11

»Wie Sie sehen, Sir Greville, ist alles mit gepflegter Eleganz eingerichtet … vollkommen neu möbliert«, erklärte der Makler ein wenig ängstlich. Bei der Besichtigung des Hauses in der South Audley Street hatte sein Klient nicht zu erkennen gegeben, ob ihm die Immobilie gefiel oder nicht. Noch nicht einmal die Augenbraue hatte er hochgezogen oder mit den Lippen gezuckt. »Ich denke, die Höhe der Mietzahlung werden Sie sehr vernünftig finden.«

»Ja«, erwiderte der Colonel umstandslos. Er spazierte vom Salon in das Esszimmer. Am Mahagonitisch können zwölf Leute bequem sitzen, dachte er, obwohl er eigentlich keine Veranlassung sah, mehr als zwölf Leute zum Dinner zu bewirten. Im Esszimmer am Cavendish Square würden mehr als zwanzig Leute Platz finden, und das verwinkelte Zimmer im Haus seiner Tante, das ohnehin eher einem Mausoleum glich, würde die zwanzig um noch einmal mindestens zehn übertreffen. Dennoch galt immer: Je kleiner und intimer die Runde, desto mehr Informationen würde er bei den Gästen belauschen können.

Er stieg die Treppe hinauf in das obere Stockwerk. Es war ein recht hübsches Treppenhaus: Die Stiege mit den kunstvoll geschnitzten Pfosten machte eine elegante Biegung, bevor man oben auf dem quadratischen Absatz ankam. Zwei Korridore führten in jeweils entgegengesetzte Richtungen an einer Reihe Türen entlang, und am Ende der Korridore fiel das Licht durch ein großes Fenster in das Innere des Hauses. Im östlichen Flur öffnete sich eine Doppeltür zum größten Schlafzimmer an der Vorderseite des Hauses, während sich im hinteren Bereich ein geräumiges Ankleidezimmer anschloss. Eine Verbindungstür führte zu einer zweiten Suite mit mehreren Zimmern, aus denen man einen Blick auf den kleinen Garten hinter dem Haus genoss. Zu den Zimmern gehörte ein bescheidenes, aber ebenfalls recht hübsches Boudoir, sodass er annahm, dass diese Räume für die Hausherrin eingerichtet worden waren.

Greville stieg wieder die Treppe hinunter, warf einen flüchtigen Blick in den Küchenbereich, in die Vorratsräume, die dem Butler unterstanden, und in das Wohnzimmer der Haushälterin. Er hatte nicht die geringste Ahnung, welche Erwartungen die Dienerschaft des Anwesens einer großen Stadt wie London hegte. Denn bisher hatte es keinen Anlass gegeben, über solche Fragen nachzudenken. Aber Aurelia würde wissen, ob das Haus angemessen eingerichtet war oder ob noch Verbesserungen vorgenommen werden mussten.

»Es wird reichen«, behauptete er.

Der Makler wirkte erleichtert. »Wenn Sie dann den Mietvertrag unterzeichnen würden, Sir Greville? Er ist für nur ein Jahr ausgestellt.«

»Ja. Aber bitte mit einer Möglichkeit zur Verlängerung.« Greville nahm dem Makler den Vertrag aus der Hand und ging in das Wohnzimmer. Er bezweifelte, dass er den Vertrag jemals verlängern würde. Aber die Maskerade verlangte, dass er den Eindruck erweckte, sich dauerhaft niederlassen zu wollen. Auf dem Schreibtisch fand er Feder und Tinte und unterschrieb, bevor er das Dokument dem Makler überreichte. »Wenn Sie mir nun die Schlüssel aushändigen würden, dann ist unser Geschäft besiegelt, nehme ich an.«

»Ja, Sir Greville. Mit Vergnügen, Sir.« Der Makler reichte ihm einen schweren Schlüsselbund. »Hier sind sie, Sir, und alle genau beschriftet. Die Schlüssel für den Keller und die Vorratskammern, und … selbstverständlich gehe ich davon aus, dass Ihr Butler und Ihre Haushälterin sich darum kümmern werden.«

»Ich auch«, stimmte Greville zu und wog die schweren Schlüssel in der Hand, bevor er sich von dem Makler verabschiedete. »Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Tag, Charteris.«

»Angenehmen Tag, Sir Greville.« Der Mann war unübersehbar erleichtert, als er seinem Klienten die Hand drückte. »Danke, ich finde selbst hinaus.« Er eilte in die Halle, und kurz darauf hörte Greville, wie die Eingangstür zuschlug. Die Atmosphäre des Hauses schien sich langsam auf ihn herabzusenken, als er im Wohnzimmer stand und sich das Kinn rieb.

Aurelia konnte ihm bei der Auswahl der Dienerschaft behilflich sein. Das wäre angemessen, sobald sie verlobt waren. Aber bevor es so weit war, würde er schleunigst einziehen müssen. Oder besser, er würde schleunigst aus dem Anwesen der Lady Broughton ausziehen müssen. Seine Tante war dazu übergegangen, sich auf die Lauer zu legen, sich förmlich aus dem Hinterhalt auf ihn zu stürzen, sobald er das Haus betrat oder verließ, und ihn mit Neuigkeiten über die Vorbereitungen ihrer Willkommensparty zu belästigen. Es war ihm ein Rätsel, wie sie auf den Gedanken kam, dass er sich für die Farbe des Champagners oder die Wahl des Porzellans interessieren könnte. Oder für die Frage, ob besser Rebhuhn oder Fasan in den Pasteten verarbeitet werden sollte.

Kopfschüttelnd verließ Greville das Haus und schloss die Tür hinter sich ab. Leise pfeifend schlenderte er in Richtung Cavendish Square. Er hatte Aurelia angekündigt, dass er ihr noch vor der Mittagszeit seine Aufwartung machen wollte. Es war höchste Zeit.

Aurelia saß im Salon und schaute aus dem großen Fenster hinaus auf die Straße. Vorsichtshalber hatte sie Morecombe erklärt, dass sie heute Vormittag keinen Besuch empfangen würde, weil sie auf jemanden wartete und selbst an die Tür gehen würde, wenn es klopfte. Morecombe hatte wie immer eine lakonische Antwort gegeben und war anschließend im hinteren Teil des Hauses verschwunden. Wenn man davon absah, dass ein tageweise angeheuertes Dienstmädchen sich mit Bohnerwachs und Staubwedel im vorderen Teil des Hauses zu schaffen machen würde, hatte sie den Bereich für sich.

Sie bemerkte, dass Greville sich dem Haus vom kleinen Park in der Mitte des Squares her näherte. Munter schwang er seinen schlanken Spazierstock, von dem sie wusste, dass er eine tödliche Waffe verbarg. Das vertraute Prickeln rann ihr über den Rücken, als sie beobachtete, wie er die Straße überquerte.

Aurelia schätzte seine zurückhaltende Art, sich zu kleiden. Es machte den Eindruck, als würde er sich nicht für die Launen der Mode interessieren. Seine mächtige Gestalt konnte in der Tat auf jede Betonung verzichten, konnte darauf verzichten, seine äußere Erscheinung mit modischen Zierstichen oder gepolsterten Schultern zu verbessern. Der dunkelgraue Mantel saß ihm perfekt auf den breiten Schultern, die taubengrauen Wildlederhosen schmiegten sich an seine kräftigen Schenkel, und bei jedem Schritt konnte man das Spiel seiner straffen Muskeln unter dem Leder beobachten. Das gestärkte weiße Krawattentuch war weder besonders hoch noch besonders aufwendig gebunden. Aber er hatte es nicht nötig, es den jungen Männern nachzutun, die sich das Tuch übertrieben kompliziert banden, um den Nacken zu verlängern und das Kinn zu betonen.

Jeder Zoll an Greville Falconer strahlte Kraft und Stärke aus. Auf dem Gehweg vor dem Haus blieb er stehen und ließ den Blick an der Fassade hinaufschweifen. Er betrachtete die Fenster und sah Aurelia im Schatten der Vorhänge stehen. Grüßend hob er die Hand und stieg dann die Treppe zum Eingang hinauf.

Aurelia hastete durch die Halle zur Tür und riss sie weit auf. »Da sind Sie ja.«

»Haben Sie etwa an meiner Ankündigung gezweifelt?« Seine grauen Augen musterten sie aufmerksam, glitten langsam über ihren Körper, während er in die Halle trat. Als ob er überprüfen will, dass sich noch alles an seinem Platz befindet, schoss es ihr durch den Kopf, und ihr Magen krampfte sich erregt zusammen, als sie das anerkennende Funkeln in seinem Blick und die sinnlich zuckenden Mundwinkel registrierte.

»Sie haben sich wieder Locken in die Haare drehen lassen.« Mehr sagte er nicht.

Aurelia hatte keine Ahnung, warum seine Bemerkung ihr die Röte in die Wangen trieb. Trotzdem spürte sie, dass sie rot wurde wie die Unschuld vom Lande. »Ringellöckchen sind gerade in Mode.« Angestrengt versuchte sie, beiläufig zu klingen, so als ob ihr die Haut nicht wie Feuer brannte und ihr Magen nicht verrückt spielte. Sie wandte sich zum Salon. »Mit glattem Haar darf man sich in einer Stadt wie London nicht blicken lassen.«

»Oh, ich glaube, Sie dürften es durchaus wagen.« Greville folgte ihr ins Empfangszimmer. »Ihr natürliches Haar ist ausgesprochen zauberhaft.« Wie gewöhnlich stellte er sich an den Kamin, lächelte sie an und zog fragend die Brauen hoch.

Aurelia schenkte dem Kompliment keinerlei Beachtung, denn ihr fiel keine Erwiderung ein, die nicht unaufrichtig oder scherzhaft geklungen hätte. »Darf ich Ihnen einen Sherry anbieten … oder vielleicht einen Madeira?«, fragte sie und ging zur Anrichte mit den Karaffen.

»Vielen Dank. Bitte einen Sherry.« Er schaute ihr zu, als sie den Raum durchquerte, und genoss den Anblick ihrer würdevollen flüssigen Bewegungen. »Nun, Aurelia, sind Sie bereit, in unser Abenteuer einzusteigen?«

Mit der Karaffe in der Hand drehte sie sich um. »Wie bitte? Etwa heute schon?«

»Just heute Vormittag habe ich den Mietvertrag für das Haus in der South Audley Street unterschrieben. Möchten Sie es besichtigen? Ihre Meinung würde mich interessieren.«

Aurelia schenkte zwei Gläser Sherry ein. Irgendwie hatte sie das Gefühl, als wäre die Zeit wie im Nu verflogen. Außerdem hatte sie gehofft, dass sie für ein paar Tage in ihr gewohntes Leben würde zurückkehren können, bevor die Arbeit ernsthaft begann. Aber es schien anders zu kommen. »Sollten wir der Gesellschaft nicht ein paar Tage gönnen, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass wir es genießen, unsere Zeit miteinander zu verbringen?«, schlug sie zögernd vor und brachte ihm den Sherry.

»Sicher«, stimmte Greville zu und griff nach dem angebotenen Glas. »Daran wird sich nichts ändern, wenn Sie das Haus besichtigen.«

»Aber wird man nicht die Stirn runzeln, wenn man uns zusammen sieht, besonders dann, wenn wir ein leeres Haus betreten?«

Er quittierte ihre spöttische Bemerkung mit einem Kopfschütteln. »Haben Sie die Lektionen der letzten Woche schon so schnell wieder vergessen? Warum sollte uns jemand beobachten, wie wir zusammen das Haus betreten?«

»Oh … verstehe.« Schuldbewusst nippte sie an ihrem Sherry und setzte sich lächelnd in die Ecke des Sofas. »Selbstverständlich werde ich allein sein, wenn ich hineingehe.«

»Nachdem Sie sich vergewissert haben, dass kein bekanntes Gesicht in der Nähe herumlungert und Sie eintreten sieht.«

»Selbstverständlich. Wie gelange ich ins Haus?«

»Auf dem üblichen Weg. Sie klopfen an die Tür, und es wird Ihnen aufgetan.«

Aurelia nickte. Sie freute sich schon auf die Herausforderung, intellektuell und körperlich, die sie in der letzten Woche mit jeder neuen Prüfung in vollen Zügen genossen hatte.

Er hob das Glas an die Lippen. »So eilig haben wir es auch wieder nicht.« Seine Augen blitzten. Unwillkürlich erwiderte Aurelia seinen Blick. »Haben Sie mit Lady Bonham über Ihre Reise nach Bristol gesprochen?«, fragte Greville beiläufig.

»Wir sind wie selbstverständlich auf das Thema gekommen, als ich Franny abgeholt habe.«

»Ja, das hatte ich gehofft.« Wartend hob er die Brauen.

»Ich habe ihr die Geschichte erzählt, die wir vereinbart hatten. Es sah nicht so aus, als hätte sie irgendetwas Ungewöhnliches festgestellt.«

Er nickte. »Was noch?«

»Sonst nichts. Nell ist meine Freundin. Was mich interessiert, interessiert sie auch. Wenn ich jemanden mag, richtet sie sich darauf ein, ihn ebenfalls zu mögen. Es sei denn, man gibt ihr einen guten Grund, anders zu empfinden.« Aurelia betrachtete den Sherry in ihrem Glas.

»Reden Sie weiter«, drängte er, weil er sehr genau spürte, dass noch mehr dahintersteckte.

Aurelia seufzte. »Nun, Nell ist nicht dumm. Natürlich ist ihr bewusst, dass jeder, den sie durch ihren Ehemann kennenlernt, in die Angelegenheiten des Kriegsministeriums verwickelt sein könnte. Sie hat mich sogar gefragt, ob ich es für wahrscheinlich halte.«

»Und was haben Sie geantwortet?« Greville beobachtete sie aufmerksam.

»Ich habe gesagt, dass ich auch schon darüber nachgedacht habe. Sonst hätte sie sich gewundert, denn gewöhnlich hält man mich nicht für dumm.«

»Aus gutem Grund.« Seine weißen Zähne blitzten, als er lächelte. »Zugegeben, es ist ein kleines Hindernis. Bonham ist voll und ganz bewusst, dass wir beide demselben Herrn dienen, obwohl er keine Ahnung hat, womit ich mich beschäftige. Im Ministerium gehört es zum guten Ton, außerhalb des Büros nicht über dienstliche Angelegenheiten zu sprechen. Er wird sich also zurückhalten, mich zu sehr mit Fragen zu bedrängen. Aber Sie sollten sich auf verdeckte Ermittlungen gefasst machen.«

»Ich bin darauf gefasst. Weiß Harry über Frederick Bescheid?«

»Du lieber Himmel, nein. Nur drei Menschen wissen etwas über Frederick: Sie, ich und mein Vorgesetzter. Aber noch nicht einmal der kennt die Verbindung zwischen Bonhams Frau und meinem verstorbenen Partner. So soll es auch bleiben.«

Aurelia nickte schweigend. »Nell und Harry werden mir nicht im Weg stehen«, sagte sie nach einer Weile. »Sie könnten, nein, sie werden sogar versuchen, mich von dieser Heirat abzubringen. Aber am Ende werden sie hinter mir stehen, wenn ich auf der Verbindung beharre.«

Jetzt war es an ihr, ihn aufmerksam zu mustern. »Hält Harry irgendetwas gegen Sie in der Hand? Irgendetwas … abgesehen von der Tatsache, dass Sie in seine Welt verstrickt sind, was ihn glauben lassen könnte, dass Sie ein schlechter oder sogar gefährlicher Ehemann für mich werden könnten?«

»Nicht schlechter und gefährlicher als er selbst.«

»Dann bin ich überzeugt, dass ich diese Hürde ohne größere Schwierigkeiten nehmen kann.« Sie stellte ihr Glas ab und erhob sich energisch. »Sollen wir jetzt aufbrechen und uns das Haus ansehen?«

»Ich gehe zuerst.« Greville wirkte entspannt, als er sich erhob, und leerte das Glas in einem Zug. »Was werden Sie tun, wenn Sie bei Haus Nummer zwölf in der South Audley Street angekommen sind?«

»Ich werde zweimal am Gebäude vorbeispazieren. Wenn ich zufrieden bin, werde ich an die Tür klopfen.«

»Gut.« Er schaute auf seine Taschenuhr, die ihm aus der Weste hing. »Können Sie in einer halben Stunde dort sein?«

Die South Audley Street lag in der Nähe des Grosvenor Square. Wenn sie mit der Droschke zum Square fuhr und den restlichen Weg zum Haus zu Fuß zurücklegte, würde sie es schaffen können. »Ja. Es sei denn, es herrscht dichter Verkehr. Oder ich werde aufgehalten.«

»Ich warte auf Sie … Danke, ich finde allein hinaus.« Greville eilte in die Halle, während Aurelia ins Obergeschoss lief, um sich ihren Umhang, den Hut und die Handschuhe zu holen.

Anschließend trat sie vor die Tür und hielt eine vorüberfahrende Droschke an. »Zum Grosvenor Square, bitte.«

»Eine bestimmte Hausnummer, Mum?«

»Nein. Halten Sie irgendwo mitten auf dem Square.«

Der Fahrer warf ihr einen merkwürdigen Blick zu, knallte aber mit der Peitsche, und das Gefährt zockelte los. Als er beim Square angekommen war, zog er die Zügel an. »Reicht das, Ma'am?«

»Sehr gut.« Aurelia stieg aus, bezahlte den Mann und eilte in südlicher Richtung davon. Sie spazierte die South Audley Street entlang und ließ den Blick über die Häuser schweifen. Größtenteils handelte es sich um herrschaftliche Anwesen mit zwei Wohnflügeln; aber dazwischen fanden sich auch ein paar kleinere, schmale Häuser mit zwei Wohnbereichen, die eng aneinandergefügt waren. Sie vermutete, dass es sich um ehemals herrschaftliche Anwesen handelte, die irgendwann in zwei Teile geteilt worden waren, vielleicht um einen anderen Zweig der Familie unterzubringen.

Nummer zwölf gehörte zu diesen Häusern. Eine schmale Stiege mit polierten Stufen führte hinauf zu einer Tür aus Eichenholz, an der ein glänzender Messingklopfer und ein Griff angebracht waren. Das Treppengeländer war erst kürzlich mit schwarzem Graphit überzogen worden, und im Sonnenlicht sah es aus, als würden die Fenster auf der linken Seite ihr zuzwinkern. Zusammen mit einer Messinglaterne war über der Tür ein hübsches Oberlicht angebracht worden. Rechts und links neben der Tür standen zwei steinerne Blumentöpfe, die im Moment allerdings nicht bepflanzt waren. Das Zwillingshaus nebenan befand sich ebenfalls in einem gepflegten Zustand.

Aurelia spazierte am Haus vorüber. Ein paar Häuser weiter blieb sie stehen und tat so, als müsse sie ihren Stiefel richten. Ein paar Leute hielten sich in der Gegend auf. Soweit sie es beurteilen konnte, waren es Händler. Ein Kindermädchen mit zwei Kindern im Schlepptau eilte an ihr vorbei in Richtung Square. Das kleinere Kind spielte mit einem Kreisel, der jeden Moment auf die Straße zu rollen drohte. Das Kindermädchen müsste sich unbedingt um den Kreisel kümmern, bis sie am Square angekommen sind, dachte Aurelia, kniff aber trotzdem die Augen zusammen und unterdrückte den Impuls einzugreifen. Unter keinen Umständen durfte sie jetzt die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Jedenfalls nicht, überlegte sie weiter, bis das Kind drauf und dran ist, unter die Räder einer Kutsche zu stolpern.

Nach ungefähr dreihundert Metern überquerte sie die Straße und spazierte auf der gegenüberliegenden Seite am Haus vorüber. Sie sah niemanden, den sie kannte. Genauso lässig wie zuvor schlenderte sie über die Straße und die Stufen zum Haus hinauf, schlug einmal mit dem Klopfer auf das Eichenholz und widerstand dem Impuls, sich mit einem Blick über die Schulter zu vergewissern, dass kein Bekannter auf der Straße aufgetaucht war.

Rasch trat Aurelia ein, nachdem geöffnet worden war, und sofort wurde die Tür wieder geschlossen. »Niemand hat Sie gesehen, hoffe ich.« Greville stützte sich mit einer Hand an der Tür ab und musterte sie aufmerksam.

»Nein. Ich bin mir ganz sicher.«

»Ich bin mir auch sicher, dass Sie Ihre Sache gut gemacht haben.« Er lachte leise. »Aber ich gestehe, dass ich ein paar Sekunden lang Angst hatte, Sie könnten sich mit diesem Kindermädchen streiten.«

»Woher wissen Sie das?« Erstaunt starrte sie ihn an und wunderte sich über seine Beobachtungsgabe.

»Langsam lerne ich Sie kennen, meine Liebe«, erklärte er spöttisch. »In jenem Augenblick wusste ich genau, was in Ihnen vorgeht, und ich habe Sie zu Ihrer Zurückhaltung beglückwünscht.«

Aurelia freute sich sehr über das Kompliment, gab sich aber alle Mühe, es sich nicht anmerken zu lassen. Stattdessen schaute sie sich in der Halle um. Das Haus war nach Süden ausgerichtet; durch das große Fenster neben der Tür und durch das Oberlicht strahlte das blasse Sonnenlicht tapfer auf den Eichenfußboden.

»Erlauben Sie mir, Ihnen das übrige Haus zu zeigen«, bat Greville und führte sie in Richtung der Doppeltüren links in der Halle.

Sie folgte ihm in ein nicht zu großes Wohnzimmer mit hohen Decken, hübschen Zierleisten und einem wundervoll gemauerten Kamin. Die Möbel wirkten einigermaßen modisch, die Vorhänge waren schlicht, wie es in einem gemieteten Haus üblich war. Aber mit ein paar Büchern und Bildern, ein paar kleineren Dekorationsstücken würde man den Raum ausgesprochen wohnlich gestalten können. Nur … besaß Greville solches Mobiliar? Insgeheim hegte Aurelia Zweifel. Schließlich war er nicht ein Mann, der lange Zeit an einem Ort verweilte.

»Was meinen Sie?«

Aurelia drehte sich zu ihm. »Es passt ausgezeichnet zu Ihnen. An Ihrer Stelle würde ich die Möbel ein wenig verrücken, würde eine persönliche Note hinzufügen, aber … Ja, für Ihre Zwecke scheint es genau passend zu sein. Nicht zu üppig für einen Junggesellen, dennoch groß genug, um den Freundeskreis zu empfangen.«

Nachdenklich strich er sich über das Kinn, als er sich umschaute, und schien das Zimmer mit einem ganz anderen Blick zu betrachten. »Ich bin nicht geübt darin, mich in einer schlichten Unterkunft heimisch einzurichten. Würden Sie die Aufgabe für mich übernehmen?«

»Besitzen Sie Bücher? Oder Bilder und andere Einrichtungsgegenstände … irgendetwas in der Art?«

Er lachte. »Nein, meine Liebe, ganz gewiss nicht. Was sollte ich mit solchem Flitterkram anfangen? Ihn im Ranzen herumschleppen, während ich mich auf einer Spritztour durch die Welt befinde?«

»Natürlich nicht.« Aurelia schüttelte den Kopf. »Sie müssen ein paar Dinge einkaufen.«

»Würden Sie das vielleicht übernehmen? Selbstverständlich nur im Interesse unseres Auftrags.«

»Gern. Ich freue mich darauf«, stimmte sie zu. »Verraten Sie mir, wie viel Sie ausgeben wollen, und ich werde diese Unterkunft in ein angenehmes Zuhause verwandeln. Weil es nur für ungefähr drei Monate ist, werden Sie vermutlich nicht verschwenderisch sein wollen. Aber ich bin mir sicher, dass wir das eine oder andere für einen geringen Betrag finden werden. Außerdem müssen wir nur die Zimmer, die die Besucher betreten, herrichten.«

Greville nickte schweigend. »Ich möchte Ihnen den Rest des Hauses zeigen.«

Sie besichtigten das Erdgeschoss. Gegen das Esszimmer oder die gemütliche Bibliothek im hinteren Bereich hatte Aurelia nichts einzuwenden. Im Gegenteil, dachte sie, als sie sich in der Bibliothek umschaute und sich ihre Bücher in den Regalen vorstellte, für Franny und mich wäre das Haus perfekt. »Wie hoch ist die Miete?«, platzte sie plötzlich heraus.

»Fünfundzwanzig Guineas in der Woche«, antwortete Greville überrascht. »Ich war der Meinung, das ist angemessen für die Größe und die Lage. Warum fragen Sie?«

Aurelia runzelte die Stirn. »Diese Pension, die mir für meine Dienste ausgezahlt werden soll … Sie haben mir nicht gesagt, wie hoch sie sein wird.«

»Oh, verstehe.« Er senkte den Kopf. »Sie werden natürlich ein eigenes Haus brauchen. Leider kann ich Ihnen im Moment keinen genauen Betrag nennen. Die Angelegenheit wird von den Menschen entschieden werden, deren Aufgabe es ist, darüber zu befinden. Aber ich könnte einen Vorschlag einreichen, wenn es Ihnen nichts ausmacht, mir zu verraten, welche Summe Ihnen vorschwebt.«

»Ich muss darüber nachdenken.«

»Bitte sehr. Lassen Sie es mich wissen, sobald Sie zu einem Entschluss gekommen sind.« Simon Grant hatte grundsätzlich zugestimmt, Fredericks Witwe eine Pension zu zahlen; einerseits wollte er Fredericks Verdienste um das Land würdigen, andererseits sollte es sich für die Witwe lohnen, dass sie sich ebenfalls für ihr Land einsetzte. Leider war Simon so überarbeitet, dass er pragmatische Angelegenheiten zu vergessen pflegte. Man musste ihn sanft drängen und anstupsen, damit er die nötigen Anweisungen unterzeichnete.

Aurelia war zufrieden, als sie die Treppe hinaufstieg. Kein Zweifel, dass fünfundzwanzig Guineas pro Woche ihr Budget sehr strapazieren würden. Aber sie durfte noch mit einer nicht unbeträchtlichen Nachzahlung von Fredericks Gehalt rechnen. Außerdem hatte Greville behauptet, dass ihr eine Belohnung ausgezahlt würde. Damit würde sie die Lücke stopfen können.

Der Gedanke, dass sie ihren Lebensunterhalt durch ihre eigenen Anstrengungen würde bestreiten können, gab ihr ein Gefühl der Zufriedenheit. Niemand würde kontrollieren können, wofür sie ihr Geld ausgab, niemand durfte ihr Vorschriften machen, wofür sie es verwenden sollte. Niemandem war sie Rechenschaft schuldig. Endlich befreit aus Markbys Joch! Und sie musste nicht mehr dafür tun, als ein romantisches Interesse für den attraktivsten Mann vorzuschützen, dem sie jemals begegnet war. Keine besonders schwierige Aufgabe. Nicht im Geringsten.

Aurelia flog förmlich die Treppe hinauf, so sehr beflügelten die Gedanken ihren Schritt, und erreichte den oberen Absatz ein paar Sekunden früher als Greville. »Nun, auf welche Kissen wird der Hausherr sein Haupt betten?«

Vor der obersten Stufe blieb Greville stehen. Irgendetwas in ihrer Stimme ließ ihn innehalten. Er verengte den Blick, musterte sie so aufmerksam, dass ihre Miene sich langsam veränderte. Sie sah so erschrocken aus, als ob ihr plötzlich ein außergewöhnlicher Gedanke gekommen wäre, und ihr Mund verzog sich … sinnlich und einladend. Die Atmosphäre in dem leeren, verlassenen Haus schien plötzlich lebendig zu werden, und es war gerade die Leere um sie herum, die bedeutungsvoll aufgeladen wirkte.

Aurelia streckte ihm die Hand entgegen, die er langsam ergriff, während er die letzte Stufe erklomm und neben ihr stand.

Greville drehte sie zu sich und ließ die Hände auf ihren Schultern ruhen, als er ihr direkt in die Augen schaute, in goldbraune Augen, die seinen Blick festhielten. Langsam dämmerte ihm, welche harten Tatsachen sich ihm in diesem Moment aufdrängten … so hart, dass er die Fassung verlor und seine Umgebung nur noch verschwommen wahrnehmen konnte. Dann lächelte Aurelia ihn an, zuerst zaghaft, bis ihre Augen glänzten wie ein Waldsee im Sonnenlicht.

»Der Himmel möge mir helfen«, murmelte Greville. »Es ist verrückt. Aber ich bin vollkommen machtlos.« Dann senkte er seine Lippen auf ihre, zog sie an sich, während er sie förmlich verschlang, strich mit den Händen über ihren Rücken, presste sie an sich, drückte die Hände fest auf ihre Hüften und grub die Fingerspitzen in ihre weichen, schmiegsamen Kurven.

Leise murmelte sie ein paar Worte dicht an seinen Lippen, sog seine Unterlippe zwischen ihre Zähne und presste ihren Unterleib an seinen. Vorsichtig schob er sie rückwärts, ohne seinen Mund von ihren Lippen zu lösen, den Korridor entlang bis zu den Doppeltüren seines Schlafzimmers. Dort umschlang er ihre Hüfte, entriegelte die Tür und drängte sie ins Schlafzimmer.

Jetzt erst trat er von ihr zurück, ließ sie aber keine Sekunde aus den Augen, als er sein Krawattentuch löste und es zu Boden warf. Anschließend streifte er seinen Mantel und die Weste ab, ließ beides ebenfalls zu Boden fallen. In Hemd und Lederhosen umfasste er ihre Taille, hob sie hoch, und sie lachte, als sie ihn anschaute. Ihre Augen glänzten tief und sinnlich wie der schönste braune Samt.

Greville trug sie zum Bett und ließ sie in die Mitte der gefederten Matratze sinken. Ungezwungen glitt er mit den Fingern an ihren seidenen Strümpfen hinauf, schmiegte ihre Knie in seine Handflächen und spielte zärtlich mit den Fingerspitzen in ihren Kniebeugen.

Hastig und ungeschickt knöpfte Aurelia ihren Umhang auf. Drängendes Verlangen mischte sich unter das geheimnisvolle Schweigen im verlassenen Haus; ihre Lenden fühlten sich an, als ob ein heißes Feuer in ihnen brannte, und die tiefe Furche in ihrem Körper war feucht vor angespannter Erwartung. Sie drehte und wand sich, um die Arme aus dem Umhang zu befreien. Greville hob sie ein wenig an und zog das störende Kleidungsstück aus. Aurelia trug nur ein schlichtes gelbes Kleid, das ihren Busen und die Hüften bedeckte. Sie zerrte es hoch bis zur Taille und schlang die Schenkel um seine Hüften, während sie den Verschluss seiner Lederhose löste.

Er zog sich sekundenlang zurück, betrachtete ihr gerötetes Gesicht, ihre glühenden Augen, die geöffneten Lippen. Mit einer raschen Bewegung riss er das Band an ihrer Batistwäsche auf, die sie unter dem dünnen Kleid trug, schob eine Hand unter sie und hob sie an, sodass er ihr den Stoff über die Hüften ziehen konnte. Sie streckte sich ihm entgegen, hatte die Beine immer noch um ihn geschlungen und zog ihn heftig zu ihrer heißen Mitte.

Greville lächelte verschmitzt und hielt sich zurück, drang nur mit der Spitze seines Penis in sie ein, hielt inne, bewegte sich ganz langsam und erregte ihre überaus empfindliche Öffnung, bevor er schließlich voll in sie eintauchte. Seufzend nahm sie ihn in sich auf, und er verharrte regungslos in ihr, fühlte sich in ihrer seidigen Wärme eingeschlossen und genoss es ein paar Sekunden lang, nichts anderes zu empfinden.

Aurelia fuhr mit der Hand über seinen Rücken, streichelte die straffen Muskeln seines Hinterteils und presste die Hand darauf, als er sich zu bewegen begann, zuerst langsam, rhythmisch und dann immer schneller, als ihre Leidenschaft wuchs. Die Stille im Haus steigerte ihre Erregung noch mehr. Sie waren allein, vollkommen allein; niemand wusste, wo sie sich aufhielt, wirklich niemand, und noch nicht einmal ihre besten Freundinnen ahnten, was sie in diesem Augenblick tat.

Sie bog den Rücken durch, hob sich seinen Stößen entgegen, presste die Hände fest auf seinen Hintern, und er gab ihr, wonach sie verlangte, warf den Kopf zurück, sodass sie die straffen Sehnen an seinem Hals erkennen konnte. Dann drang er wieder in sie ein, stieß tief in sie hinein, und sie schrie auf, triumphierend, trunken vor Glück, während die Welt aus den Angeln gehoben schien, und sie klammerte sich an ihm fest, als gelte es ihr Leben, bis er schließlich in ihren Schrei einstimmte.

Nachdem Aurelia wieder zu sich gekommen war, stellte sie fest, dass Greville und sie immer noch mit ineinander verschlungenen Gliedmaßen inmitten der Kleidung lagen. Die Batistwäsche hatte sich um ihre Knöchel gewickelt, Kleid und Unterrock hingen ihr auf der Hüfte.

Greville richtete sich auf, stützte sich auf die Ellbogen und schüttelte verwundert den Kopf, als er sie anschaute. »Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal eine Frau, die Stiefel trug, geliebt habe.« Die Lederhosen klemmten ihm die Knie ein, das Hemd war nur halb aufgeknöpft.

Aurelia lächelte schwach. Ihr fehlten die Worte, um zu beschreiben, wie sie sich fühlte. Sie war schier übersättigt vor Glück, staunte, wie plötzlich und explosiv die Lust sie gepackt hatte, und stellte erschüttert fest, wie sehr sie einen schlichten Liebesakt vermisst hatte, seit Frederick auf dem Schiff davongesegelt war.

Greville zog sich zurück, bis er wieder den Boden berührte und aufstehen konnte. »Was für einen wundervoll unanständigen Anblick du bietest.« Lachend beugte er sich über sie, um sie zu küssen, ließ eine Hand auf ihrer feuchten Scham ruhen und spielte mit dem Zeigefinger in ihren Locken. »Besser, du verhüllst dich, bevor ich dich noch mal vernasche.«

»Ich habe nichts dagegen, vernascht zu werden«, murmelte sie und machte keinerlei Anstalten, sich zu bedecken.

»Es ist eindeutig, dass die grausame Realität der männlichen Anatomie dir bisher verborgen geblieben ist.« Greville zog sich die Hose hoch und knöpfte sie zu, bevor er sich zu ihr beugte, ihre Hände ergriff und ihr wieder auf die Beine half.

Mit einer Hand hielt er sie fest, während er mit der anderen ihr Kinn umfasste. Er sagte nichts; aber irgendetwas in seinem Blick drang durch ihre Benommenheit tief in ihr Inneres. Obwohl sie sich nach dem explosiven Höhepunkt immer noch erhitzt fühlte, rann ihr ein fröstelnder Schauder durch die Gliedmaßen. Dann ließ er sie los, und der Augenblick war verflogen.

Aurelia bückte sich, um sich wieder anzuziehen. Sie ordnete die Falten ihres Kleides. Was, um alles in der Welt, steckt nur hinter diesem merkwürdigen, scheuen Blick?, grübelte sie. Soll ich ihn vielleicht einfach fragen? Aber rasch wurde ihr bewusst, dass er nicht gefragt werden wollte. Und sie wollte nicht analysieren, was zwischen ihnen geschehen war. Jedenfalls nicht in diesem Moment.

»Willst du bald hier einziehen?« Es war eine ausgesprochen banale Frage nach der intensiven Begegnung der letzten halben Stunde, aber mehr fiel ihr nicht ein. Inzwischen war sie wieder auf dem Boden der Tatsachen gelandet, mit all den Fragen und Situationen, die geklärt werden mussten.

»Ja, so bald wie möglich«, bestätigte Greville, »aber vorher muss ich noch Dienstboten engagieren.«

»Du brauchst eine Haushälterin und einen Koch. Außerdem einen Butler, einen Kammerdiener … einen Burschen … Offiziere in der Armee haben doch Burschen, oder?«

»Ja, gewöhnliche Offiziere in der regulären Armee haben Burschen.« Greville beugte sich nach vorn, sodass er sich im Frisierspiegel die Krawatte richten konnte. »Aber ich bin beim besten Willen kein gewöhnlicher Offizier.«

»Nein, vermutlich nicht.« Aurelia schob ihn vom Spiegel weg, um ihre zerzauste Frisur betrachten zu können.

»Im Grunde genommen bin ich es gewohnt, mich selbst um meine Belange zu kümmern«, ergänzte er und schnappte sich die Weste.

»Du kannst kochen?«

»Bestimmt besser als du.« Er schlüpfte in seinen Mantel.

Aurelia lachte. »Das ist auch nicht schwierig. Mit Töpfen und Pfannen kenne ich mich gewiss nicht aus.«

»Frederick hat es gelernt.«

»Weil er es musste, vermute ich. Allerdings kann ich nicht erkennen, warum ich in diesem Spiel, auf das wir uns eingelassen haben, jemals vor der Notwendigkeit stehen sollte, mich mit den Geheimnissen der Kochtöpfe zu beschäftigen.«

»Stimmt«, meinte Greville, »aber sollen wir jetzt nicht besser unsere Hausbesichtigung fortsetzen? Du musst den Grundriss genau kennen, denn immerhin nutzen wir das Gebäude als Basis für unsere Einsätze.« Er ging zur gegenüberliegenden Tür und öffnete sie weit. »Dieses Schlafzimmer ist für die Hausherrin gedacht.«

Aurelia kam zu ihm und ließ den Blick durch das Zimmer schweifen, das ungefähr so groß war wie sein eigenes und keinerlei Auffälligkeiten aufwies. »Recht angenehm.« Sie spazierte durch das Zimmer und öffnete die Tür zum Boudoir. Oh, das ist wirklich wunderbar, dachte sie sehnsüchtig, wenn ich mir ein solches Haus leisten könnte, wären Franny und ich restlos glücklich.

»Dir geht durch den Kopf, wie gern du dieses Haus in deinen Besitz bringen möchtest«, vermutete Greville, stupste mit dem Zeigefinger ihr Kinn an und drehte ihr Gesicht zu sich.

»Sieht man mir das an?« Sie lächelte ein wenig schuldbewusst.

»Mir ist bewusst, dass du oft über deine finanzielle Situation nachdenkst.« Mit dem Daumen fuhr er über ihre Lippen. »Und darüber, wo du mit deiner Tochter wohnen wirst. Man sieht es dir an der Nasenspitze an, dass du dir unablässig den Kopf darüber zerbrichst.«

»Ja, vermutlich. Aber es ist so, dass ich immer mein eigenes Wohnzimmer hatte. Ein Zimmer für mich allein. Ich kann es mir nur schwer vorstellen, in einem Haus zu leben, in dem ich keinen privaten Rückzugsraum habe«, erklärte Aurelia und bemühte sich, trotzdem bescheiden zu klingen.

»Ich hatte angenommen, dass ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer reichen würden«, meinte Greville ehrlich verwirrt. »Warum braucht ein einziger Mensch so viel Platz? Viele Jahre meines Lebens habe ich nichts anderes mein Eigen nennen können als die Kleider, die ich am Leib trug. Und das, was ich im Ranzen auf dem Rücken mit mir herumschleppen konnte. Ein festes Dach über dem Kopf betrachte ich als Luxus.«

»Nun, du bist eben ein außergewöhnliches Individuum«, entgegnete Aurelia mit leicht ironischem Unterton, »aber ich bin mir sicher, dass deine Mutter ein eigenes Wohnzimmer hatte.« Kaum hatte sie ihren Satz zu Ende gesprochen, wurde Aurelia bewusst, dass sie zum ersten Mal auf seine persönliche Lebensgeschichte angespielt hatte. Dabei hatte Greville keine Ahnung, dass Mrs. Masham sie mit eindeutigen Hinweisen versorgt hatte.

»Oh, ja.« Seine Stimme klang plötzlich kalt und distanziert. »Sie hat einen gesamten Flügel des Hauses nur für sich allein bewohnt. Und überhaupt hat sie sich nicht gern in Gesellschaft bewegt.«

Nun, seine Worte passten zwar zu den Bemerkungen, die Mary über die Lippen geschlüpft waren, verrieten Aurelia aber nicht, was diese Worte zu bedeuten hatten. Aber sie war überzeugt, dass sich auf jeden Fall eine tiefere Botschaft in ihnen verbarg. Greville sah vollkommen unnahbar aus, der Tonfall klang eisig, die Augen blickten stumpf wie graue Steine, und um nichts in der Welt brachte sie es fertig, ihn danach zu fragen, was er mit seiner Bemerkung gemeint hatte.

»Es ist Zeit, dass wir das Haus verlassen.« Greville eilte an ihr vorbei und den Korridor entlang zur Treppe. Aurelia folgte langsam. In diesem Moment war es ausgesprochen schwierig, sich vorzustellen, welche Leidenschaft sie noch vor Kurzem geteilt hatten.

In der Halle wollte er die Eingangstür öffnen, hielt aber inne, drehte sich ihr zu und streckte ihr die Hände entgegen. Aurelia legte ihre Hände in seine; Greville drückte sie fest und zog sie zu sich heran.

»Aurelia, ich finde dich unwiderstehlich«, sagte er sanft, »irgendwie bist du unter meiner Deckung durchgeschlüpft, und das ist mir ein wenig unbehaglich. Falls es mich dazu drängt, mich nur kurz und knapp zu äußern oder mich zu distanzieren, dann bitte ich dich um Verständnis und um Vergebung. Um nichts in der Welt möchte ich dich unglücklich sehen. Ich möchte auch nicht, dass du wütend oder verärgert bist. Nein, ich will deine Wärme und deine Leidenschaft genießen, und ich will dieses zauberhafte Lächeln sehen. Wir werden ausgezeichnet zusammenarbeiten. Das, was heute Nachmittag passiert ist, kann daran nichts ändern. Im Gegenteil. Das ist meine feste Überzeugung. Wirst du mir vergeben?«

»Es gibt nichts zu vergeben.« Und so war es auch. Wenn er nicht über seine Kindheit reden wollte, dann musste sie seine Entscheidung respektieren.

Ein paar Sekunden lang musterte er sie eindringlich, nickte dann, als ob er zufrieden wäre. »Um fünf Uhr werden wir einen Spaziergang im Park unternehmen«, erklärte Greville. Mit Leichtigkeit hatte er erneut seine führende Rolle in ihrem Abenteuer übernommen, öffnete die Tür, blieb aber so stehen, dass er für die Welt draußen auf der Straße verborgen blieb. »Wir treffen uns direkt am Stanhope Gate. Höchste Zeit, dass man uns zusammen sieht.«

»Ich werde dort sein.« Aurelia trat ins Freie, zog die Tür hinter sich zu und ließ den Blick die Straße hinauf- und hinabschweifen. Niemand ihrer Bekannten war zu sehen, und sie machte sich rasch auf den Weg.

Ihre Gedanken waren in Aufruhr. Der herrliche Nachmittag war eine Sache, eine wundervolle Sache … Aber diese Sache hatte ihr den Mann selbst auch nähergebracht. War es vielleicht diese Nähe, vor der er sich ängstigte? War das vielleicht der Grund für seine plötzliche Kälte? Konnte es sein, dass er überzeugt war, die körperliche Nähe könne in ihr die Saat für gefühlsmäßige Fallstricke legen?

Wenn es sich so verhielt, hatte er richtig gehandelt, als er sie davor warnte, dass er niemals über persönliche Angelegenheiten sprach und dass es in der Welt der Spione keinen Platz gab für private Gefühle. Aber trotzdem musste Greville solche Gefühle haben, auch wenn er nicht darüber sprach. Es war unmenschlich, keine emotionalen Regungen zu empfinden und seine persönliche Lebensgeschichte vollkommen auszulöschen.

Hatte seine einsame Kindheit ihm diese Wunden geschlagen? Warum war es ihm zur zweiten Natur geworden, seine Gefühle zu verstecken?

Lag es an den frühen Jahren seiner Kindheit, dass er sich für ein Leben in der einsamen, gefährlichen Welt der Agenten entschieden hatte?

Süße Fesseln der Liebe
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