18
Aurelia war gerade nach Hause gekommen, als Greville mit Franny und Lyra zurückkehrte. »Oh, da bist du ja. Daisy meinte, ihr seid im Park gewesen.« Sie lächelte ihn fragend an, als sie sich zu Franny beugte und ihr einen Kuss auf die Wange drückte.
»Du hast versprochen, dass du mit Lyra und mir in den Park gehst«, stieß Franny vorwurfsvoll hervor.
Aurelia verzog das Gesicht. »Nicht heute, meine Liebe. Ich hatte versprochen, dass wir morgen im Park spazieren gehen.«
»Nun, ich wünschte, du hättest dich klarer ausgedrückt«, erwiderte Greville und löste die Leine des Hundes. »Du hättest uns eine veritable Szene erspart.«
»Was soll das heißen?«, entgegnete Aurelia verwirrt.
»Das werden wir später besprechen«, wehrte Greville ab und wandte sich in Richtung Salon.
»Lass uns zu Daisy hochgehen.« Aurelia nahm ihre Tochter bei der Hand. »Dann kannst du mir erzählen, welcher Teufel dich vorhin geritten hat.«
Eine halbe Stunde später kam Aurelia die Treppe herunter und hatte sich die ganze Geschichte von Daisy erzählen lassen. Greville hatte sich in den Salon zurückgezogen, nippte an einem Madeira und las die Gazette. »Es tut mir sehr leid, dass du in einen von Frannys Wutanfällen geraten bist«, entschuldigte sie sich und schenkte sich selbst ein Glas Sherry ein. »Ich bin überzeugt, dass sie irgendwann aus diesem Alter raus sein wird. Aber hin und wieder kommt es noch vor, dass sie sich unangemessen benimmt.«
»Ich gestehe, dass ich mit meinem Latein ziemlich am Ende war«, erwiderte er und legte die Zeitung beiseite.
»Daisy ist anderer Meinung. Wenn man ihrer Geschichte zuhört, könnte man glauben, du wärst ein Held, der den schier unbesiegbaren Drachen aus dem Feld geschlagen hat.« Aurelia setzte sich in die Sofaecke. »Es war genau richtig, dass du den Schauplatz mit Franny und Lyra verlassen hast. Hast du eigentlich Erfahrung mit kleinen Kindern?«
»Nein, überhaupt nicht.«
Überrascht neigte Aurelia den Kopf. »Dann bist du ein Naturtalent.« Sie hielt inne, und als er nicht antwortete, fuhr sie fort: »Natürlich warst du ein Einzelkind.«
»Ja«, bestätigte er.
Aurelia beschloss, diesmal auf einer Antwort zu beharren. »Manchmal mache ich mir Sorgen um Franny, weil sie auch Einzelkind ist. Glaubst du, sie hätte gern Geschwister?«
Greville zuckte die Schultern. »Aurelia, ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich kann ihr keine schenken, und ich glaube auch nicht, dass ich jemals auch nur einen Gedanken daran verschwendet habe.«
»Aber Franny hat natürlich Stevie und Susannah.« Aurelia nippte an ihrem Sherry. »Obwohl ich nicht weiß, wie es weitergehen soll, wenn Stevie ins Internat kommt. Sie wird ihn schmerzlich vermissen.«
Greville griff wieder nach der Zeitung, als würde ihn die Unterhaltung nicht im Geringsten interessieren. So reagierte er jedes Mal, wenn sie sich über Familiendinge unterhalten wollte; er gab distanziert, aber höflich zu verstehen, dass er sich unendlich langweilte. Zum ersten Mal entdeckte Aurelia, dass sie nicht die Absicht hatte, es dabei bewenden zu lassen.
»Erzähl mir von deiner Mutter«, verlangte sie, »du sprichst kaum über sie.«
»Es gibt auch kaum etwas zu sagen«, entgegnete er knapp und ohne den Blick von der Gazette zu heben.
Aurelia war trotz allem überzeugt, dass er nicht las. »War sie krank?«
»Man hat es behauptet.« Greville hatte den Blick starr auf das Papier gerichtet.
»Man? Wer? Dein Vater vielleicht?«
Er legte die Zeitung so ungeduldig fort, dass die Seiten laut raschelten. Seine Miene war dunkel und verschlossen, der Blick eiskalt, als er mit klarer Stimme verkündete: »Seit ich zwei Jahre alt war, habe ich meine Mutter fünf-oder sechsmal zu Gesicht bekommen. Mit ihren eigenen Angestellten hat sie einen eigenen Flügel im Haus bewohnt, hatte nicht das geringste Interesse an mir, soweit ich es erkennen konnte, und noch weniger an meinem Vater. Er war niemals zu Hause, und ich kann mich nur schwach an den Moment erinnern, als mir sein Tod vermeldet worden ist, wohl aber an ein sehr langes Siechtum. Ist deine Neugier damit befriedigt, Aurelia?«
Ihr schoss die Röte in die Wangen. »Ich wollte dich nicht ins Verhör nehmen, Greville. Aber wir leben zusammen unter einem Dach, wir sprechen über Kinder, und so war es nur natürlich, dass ich mich nach deiner Kindheit erkundigen wollte. Es tut mir sehr leid, dass sie so einsam und elend gewesen ist. Vielleicht erklärt das …« Abrupt brach sie ab und biss sich auf die Lippe.
»… erklärt was?«, hakte er mit weicher Stimme nach.
»Oh, ich meine deine Unverbindlichkeit« - Aurelia seufzte - »und dass es dir oft an Mitgefühl mangelt. Greville, es ist überaus ungewöhnlich, dass ein menschliches Wesen sämtliche Bindungen einfach restlos abstreifen kann. Natürlich ist mir klar, dass du deine Arbeit nur deshalb so gut erledigen kannst. Denn wenn du noch niemals das Bedürfnis verspürt hast, einem anderen Menschen zu vertrauen, felsenfest an einen anderen Menschen zu glauben und dafür zu sorgen, dass er auch an dich glaubt, dann ist es einfach, in einem gefühlsmäßigen Vakuum zu leben. Aber ich persönlich finde es sehr schwierig.«
Er musterte sie eindringlich. »Willst du etwa behaupten, dass du es zu schwer findest?«, fragte er leise.
In ihrem Blick lag eine Mischung aus Verzweiflung, Enttäuschung und Bestürzung. »Greville, du hast mir nicht zugehört. Ich habe kein Wort darüber verloren, dass ich mich außerstande fühle, diese Maskerade in London mit dir durchzustehen. Ich habe darüber geredet, wer ich bin, darüber, dass ich verstehen möchte, wer du bist. Für mich ist es wichtig zu wissen, wer du bist und warum du so bist, wie du bist.«
Aurelia erhob sich abrupt. »Unsere Unterhaltung ist einfach lächerlich. Ich kann keinen Sinn darin erkennen. Und jetzt muss ich mich zum Dinner umziehen.« Sie rauschte aus dem Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich.
Aurelia lag in der kupfernen Badewanne vor dem Kamin in ihrem Schlafzimmer, und Hester goss ihr nach Limonen duftendes Wasser über das frisch gewaschene Haar. Sie fühlte sich so benommen und aus der Bahn geworfen, dass noch nicht einmal die Aussicht auf einen musikalischen Empfang mit Paganini als Gastviolinist sie in Begeisterung versetzen konnte. Natürlich würde man sie vermissen, und ihre Abwesenheit bei diesem Ereignis würde zur Folge haben, dass Cornelia am nächsten Vormittag an ihre Tür klopfen würde. Aber irgendeine Ausrede würde ihr schon einfallen.
»Hester, ich werde das Dinner auf einem Tablett im Wohnzimmer einnehmen«, verkündete Aurelia und wrang das Wasser aus den langen Haarsträhnen. »Bitte reichen Sie mir ein Handtuch und gehen Sie dann zu Ihrem Abendessen. Ich komme allein zurecht.«
»Wenn Sie wirklich sicher sind, Ma'am … sicher, dass Sie heute Abend nicht mehr ausgehen wollen?«
»Ich war mir nie sicherer, Hester. Ich leide unter schwachem Kopfschmerz und werde früh zu Bett gehen.«
»Recht so, Ma'am.« Hester reichte ihr das dicke angewärmte Handtuch, das über einem Gitter vor dem Kaminfeuer hing. »Ihr Schlafrock liegt auf der Kommode.« Sie zeigte auf das Fußende des Bettes.
»Danke. Und jetzt lassen Sie mich bitte allein.« Hester verließ das Zimmer. Langsam tropfte das Wasser von Aurelia ab, als sie sich erhob.
Die Tür zu Grevilles Zimmer nebenan wurde geöffnet, und ihr Ehemann stand auf der Schwelle. »Venus erhebt sich aus den Fluten«, bemerkte er und eilte rasch zu ihr. »Wenn du gestattest.« Er nahm ihr das Handtuch ab und begann, sie sorgfältig abzutrocknen. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen.
Gewöhnlich wäre es der Auftakt zu einem kleinen Liebesspiel gewesen. Aber zu ihrer Überraschung und auch zu ihrem Leidwesen empfand Aurelia kein solches Bedürfnis. »Bedaure, Greville, ich bin nicht in Stimmung«, seufzte sie, nahm ihm das Handtuch ab und schlang es sich fest um den Leib, bevor sie aus der Wanne stieg.
Er entfernte sich ein paar Schritte und musterte sie nachdenklich. »Ich habe nicht die Absicht, mich dir aufzuzwingen, Aurelia.«
»Selbstverständlich nicht.« Sie schnappte sich ein kleineres Handtuch vom Gitter vor dem Kamin und wickelte es sich wie einen Turban um das nasse Haar. »Aus welchen Gründen auch immer, heute Abend fühle ich mich müde und benommen und irgendwie aus der Bahn geworfen. Mir ist wirklich nicht nach einer Liebesnacht zumute.«
Er zog die Stirn kraus. »Das ist natürlich dein gutes Recht. Kannst du mir sagen, warum es so ist?«
Sie zuckte die Schultern. »Nicht dass ich wüsste.«
Die Falten auf seiner Stirn wurden tiefer. »Meine Liebe, ich bin nicht überzeugt, dass du die Wahrheit sagst. Es hat mit unserer äußerst unbefriedigenden Unterhaltung vorhin zu tun. Oder irre ich mich?«
»Kann sein.« Sie ließ das Handtuch fallen und schlüpfte rasch in den Schlafrock.
Mit entschlossenem Griff knotete sie den Gürtel um ihre Taille und zog sich den Turban vom Kopf. »Können wir es nicht dabei belassen, Greville?« Sie setzte sich und griff nach ihrer Bürste.
»Nein, ich denke nicht.« Er nahm ihr die Bürste aus der Hand. »Lass mich doch wenigstens das machen. Ich verspreche dir, dass es nicht das Vorspiel zu irgendetwas anderem sein wird. Aber ich liebe es einfach, dir das Haar zu bürsten.«
Aurelia protestierte nicht, und Greville begann, die Bürste sanft durch die langen Strähnen ihres immer noch feuchten Haars zu ziehen. Es war eine angenehme und beruhigende Berührung, und sie erlaubte es sich, die Augen zu schließen, den Kopf nach vorn sinken zu lassen, während die zärtlichen Bürstenstriche ihre Kopfhaut liebkosten.
»Nun«, begann er, nachdem sie eine Weile friedlich geschwiegen hatten, »was an meinen Antworten heute Nachmittag hat dich so aufgeregt?«
Aurelia schlug die Augen auf und suchte seinen Blick im Spiegel. »Ich habe nichts anderes getan, als dir eine ganz gewöhnliche Frage nach deiner Kindheit zu stellen. Und du hast reagiert, als hätte ich deinem Herzen die tiefsten Geheimnisse entreißen wollen. Es gibt nur wenige Menschen, denen es so schwerfällt, über ihre Vergangenheit zu sprechen. Oder über solche Harmlosigkeiten wie die Kindheit. Greville, wir leben miteinander. Mir ist klar, dass es nur für eine kurze Zeit sein wird, und ich erwarte ganz sicher keine Gefühlsausbrüche. Denn ich weiß, dass wir damit die Grenzen unseres ungeschriebenen Vertrages sprengen würden.«
Wenn ich geahnt hätte, wie bedeutungsvoll seine gefühlsmäßige Zurückhaltung in unserem seltsamen Bündnis sein würde - wahrhaftig sein würde -, hätte ich mich dann genauso bereitwillig einverstanden erklärt, ihm zu helfen?
Instinktiv wich Aurelia dieser Frage aus. Denn insgeheim war ihr klar, dass sie nur schmerzhafte Antworten zu erwarten hatte. »Wie dem auch sei«, entgegnete sie mit fester Stimme, »schließlich mögen wir einander. Und meiner Meinung nach heißt das, dass es mich interessiert, wie du zu dem Menschen geworden bist, den ich mag. Hast du wirklich gar kein Interesse daran, zu erfahren, wie ich zu der Frau geworden bin, die dir heute gegenübersteht?«
Die sanften, rhythmischen Bürstenstriche durch ihr Haar wurden nicht unterbrochen, als Greville den Blick auf die seidigen Strähnen in seiner Hand richtete, die im warmen Zimmer schnell trockneten. In den blassblonden Locken erhaschte er den Schimmer eines tiefgoldenen Farbtons, die im Licht der Lampen beinahe goldbraun glänzten.
»So wundervolles Haar«, murmelte er kaum hörbar.
Aurelia gab sich keine Mühe, ihre Enttäuschung zu verbergen, als sie die Brauen hochzog. »Das Kompliment schmeichelt mir sehr, Greville, aber es ist doch wohl kaum ein angemessener Beitrag zu einer Auseinandersetzung, die du, ich darf dich daran erinnern, selbst begonnen hast.«
Er nickte. »Ja, so war es … Es stimmt. Nun, meine Liebe, natürlich bin ich sehr daran interessiert, wie du zu der Frau geworden bist, die ich schätze und respektiere. Es liegt in meinem größten Interesse, dich zu verstehen, denn ich habe die Absicht, mit dir zu arbeiten. Ich muss dich so gut wie möglich kennenlernen, muss so gut wie möglich wissen, wie du in gewissen Situationen agieren und reagieren wirst.«
»Das ist alles?« Entsetzt und ungläubig suchte sie seinen Blick im Spiegel.
Einen Moment lang konnte er sich nicht rühren, so sehr hielt
ihr samtiger Blick ihn gefangen. Natürlich ist das nicht alles. Aber das darf ich nicht eingestehen. Nicht ohne die innere Distanz zu verlieren, die mich all die zurückliegenden Jahre sicher überstehen ließ - und aus mir einen ausgezeichneten Agenten gemacht hat. Und diese innere Distanz wird auch Aurelias Sicherheit und die ihres Kindes garantieren.
»Ist das wirklich alles, Greville?«, wiederholte sie, bemerkte einen seltsam wirbelnden Nebel in seinen klaren grauen Augen.
Greville dachte an Don Antonio, dachte daran, wie Franny beim Spiel observiert worden war, an den Raubtierblick aus den halb geschlossenen Augen. Der Spanier hatte sich den Kopf darüber zerbrochen, wie er seine Informationen am besten verwerten sollte, wie er eine mögliche Schwäche ausnutzen konnte.
Und Greville war auch klar, dass er, soweit es ihn selbst betraf, sich solche Schwächen in seinem Leben nicht zu gestatten wagte. Denn er hatte mit eigenen Augen gesehen, was mit Männern geschehen konnte, die ihren Gefühlen zum Opfer fielen. »Es muss sein«, stieß er schließlich hervor.
Aurelia erhob sich, wirbelte herum, umklammerte seine Oberarme mit hartem Griff. »Nein, Greville, es muss nicht sein.«
»Doch, Aurelia.« Er löste ihre Hände von seinen Armen und drückte sie an ihre Hüften. »Das heißt nicht, dass ich nicht wünschte, es könnte anders sein. Aber du wirst hinnehmen müssen, dass ich am besten weiß, wie ich meine Arbeit zu erledigen habe. Es handelt sich um eine Arbeit, die keinerlei Weichheiten und Gefühle gestattet. Und es ist die Arbeit, für die ich mich entschieden habe. Genau wie Frederick.«
»Willst du behaupten, dass Frederick sämtliche warmherzigen und liebenden Gedanken an uns beiseitegeschoben hatte … sämtliche Gedanken an Franny und mich?« Aurelia regte sich nicht, blickte ihm starr in die Augen, als wollte sie die Antwort hinter dem undurchdringlichen grauen Schleier finden.
»Er hatte keine andere Wahl«, erwiderte Greville schlicht.
»Das soll wohl heißen, falls er nicht gestorben wäre, falls er irgendwann unverletzt hätte nach Hause fahren können, dann wäre er nicht zurückgekommen, weil er zuvor jegliche persönliche Verbindung zu uns gekappt hatte? Willst du behaupten, dass er nicht länger Vater und Ehemann gewesen ist?«
Aurelia schüttelte den Kopf und machte einen Schritt zum Kaminfeuer. »Ich kann es kaum fassen. Frederick hätte sich niemals auf solche Geschichten eingelassen. Niemals hätte er sein Leben vergessen können, seine Freunde, seine Familie und so weiter. Er hat schließlich nicht im Kloster gelebt.« Sie wandte sich Greville zu. Das glänzende Haar floss ihr über die Schultern, und in den braunen Augen blitzte die Wut.
Greville widersprach leise: »Er wusste, dass er in deinen Augen tot sein musste, und nicht nur für dich, sondern für alle anderen auch, wenn er ein erfolgreicher Geheimagent sein wollte. Also hatte er eine Entscheidung getroffen, die es ihm unmöglich machen würde, in sein früheres Leben zurückzukehren. Frederick Farnham ist bei Trafalgar gestorben. Der Mann, der in den Straßen von Corunna gestorben ist, war nicht mehr Frederick Farnham.«
»Dann bist du für deine Familie also auch tot?«
Er lächelte ironisch. »Für meine Familie war ich bereits im Augenblick meiner Geburt so gut wie tot. Denn meine Geburt hätte meine Mutter beinahe umgebracht, was mein Vater mir niemals verziehen hat. Die Folgen jener Geburt hat er mir mit Sicherheit niemals verziehen. Meine Mutter hat sich in ihre eigene Welt zurückgezogen, hat meine Existenz nahezu vollständig vergessen … oder jedenfalls ignoriert. Gleichviel, es machte keinen Unterschied. Und die Existenz meines Vaters hat sie auf genau dieselbe Weise vergessen oder ignoriert.«
Er trommelte mit den Fingerknöcheln auf die Kommode. »Da hast du es, Aurelia. Du wolltest die Geschichte hören, und ich habe so viele Worte gemacht, wie notwendig waren … über die Geschichte meiner Kindheit.«
Aurelia wusste nicht, was sie erwidern sollte. Greville war wütend, wahrscheinlich deshalb, weil sie ihn gezwungen hatte, den Schmerz zu wecken, den er seit so vielen Jahren in den hintersten Winkel seines Herzen verbannt hatte. Oder war er auf sich selbst wütend, weil er seine eigenen Regeln gebrochen hatte aus Schwäche ihr gegenüber und weil er ihrem Charme erlegen war? Weil er sich ihrem Bedürfnis unterworfen hatte, seine Deckung aufzugeben?
»Es tut mir leid«, sagte sie schlicht, näherte sich ihm und schloss ihn fest in die Arme. »Es tut mir außerordentlich leid, dass du eine solch schreckliche Kindheit hattest. Aber es tut mir nicht leid, dass du es mir erzählt hast.«
Aurelia ließ ihn los, als sie keinerlei Erwiderung in seiner starren Haltung spüren konnte, und trat einen Schritt zurück. »Ich werde nicht wieder in dich dringen. Es ist offensichtlich, dass es dir Unbehagen bereitet. Lass dich durch mich nicht länger aufhalten.«
Greville schien zu zögern. Frustriert fuhr er sich mit den Fingern durch sein kurzes Haar. »Kommst du zum Dinner nach unten?«
»Nein. Ich habe Hester gebeten, mir ein Tablett in mein Wohnzimmer zu bringen.« Sie drehte sich zu ihrem Frisierspiegel, griff nach der Bürste und drehte das Haar im Nacken zu einem Knoten.
»Ich dachte, du wolltest den Paganini-Abend besuchen.«
»Ich fühle mich heute Abend nicht besonders wohl.«
»Oh.« An der Tür wandte er sich halb um und fügte nachdenklich hinzu: »Ich hatte gehofft, ich könnte dich begleiten.«
Er klingt verzagt, dachte Aurelia, außergewöhnlich für diesen Mann. Es war, als fühlte er sich hemmungslos verloren, ein Gefühl und eine Erfahrung, die ihm vollkommen fremd waren.
»Du könntest allein gehen und mich entschuldigen«, schlug sie vor und stülpte sich ein Haarnetz über den Knoten. »Cornelia wird dort sein.«
»Nein … nein, ich werde mich ebenfalls auf einen ruhigen Abend einrichten.« Die Hand an der Tür, hielt er nochmals inne und warf einen Blick zurück auf sie. »Soll ich noch einmal nach dir sehen, bevor ich ins Bett gehe?«
»Auf jeden Fall«, bat sie freundlich, »allerdings hatte ich vor, mich früh schlafen zu legen. Es könnte also sein, dass ich nicht mehr wach bin.«
»Ich werde mein Glück versuchen«, erwiderte er trocken und verließ ihr Zimmer.
Aurelia blieb noch eine Weile auf ihrem Hocker sitzen und fragte sich, was eigentlich gerade geschehen war. Sie hatten wunde Punkte berührt, hatten gefühlsmäßige Grenzen überschritten, obwohl Greville immer gepredigt hatte, dass diese Grenzen nicht überschritten werden durften. Um keinen Preis. Im Moment konnte sie unmöglich entscheiden, ob das Gespräch ihr genutzt hatte - oder vielleicht sogar geschadet.
»Ich glaube, ich muss zu diesem Anlass keine formelle Kleidung tragen, Aurelia.« Am Freitagabend vor der Soiree bei den Lessinghams kam Greville in ihr Schlafzimmer und bürstete nachlässig am seidenen Ärmel seines dunkelgrauen Mantels herum.
»Sicher nicht so formell wie bei Almack's«, erwiderte sie, drehte sich um und schaute ihn an, während sie gleichzeitig Hester den Arm entgegenstreckte. Das Dienstmädchen mühte sich redlich, die kleinen Knöpfe an den langen, gebauschten Ärmeln ihres Kleides zu schließen. »Das ist in Ordnung. Du siehst sehr modisch aus.« In der Tat, mit dem eng anliegenden dunkelgrauen Seidenmantel und den engen, taubengrauen Hosen konnte er nichts falsch machen, es sei denn, sie wollte verhindern, dass ihr Ehemann seine beeindruckenden Muskeln nicht ganz so freizügig in der Öffentlichkeit präsentierte.
»Darf ich das Kompliment erwidern?«, fragte er und lächelte anerkennend.
Aurelia wusste natürlich, dass das alte Kleid aus goldfarbenem Damast mit der Quastenkordel um die Taille und einem Dekolleté, das durch einen schlichten Reif aus tiefem bernsteinfarbenem Gold akzentuiert wurde, ihrem Teint überaus schmeichelte. Stunde um Stunde hatte sie mit der Brennschere hantiert und versucht, die blassblonden Locken so zu formen, dass sie ihr Gesicht perfekt umrahmten. Ohne falsche Eitelkeit war sie überzeugt, dass sie so gut aussah, wie es besser nicht sein könnte.
Obwohl ihr Äußeres in keiner Weise den inneren Zustand widerspiegelte. Seit ihrer unglücklicherweise fruchtlosen Diskussion am vergangenen Tag hatte Greville sich benommen, als wären sie dem gefährlichen Terrain niemals auch nur nahe gekommen; trotzdem war es Aurelia unmöglich, sein Schweigen zu brechen und das Gespräch wieder aufzunehmen. Aber die unausgesprochenen Worte gähnten wie eine leere Wüste zwischen ihnen … so fühlte sie sich jedenfalls.
»Vergiss deinen Fächer nicht.« Greville griff nach dem zart bemalten japanischen Fächer und klappte die Elfenbeinstäbe auf.
»Das werde ich schon nicht.« Mit dem Fächer wollten sie sich verständigen, ganz besonders dann, falls ein gewisser Don Antonio Vasquez sich unter den Gästen aufhielt. Heute Abend beschränkte ihre Rolle sich nur darauf, den Mann in eine Unterhaltung zu verstricken, mit ihm zu flirten, ihn so weit wie möglich auszuhorchen, sich also als Köder zur Verfügung zu stellen; Greville würde seinen Zug machen, wenn er den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt. Aurelia konnte eine ganze Reihe von Gesten mit dem Fächer vollführen, die ihm die wichtigsten Informationen übermitteln würden, wenn sie es für nötig hielt.
Greville nickte. »Sollen wir aufbrechen?« Er nahm Hester den Umhang aus der Hand und legte ihn ihr sorgfältig über die Schultern. Als er sich vorbeugte, um den Umhang an ihrem Hals zu schließen, hauchte er einen flüchtigen Kuss auf ihren Nacken.
Wie immer schauderte Aurelia erwartungsvoll, und die Glut erwachte in ihrem Unterleib, als sie seine Lippen spürte. Trotzdem entfernte sie sich rasch von ihm und ließ den Fächer in ihrem perlenbestickten Retikül verschwinden. »Ich bin zu allem bereit«, sagte sie lächelnd.
Grevilles Brauen zuckten, als er ihr schweigend den Arm bot.
In der Kutsche lehnte sie sich in die Ecke, spielte nachlässig mit den Schnüren ihres Retiküls, die sie sich um das Handgelenk geschlungen hatte. Greville hatte ihr gegenüber Platz genommen und betrachtete sie mit halb geschlossenen Augen. Schwefelgelbes Licht flackerte durch die Fensterscheiben, wenn sie an den Gaslaternen auf der Straße vorbeifuhren. Das unangenehme Licht tauchte das Innere des Wagens in einen gelblichen Schimmer.
»Machst du dir Sorgen?«, fragte er schließlich.
»Nicht besonders.« Überrascht schaute sie auf. »Sollte ich?«
»Nein. Du hast genügend Unterricht genossen. Es wird so einfach sein, als würdest du mit Franny Lotterie spielen.«
»Ja, zugegeben, bis jetzt ist es ein Kinderspiel« - Aurelia lächelte zaghaft - »unwahrscheinlich, dass Komplikationen auftreten.«
»Nun, heute Abend sicher nicht. Aber du machst den Eindruck, als wärest du ein wenig zerstreut. Ich möchte nicht, dass du zerstreut bist. Wenn es irgendetwas gibt, was dir auf der Seele liegt, solltest du es mir jetzt erzählen.«
Du liebe Güte, grübelte Aurelia, kannst du niemals an etwas anderes denken als an das Spiel, das wir spielen? Kannst du dir nicht denken, dass es außer dem Auftrag heute Abend noch andere Dinge gibt, die mich durcheinanderbringen könnten?
»Mach dir keine Sorgen, es lastet mir nichts auf der Seele«, wehrte sie ab. »Warum sollte es auch? Ich muss nichts weiter tun, als einen Mann in eine Unterhaltung zu verstricken. Darin bin ich recht geschickt, seit ich mir das Haar aufstecke.«
»Aber wir sprechen über einen ganz besonderen Mann. Und über eine Unterhaltung, bei der es auf einen ganz besonderen Punkt ankommt.«
Aurelia zuckte die Schultern. »Das macht keinen Unterschied. Diese Unterhaltung wird im Kern genauso wie jede andere geführt.«
»Nur zu wahr. Außerdem werde ich niemals weit entfernt sein.« Er lehnte sich in den Polstern zurück und verschränkte die Arme. »Zeig mir noch mal, mit welcher Geste du mir signalisieren willst, dass ich zu dir kommen und dich unterstützen soll.«
Mit ausdrucksloser Miene holte Aurelia ihren Fächer aus dem Retikül und schlug ihn auf. Sie hob ihn auf die Höhe der rechten Schulter und fächelte mit der Drehung des Handgelenks vor ihrem Gesicht. »Reicht das, mein lieber Meisterspion?«
Plötzlich spürte sie, wie ihre düstere Stimmung sich aufhellte. Sie liebte das Spiel um seiner selbst willen, liebte es, ihre Fähigkeiten zu erproben, liebte das Gefühl, all die Menschen zu hintergehen, die sie genau zu kennen glaubten, obwohl sie in die Rolle einer ganz anderen Person geschlüpft war. Es war ein großer Vorteil, dass ihre Freunde heute Abend nicht eingeladen waren; denn so konnte sie ihre Maskerade ungehindert spielen.
Greville bemerkte, wie es in ihren Augen blitzte, wie ihre Lippen kaum merklich zuckten, und spürte, wie er sich entspannte. Was auch immer zwischen ihnen ungeklärt war, Aurelia würde dafür sorgen, dass es ihnen heute Abend nicht in die Quere kam.
»Mehr als das.« Er ergriff ihre Hand. »Ich weiß, dass du brillieren wirst, meine Liebe. Du bist wie geschaffen für diese Arbeit.«
Das hatte er früher auch schon gesagt. Und jedes Mal, wenn er sein Kompliment wiederholte, rann ihr ein erregender Schauder über den Rücken, der sie mit frischer Kraft füllte. Heute Abend gab es nur eines für sie: ihre Partnerschaft und das Spiel, das sie spielten.
Die Kutsche hielt vor dem herrschaftlichen Anwesen des Earls of Lessingham am Berkeley Square. Der Lakai des Hauses eilte die Treppe herunter zur Kutsche und öffnete die Tür, bevor Jemmy von seinem Platz auf dem Kutschbock herunterspringen konnte.
»Guten Abend, Sir Greville, Lady Falconer.« Der Lakai hielt die Tür offen und bot Aurelia die Hand.
Sie trat auf die Straße, wunderte sich, dass der Mann die bescheidene Kutsche ohne Wappen auf dem Schlag erkannt hatte.
Greville verließ das Gefährt ohne Hilfe. »Meinen Dank« - er nickte dem Diener zu - »sehr aufmerksam.«
»Ich hatte den Auftrag, nach Ihnen Ausschau zu halten, Sir.« Der Mann ließ die Münze in die Tasche gleiten, die Greville ihm in die Hand gedrückt hatte. »Die meisten Gäste der Soiree der Lady kommen zu Fuß oder mit der Droschke.«
Greville lächelte kaum merklich, bot Aurelia den Arm und folgte dem Mann in die erleuchtete Halle.
»Warum zu Fuß?«, flüsterte sie,
»Exilierte … oder zu arm, um sich eine private Kutsche leisten zu können«, murmelte Greville zurück. »Oder sie wollen nicht zugeben, dass sie es doch könnten … was an sich recht interessant wäre. Versuch doch herauszufinden, wie Don Antonio sich fortbewegt.«
Aurelia lächelte, ließ sich aber nichts anmerken, als sie die Treppe hinaufschritt und ihre Gastgeberin begrüßte, die am oberen Absatz wartete. Doña Bernardina, deren figurbetontes Kleid aus purpurrotem Satin mit hauchzarten Gazeschleiern unter den vollen Brüsten fest geschnürt war, breitete die Arme aus wie eine Opernsängerin, die zu einer Arie anheben wollte.
Ihr stockte der Atem, weil sie befürchtete, dass der üppige Busen der Lady durch die überschwengliche Geste wie zwei mollige Welpen aus dem Dekolleté quellen könnte. Aber nein, sie blieben in ihren Körbchen.
»Lady Falconer, wie schön, dass Sie meiner Einladung gefolgt sind.« Doña Bernardinas schwarze Mantille war mit einer rubinfarbenen Brosche an ihrem Ausschnitt befestigt. An ihren Ohrläppchen hing tropfenförmiger Schmuck aus schweren Diamanten, und um den Hals hatte sie sich ein dreireihiges Perlencollier geschlungen.
Sie schenkte Greville ein strahlendes Lächeln. »Auch Sie, Sir Greville, möchte ich herzlich begrüßen.«
Greville verneigte sich über ihrer dicklichen weißen Hand, deren beringte Finger in langen, violett lackierten Nägeln endeten. »Lady Lessingham«, murmelte er.
Die Countess führte sie durch mehrere Doppeltüren in ein großes Apartment, das so auffällig dekoriert war wie sie selbst. Üppige Vorhänge, zahllose seidige Kissen auf samtigen Lehnstühlen, vergoldete Sofas und farbenfrohe persische Teppiche kontrastierten mit goldgerahmten Ölgemälden, auf denen zumeist grimmig dreinblickende Gentlemen vor dunklem felsigem Hintergrund zu sehen waren - es handelte sich bestimmt um die Vorfahren des Earls.
Zwei oder drei Grüppchen hatten sich bereits im Salon verteilt und unterhielten sich. Am Pianoforte in der entfernten Ecke des Salons saß eine Frau und spielte; die Klänge der Musik bildeten einen sanften Kontrapunkt zu den leisen Gesprächen der Gäste.
Greville ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. Don Antonio Vasquez befand sich nicht unter ihnen. Lächelnd wandte er sich an seine Frau. »Wenn du erlaubst, meine Liebe.« Besorgt rückte er das gelbbraune persische Tuch über ihren Schultern zurecht.
Aurelia begriff sofort, dass ihr besonderes Objekt nicht anwesend war, entspannte sich ein wenig und gönnte sich ein Glas Champagner vom Tablett des Lakaien, bevor sie der Einladung ihrer Gastgeberin folgte und sich den anderen Gästen vorstellen ließ.
Ungefähr eine Stunde lang bewegte sie sich unter den Gästen, tauschte Nettigkeiten aus und gewöhnte ihr Ohr an das manchmal unbeholfen klingende Englisch. Ihr war klar, dass sie so viel wie möglich von der Unterhaltung aufschnappen und auf alles achten musste, was auf eine ungewöhnliche Aktivität oder auf ein ungewöhnliches Interesse hinweisen konnte. Don Antonios Abwesenheit musste keineswegs bedeuten, dass der Abend verschwendet war. Mancher der üblicherweise ernsten und tief in Gedanken versunkenen Gentlemen arbeitete sicherlich als Agent in den Diensten Napoleons, und es könnte durchaus sein, dass ihr irgendetwas Nützliches zu Ohren kam.
Greville zog seine eigenen Kreise, warf nur hin und wieder einen Blick in Aurelias Richtung, um sich zu vergewissern, dass sie sich in ihrer Haut noch wohlfühlte. Als der Butler eine kleine Glocke läutete und Don Antonio ankündigte, drehte er seinen Kopf nicht zur Tür, sondern setzte seine leise Plauderei mit einer ältlichen Dame fort, die sich über den Verlust ihres Vermögens beklagte, das aufzugeben sie gezwungen gewesen war, als sie ihrem Sohn, zusammen mit der gesamten Familie, ins Exil gefolgt war, dem Eroberer immer nur wenige Stunden voraus.
Aurelias feine Nackenhaare sträubten sich unmerklich, als der Name des Mannes an ihr Ohr drang. Aber auch sie drehte sich nicht sofort um, sondern erst, als Doña Bernardina sich ihren Gästen aufdrängte, den Neuankömmling im Schlepptau. »Ladys … Gentlemen, einige unter Ihnen kennen Don Antonio sicher schon.«
Es gab zustimmendes Gemurmel, Hände wurden geschüttelt, man verbeugte sich, bevor es an Aurelia war, vorgestellt zu werden. Sie streckte dem großen, schlanken Mann mit dem spanischen Bart und den kohlrabenschwarzen Augen die Hand entgegen. Sein Haar war nicht länger, als die vorherrschende Mode es erlaubte; es kringelte sich ein wenig auf der breiten Stirn. Abgesehen von seinem weißen Hemd, war er vollkommen in Schwarz gekleidet. Es steht ihm gut, dachte sie, während sie sich seine beinahe atemberaubend attraktive Erscheinung peinlich genau einprägte. Nur um seinen Mund hatte sich ein grausamer Zug eingenistet, und die lange Nase erinnerte an den Schnabel eines Habichts.
Aurelia war sofort der Meinung, dass sie keinerlei Wert darauf legte, Don Antonio allein in einer dunklen Gasse zu begegnen. Irgendwie wirkte der Mann wie ein Raubtier; in seinen würdevoll geschmeidigen Bewegungen lag unabweislich eine Gefahr. Als sie einander vorgestellt wurden, spürte sie instinktiv, dass der Mann insgeheim ein Interesse für sie hegte. Seine kühle und trockene Hand umschloss ihre Hand, seine Finger waren lang und weiß, und auf dem Ringfinger der rechten Hand prangte ein großer Smaragd in goldener Fassung. Er hob ihre Hand an seine Lippen, küsste sie und verbeugte sich so altmodisch, dass es in der Londoner Gesellschaft beinahe archaisch wirkte.
»Lady Falconer, überaus erfreut.« Seine Stimme klang weich und schmeichelnd, der Akzent war schwach und charmant, seine Lippen lächelten, die Augen aber nicht.
»Don Antonio, ich bin sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen«, erwiderte sie mit einem warmen Lächeln. »Seit wann halten Sie sich schon in London auf?«
»Erst seit drei Wochen«, antwortete er und nahm ein Glas Champagner vom Tablett des Lakaien. »Noch nicht lange genug, um mich zu Hause zu fühlen.« Er nippte an seinem Champagner. »Aber Sie, Lady Falconer, Sie sind doch sicher in der Stadt zu Hause?«
»Ich lebe hier seit einiger Zeit. Aber das Heim meiner Familie liegt auf dem Lande, in der Gegend von New Forest. Sind Sie schon einmal dort gewesen? Es ist der interessanteste und altertümlichste Teil Englands.«
»Nein, bedauerlicherweise habe ich bisher nur die Stadt Dover besichtigen können, abgesehen von der Gegend rund um meine Unterkunft am Grosvenor Square … ein hübscher Park, aber kein Vergleich mit den zauberhaften Parkanlagen in unserem schönen Madrid.«
»Vielleicht nicht, Sir. Allerdings muss ich eingestehen, dass ich Madrid gern einmal besichtigen würde!« Wie in Gedanken verloren tippte Aurelia sich mit dem geschlossenen Fächer auf den Mund. Greville würde sie so verstehen, dass die Schlacht bereits begonnen hatte, sie aber bisher keinerlei Hilfe brauchte. »Sie sagten, Sie hätten am Grosvenor Square eine Unterkunft gefunden?«
»Ganz in der Nähe. Ich glaube, es ist die Adam's Row.«
»Ja, in der Tat, so heißt die Straße. Dann sind wir praktisch Nachbarn, Don Antonio. Die South Audley Street ist nur ein paar Schritte entfernt, viel zu nahe, um sich um eine Kutsche zu bemühen.«
»Was für ein glücklicher Zufall! Und so praktisch, denn ich besitze keine Kutsche. Eine überaus unnütze Ausgabe, wenn Droschken so einfach auf der Straße anzuhalten sind. Wenn ich Ihnen meine Aufwartung machen dürfte, Mylady …«
Dieser Gentleman ist nicht an das muffige Innere einer rumpelnden Droschke gewöhnt, überlegte Aurelia, ausgeschlossen, sich vorzustellen, wie diese elegante Erscheinung es sich auf den abgewetzten und fleckigen Lederpolstern eines Mietwagens bequem macht.
Sie lächelte einladend. »Ich würde mich glücklich schätzen, Sie empfangen zu dürfen, Sir. Sind Sie schon mit meinem Ehemann Sir Greville Falconer bekannt gemacht worden?«
»Ich glaube nicht«, entgegnete Don Antonio sanft, folgte mit dem Blick der Richtung ihrer Hand und schenkte ihr ein kaltes Lächeln. »Ist es der große Gentleman, der mit unserer Gastgeberin spricht?«
Sie nickte. »Das ist er.«
»Es könnte sein, dass ich ihn im Park am Grosvenor Square schon einmal gesehen habe. Er war dort in Begleitung eines kleinen Mädchens mit einem sehr großen Hund. Sie haben ein zauberhaftes Spektakel veranstaltet.«
»Meine Tochter.« Aurelia spürte einen Schauder. Es fühlte sich an wie eiskalte Zugluft.
»Ein hübsches Kind, Ma'am. Gratulation.«
Finger weg von meiner Tochter. Sie musste sich auf die Zunge beißen, um nicht laut zu schreien.
Aurelia zwang sich zu einem Lachen, das in ihren Ohren allerdings recht hohl klang. »Ich glaube kaum, dass ich es mir selbst gutschreiben kann«, wehrte sie ab.
»Ah, aber das Kind kommt nach der Mutter, ganz eindeutig«, wiederholte er mit einer galanten Verbeugung.
Spiel dein Spiel, mahnte sie sich insgeheim, stell dir einfach vor, es handelt sich um einen Maskenball.
Sie senkte die Lider, schlug den Fächer auf und bedeckte halb ihr Gesicht, während sie ihn anlächelte. »Sir, Sie schmeicheln mir«, murmelte sie scheinbar verlegen.
Greville stand am anderen Ende des Salons, verlor ihren Fächer aber keine Sekunde aus den Augen. Sofort begriff er die Botschaft. Wieder wollte sie ihm mitteilen, dass alles nach Plan lief.
»Vielleicht dürfte ich Sie durch einen Teil unserer Stadt führen, Don Antonio?«
»Es wäre mir eine Ehre, Lady Falconer.« Sein Blick löste sich von ihr und glitt hinüber zu ihrem Ehemann. »Sofern Ihr Mann keine Einwände erhebt.«
Wieder lachte sie ein Lachen, das in ihren Ohren künstlich klang, hoffte aber, dass ein fremder Mann dies nicht bemerken würde. »Sir, die Ladys in London hängen nicht am Rockzipfel ihres Ehemannes.«
Er verbeugte sich feierlich. »Wir in Madrid leben in einer wesentlich strengeren Gesellschaft, Lady Falconer. Recht altmodisch, will ich meinen, gemessen an den Gewohnheiten in London.«
Über den Rand des Fächers hinweg blinzelte sie ihn an. »Soll das heißen, dass Sie die freie und ungezwungene Lebensart in London missbilligen, Sir?«
»Nicht im Geringsten, Ma'am«, erwiderte er. Auf seinen Augen lag ein Schatten. »Es ist nur eine Frage der Zeit, bis man sich daran gewöhnt hat. Und ich vermute, mit so vielen zauberhaften und angenehmen Ladys wird es nicht lange dauern, bis es so weit ist.«
Einmal mehr spürte Aurelia einen eiskalten Luftzug auf ihrem Rücken. Plötzlich schoss ihr der unbezwingbare Gedanke durch den Kopf, dass Don Antonio Vasquez mit ihr spielte. Eigentlich war sie überzeugt gewesen, dass sie das Spiel bestimmte; aber jetzt war sie sich nicht mehr sicher. Nein, sie war nicht mehr überzeugt, dass sie die Lage unter Kontrolle hatte, schwang den Fächer mit einer Drehung des Handgelenks auf ihre rechte Schulter und fächelte sanft vor ihrem Gesicht.
Greville war schneller an ihrer Seite, als sie es für möglich gehalten hatte. »Meine Liebe, ich glaube, ich habe deinen Begleiter noch nicht kennengelernt.«
Erstaunt nahm sie zur Kenntnis, dass seine Stimme leicht verwaschen klang, und als sie ihn verstohlen musterte, glaubte sie, dass seine Augen leicht glasig wirkten. Sie stellte die beiden Herren einander vor. »Es scheint, als wäre Don Antonio unser Nachbar«, meinte sie leichthin. »Er hat eine Wohnung in der Adam's Row bezogen.«
»Ich glaube, ich habe Sie gestern Nachmittag am Grosvenor Square gesehen«, fügte der Spanier hinzu. »Sie waren in Begleitung eines zauberhaften Mädchens und seines Hundes.«
Greville spähte ihn über den Rand seines Glases an, blinzelte, als wäre er sich nicht sicher, den anderen Mann tatsächlich erkennen zu können. »Ich glaube nicht, dass ich Sie bemerkt habe« - er schüttelte den Kopf - »ich hoffe, Sie empfinden es nicht als Beleidigung.«
»Nicht im Geringsten«, erklärte Don Antonio. »Der Hund hat meine Aufmerksamkeit gefesselt. Schließlich habe ich nicht oft die Gelegenheit, irische Wolfshunde zu beobachten.« Seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln.
Greville platzte mit gespieltem Gelächter heraus. Seine Hand zitterte, sodass er Champagner über den Teppich goss. »Nein, in der Tat, das kommt nicht oft vor.«
Aurelia erstarrte ehrfürchtig. Beim Grabe ihrer Eltern hätte sie schwören können, dass Colonel Sir Greville Falconer noch nie im Leben betrunken gewesen war; aber jetzt spielte er seine Rolle derart gekonnt, dass man ihm seinen Zustand abnahm. Nur - warum? Natürlich war es ihm gelungen, die Aufmerksamkeit des Spaniers vollkommen auf sich zu lenken, sodass sie die Gelegenheit hatte, die Fassung wiederzugewinnen, die sie beinahe verloren hätte.
Sie widmete ihre Aufmerksamkeit erneut Don Antonio, schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Ich hoffe sehr, dass Sie mir in der South Audley Street Ihre Aufwartung machen werden, Don Antonio. Ich freue mich darauf, Ihnen einige Sehenswürdigkeiten unserer Stadt zu zeigen. Ich besitze meine eigene Kalesche, sodass Sie sich nicht um einen Wagen bemühen müssen. Ich würde mich glücklich schätzen, wenn ich Sie abholen dürfte.« Mit diesen Worten hoffte sie, Greville die eine besondere Information gegeben zu haben, um die er sie gebeten hatte.
Der Spanier verbeugte sich. »Ich stehe in Ihrer Schuld, Mylady, und der Neid der Gesellschaft ist mir gewiss.«
Vorwurfsvoll schlug sie mit dem Fächer auf seinen Arm. Ihre Augen funkelten, und auf ihren Lippen lag ein gespielt einfältiges Lächeln. »Ich protestiere, Sir. Ihre Schmeichelei ist geradezu beschämend.«
Er ergriff ihre Hand, führte sie an seine Lippen. »Es ist an mir, zu protestierten, Mylady!«, rief er aus, »Sie müssen mir vergeben! Es ist mir vollkommen ernst.«
»Dann freue ich mich auf Ihre Aufwartung, Don Antonio. Vormittags um elf erreichen Sie mich am besten.«
Wieder verbeugte er sich, nickte Greville zu und entfernte sich mit einer Entschuldigung.
Greville wisperte so leise, dass nur sie ihn hören konnte. »Geh jetzt.«
Warum? Aber Aurelia stellte ihre Frage nicht laut, sondern entfernte sich stattdessen und bahnte sich ihren Weg zum anderen Ende des Salons, wo ihre Gastgeberin am Piano Hof hielt.
»Ah, Lady Falconer, gesellen Sie sich zu uns.« Doña Bernardina grüßte sie mit ausgestreckter Hand. »Verraten Sie uns Ihre Meinung über Lope de Vega. Wir finden, dass es nur wenige Engländer gibt, die unsere Dichter kennen, ausgenommen Cervantes.«
»Und so sehr sie auch behaupten, das Buch zu lieben, so wenig können sie doch Don Quichotte richtig aussprechen«, fügte ein junger Mann hinzu und brach in schnaubendes Gelächter aus.
»Sie müssen uns unsere Unwissenheit vergeben.« Aurelia lächelte kühl. »Zugegeben, die Engländer sind für ihre sprachlichen Fähigkeiten nicht gerade berühmt. Es liegt daran, wage ich zu vermuten, dass unsere Sprache überall gesprochen wird und wir deshalb ein wenig faul geworden sind, uns um fremde Sprachen zu bemühen.«
»Aber Sie sprechen doch ein wenig Spanisch, nicht wahr, Lady Falconer?«
Nachdem sie ihre patriotische Pflicht getan und das beklagenswerte und arrogante Desinteresse ihrer Landsleute an Fremdsprachen in Schutz genommen hatte, war Aurelia bereit zum Rückzug. »Nein, eigentlich nicht. Nur Französisch und ein wenig Italienisch.«
Es dauerte noch eine Weile, bis sie sich höflich entschuldigen und sich von ihrer Gastgeberin verabschieden konnte. Von der anderen Seite des Salons drang Grevilles Stimme an ihr Ohr, ein wenig zu schrill für einen angemessenen Tonfall; im Moment konnte man ihm zwar nicht vorwerfen, dass er lallte, aber seine unbeholfene Ausdrucksweise gab zu verstehen, dass es ihm nicht leicht fiel, sich zu beherrschen. Der große Mann schien zu schwanken wie ein junges Bäumchen im stürmischen Wind.
Aurelia hätte am liebsten schallend gelacht, so brillant spielte er seine Rolle - wenn sie nicht überzeugt gewesen wäre, dass die Gründe alles andere als lustig waren.