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Greville Falconer verließ das Haus am Cavendish Square und eilte in Richtung Horseguards Parade, wo sich das Kriegsministerium befand. Das Dokument hatte er sicher in seiner Manteltasche verstaut. Er hatte es nicht nötig, das Schreiben zu lesen. Schließlich wusste er, was es enthielt; trotzdem drängte es ihn, die Karte zu kopieren. Frederick Farnhams kartografische Fähigkeiten überstiegen seine bei Weitem, und die Karte, die den größten Teil des Dokuments ausmachte, war viel zu detailliert gezeichnet, als dass Greville sie aus dem Gedächtnis hätte reproduzieren können. Frederick dagegen wäre ohne Weiteres dazu in der Lage gewesen.
Einmal mehr wurde ihm schmerzhaft bewusst, wie schwer der Verlust wog. Frederick war sein Freund gewesen. Als sein Schüler war er äußerst klug gewesen und hatte die Feinheiten der Spionagetätigkeit rascher begriffen als die anderen, hatte das intellektuelle Vergnügen seines Meisters an der verborgenen Welt der Täuschungen und Manipulationen geteilt und war den Gefahren mutig begegnet. Und als Kollege hätte Greville ihm sein Leben anvertraut.
Er würde Fredericks Tod immer betrauern, würde sich immer fragen, ob er ihn hätte retten können, wenn er mit seinem Säbel einen anderen Hieb gewagt oder sich für einen anderen Weg auf ihrer überstürzten Flucht durch die Gassen Corunnas zum Hafen hinunter entschieden hätte. Sein Verstand sagte ihm, dass es keinen Unterschied gemacht hätte. Der Feind lauerte in jeder Straße, und sie waren, hoffnungslos in Unterzahl, aus dem Hinterhalt überfallen worden. Frederick war schnell gestorben, mit einem einzigen Säbelstich direkt ins Herz. Der junge Fähnrich hatte das Dokument an sich gerissen und zum Hafen gebracht, während Greville die Verfolgung aufgenommen hatte. Zwei der Männer, die Frederick überfallen hatten, hatten ihren Preis gezahlt. Außerdem waren die Karte und die lebenswichtigen Informationen außer Landes gebracht worden. Frederick war nicht vergeblich gestorben.
Greville gab sich dem Wachtposten am Pförtnerhäuschen zu erkennen und betrat den äußeren Hof des Kriegsministeriums, legte den Weg zum schmalen Torbogen in der rechten Ecke des Hofs zurück und stieg die geschwungene Steintreppe hinauf. Kurz darauf betrat er den Korridor mit verrußten zweiflügeligen Fenstern an den Seiten, die kaum Licht hereinließen.
»Falconer, nicht wahr?«
Er wirbelte herum, als er die Stimme hörte, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Gerade eben war ein Mann aus der Tür hinter ihm getreten. Die grünen Augen blickten müde, der gestärkte Kragen hing schlaff herab, er trug keinen Mantel, und die oberen Knöpfe seines Hemdes waren aufgeknöpft.
»Bonham.« Greville streckte die Hand aus. »Rätseln Sie immer noch an Ihren Hieroglyphen herum?«
»Immer noch«, bestätigte Harry und schüttelte Greville freundlich die Hand. »Ich glaube, ich habe seit drei Tagen kein Sonnenlicht mehr gesehen.« Mit scharfem Blick musterte er den Colonel. »Dann sind Sie der Hölle von Corunna also entkommen?«
Greville erwiderte leise: »Als einer von wenigen.«
Harry nickte schweigend. Die beiden Männer kannten sich nur flüchtig, wussten nur ungefähr, mit welchen Angelegenheiten der andere sich beschäftigte. Aber sie waren beide in diesen schäbigen Korridoren des Kriegsministeriums zu Hause. Und sie teilten dieselbe Lust an der dunklen Unterwelt des Krieges, an geheimen Manövern, an Verschwörungen und der fiebrigen Aufregung über einen Triumph, der nur den Kollegen in der Unterwelt mitgeteilt werden durfte.
»Sind Sie auf dem Weg zu Ihrem Vorgesetzten?«, fragte Bonham beiläufig. Es gehörte zu den ungeschriebenen Gesetzen ihrer Welt, dass kein Mann den anderen zu eindringlich über dessen Geschäfte aushorchte.
»Ich melde mich zurück«, erwiderte Greville, »bin erst heute Vormittag wieder in London eingetroffen.«
»Ich werde in der St. James Street nach Ihnen Ausschau halten, wenn Sie eine Weile in der Stadt bleiben«, versprach Harry, »vorausgesetzt, ich komme jemals wieder hier heraus.« Er verabschiedete sich mit erhobener Hand und eilte den Korridor in entgegengesetzter Richtung hinunter.
Greville ging zu einer Tür, die zu einer Reihe Büros am Ende des langen, dämmrigen Korridors führte, der nach Staub und Mäusen roch. Die Tür war nur leicht angelehnt, und er klopfte leise, bevor er sie aufstieß.
Der Mann am Schreibtisch aus massivem Eichenholz erhob sich, als er seinen Besucher erblickte. »Greville … Ich bin froh, Sie wohlauf zu sehen.« Er beugte sich über den Schreibtisch, um die Hand des Colonels erfreut zwischen seine Hand zu nehmen. »Was für ein heilloses Durcheinander … ein Verbrechen … aber Moore hat wirklich sein Bestes gegeben.«
»Aye. Und er ist tapfer in den Tod gegangen«, erwiderte Greville. Auf seinen grauen Augen lag plötzlich ein Schatten. Zusammen mit dem Spazierstock legte er seinen Hut auf den Tisch und zog sich die Handschuhe aus.
»Genau wie Farnham«, fügte Simon Grant, der Kopf des Geheimdienstes, rasch hinzu. Er war der einzige Mensch, dem die wahre Identität der Natter und des jüngst verstorbenen Agenten bekannt war. »Ich bedaure zutiefst, dass er sterben musste, Greville. Ich weiß, wie sehr Sie ihn geschätzt haben. Wie auch ich.«
»Ich habe ihn nicht nur als Kollegen geschätzt, sondern auch als Freund.« Der Colonel griff in seinen Mantel und zog das Dokument heraus. Sein Tonfall klang hart und geschäftsmäßig.
»Das hier ist Farnhams Karte, die die wichtigsten Pässe über die Pyrenäen nach Spanien verzeichnet. Die Franzosen müssen sie besetzen, wenn sie weiterhin Spanien und Portugal kontrollieren wollen.« Greville entfaltete das Pergament auf dem Tisch und strich es glatt. »Das Gleiche gilt, wenn wir die Pässe besetzen. Wir können den französischen Vormarsch aufhalten und sicherstellen, dass kein Nachschub mehr ins Land kommt.«
Simon Grant griff nach einer Lupe und beugte sich über die Karte. »Unter Wellesley ist die Armee bereit für die Verlegung auf die Halbinsel. Er plant die Landung in Lissabon und will dann entlang des Tagus River marschieren.« Grant lächelte verhalten. »Er wird die Franzosen in kürzester Zeit aus Portugal verjagen. Denken Sie an meine Worte, Greville.«
»Ich habe nicht die geringsten Zweifel, Sir«, erwiderte der Colonel trocken. »Farnham und ich haben zu den Gruppen Verbindungen aufgebaut, die sich über die gesamte Halbinsel verteilt haben. Sie waren bemerkenswert kooperativ. Diesmal hat Bonaparte den Widerstand falsch eingeschätzt. Auf keinen Fall rechnet er mit Angriffen aus dem Hinterhalt … durchgeführt von Partisanen, die leidenschaftlich für ihr Vaterland kämpfen. Die Leute sammeln sich am Tagus, um dem General ihre Unterstützung anzubieten.«
Greville beugte sich über den Tisch und drehte die Karte um. »Auf der Rückseite finden Sie die Codenamen und die Passwörter der verschiedenen Gruppen. Mit diesen Informationen werden Wellesleys Spione in der Lage sein, die Verbindung zu ihnen aufzubauen. Unsere Männer können sich auf einen freundlichen Empfang verlassen.«
Simon Grant studierte die Liste mit den Namen und Zahlen, bevor er weitersprach. »Sollte vielleicht Bonham einen Blick darauf werfen? Nur um ganz sicherzugehen, dass keine hässlichen Überraschungen in diesen Codes versteckt sind.«
»Warum nicht? Ich würde meine Ehre dafür geben, dass sie zuverlässig sind, aber …« Greville zuckte die Schultern. »Ich werde das Leben unserer Leute nicht wegen einer Vermutung aufs Spiel setzen.«
»Stimmt genau.« Grant läutete die Handglocke auf dem Tisch, und sofort trat ein junger Fähnrich ein. »Beringer, bringen Sie die Unterlagen zu Lord Bonham.«
Der Fähnrich schlug die Hacken zusammen, während er sich verbeugte und nach dem Schreiben griff. »Sofort, Sir.« Er verließ das Zimmer im Laufschritt.
Simon verzog das Gesicht. »Harry wird sich nicht gerade bedanken, dass ich ihm noch zusätzliche Arbeit aufbürde. Der arme Teufel hat das Gebäude seit drei Tagen nicht mehr verlassen. Glücklicherweise ist seine Frau sehr verständnisvoll.« Eindringlich musterte er den Colonel. »Nun, Greville, sind Sie bereit, sich eine Weile in der Heimat die Zeit zu vertreiben?«
»Wenn Sie mich hier brauchen, Sir.«
»Wir haben den Verdacht, dass die Spanier es darauf anlegen, im Herzen unseres Geheimdienstes Fuß zu fassen. Wer wüsste besser als Sie, dass wir ihnen dies auf keinen Fall gestatten dürfen?« Simon lächelte spöttisch. »Bonaparte hat jetzt die Regierung von Spanien übernommen. Der König ist ins Exil geflüchtet. Das Netz des spanischen Geheimdienstes berichtet direkt an Fouché in Paris … Dort hat er sich jedenfalls aufgehalten, als wir zuletzt ein Auge auf ihn hatten.« Sein Lächeln wurde starr. »Der Mann ist ebenso glitschig wie ruchlos.«
Greville nickte zustimmend und lächelte ebenfalls. »Gibt es Hinweise darauf, wie die Spanier ihre Annäherung planen?«
Simon nickte. »Wir glauben, dass sie uns durch die oberen Ränge der Gesellschaft infiltrieren wollen … Sie kennen die Geschichte, irgendein exiliertes Mitglied des spanischen Hochadels, das in bittere Armut stürzt, weil es von den Franzosen verfolgt wird.«
»Stimmt es, dass sie im Augenblick im Sold der Franzosen stehen?«
Simon nickte wieder. »Wir sind uns recht sicher, obwohl unsere Informationen zurzeit noch sehr spärlich sind. Mehr Vermutungen und Andeutungen als Tatsachen, merkwürdige Ausschnitte aus Briefwechseln, die uns zugespielt worden sind. Nichts Genaues. Aber wir haben entschieden, die Natter für die nächste Zeit aus dem Verkehr zu ziehen und Sie unter Ihrer wahren Identität arbeiten zu lassen. Wir brauchen Sie eine Zeit lang hier in London, wo Sie sich unter die oberen Zehntausend mischen und die Clubs in der St. James Street besuchen sollen. Und Ihre Aufwartung bei Hofe machen, wenn Sie können …«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich für das Tanzparkett ausgebildet bin«, meinte Greville und verzog die Lippen. »Sie wissen ganz genau, dass ich für diese unsinnigen Gesellschaftsspiele keine Zeit habe. Ich bin mehr in abgelegenen Gassen und heruntergekommenen Kneipen zu Hause, mische mich lieber unter Guerillakämpfer und in die Gesellschaft von Männern, die mit vergifteten Dolchen kämpfen.«
Simon lachte. »Ich weiß, ich weiß, mein Freund. Aber Sie können auch diese Rolle spielen … Schließlich sind Sie in solchen Kreisen aufgewachsen. Außerdem scheint Ihnen die Rolle wie auf den Leib geschneidert. Aber nicht dass wir uns falsch verstehen … Sie werden nicht in den Ruhestand versetzt. Die Spanier bleiben so gefährlich und verschlagen wie eh und je. Ihre Agenten würden der Heiligen Inquisition alle Ehre machen. Sie werden all Ihre Fähigkeiten einsetzen müssen, Greville, um immer den entscheidenden Schritt voraus zu sein. Ich muss Ihnen nicht sagen, was passiert, wenn sie Ihnen auf die Schliche kommen.«
Greville beschränkte sich auf eine vielsagende Grimasse.
»Falls Sie nicht über ausreichende Kontakte in der Stadt verfügen«, fuhr Simon fort, »dann werden wir Harry Bonham bitten, Sie überall einzuführen. Er kennt sich im sozialen Leben dieser Stadt aus, hat seinen Fuß in jeder Tür. Obwohl ich überzeugt bin, dass ihn der Firlefanz manchmal genauso ungeduldig macht wie Sie. Aber er hat auch Zugang zu den höchsten politischen und diplomatischen Kreisen. Gestatten Sie ihm, Sie den einflussreichen Leuten vorzustellen. Der Rest liegt bei Ihnen.«
Greville nickte zustimmend. »Wenn Sie wollen, dass ich so eingesetzt werde, dann lasse ich mich selbstverständlich so einsetzen.«
»Gut.« Simon umrundete den Tisch, um dem Mann zum zweiten Mal die Hand zu schütteln. »Wo werden Sie wohnen?«
»Bei meiner geschätzten Tante Agatha in der Brook Street. Ich wohne immer dort, wenn ich mich in der Stadt aufhalte. Aber falls ein längerer Aufenthalt in London daraus wird, werde ich ein anderes Arrangement treffen müssen.«
»Lassen Sie es mich wissen, sobald Sie sich eingerichtet haben. Ich werde dann gleich Bonham benachrichtigen.« Simon umschloss Grevilles Hand mit festem Griff. »Schön, Sie wieder hier zu haben … In letzter Zeit haben wir zu viele Männer verloren.«
»Ja«, bestätigte Greville, ohne sich näher zu äußern, und erwiderte den Händedruck, bevor er nach Handschuhen, Hut und Spazierstock griff und sich zur Tür wandte. Mit der Hand auf dem Knauf hielt er inne. »Die Abteilung schuldet Farnham noch eine ordentliche Summe, nicht wahr?«
»Stimmt«, meinte Simon und schaute Greville verwirrt an, »außerdem gibt es eine Witwe, soweit ich weiß. Wir würden das Geld liebend gern auszahlen, wenn wir nur sicherstellen könnten, dass sie nicht erfährt, woher es stammt.«
Greville machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ich werde mich darum kümmern.« Mit einem halbherzigen Gruß verließ er das Büro.
Draußen war es inzwischen dunkel geworden. Auf der Straße hielt er eine Droschke an und gab den Befehl, in die Brook Street zu fahren. Seine Tante Agatha, eine Lady Broughton, war die verwitwete Schwester seiner verstorbenen Mutter. Die Lady verfügte über beachtliche finanzielle Mittel und war auf ihre Art sehr stolz; aber sie war auch eine ausgesprochen freundliche Seele und immer hocherfreut, ihren Neffen zu sehen. Und sie zerbrach sich den Kopf darüber, warum er bei seinen seltenen Besuchen in der Stadt nur spärlich an geselligen Zusammenkünften teilnahm. Er wusste, dass es ihr ein Vergnügen gewesen wäre, ihren Neffen für längere Zeit während der Saison zu beherbergen. Aber als Junggeselle brauchte er seinen eigenen Haushalt.
Mit einem Kopfnicken bedankte er sich beim Butler, der ihm die Tür geöffnet hatte, trat ein und eilte sofort hinauf in sein altmodisch eingerichtetes Schlafzimmer. Ein Feuer brannte im Kamin, die Lampen waren angezündet worden. Greville genoss diese Annehmlichkeiten, die sich ihm während seiner Einsätze kaum boten, ging zum Fenster und zog den Vorhang beiseite. Auf der Straße waren bereits die Gaslampen angezündet worden, und eine Kutsche rumpelte vorüber. Sein Besitzer - oder seine Besitzerin - war bestimmt auf dem Weg zu irgendeinem Abendvergnügen, wenn nicht zu einem rauschenden Fest.
Das war nicht seine Welt, war nie seine Welt gewesen, was auch für Frederick Farnham galt. Aber Fredericks Frau hatte deutliche Hinweise darauf gegeben, dass sie perfekt in diese Kreise hineinpasste. Nicht seine Frau, mahnte er sich, seine Witwe.
Blinzelnd schaute er in das flackernde gelbe Licht der Lampe unter seinem Fenster. Frederick hatte oft von Aurelia erzählt … Ellie hatte er sie immer genannt. Ganz besonders an jenem Abend, als sie einen Krug Apfelwein in einer Scheune in der Bretagne geleert hatten, während sie dem Lärm ihrer Verfolger lauschten, den bellenden Hunden, dem feindlichen Geschrei, das schließlich in der dunklen Nacht verklang.
Hör mal, Greville … Ich glaube nicht, dass Ellie weiß, wer sie wirklich ist. Oder wozu sie in der Lage ist. Sie besitzt Stärken, von denen sie selbst keine Ahnung hat.
Greville ließ den Vorhang wieder vor das Fenster gleiten. Sein Freund hatte noch mehr erzählt, und seine Stimme hatte wehmütig geklungen, weil ihm klar war, dass die Chancen, seine Frau jemals wiederzusehen, äußerst gering waren. Die beiden waren gemeinsam im selben Dorf aufgewachsen, und die benachbarten Familien waren eng miteinander verbunden, wie immer bei den adligen Familien auf dem Lande, die in der Gegend herrschten. Ihre Heirat war ganz selbstverständlich gewesen. Sie hatten damit die Erwartungen beider Familien erfüllt. Aber Frederick Farnham hatte irgendetwas in seiner Frau entdeckt, was niemand außer ihm bisher gesehen hatte. Dann war er dem Ruf seines Landes gefolgt, obwohl ihm voll und ganz bewusst gewesen war, dass er niemals wieder ein normales Leben würde führen können und niemals die Gelegenheit bekommen würde, die Abgründe in der Seele seiner Frau zu erforschen. Frederick hatte nicht viele Worte darüber verloren. Aber trotzdem hatte er es mit jedem Wort zu verstehen gegeben, das er über sie gesprochen hatte.
Wie würde er sich wohl gefühlt haben, wenn er geahnt hätte, dass sich während seiner Abwesenheit ein anderer Mann um sie kümmerte?
Der Gedanke war erschreckend. Langsam dämmerte es Greville, dass er irgendwo im hintersten Winkel seines Kopfes aufgekeimt war. Und zwar genau dort, wo er, oft ohne jede Absicht, Pläne und Strategien für seine neuesten Aufträge ausbrütete. Für seinen gegenwärtigen Auftrag brauchte er eine Tarnung, musste eine zuverlässige Fassade aufbauen.
Falls Aurelia wirklich unbekannte Stärken und Fähigkeiten besaß, jene verborgenen Abgründe, an die ihr Ehemann geglaubt hatte, dann wäre sie vielleicht einverstanden, ihm zu helfen. Wenn er seine Anfrage nur geschickt vorbrachte … wenn er nur die rechte Belohnung versprach. Natürlich hatte sie ihm am Nachmittag den Eindruck vermittelt, als würde sie ihn ganz und gar nicht schätzen. Aber das war kaum überraschend. Denn schließlich hatte er ihr erklärt, dass sie in den vergangenen drei Jahren mit einer Lüge gelebt hatte und dass in dem Mann, mit dem sie verheiratet gewesen war, ein ganz anderer steckte als der, den sie immer in ihm gesehen hatte. Es war nur natürlich, dass sie dem Boten der schlechten Nachricht an die Kehle springen wollte. Aber der erste Eindruck konnte wettgemacht werden. Und die rechte Belohnung würde sich finden.
Greville wusste, dass er kein geborener Charmeur war. Wenn es um Flirts und Schmeicheleien ging, waren seine Fähigkeiten nicht besonders entwickelt. Oh, im Interesse seiner Arbeit und wenn das Überleben es erforderlich machte, konnte er natürlich in jede Rolle schlüpfen; aber das half ihm in seiner gegenwärtigen Lage nicht weiter. Aufrichtigkeit …
Er musste unmittelbar an ihren Charakter appellieren, an ihre innere Natur, die sowohl ihr selbst als auch ihren Mitmenschen verborgen geblieben war. Es musste ein Appell sein, der durch das Beispiel ihres Ehemannes genauso bestärkt wurde wie durch das Beispiel anderer adliger Frauen mit diplomatischen und geselligen Fähigkeiten, die ihr Haus dem Dienst am Vaterland zur Verfügung stellten. Nein, es war beileibe kein seltsamer Vorschlag. Und es könnte sogar sein, dass sie ihn annahm.
Aurelia saß im Schlafzimmer am Kamin und hielt den entfalteten Brief in ihren Händen, während der Blick über die flackernden Flammen schweifte. Im Haus war es ruhig. Morecombe, seine Frau und seine Schwägerin hatten sich längst in ihre Wohnungen zurückgezogen, und auch der übrige Haushalt hatte sich zur Ruhe begeben. Franny lag schlafend im Kinderzimmer, Daisy hielt sich in ihrem eigenen kleinen Zimmer direkt nebenan auf und hatte die Tür nur leicht angelehnt, falls das Kind in der Nacht erwachte.
Aurelia hatte den Brief bereits dreimal gelesen, glaubte schon, ihn auswendig zu kennen, ohne dass sie ihn begriffen hatte. Oh, die Worte waren nicht schwer zu verstehen - anders als der Mann, der sie geschrieben hatte, anders als die Tatsache, dass dieser Frederick Farnham offenbar nicht der Mann gewesen war, den sie geheiratet und dessen Kind sie geboren hatte. Sie konnte sich gut erinnern, wie überglücklich er bei Frannys Geburt gewesen und draußen vor der Kammer auf und ab marschiert war, während seine Frau drinnen die ganze Nacht hindurch in den Wehen gelegen hatte. Wieder ging ihr durch den Kopf, wie er sein Baby in die Arme genommen, wie er mit feuchten Augen auf das Bündel hinabgeblickt hatte, voller Ehrfurcht und Verwunderung. Nein, es konnte nicht sein, dass dieser Mann alles aufgegeben und Frau und Kind beiseitegeschoben hatte, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, was er tat.
Meine liebste Ellie,
wenn du diese Zeilen liest, wird es bedeuten, dass ich tot bin. Ich habe diesen Brief schon vor vielen Monaten geschrieben, damals, als mir klar wurde, dass ich - um es vorsichtig auszudrücken - wahrscheinlich nicht überleben werde. Es ist schwer zu erklären, wie ich dazu gekommen bin, das zu tun, was ich jetzt tue. Es ist noch schwerer zu erklären, wie sehr es mich schmerzt zu wissen, dass ich dich verletzt habe. Aber ich kann nichts tun, deinen Schmerz zu lindern. Bitte versuch mich zu verstehen. Ich weiß auch, dass du ärgerlich sein wirst, und darin kann ich sogar einigen Trost finden. Dein Ärger ist leichter zu ertragen als dein Schmerz.
Bitte versuch zu verstehen. Versuch zu verstehen, wie mächtig der Befehl des Vaterlands ist, der einen Mann dazu treibt, für sein Land zu kämpfen. Bonaparte muss aufgehalten werden, bevor er den gesamten Kontinent unterwirft. Und sei versichert, dass er sich mit dem Kontinent nicht begnügen wird. Er hat seinen Arm schon nach Indien und auf die Handelswege ausgestreckt, und es scheint, als könne nur England ihm inmitten schwankender Verbündeter mit fest geschlossenen Reihen entgegentreten. Solange es ihm nicht gelingt, unsere Insel zu erobern, können wir gegen ihn kämpfen. Und wir werden ihn besiegen. Kurz nachdem ich mit Stephen in See gestochen war, um Admiral Nelsons Flotte an der französischen Küste zu unterstützen, bin ich Colonel Sir Greville Falconer begegnet. Er hat sich unserer Fregatte kurz hinter Gibraltar angeschlossen. Diese Begegnung hat mein Leben verändert. Greville ist mein bester Freund und engster Kollege geworden. Er ist, um es rundheraus zu sagen, ein Meisterspion, und er hat mich angeworben. Ich kann nur hinzufügen, dass ich nach irgendetwas auf der Suche war, ohne zu wissen, worum es sich handelte, bis er mir das Angebot gemacht hat. Ich wollte der strengen Hierarchie entkommen, der Härte der Kriegsmarine entfliehen, wollte Schlachten schlagen, aber mit meinem scharfen Verstand. Ich wollte mich im Dreck vergraben, an vorderster Front gegen den Feind kämpfen, ohne dass ich es auf Ruhm und Ehre abgesehen hatte. Meine Liebste, ich habe keine Ahnung, wie ich es sonst erklären soll, dass Grevilles Angebot mich wie magisch angezogen hat. Ja, ich fühlte mich wie magisch zu ihm hingezogen, und wenn du ihn kennenlernst, wirst du mich verstehen. Ich hoffe, dass er es überleben wird, welches Ereignis auch immer für meinen Tod verantwortlich sein wird; es ist das Ereignis, das dazu geführt hat, dass du jetzt diesen Brief liest. Denn ich weiß, dass er, wie er es mir versprochen hat, dich aufspüren wird. Er ist der Einzige, dem ich es anvertraue, dir mein Geheimnis zu überbringen. Ein Geheimnis, meine Liebe, das du für mich bewahren musst. Du darfst niemandem von diesem Brief berichten, mit niemandem das Wissen teilen, das du jetzt besitzt. Sir Greville Falconers wahre Identität ist nur wenigen Leuten bekannt. Wenn es an die Öffentlichkeit dringt, würde es nicht nur seinen sicheren Tod bedeuten, sondern auch den anderer Menschen. Ich kann es gar nicht genug betonen, meine Liebe. Es stehen zu viele Menschenleben auf dem Spiel, das Leben meiner Freunde, meiner Kollegen aus vergangenen und gegenwärtigen Zeiten, falls Grevilles wahre Identität und meine Tätigkeit der letzten drei Jahre ans Tageslicht gezerrt werden. Er selbst wird es dir noch einmal erklären. Vertrau ihm, Ellie. Du kannst ihm sogar dein Leben anvertrauen. Er wird dich beschützen, wie ich es nicht länger vermag. In den letzten Jahren habe ich viele Frauen kennengelernt, die Seite an Seite mit ihren Männern gekämpft und ihr Leben im Kampf gegen Bonaparte gegeben haben. Die stärkste Waffe in ihrem Kampf war ihr Verstand, und sie haben ihn so gut wie die Männer benutzt. Um aufrichtig zu sein, mein Leben ist mehr als einmal durch den schnellen Verstand und die Tapferkeit solcher Frauen gerettet worden, die all ihr Vertrauen in Greville Falconer gesetzt und es niemals bereut haben. Abschließend kann ich dir nicht oft genug mein Bedauern darüber ausdrücken, meine Liebe, dass ich dich gezwungermaßen so sehr täuschen musste. Ich kann nur beten, dass du eines Tages die Not verstehen wirst, die mich dazu getrieben hat, so zu handeln, wie ich gehandelt habe. Ich möchte dich bitten, Franny gegenüber freundlich über mich zu sprechen. Das Herz tut mir weh, wenn ich daran denke, dass ich es nicht erleben werde, wie sie zur erwachsenen Frau heranreift. Aber ich habe eine Entscheidung getroffen und muss nun mit den Konsequenzen leben. Ich hoffe, dass du wieder heiraten wirst, wenn es dein Wunsch ist, und dass du die Erfüllung in deinem Leben finden wirst, wie ich sie in meinem Leben gefunden habe. Ich gebe mein Leben aus freien Stücken im Dienst für mein Vaterland, obwohl ich nicht gern sterbe. Es ist noch so viel Arbeit zu erledigen, die ich nun anderen überlassen muss. Dir, Ellie, sende ich meine unsterbliche Liebe. Und denke freundlich an mich zurück, wenn es dir möglich ist.
FF.
Aurelia bemerkte, wie ihre Tränen auf das Papier tropften und die Tinte verschmierten. Einen Moment lang erfüllte der Gedanke sie mit Zufriedenheit, dass ihre Tränen die Worte auslöschen - oder sie doch so gründlich zum Verschwinden bringen konnten, wie ihr Ehemann aus ihrem Leben verschwunden war. Frederick hatte ihretwegen keine Träne geweint. Er hatte gehandelt, wie seine Entscheidung es von ihm verlangt hatte, hatte die Folgen für sich selbst akzeptiert, ohne allerdings nur einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, ob andere von seiner Wahl ebenfalls betroffen waren. Plötzlich schob sie den Brief beiseite, brachte ihn auf dem kleinen, runden Tisch neben sich in Sicherheit.
Sie stand auf und marschierte in dem sanft beleuchteten Zimmer auf und ab, hatte die Arme um den Oberkörper geschlungen und ließ den Tränen freien Lauf. Inzwischen waren es Tränen der Wut geworden. Natürlich, Vaterlandsliebe war eine gute Sache, besonders in Kriegszeiten. Fredericks Tod auf dem Schlachtfeld hätte sie ohne Schwierigkeiten akzeptieren können. Aber jetzt … Es war zu viel, um es noch hinnehmen zu können. Was wäre geschehen, wenn er nicht gestorben wäre? Wäre er am Ende des Krieges in aller Seelenruhe zu ihr nach Hause zurückgekehrt? Wäre er auf der Türschwelle erschienen, mit einem strahlenden Lächeln auf den Lippen wie der verlorene Sohn, der buchstäblich aus dem Nichts wieder auftauchte? Wäre er bereit gewesen, erneut in seine Rolle als Vater und Ehemann zu schlüpfen … bis ihn wieder die Langeweile packte? »Strenge Hierarchie« hatte er es genannt … Hätte er nach einiger Zeit beschlossen, sich in das nächste Abenteuer zu flüchten?
Wie hätte sie das akzeptieren sollen? Was, wenn sie Cornelias Beispiel gefolgt wäre und wieder geheiratet hätte? Welche Rolle hätte Frederick dann in ihrem Leben übernommen?
Oh, es war zu absurd. Es war schlichtweg beleidigend, daran zu denken, dass sie auf solch niederträchtige Weise betrogen worden war.
Welche Macht musste dieser Greville Falconer über Frederick ausgeübt haben, dass er ihn zu solchem Verhalten überreden konnte? Zu einem Verhalten, das seinem Charakter völlig fremd war … diesem offenen, aufrichtigen und ehrlichen Mann, für den sie ihn gehalten hatte? Es musste einen Grund geben, dass Frederick wie das Schaf zur Schlachtbank marschiert war. Hatte Falconer ihn mit irgendeiner beschämenden Wahrheit erpresst? Vielleicht hatte er ihn sogar bestochen … Nein, nein, das war undenkbar.
Aurelia stützte sich mit der Hand auf den Kaminsims und starrte in das Feuer, als könne sie die Antwort auf ihre Fragen an den tanzenden Flammen ablesen. Langsam gewöhnte sie sich daran, dass Frederick ihr selbst eine Erklärung gegeben hatte, so undenkbar diese auch war. Greville Falconer hatte seine Saat auf fruchtbaren Boden ausgebracht. Bestimmt hatte man ihn geschult, solch fruchtbaren Boden zu erkennen, und in Frederick hatte er eine Möglichkeit gewittert. Er hatte gesehen, was sonst niemand gesehen hatte … was Aurelia sich immer noch nicht vorstellen konnte, wenn sie sich an den Mann erinnerte, der einmal ihr Ehemann gewesen war. Und ganz bestimmt besaß dieser Greville Falconer Überredungskünste, die sie in ihrer kurzen Begegnung am Nachmittag nicht hatte erkennen können.
Sein Gesicht schien sich in den bläulichen Flammen und der orangeroten Glut des Feuers zu formen. Wieder hatte sie das Gefühl, dass er sie unverwandt aus den grauen Augen unter den dichten, schwarzen Brauen anstarrte. Die Haltung des Mannes war außergewöhnlich gewesen; nur schwer würde sie ihn vergessen können. Außerdem hatte seine Persönlichkeit irgendetwas Zwingendes an sich, wirkte so mächtig wie seine körperliche Erscheinung. Natürlich würde sie niemals zugeben, dass er sie in ihren eigenen vier Wänden eingeschüchtert hatte. Aber sich selbst musste sie eingestehen, dass sie seinen Anweisungen nichts entgegengesetzt hatte. Hatte Frederick sich ebenso unwiderstehlich gezwungen gefühlt, als der Colonel ihn rekrutiert hatte?
Nun, es würde eine Weile dauern, bis sie Greville Falconer aufsuchen würde. Wahrscheinlich war die Angelegenheit für ihn ohnehin schon erledigt, nachdem er den Brief sicher übergeben hatte, was auch immer er enthalten mochte.
Aber dann erinnerte Aurelia sich an seine letzten Worte. Sie hatte ihm erklärt, dass sie ihn niemals wiederzusehen wünsche. Und was hatte er erwidert? Ich hoffe sehr, Ma'am, dass Sie Ihre Auffassung noch ändern werden.
Was, um alles in der Welt, hatte das nun wieder zu bedeuten? Er hatte angekündigt, dass er sie am nächsten Vormittag erneut aufsuchen wolle. Nun, sie war nicht verpflichtet, irgendjemanden zu empfangen, den sie nicht zu sehen wünschte. Sie durfte ihm sogar den Zutritt verweigern. Schließlich war es ihr Haus … jedenfalls für eine gewisse Zeit. Ihr Haus, ihr Schloss. Es war ihre Entscheidung, die Zugbrücke hochzuziehen.
Aber wenn sie sich dazu entschloss, würde sie sich jeder Möglichkeit berauben, Frederick zu verstehen … zu verstehen, was ihn zu diesem außerordentlichen Opfer bewogen hatte.
Sorgfältig faltete Aurelia den Brief ihres Mannes zusammen und verschloss ihn in ihrem Schmuckkasten. Sie war überzeugt, dass das Schreiben Botschaften enthielt, die sie noch nicht entziffert hatte. Dann löschte sie die Kerzen auf dem Kaminsims und kletterte ins Bett, lehnte sich an die spitzenbesetzten Kissen, die sie sich in den Rücken gestopft hatte. Sie beugte sich zur Seite, blies die Kerze auf dem Nachttisch aus und betrachtete das Kaminfeuer, dessen schattiger Widerschein an der Zimmerdecke flackerte.
Aurelia fühlte sich einsamer als je zuvor … einsamer noch als vor drei Jahren, als man sie über den vermeintlichen Tod ihres Mannes bei der Schlacht bei Trafalgar informiert hatte. Damals hatte sie mit Cornelia gemeinsam getrauert, hatte mit ihr gemeinsam dem grausamen Schicksal ins Auge geblickt. Wenn sie Fredericks Bitte nachkam, war es ausgeschlossen, dass sie ihre beste Freundin ins Vertrauen zog. Es gab niemanden, mit dem sie ihre zweifache Trauer teilen durfte: den erneuten Verlust ihres Ehemannes, aber auch den Verlust des Vertrauens, das sie in ihn gesetzt hatte - und in das Leben, das sie geteilt hatten.