheiterung bei.
Die Kutschentür flog auf, kaum dass sie angekommen waren. Das Anwesen der Bonhams im Rücken, blieb Aurelia stehen. »Ich verlange einen Beweis, dass Franny bei Ihnen ist. Sonst steige ich nicht ein.«
Ohne den Griff um ihren Ellbogen zu lockern, rief Don Antonio leise nach Miguel.
Aber der Mann, der vom Bock sprang, war nicht Miguel, sondern Carlos. »Er ist nicht zurückgekehrt, Sir.«
Don Antonio verstärkte den Griff um den Arm seiner Gefangenen. Plötzlich spürte sie, wie sich der Lauf einer Pistole in ihren Rücken presste. »Steigen Sie ein«, zischte er dicht an ihrem Ohr, »wenn Sie Ihre Tochter jemals lebendig wiedersehen wollen … Auf der Stelle steigen Sie in die Kutsche.«
Irgendetwas muss schiefgegangen sein, dachte sie unwillkürlich. Aber wie sollte sie es für sich nutzen? Würde er wirklich schießen? Wenn er sie lebendig brauchte, welchen Vorteil hätte er davon, sie zu töten? Entschlossen wehrte sie sich gegen seinen Griff. »Wo ist der Beweis?«
»Sie werden ihn früh genug bekommen. Und Ihrem Ehemann werden wir Ihr Ohr schicken, falls auch er einen Beweis verlangt.« Seine Stimme klang leise und so tödlich wie der kalte Stahl, den er ihr jetzt ans Ohr presste.
Dann spürte sie den scharfen Schmerz eines Schnittes und Blut, das in ihren Nacken sickerte. Angst durchflutete sie. Schusswaffen waren eine Sache; Messer eine ganz andere. Schon seit den frühesten Kindertagen hatten blanke Messer grauenhafte Ängste in ihr ausgelöst.
Aurelia stolperte, als er sie zur offenen Tür schubste, und während sie stolperte, presste sie ihre Hand auf das Blut in ihrem Nacken, schüttelte dann die Hand, sodass das Blut auf den Boden spritzte. Falls Greville die Blutstropfen sah, hätte er keinerlei Grund mehr, an seinem Verdacht zu zweifeln, gleichgültig, wie flüchtig ihre Spur auch sein mochte.
Der Mann, der neben der Kutschentür stand, gab ihr einen Schubs, und sie stürzte mehr in die dunkle Kutsche, als dass sie hineinkletterte, konnte aber einmal mehr die monatelange Übung mit Greville für sich nutzen. Sie musste unbedingt nachdenken - mit größerer Klarheit und Schärfe als je zuvor. Wieder ließ sie sich Don Antonios letzte Worte durch den Kopf gehen.
Offenbar wollen sie Greville, nicht mich, grübelte Aurelia, ich bin nur Mittel zum Zweck. Das Wissen darum ließ sie innerlich noch ruhiger werden, wie auch die Gewissheit, dass im Plan des Spaniers irgendetwas nicht funktioniert hatte. Leise, aber aufgeregt unterhielt er sich vor der Kutschentür mit dem anderen Mann auf Spanisch. Sie konnte die beiden nicht besonders gut verstehen, denn ihre Spanischkenntnisse waren zu schlecht. Aber Don Antonios Wut machte Sprachkenntnisse ohnehin überflüssig, und sie hörte öfter den Namen »Miguel«.
Vasquez kletterte in das Gefährt, schlug die Tür hinter sich zu. Der zweite Mann sprang auf den Bock, und die Kutsche setzte sich in Bewegung, bog aus der Gasse in die Hauptstraße ein. Don Antonio hatte sich Aurelia gegenüber hingesetzt und schlug sich mit der glänzenden Klinge des Messers auf die behandschuhte Hand. Wenn gelegentlich das Licht von den Straßenlaternen ins Wageninnere fiel, beobachtete er sie aus zusammengekniffenen Augen.
Aurelia bemühte sich um einen gleichmütigen Gesichtsausdruck, rührte sich kaum und verharrte anscheinend entspannt in der Ecke. Am liebsten hätte sie die immer noch schmerzende Schnittwunde am Ohr berührt, um den Schaden einzuschätzen; aber sie zwang sich, die Wunde zu ignorieren. Nein, diese Befriedigung wollte sie ihm nicht gönnen. Und keinesfalls wollte sie sich vor ihm ängstlich zeigen.
Sie nährte ihre Haltung aus der schwachen Hoffnung, dass er Franny womöglich gar nicht in seiner Gewalt hatte. Denn dieser Miguel war schließlich nicht aufgetaucht, und sie vermutete, dass er den Beweis hätte liefern sollen. Wenn er weit und breit nicht in Sicht war, dann lag der Gedanke nahe, dass er bei Frannys Entführung versagt hatte. Und wenn das alles war, was Vasquez gegen sie in der Hand hielt, dann würde er in ihr eine größere Herausforderung finden, als er es sich jemals hätte träumen lassen. Beiläufig wandte sie den Blick zum Fenster und versuchte sich zu merken, welche Strecke sie entlangfuhren.
Don Antonio beugte sich vor, zog die Ledervorhänge zu und sperrte das Licht aus. Aurelia lehnte sich zurück und schloss die Augen.
Der Spanier beobachtete sie genau, hatte die Lippen zu einer dünnen, grausamen Grimasse verzogen. Was ist Miguel zugestoßen? Falls diese Frau sich tatsächlich nicht um ihr Kind ängstigte, wäre sie erheblich schwieriger zu brechen. Ohne Miguel wäre es eine Katastrophe. Natürlich konnte Don Antonio auch selbst dafür sorgen, aber er beherrschte nicht die Techniken seines Gehilfen, die Tricks der Inquisition.
Und die Arbeit musste noch heute Nacht erledigt werden. In Blackfriars wartete das Schiff auf ihn, um ihn auf der Themse aus der Stadt hinauszubringen. Im Sattel eines Pferdes und um diese Uhrzeit allein auf der Straße, würde er in weniger als einer Stunde am verabredeten Ort erscheinen. Nein, er durfte keine Zeit damit verschwenden, sich um seinen Gehilfen zu kümmern, was auch immer ihm passiert war. Er musste so schnell wie möglich diese Frau brechen.
Greville dämmerte es nur langsam, viel zu langsam, wie er sich später vorwerfen würde, dass Aurelia verschwunden war. Während der Quadrille hatte er die beiden beobachtet, hatte den Spanier sogar widerwillig bewundert, wie leichtfüßig er den komplizierten Tanz bewältigen konnte, den er schon nach wenigen Schritten hätte aufgeben müssen. Der Tanz erstreckte sich über vier oder fünf schwierige Figuren, und nach einer Weile hatte er sich auf die Suche nach angenehmerer Gesellschaft gemacht. Prinz Prokov musterte das Büfett im Esszimmer mit verhaltener Neugierde.
»Ah, Falconer, vielleicht können Sie mich aufklären. Was sind das nur für kleine Dinger in diesen Eisschälchen, die die Leute mit den zarten Nadeln aufspießen?«
»Schnecken. Außerdem Muscheln und Wellhörner. Recht köstlich, aber ich neige trotzdem zu der Auffassung, dass die Mühe des Verzehrs den kurzen Augenblick des köstlichen Geschmacks kaum lohnt.«
»Das sind Meerestiere?« Alex nahm eine zarte Muschel vom Teller und betrachtete sie aus der Nähe.
»Ja. Sie kleben am Felsen. An unseren Küsten kommen sie ziemlich häufig vor und werden in allen Schichten der Gesellschaft als Delikatesse verzehrt. Überall entlang der Küste können Sie Straßenhändler finden, die sie im Angebot haben. Man sagt, dass ein Spritzer Essig den Genuss enorm steigert.«
Alex griff nach einem Stäbchen und brach das Häppchen aus der Muschel, probierte es auf der Zunge und schluckte es schulterzuckend hinunter. »Ich begreife nicht recht, das solch ein Aufhebens darum gemacht wird. Allerdings weiß Livia den Geschmack von eingelegtem Hering auch noch immer nicht zu schätzen, was ich wiederum nicht einsehen kann.«
Greville lachte und schaute sich um. »Wo steckt eigentlich Ihre Frau?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich sitzt sie immer noch mit einer Freundin in der Ecke und unterhält sich über die Freuden der Mutterschaft. Darüber haben sie jedenfalls gesprochen, als ich sie verlassen habe. Es ist natürlich auch denkbar«, fuhr Alex fort, »dass sie das Thema nur angeschnitten haben, um mich loszuwerden. Dann unterhalten sie sich jetzt über viel interessantere Geschichten, die nicht für männliche Ohren bestimmt sind.«
Lächelnd schaute er Greville an, wartete offenbar auf Zustimmung, bemerkte aber das leichte Stirnrunzeln seines Begleiters. »Aurelia war nicht bei ihnen?«
»Nein, sie hat mit Don Antonio Vasquez getanzt.« Grevilles Stimme klang plötzlich scharf. »Bitte entschuldigen Sie mich, Prokov.« Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Esszimmer. Kurze Zeit später folgte Alex.
Weder im Ballsaal noch im Kartenspielzimmer war Aurelia zu finden. Greville schlenderte an den geöffneten Fenstern vorbei, wo die Gäste in Gruppen herumstanden, um nach den anstrengenden Tänzen ein wenig frische Luft zu schnappen. Aber Aurelia war nicht unter ihnen. Und Don Antonio auch nicht.
»Wer hat sie zuletzt gesehen?«, fragte Alex leise.
Greville drehte sich um. »Verdammt noch mal, ich weiß es nicht. Wir müssen es dringend herausfinden.«
Alex nickte. »Ich frage auf der rechten Seite, Sie auf der linken.«
Lässig schlenderte Greville von Gruppe zu Gruppe und erkundigte sich in aller Sorglosigkeit, ob jemand vor Kurzem seine Frau gesehen hatte. Viele konnten sich erinnern, dass sie die Quadrille getanzt hatte, und einige wussten sogar, dass sie am Ende des Tanzes mit ihrem Partner das Parkett verlassen hatte. Aber all das war so gewöhnlich, dass niemand darauf geachtet hatte, wohin sie gegangen war.
Bis ein Dienstmädchen hinter dem Schirm am entlegenen Ende der Halle hervortrat und irgendetwas in der Hand trug. Zielstrebig schritt sie auf Hector zu, Bonhams Butler, der am oberen Ende der Haupttreppe stand und das lebhafte Treiben mit wachsamem Blick beobachtete. Rasch eilte Greville ihr nach.
Er schaute zu, wie sie vor dem strengen Butler entschuldigend knickste und ihm das Fundstück reichte. Greville wechselte ein paar freundliche Worte mit ihr und nahm ihr den Gegenstand ab. Es handelte sich um Aurelias Fächer. »Wo haben Sie das gefunden?«
Das Mädchen errötete, als ob man sie des Diebstahls bezichtigt hätte.
»Der Fächer gehört meiner Frau«, erklärte Greville dem Butler rasch, »ich hatte nicht die Absicht, dem Mädchen einen Schrecken einzujagen. Aber es ist überaus wichtig, dass sie mir verrät, wo sie ihn gefunden hat.«
Es war kein Zufall, dass Hector den Haushalt des Viscount Bonham in den letzten fünfzehn Jahren geführt hatte. Er wusste genau, wann er zu antworten hatte, ohne über die Gründe einer merkwürdigen Frage nachzugrübeln. »Millie«, wies er das Dienstmädchen an, »berichten Sie Sir Greville, wo Sie den Fächer gefunden haben.«
»Am Fuße der Hintertreppe, Sir«, erwiderte das Mädchen, an Hector gewandt. »Auf der zweiten Stufe von unten. Keine Ahnung, wie der Fächer einer Lady dort landen konnte, Sir, in der Tat, ich habe nicht die geringste Ahnung«, versicherte sie ebenso atemlos wie ängstlich.
»Millie, ich bin sicher, dass Sie keine Ahnung haben können. Ganz bestimmt gibt es eine einfache Erklärung. Danke, dass Sie den Fächer so schnell zurückgebracht haben.« Greville lächelte dem aufgeregten Dienstmädchen beruhigend zu, nickte in Hectors Richtung und entfernte sich mit dem Fächer. Sein Gang wirkte leicht und federnd, aber er legte den Weg zwischen der Empore und dem Ort, an dem er Harry Bonham zuletzt gesehen hatte, so schnell zurück, als wäre er gerannt.
Harry wollte seine Frau gerade auf die Tanzfläche führen, als er Greville erblickte. Der Mann hatte etwas an sich, was ihn alarmierte; er murmelte Cornelia ein paar Worte der Entschuldigung ins Ohr und verließ die Aufstellung zum Tanz. Alex trat blitzschnell an seine Stelle, sodass Cornelia nicht recht begriff, wie der Wechsel sich eigentlich vollzogen hatte.
»Was ist los?«, fragte sie Alex, während sie sich förmlich verbeugten und knicksten, bevor der Tanz begann.
Alex lächelte nur und zuckte die Schultern, streckte ihr die Hände entgegen und drehte sie in eine Figur. »Ich bin mir nicht sicher. Aber wir werden es bald erfahren.«
Cornelia nickte und folgte den Bewegungen ihres Partners, obwohl weder sie noch er sich auf die Schritte konzentrieren konnten.
»Holen Sie Franny«, stieß Greville hervor, als Harry ihn erreicht hatte.
Harry nickte zustimmend. »Ich werde Lester schicken. Das ist weniger auffällig.«
»Das können Sie besser beurteilen als ich. Der Mann braucht einen Schlüssel für die rückwärtige Tür, und er braucht die Befehle, mit denen er Lyra zur Ruhe bringen kann.«
Harry hörte aufmerksam zu, nahm den Schlüssel, nickte wieder und verließ eilig den Ballsaal.
Greville ging zurück in die Halle, trat hinter den Schirm und eilte die Stufen der engen Treppe hinunter. Es gab keinerlei Anzeichen für einen Kampf. Aurelia hatte ihr Zeichen auf der zweituntersten Treppe platziert, und die Tür war immer noch entriegelt. Er trat hinaus in den dunklen Durchlass, eilte zur schmalen Gasse. Dann streckte er dem Mond sein Gesicht entgegen und wehklagte lautlos, was für ein Dummkopf er doch gewesen war. Beinahe kriminell in seiner Nachlässigkeit.
Denn er war überzeugt gewesen, dass sie im überfüllten Ballsaal in Sicherheit wäre. Er hatte sie kaum eine Sekunde aus den Augen gelassen. Aber sie wollten nicht Aurelia … oder besser gesagt, sie war ihnen nur Mittel zum Zweck.
Sie wollen mich. Und schon bald würden sie die Verbindung zu ihm herstellen. Bis es so weit war, konnte er nur hoffen und beten, dass es noch nicht zu spät war, Franny aus dieser Gefahr zu retten, und dass sie Aurelia am Leben lassen würden, jedenfalls so lange, bis sie ihn in den Händen hielten.
Langsam ging er die Gasse entlang. Ein Dunghaufen zeigte die Stelle, an der die Pferde eine Weile gewartet hatten, ganz in der Nähe der Hintertür. Der Haufen war immer noch warm. Er bückte sich und musterte ihn genauer. Er mochte seit einer halben Stunde hier liegen. Vielleicht auch ein wenig länger. Greville bückte sich noch tiefer und untersuchte das Kopfsteinpflaster. Drei rostfarbene Flecken kurz hinter dem Dunghaufen. Das Herz pochte ihm heftig gegen die Rippen. Der Fleck trocknete bereits, war aber noch nicht hart.
Aurelia war verletzt, aber nicht sehr. Es mochte sein, dass sie die Spur für ihn gelegt hatte, genau wie mit dem Fächer. Das hieß, dass sie sich immer noch in fremder Gewalt befand. Er folgte den Wagenspuren bis auf die offene Straße. Aber dort konnte er unmöglich bestimmen, in welche Richtung sie abgebogen waren. Der rege Verkehr hatte jegliche Spuren verwischt.
»Irgendeinen Hinweis?« Mit Alex an seiner Seite war Harry wie aus dem Nichts aufgetaucht.
»Ein paar Blutstropfen auf dem Kopfsteinpflaster. Ich vermute, Aurelia hat absichtlich dafür gesorgt, dass ich sie bemerke.«
»Sie ist verletzt?« Alex klang außer sich vor Wut.
»Nicht besonders schwer, nehme ich an«, meinte Greville nüchtern. »Denn sie haben es auf mich abgesehen.« Er lachte kurz und traurig. »Wie dem auch sei, mit Aurelia als Geisel werden sie bald die Verbindung zu mir herstellen. Weil sie wissen, dass ich nicht aufgeben werde, bis ich mich mit eigenen Augen überzeugt habe, dass sie unverletzt ist. Im Moment kann ihr also nichts passieren. Und glauben Sie mir, Gentlemen, sie wird kühlen Kopf bewahren.«
»Und wie wollen Sie es anstellen, der Falle zu entkommen?« Harry klang genauso nüchtern und sachlich wie Greville.
»Das kommt ganz darauf an, welche Falle sie mir stellen wollen, mein Freund«, erwiderte Greville.
»Wenn Sie unsere Hilfe brauchen, zögern Sie nicht.«
Greville freute sich über Harrys Angebot und lächelte kurz. »Sobald Sie Franny in Sicherheit gebracht haben, werde ich in die South Audley Street zurückkehren und auf die Kontaktaufnahme warten.«
»Lassen Sie uns ins Haus zurückgehen. Ich fürchte, Cornelia und Livia müssen erfahren, was geschehen ist. Sie werden die Stellung halten und dafür sorgen, dass das Fest seinen üblichen Gang geht. Aber …« Schulterzuckend brach Harry ab.
Greville zögerte immer noch, andere Menschen über seinen Auftrag zu informieren. Doch langsam dämmerte es ihm, dass die Operation nicht länger allein seine Angelegenheit war. In dem Augenblick, als er sich für Aurelia als Partnerin entschieden hatte, hatte er akzeptiert, dass andere Menschen die Wahrheit fordern würden, irgendwann, wenn sie es für nötig hielten - zugegebenermaßen zuerst jene, die wie er in einen Krieg gegen feindliche Geheimdienste verstrickt waren. Und wenn Aurelia in Gefahr geraten war, dann hielten sie es für nötig, ihn zur Wahrheit zu zwingen. Ihm blieb keine Wahl.
Das Orchester spielte immer noch, als sie wieder im Ballsaal eintrafen. Die Gäste tanzten, bedienten sich im Esszimmer am Büfett und spielten Karten; die beiden Gastgeber und zwei der Gäste lächelten tapfer und hielten Ausschau nach Lester.
Lester ließ den Schlüssel in das gut geölte Schloss der Küchentür gleiten, drehte ihn um und lächelte anerkennend. Die Küche lag im Dunkeln; nur ein paar verglimmende Kohlen im Kamin verbreiteten schwaches Licht. Der Lichtschein reichte immerhin so weit, um ihm den Weg zur Tür zu zeigen, die in den vorderen Teil des Hauses führte. Er wusste über Lyra Bescheid und hatte erfahren, dass vorn an der Tür eine Nachtwache eingeteilt war. Falls allerdings ein Einbrecher in das Haus gedrungen war, steckte der Wachmann in Schwierigkeiten.
Er schlich durch die Tür in die Halle und entdeckte den Wachmann auf dem Boden liegend. Aber er hatte keine Zeit, sich um dessen Wohlergehen zu kümmern. Denn offenbar war tatsächlich jemand in das Haus eingedrungen, und dieser Jemand hatte es auf das Kind abgesehen. Komme ich etwa zu spät?
Lautlos erklomm Lester die Stufen in das erste Stockwerk. Er blieb stehen, lauschte, vernahm leises, gefährliches Knurren. Er machte ein paar Schritte in die Richtung, aus der das Geräusch kam, und verharrte reglos vor dem Anblick, der sich ihm bot. Dann flüsterte er dem Hund die Worte zu, die er gelernt hatte; das Tier schaute ihm in die Augen, ohne sich von seinem Opfer zurückzuziehen.
Lester flüsterte dem Hund noch weitere Befehle zu, während er langsam auf ihn und den auf dem Rücken liegenden Mann zuschritt. Lyra gehorchte und hob den Kopf, gab dem Mann die Möglichkeit, mit der Hand die Kehle des Opfers zu befühlen. Lyra nahm in Höhe seines Kopfes Platz und beobachtete die Szene, während Harrys Diener dem Gefangenen befahl, sich auf den Bauch zu drehen, und ihm dann die Hände auf dem Rücken fesselte.
»Was bist du für ein wundervolles Geschöpf«, meinte Lester und streckte die Hand vorsichtig nach dem Tier aus. Der Hund senkte seinen mächtigen Kopf und ließ sich gnädig das Fell kraulen.
Lester zerrte Miguel auf die Füße und stieß die Tür zu einem Schlafzimmer auf. Dann schubste er den Mann mit dem Gesicht nach unten auf das Bett und fesselte ihm die Füße ebenso flink wie die Hände, bevor er ihm ein Seil um die Hüfte schlang und es an den Pfosten am Fuß des Bettes festzurrte.
»Das sollte dich im Zaum halten, bis ich wiederkomme und mich um dich kümmere, Freundchen«, erklärte Lester froh. »Außerdem wird Lyra dich bewachen. Nur für den Fall.« Er sprach ein paar Worte mit dem Hund, der ihm gefolgt war und die Prozedur beobachtet hatte, den Kopf interessiert zur Seite geneigt.
Und jetzt zum Kind. Ohne die passenden Worte würde der Hund es nicht zulassen, dass er das Mädchen mitnahm. Aber zum Glück hatte Lester ein gutes Gedächtnis. Ob es ihm gelang, die lebhafte Franny ohne größeres Aufsehen über die Treppe nach unten zu bringen, war eine ganz andere Frage.
Lester hockte sich neben den Hund, sprach ein paar Worte mit ihm und schaute ihm die ganze Zeit über direkt in die Augen. Lyra lauschte aufmerksam, seufzte geräuschvoll und legte sich neben das Bett, auf dem der Gefangene gefesselt war.
Erleichtert stand der Diener wieder auf und eilte weniger lautlos als zuvor hinauf ins Kinderzimmer. Daisy schlief in ihrem eigenen Zimmer, das unmittelbar an Frannys grenzte. Erstaunt nahm er zur Kenntnis, dass das Kind aufrecht im Bett saß, ihn zwar mit aufgerissenen Augen, aber doch völlig furchtlos anschaute, als er durch die Tür ins Zimmer schlüpfte. Auf dem Nachttisch neben ihrem Bett brannte ein kleines Licht.
»Lester?«, wisperte Franny, »bist du gekommen, um mich zum Ball zu bringen?«
»Ganz genau, Prinzessin«, stimmte er zu und schlang die Decke um Franny.