5

Am nächsten Morgen saß Aurelia am Frühstückstisch, als Morecombe geräuschlos in der Tür erschien.

»Jemand will Sie sehen«, verkündete er.

»Um diese Zeit?« Aurelia warf einen Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims. Es war noch nicht einmal neun. »Wer ist es, Morecombe?«

Der ältliche Diener zuckte die Schultern. »Weiß nicht recht. Hat seinen Namen nicht gesagt. Ist aber schon mal hier gewesen … gestern oder so.«

Aurelia zog die Brauen hoch. Wenn so früh am Morgen Besuch erschien, musste ein Notfall vorliegen - oder zumindest eine dringende Angelegenheit zu erledigen sein. Aber in einem solchen Fall hätte der Besucher sein Anliegen erklärt. Also konnte es sich nur um einen einzigen Mann handeln. Und ein solch ungewöhnlicher Auftritt sah nur einem einzigen Mann ähnlich: Colonel Sir Greville Falconer.

Natürlich könnte sie sich weigern, ihn zu empfangen. Aber was würde ihr das nützen? Wenn er sie sehen wollte, dann würde er dafür sorgen, dass das auch geschah. Auf welchem Weg auch immer. Wieder einmal kribbelte ihre Haut, und ihr Herz schlug schneller.

Aurelia überlegte, ob sie den Colonel warten lassen sollte, während sie sich umzog. Ein ausgeblichenes Kleid, das wahrlich schon bessere Tage gesehen hatte, passte perfekt zu einem ruhigen Frühstück, bei dem man allein am Tisch saß - aber sicher nicht zum Empfang eines Besuchers. Doch dann fiel ihr ein, dass der Besuch bestimmt damit rechnete, sie in unpassender Kleidung anzutreffen, wenn er zu so unchristlicher Stunde auftauchte.

Aurelia nippte an ihrem Kaffee und stellte die Tasse vorsichtig auf die Untertasse zurück. »Führen Sie ihn herein, Morecombe.«

Morecombe schniefte missbilligend, schlurfte aber davon. Kaum eine Minute später betrat Greville Falconer das Morgenzimmer. Er war für einen Ausritt gekleidet; das zerzauste Haar und die frische Farbe auf den Wangen zeigten, dass er bereits einen Ritt unternommen hatte. In der Sekunde vor seiner Verbeugung glaubte Aurelia bemerkt zu haben, wie es in seinen dunkelgrauen Augen geblitzt hatte, ein Aufblitzen, das sie nicht recht deuten konnte. Amüsierte er sich? Oder lag es an etwas ganz anderem?

»Ma'am, ich bitte um Vergebung, dass ich Sie beim Frühstück störe. Es ist entschieden zu früh für eine morgendliche Aufwartung, aber ich hatte gehofft, Sie anzutreffen, bevor Sie ausreiten oder bevor anderer Besuch an Ihre Tür klopft.«

An seinem Tonfall konnte sie erkennen, dass er sich offenbar immer noch amüsierte, und das Glitzern in seinem Blick war ebenfalls noch nicht verschwunden. Aber Aurelia glaubte nicht mehr, dass es ausschließlich an seiner Belustigung lag. Wieder einmal rann ihr dieser seltsame Schauder über den Rücken. Greville hatte mit einer geradezu entwaffnenden Ehrlichkeit zugegeben, dass sein Besuch vollkommen unpassend war. Einen Moment lang war Aurelia unschlüssig, wie sie darauf reagieren sollte, entschied sich dann aber für einen nüchternen und sachlichen Umgang mit ihm.

»Nun, Sir Greville, das ist Ihnen offensichtlich gelungen. Darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten … oder vielleicht möchten Sie frühstücken? Ich könnte die Küche bitten, ein paar kräftigere Gerichte als nur Toast zu servieren. Ich fürchte, ich habe heute Morgen wenig Appetit.«

»Sehr freundlich, Lady Farnham. Ich muss gestehen, dass mir ein Räucherhering oder ein Lammkotelett oder ein wenig Schinken sehr recht wären. Ich bin seit früh um sechs mit dem Pferd unterwegs.« Er zog sich einen Stuhl heran und lächelte heiter, während er sich setzte.

Insgeheim hatte Aurelia gehofft, ihn mit ihrer ironisch gemeinten Einladung unmissverständlich darauf hinzuweisen, wie unpassend sein Besuch war. Eigentlich hatte sie dafür sorgen wollen, dass er sich unbehaglich fühlte; aber das war eine Kunst, die sie offenbar noch nicht beherrschte.

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, klingelte sie mit dem kleinen Silberglöckchen neben ihrem Teller, wartete und fragte sich, wie lange es wohl dauern würde, bis Morecombe auftauchte. Schließlich steckte Hester ihren Kopf durch die Tür. »Was kann ich Ihnen bringen, Ma'am?«

»Sir Greville hätte gern ein kleines Frühstück, Hester. Bitte fragen Sie Miss Ada oder Miss Mavis, ob sich etwas Passendes finden lässt.«

Das Mädchen starrte den Besuch an. »Selbstverständlich, Ma'am. Aber es ist Backtag, und Miss Ada ist mit dem Brotbacken beschäftigt. Miss Mavis brät Steaks und kocht Bohnenpastete.«

»Bitte fragen Sie nach, was sich machen lässt, Hester.« Aurelia schickte das Mädchen mit einem Lächeln aus dem Zimmer.

»Wenn ich geahnt hätte, dass es solche Umstände macht, hätte ich die Einladung niemals angenommen. Ich bin sicher, dass ein kleiner Toast vollkommen ausreichend ist.« Greville griff nach dem Toast, der wie kaltes Leder aussah.

»Oh, glauben Sie mir, Sir, ein Toast wird keinesfalls ausreichen«, verkündete Aurelia. »Wenn Sie schon den gewohnten Gang der Arbeit in meiner Küche stören, dann werden Sie auch essen, was man Ihnen auftischt, und Sie werden jeden Bissen genießen.«

Mit spöttischer Ergebenheit senkte er den Kopf. »Wie Sie meinen, Ma'am. Ich bin außerordentlich dankbar für Ihr Angebot und bedaure zutiefst, Ihnen solche Umstände zu machen.« In seinen Augen funkelte das Gelächter, und selbst Aurelia konnte nicht verbergen, wie sehr sie sich über das lächerliche Katz-und-Maus-Spiel amüsierte. Zwei Grübchen zeigten sich auf ihren Wangen, und ihre braunen Augen schimmerten hell.

Inzwischen machte Greville keinen Hehl mehr aus seiner Bewunderung. Das Haar fiel ihr locker und glatt über die Schultern. Nur wenige hartnäckige Locken hatten die Nacht überstanden und belebten die Frisur. Ihre Wangen hatten sich angenehm gerötet, und das saloppe Kleid verlieh ihr den Anschein zauberhafter Ungezwungenheit.

»Wo steckt die gesprächige Franny heute Morgen?«, hakte er lächelnd nach.

»Sie ist schon auf dem Weg zum Unterricht. Möchten Sie einen Kaffee? Oder lieber ein Ale?«

»Ich besitze nicht die Kühnheit, eine Vorliebe zu äußern, Ma'am. Ich bin mit dem zufrieden, was die wenigsten Umstände macht.«

Anstelle einer Antwort erhob Aurelia sich vom Tisch und ging zur Tür. »Fühlen Sie sich wie zu Hause, Colonel. Ich werde nicht lange brauchen.«

Ein paar Minuten später kehrte sie mit einem Krug Ale zurück und stellte ihn vor ihm auf den Tisch. »Unsere Ada wird Ihnen Schinken, Eier und gebratene Pilze servieren.«

Greville spürte die Rundungen ihrer Brust an seiner Schulter, als sie den Krug abstellte, roch den Duft ihrer Haut noch deutlicher, konnte den Blick von den widerspenstigen Löckchen an ihrem Ohr kaum abwenden. Es duftete nach einer Mischung aus Verbenen und Limonen. Seit vielen Wochen schon hatte er keine körperliche Nähe zu einer Frau genossen, und ihm war klar, dass Aurelia Farnham mit niemandem außer ihrem Mann so zwanglos gefrühstückt hatte. Trotzdem zeigte sie keinerlei Anzeichen eines Missvergnügens. Ganz im Gegenteil, sie spielte die perfekte Gastgeberin.

Entweder war sie eine begabte Heuchlerin, oder es machte ihr keinerlei Schwierigkeiten, sich an störende Umstände anzupassen. Wie dem auch sei, es waren zwei Begabungen, die sich wunderbar in seine Absichten fügen würden.

»Unsere Ada?«, hakte er nach.

»Morecombes Ehefrau und seine Schwägerin kümmern sich um den Haushalt, solange Prinz und Prinzessin Prokov mit ihrem eigenen Haushalt abwesend sind«, erklärte Aurelia und kehrte zu ihrem Platz auf der anderen Seite des Tisches zurück. »Sie gehören praktisch zur Einrichtung und haben das Recht, hier so lange zu arbeiten, wie sie möchten. Anschließend dürfen sie als Pensionäre den Rest ihres Lebens bei uns verbringen. Bis jetzt ziehen sie es vor, zu arbeiten … ihren Fähigkeiten entsprechend«, fügte sie lächelnd hinzu.

»Aber die Zwillinge … Ada und Mavis«, fuhr Aurelia fort, »sind ausgezeichnete Köchinnen. Und Morecombe … nun, Morecombe ist Morecombe. Außerdem hegen die drei eine tiefe Zuneigung zu den Kindern. Und umgekehrt. Nells und meines und …« Schulterzuckend brach sie ab und streckte die Hand nach der Kaffeekanne aus. »Und zu mir, zu Lady Bonham, zu Prinzessin Prokov.«

»Verstehe.« Greville war sich nicht sicher, ob er wirklich verstand. Er interessierte sich mehr für die Unbefangenheit, mit der sie ihn behandelte. Es machte fast den Eindruck, als hätte sie beschlossen, dass er eine feste Größe war, an die man sich zu gewöhnen hatte. Entweder verhielt es sich so - oder sie bereitete eine unliebsame Überraschung für ihn vor.

Hester trat mit einem beladenen Tablett ein und riss ihn aus seiner Grübelei. Mit großem Appetit machte er sich über das Frühstück her. Aurelia nippte an ihrem Kaffee und schaute ihm beim Essen zu, äußerlich vollkommen ruhig. Irgendetwas führte er mit ihr im Schilde. Noch hatte er kaum Worte darüber verloren, doch wie sollte sie sich sein Interesse an ihr sonst erklären? Zuerst war er wegen des Briefs, den Frederick an sie adressiert hatte, bei ihr aufgetaucht, und hatte ihr dann die Wahrheit über seinen Tod berichtet. Beide Aufträge waren nun erledigt. Warum also saß er schon wieder bei ihr am Tisch, tauchte unvermutet auf und benahm sich so, als würde irgendein verborgener Zweck ein festes Band zwischen ihnen knüpfen?

Greville schaute von seinem Teller auf und begegnete ihrem Blick. Nach einem Schluck Ale sagte er: »Es war eine interessante Information, die Sie mir gestern gegeben haben.«

Sie zog die Brauen hoch. »Oh. Was denn?«

»Dass Fredericks Schwester Viscount Bonham geheiratet hat. Das wusste ich nicht.«

Aurelia stützte sich mit dem Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Handfläche. »Frederick hat also nie über persönliche Angelegenheiten mit Ihnen gesprochen?«

»In meinem Beruf ist es nicht vernünftig, sich mit Kollegen über persönliche Dinge auszutauschen. Solche Informationen machen nur verwundbar.« Greville blieb zwar vollkommen ruhig, aber Aurelia war überzeugt, eine Spur Trostlosigkeit in seinem Blick entdeckt zu haben.

»Wie? Was soll das heißen?«

Er spießte einen Pilz auf die Gabel und kaute so langsam, als wollte er über eine Antwort nachdenken. »Unsere Arbeit kann nur unter äußerster Verschwiegenheit verrichtet werden, wie Sie sicher verstehen werden. Man ist die ganze Zeit vollkommen auf sich selbst gestellt. Niemand kann es sich leisten, etwas über unsere Arbeit zu erfahren, und diejenigen Männer und Frauen, die sie verrichten, legen den größten Wert darauf, dass tatsächlich kein Mensch etwas davon erfährt.«

»Für Sie scheint das allerdings nicht zu gelten, Colonel.«

Wieder glitzerte es in seinen grauen Augen, als er sie durchdringend musterte. »Frederick hat mir nicht viel von Ihnen erzählt, Aurelia. Vor allem hat er mir verschwiegen, dass Sie eine spitze Zunge haben.«

»Vermutlich wusste er es gar nicht.« Keine Sekunde wich sie seinem Blick aus. Es war, als würden sie einen Kampf mit dem Degen ausfechten, als wäre jeder Hieb und jeder Stich eine Angelegenheit auf Leben und Tod. »Denn in seiner Nähe gab es keinerlei Anlass, mit spitzer Zunge zu sprechen.«

Greville nickte zustimmend. »Ich nehme trotzdem an, dass er es geahnt hat.«

»Wie sollte er?«

»Er hat mir oft erklärt, dass tief in Ihnen viel mehr steckt, als an der Oberfläche erkennbar ist.«

Aurelia lächelte. »Verborgene Abgründe? Wie originell.«

Greville spürte, wie langsam die Wut in ihm hochkroch. »Wie schon gesagt, ich wusste nichts über Fredericks Schwester, außer der Tatsache, dass er eine Schwester hatte. Und ganz sicher hatte ich keine Ahnung, dass Sie so eng mit ihr befreundet sind.«

»Und das scheint Sie irgendwie zu berühren …« Sie gestikulierte, während sie nach den passenden Worten suchte. »Weil Sie irgendwelche Absichten hegen, wie ich vermuten darf? Oder was sonst auch immer hinter dieser Verfolgung stecken mag.«

Er stieß einen leisen Pfiff aus. »Verfolgung. Klingt ein bisschen übertrieben, finden Sie nicht?«

»Kaum. Erst stürmen Sie mit verheerenden Nachrichten auf mich ein, dann heften Sie sich mir an die Fersen, erschrecken mich zu Tode, verfolgen mich bis in das Wohnzimmer meiner Freunde und nisten sich zu guter Letzt zur unchristlichen Stunde in meinem Frühstückszimmer ein.« Sie zuckte die Schultern. »Können Sie mir verraten, wie ich Ihr Benehmen treffender beschreiben sollte, Colonel?«

»Ich wünschte, Sie würden mich beim Namen nennen. Schließlich plaudern wir recht vertraulich miteinander, sodass Formalitäten keine große Rolle spielen.«

»Ich bin der Meinung, dass Formalitäten stets die notwendige Distanz sichern, Colonel«, widersprach Aurelia, »und ich glaube gehört zu haben, dass es in Ihrem Beruf unvernünftig ist, persönliche Beziehungen zu entwickeln.«

»Touché, Ma'am«, gestand er trocken ein, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem Teller zuwandte und sich sorgsam ein Stück Schinken abschnitt.

Aurelia ließ es zu, dass sich das Schweigen ausbreitete. Zu ihrer Überraschung stellte sie fest, dass sie es sogar genoss. Denn sie war überzeugt, dass sie einen Moment lang die Oberhand gewonnen hatte, genau wie sie es am vergangenen Tag im Empfangszimmer der Bonhams geglaubt hatte. Nicht dass der Augenblick des Triumphs allzu lange gedauert hätte, ermahnte sie sich. Sie nippte an ihrem Kaffee, lehnte sich ein wenig in ihrem Stuhl zurück und ließ den Blick flüchtig über die Gazette schweifen, die neben ihrem Teller lag.

Amüsiert und zufrieden zugleich, beobachtete Greville sie verstohlen. Fredericks Witwe war eine außergewöhnliche Lady. Ihm war nicht verborgen geblieben, wie sehr sie das Wortgefecht genossen hatte, und er musste sich eingestehen, dass es ihm nicht anders ergangen war. Im Grunde genommen verfolgte er nur ein einziges Ziel, nämlich sie für seinen Auftrag zu gewinnen. Aber inzwischen machte er sich keine Illusionen mehr, welche Hindernisse er noch zu überwinden hatte.

Er legte Messer und Gabel beiseite, wischte sich den Mund an der Serviette ab und nahm noch einen Schluck Ale.

»Ich hoffe, Sie haben das Frühstück genossen, Sir«, bemerkte Aurelia und schaute von der Zeitung auf.

»Es war köstlich. Vielen Dank, Ma'am. Bitte richten Sie den Ladys in der Küche meinen herzlichen Dank aus … Ada, wenn ich mich recht erinnere.«

Sie nickte. »Ich werde nach Morecombe läuten, um Sie zur Tür zu begleiten.«

Greville lächelte über ihre schlagfertige Antwort. »Noch nicht, Ma'am. Ich muss noch mein Anliegen vorbringen, wie Sie es zu nennen pflegen.« Er legte die zerknüllte Serviette neben dem Teller ab. »Ich habe Ihnen viel zu sagen … Und ich hoffe, dass Sie mich anhören werden.«

Das hieß, dass die Zeit für ihre Spielchen offenbar vorüber war. Aurelia war sich nicht ganz sicher, ob sie mit ihrer Ausweichtaktik nicht selbst dafür gesorgt hatte, den Augenblick der Enthüllung hinauszuzögern. Oder hatte sie sich nur deshalb auf das Spiel eingelassen, um ihm zu beweisen, dass sie sich nicht ohne Weiteres manipulieren ließ?

»Sehr gut. Was haben Sie mir zu sagen?«

»Frederick war ein tapferer und engagierter Mann.« Greville hatte sein Benehmen geändert. Aus seinen Worten war keinerlei Unterton mehr herauszuhören, sein Verhalten schien aufrichtiger als zuvor, sein Blick direkter, und es machte den Eindruck, als sei er zutiefst entschlossen, sie von seiner Absicht zu überzeugen. »Er war der beste Partner, den ich je gehabt habe … und ich habe viele kennengelernt.«

»Ich wage zu behaupten, dass die Männer nie besonders lange überlebt haben.« Aurelia konnte sich die sarkastische Bemerkung nicht verkneifen.

»Nein«, gestand er umstandslos ein, »schließlich kämpfen wir gegen einen ausgezeichnet ausgebildeten, sehr gut versorgten und entschlossenen Feind. Bonaparte hat nur ein Ziel vor Augen: die Herrschaft über die gesamte bekannte Welt zu erringen. Verstehen Sie?«

»Mein Mann hat sein Leben in diesem Kampf gegeben.«

»Ja. Sein Tod war nicht vergeblich.«

Die Tränen glänzten in Aurelias Augen, und sie drehte den Kopf weg. »Ich frage mich, ob dieser Krieg eine andere Wendung genommen hätte, wenn er beschlossen hätte, sein Leben nicht aufs Spiel zu setzen. Er hätte seine Tochter kennengelernt … und sie ihn. Ich würde meinem Mann am Frühstückstisch gegenübersitzen und nicht …« Die Worte blieben ihr im Halse stecken. Ungeduldig gestikulierte sie, als wollte sie die aufschießenden Tränen verdrängen - und mit ihnen die Gefühle, die sie zum Weinen gebracht hatten.

Aurelia erhob sich vom Tisch, ging zum Fenster und schob den Vorhang zur Seite. Sie ließ den Blick über den kleinen ummauerten Garten schweifen. Die Bäume waren immer noch nicht grün geworden.

»Es ist unmöglich, all das zu ermessen, was ein Mann für seinen Einsatz geopfert hat«, bemerkte Greville leise. »Ich kann mich nur wiederholen: Fredericks Tod war nicht vergeblich. Er hat seinen Auftrag erfüllt, indem er das Dokument aus Portugal herausgeschafft hat. Und zwar direkt in die Hände des Kriegsministeriums. Das war eine Leistung von außerordentlicher Wichtigkeit. Der Geheimdienst kann es kaum verschmerzen, solche Männer zu verlieren.«

»Und was wollen Sie von mir?«

Sorgfältig wählte er seine Worte. »Sie haben Zugang zu gewissen Situationen … ganz besonders zu gewissen Leuten … ein Zugang, der mir sehr wichtig werden könnte.«

Aurelia wirbelte herum, umklammerte mit einer Hand immer noch den Vorhang. »Wie bitte?«

»Mein gegenwärtiger Auftrag verlangt, dass ich in London in solche Kreise eindringe, in denen Sie sich auf ganz natürliche Weise bewegen.« Seine Stimme klang vollkommen ruhig, sein Blick war so starr wie immer. »Es wäre mir eine große Hilfe, wenn Sie mir den Zutritt zu solchen Kreisen erleichtern würden.«

»Welcher Auftrag?« Aurelia umklammerte den Vorhang so fest, dass ihre Finger taub wurden.

»Ich werde es Ihnen sagen. Aber Sie müssen mir hoch und heilig versprechen, dass Sie niemandem … wirklich keiner Menschenseele verraten, was in diesem Zimmer gesprochen wurde.«

Sie schaute ihn an. »Ich habe Ihnen bereits mein Wort gegeben, dass ich Stillschweigen bewahren werde.«

»Sehr richtig. Aber in meinem Beruf ist es nicht selbstverständlich, jemandem Vertrauen zu schenken. Deshalb bitte ich Sie nochmals, das Andenken Ihres Ehemannes in Ehren zu halten. Und seine Wünsche. Er hätte es gewollt, dass Sie mich anhören … und er hätte sich darauf verlassen, dass Sie mir Ihr Vertrauen schenken.«

Aurelia wandte sich wieder zum Fenster, blickte durch die Scheibe nach unten, sah aber anstelle des Gartens nur Fredericks Worte, die er klar und deutlich auf das Briefpapier geschrieben hatte. Würde sie den Colonel betrügen, wäre es, als würde sie Frederick betrügen. Und sie würde den letzten Wunsch ihres Mannes missachten, wenn sie den Colonel fortschickte, ohne ihn angehört zu haben. »Bitte sprechen Sie weiter.«

»Wir vermuten, dass die Spanier ein Spionagenetzwerk in London aufbauen. Nach unserer Information wollen sie die oberen Ränge der Gesellschaft infiltrieren. Es liegt auf der Hand, dass wir umgekehrt versuchen, in ihr Netzwerk einzudringen.«

Es brachte Greville durcheinander, dass sie ihm den Rücken zukehrte, während er mit ihr sprach. Sie hatte sich gestrafft, hielt die Schultern gerade, aber ihre Haltung gab ihm nicht die Rückmeldung, die ihr Gesicht oder ihre Augen ihm geboten hätten. Trotzdem durfte er sie nicht bitten, sich zu ihm zu wenden. Und keinesfalls durfte er es in dieser heiklen Lage wagen, ihre schlanken Schultern zu ergreifen und sie zu sich umzudrehen - obwohl er genau das am liebsten getan hätte.

»Was hat das mit mir zu tun?«

»Es liegt viele Jahre zurück, dass ich in London gelebt und an Geselligkeiten teilgenommen habe. Ich bin außer Übung. Außerdem bin ich mir sicher, dass viele Gewohnheiten sich geändert haben, seit ich zuletzt hier gewesen bin. Jetzt muss ich mich wieder als Müßiggänger etablieren, wenn Sie es so nennen wollen. Zuerst muss ich mir einen Haushalt einrichten, gewissermaßen als Operationsbasis. Dann brauche ich jemanden, der in der Gesellschaft gut verankert ist und mir helfen kann, mich wie selbstverständlich in den richtigen Kreisen zu bewegen. Jemand, der mich daran hindert, unabsichtlich gegen ungeschriebene Gesetze zu verstoßen. Ich brauche jemanden, der mir zeigt, wie man sich mit den richtigen Leuten unterhält, der die passenden Fragen stellen kann und den richtigen Unterhaltungen lauscht. Und dieser Mensch muss die ganze Zeit ausnahmslos und zuverlässig als Fassade meiner eigenen Aktivitäten herhalten.«

Langsam drehte Aurelia sich ihm zu, umklammerte immer noch den Vorhang wie eine Schnur, die sie mit der Wirklichkeit verband, die sie kannte und begriff. »Und Sie sind überzeugt, dass ich bereit bin, Ihnen zu helfen?«

»Im Grunde genommen habe ich Ihnen ein Geschäft vorgeschlagen. Einen Handel.« Greville erhob sich, ging zum Kamin, stützte einen Arm auf den Sims und den Fuß auf den Rost. Sein Tonfall klang tatsächlich nüchtern und geschäftsmäßig. »Die Regierung hat Frederick natürlich bestens für seine Dienste entlohnt. Aber natürlich hatte er keine Gelegenheit, sein Gehalt abzurufen, solange er sich auf dem Kontinent aufgehalten hat. Das Geld soll nun Ihnen ausgezahlt werden. Außerdem kommt ein Preisgeld hinzu, das er sich verdiente, da er zwei französische Schiffe festgesetzt hat, als er noch in der Marine arbeitete. Es ist keine übermäßig hohe Summe, aber die Regierung ist willens, Ihnen wesentlich mehr zu zahlen, wenn Sie sich bereit erklären, für einen kurzen Zeitraum für unser Land zu arbeiten. Das Geld würde Ihnen in regelmäßigen Abständen auf ein privates Konto bei der Hoare's Bank ausgezahlt werden.« Sorgsam beobachtete er ihren Gesichtsausdruck.

Aurelia versuchte zu begreifen. Es kam ihr vor, als müsse sie einen äußerst komplizierten Knoten entwirren. »Sie müssen sich schon genauer ausdrücken«, entgegnete sie schließlich und lockerte ihren Griff um den Vorhang, »was wäre meine Aufgabe?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust, strich sich wie abwesend über die Ellbogen.

»Ausgezeichnete Frage. Zuerst würden wir den Eindruck erwecken, als würden wir ein tieferes Verständnis füreinander entwickeln, ein gewisses romantisches Interesse hegen. Daher würde es ganz natürlich scheinen, dass wir uns oft in Begleitung des anderen zeigen. Ich würde Sie zu einigen gesellschaftlichen Anlässen begleiten, zu denen ich üblicherweise nicht eingeladen würde. Und Sie würden mich einigen Leuten vorstellen, die ich auf anderem Wege nicht kennenlernen würde.«

»Das klingt nicht besonders anspruchsvoll«, bemerkte Aurelia bedächtig. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass man sich damit eine lebenslange Pension verdient.«

»Außerdem würden Sie mir in manchen Situationen Ihre Augen und Ohren leihen, wenn ich es so ausdrücken darf. Ich verrate Ihnen, welcher Information ich auf der Spur bin, und Sie setzen alles daran, sie auch zu bekommen.«

»Mit anderen Worten, ich soll spionieren.«

»Nicht mehr als andere Frauen es auch getan haben und noch viele es tun werden.« Das Feuer zischte, und eine glühende Kohle fiel zu Boden. Sorgsam trat er sie aus, bevor er fortfuhr. »An allen europäischen Höfen sind Frauen in diese weiche Spionage verstrickt. Es scheint, als wären Frauen oft besser platziert, um einem gewissen Wispern lauschen zu können. Einem Wispern, das für den Erfolg einer Mission entscheidend sein kann.«

Es gibt auch Frauen, die an vorderster Front kämpfen, grübelte Aurelia und dachte an Fredericks Brief. Er hatte geschrieben, dass sein Leben oftmals von solchen Frauen gerettet worden war. Erst gestern hatten Cornelia und sie sich gefragt, ob sie für den erfolgreichen Ausgang des Krieges auch genug unternahmen. Hatte sie nicht die Pflicht, dem Colonel zuzusagen, wenn sie auf so einfache Weise helfen konnte, das Leben auch nur eines einzigen Menschen zu retten? Noch nicht einmal ihren Alltag musste sie ändern, wenn man von ihrem Schweigegelübde absah.

Aber sie hatte ohnehin schon versprechen müssen, die Wahrheit über Fredericks Tod bis in ihr eigenes Grab zu bewahren. Das neuerliche Versprechen betraf im Grunde genommen dasselbe Geheimnis. Und wenn Harry sie um Hilfe gebeten hätte, hätte sie ohne das geringste Zögern zugestimmt. Allerdings stand sie zu Harry vollkommen anders als zu Greville Falconer.

»Ein romantisches Interesse?«, hakte Aurelia nach und suchte seinen Blick. »Und wohin soll das führen?«

»Vielleicht zu einer Verlobung in einigen Wochen«, Greville erwiderte ihren starren Blick. »Die Verlobung würde uns dafür den Weg frei machen, Zeit miteinander zu verbringen.«

»Und wo soll das enden? Wie lange sollen wir dieses Theater spielen?«

»Nachdem ich die entscheidenden Stellen im spanischen Netzwerk identifiziert habe«, erklärte Greville, »kann ich unsere Leute hoffentlich innerhalb weniger Wochen einschleusen … bis zum Ende der Saison, wenn es irgendwie möglich ist.«

»Ungefähr drei Monate also«, rechnete Aurelia und biss sich unwillkürlich auf die Unterlippe.

»Es könnte länger dauern. Aber ich hoffe es nicht.«

»Und dann? Was passiert mit unserer erfundenen Verlobung?« »Wenn der Auftrag erledigt ist, werde ich ohnehin wieder auf den Kontinent geschickt.« Er zuckte die Schultern. »Sie können sich darauf verlassen, dass ich Ihnen einen treffenden Anlass verschaffen werde, die Verlobung aufzulösen. Wenn wir es zeitlich passend einrichten, können wir dafür sorgen, dass das Verlöbnis endet, wenn die meisten Leute die Stadt verlassen haben. Und wenn die Gesellschaft am Ende des Sommers zurückkehrt, wird die Geschichte beinahe schon vergessen sein. Ich werde die Stadt verlassen haben, und Sie werden Ihr gegenwärtiges Einkommen mit Fredericks Pension auffüllen können.«

Aurelia drehte sich wieder zum Fenster. Sie wollte nicht Grevilles durchdringenden Blick auf sich spüren, während sie über seinen Vorschlag nachdachte. Tatsächlich wäre nur eine kleine Pension nötig, damit sie in der Stadt ihren eigenen bescheidenen Haushalt führen konnte … Natürlich musste sie an der richtigen Stelle sparen … Aber war sie darin nicht geübt? Und wenn ihre Freundinnen sich wunderten, wie sie sich ihr unabhängiges Leben finanzieren konnte, dann konnte sie immer noch ausweichend andeuten, dass Markby sich entschlossen hatte, ihr einen größeren Anteil aus dem Fonds zu zahlen. Oder dass eine entfernte Verwandte ihr eine unverhoffte Erbschaft vermacht hatte. Ja, es wäre möglich.

Wieder einmal ging ihr durch den Kopf, dass sie auf Anhieb zugestimmt hätte, wenn die Frage von Harry gekommen wäre. Aber Harrys Anwesenheit jagte ihr auch nicht einen Schauder nach dem anderen über den Rücken, und es pulsierte ihr auch keine merkwürdige Energie durch die Adern, die keinerlei Grund zu haben schien. Unwillkürlich wurde ihr bewusst, wie gefährlich es war, den Colonel in ihrer Nähe zu wissen; aber sie konnte unmöglich abschätzen, wie sich diese Gefahr in Zukunft entwickeln würde. Ganz bestimmt barg die Arbeit, um die er sie bat, nur wenig unmittelbare Gefahr in sich. Um ihres Vaterlandes willen sollte sie seiner Anfrage zustimmen. Aber irgendetwas hielt sie zurück.

Schließlich drehte Aurelia sich um, sodass sie ihn anschauen konnte, legte sich einen Finger auf die Lippen und sagte: »Ich brauche Zeit. Zeit zum Nachdenken.«

In seinem Blick blitzte Enttäuschung auf, bevor er seinen Platz am Kamin verließ. »Selbstverständlich. Aber ich möchte Sie bitten, nicht zu lange zu zögern. Zeit ist entscheidend. Außerdem müssen wir ein paar Vorbereitungen treffen.« Er nahm seinen Hut aus dem Sessel nahe der Tür und verbeugte sich. »Ich wünsche Ihnen einen guten Morgen, Aurelia.«

»Guten Morgen.« Die Tür schloss sich hinter ihm, und sie lauschte auf das Geräusch der Eingangstür, um sicherzugehen, dass er das Haus verlassen hatte. Wenige Minuten später verließ sie das Frühstückszimmer und eilte in ihr Schlafzimmer, wo sie sich ans Fenster setzte und Fredericks Brief las … wieder und wieder.

Süße Fesseln der Liebe
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