Langsam und methodisch grub Eve Informationen über Richter Thomas Werner aus.
Es hatte ein wenig gedauert, bis sie mit Hilfe der spärlichen Angaben von Stowe die Identität des Richters herausgefunden hatte, doch sie hatte in den Archiven der Nachrichtensender so lange die Meldungen des letzten Winters durchgesehen, bis sie auf die Anzeige von Werners Tod gestoßen war.
Den offiziellen Angaben zufolge war er in seinem Haus in einem exklusiven Vorort von East Washington einem Herzinfarkt erlegen. Beim Herausfinden der wahren Todesursache stand ihr das Datenschutzgesetz im Weg, das die Privatsphäre vor Übergriffen schützte, aber, leider Gottes, gleichzeitig ein großes Hindernis für ihre Ermittlungen war.
»Du dämlicher Hurensohn«, fauchte sie den Computer zornig an. »Ich bin Polizistin. Du hast meine Ausweisnummer, das Aktenzeichen und meine Stimme identifiziert. Was willst du denn noch mehr?«
»Irgendwelche Probleme, Lieutenant?«
Als Roarke ihr diese Frage stellte, hob sie nicht einmal den Kopf. »Diese bürokratischen Sesselfurzer in East Washington verlangen doch tatsächlich, dass ich meinen Antrag auf Akteneinsicht während der offiziellen Geschäftszeit stelle. Als ob sich die Polizei bei ihrer Arbeit nach derart bescheuerten Zeiten richten kann.«
»Vielleicht könnte ich …«
Schützend beugte sie sich über ihr Gerät und erklärte schnaubend: »Du willst doch nur angeben. Ich kenne dich.«
»Hältst du mich tatsächlich für ein derart kleines Licht?«
»Wenn du mir dadurch beweisen könntest, dass du mir überlegen bist, wärst du dir nicht einmal zu schade, dich zu einem Staubkorn zu reduzieren.«
»Um dir zu beweisen, welche Größe ich besitze, werde ich so tun, als hätte ich diese Beleidigung nicht gehört. Warum siehst du dir nicht die von mir erstellte Liste mit den Kleider- und den Uhrenverkäufen an, und ich gucke in der Zeit, ob ich dir nicht doch ein wenig helfen kann.«
IHREM ANTRAG UM EINSICHT IN DIE PERSONAL-UND KRANKENAKTE VON RICHTER THOMAS WERNER, meldete der Computer sanft, KANN ZUM JETZIGEN ZEITPUNKT NICHT STATTGEGEBEN WERDEN. BITTE WENDEN SIE SICH MIT IHREM ANLIEGEN MONTAGS BIS FREITAGS ZWISCHEN ACHT UHR MORGENS UND DREI UHR NACHMITTAGS AN DIE ENTSPRECHENDE BEHÖRDE. JEDER ANTRAG DIESER ART IST IN DREIFACHER AUSFÜHRUNG UND ZUSAMMEN MIT EINEM ENTSPRECHENDEN, LÜCKENLOS AUSGEFÜLLTEN ANTRAGSFORMULAR BEI DEM ZUSTÄNDIGEN BEAMTEN VORZULEGEN. UNVOLLSTÄNDIG AUSGEFÜLLTE ODER FEHLENDE FORMULARE KÖNNEN EINE VERZÖGERUNG BEI DER BEARBEITUNG ZUR FOLGE HABEN. BERÜCKSICHTIGT WERDEN NUR ANTRÄGE BEFUGTER PERSONEN. DIE BEFUGNIS ZUM STELLEN EINES SOLCHEN ANTRAGS IST DURCH ENTSPRECHENDE DOKUMENTE ZU BELEGEN. DER NORMALE BEARBEITUNGSZEITRAUM FÜR EINEN ANTRAG AUF AKTENEINSICHT BETRÄGT DREI ARBEITSTAGE.
WARNUNG!!!! JEDER VERSUCH, DIE AKTEN OHNE DIE ENTSPRECHENDE BEFUGNIS EINZUSEHEN, IST EIN VERSTOSS GEGEN BUNDESRECHT UND WIRD MIT EINER GELDSTRAFE VON MINDESTENS FÜNF-TAUSEND US-DOLLAR UND MÖGLICHERWEISE MIT EINER HAFTSTRAFE GEAHNDET.
»Das klingt nicht gerade freundlich«, murmelte Roarke missbilligend.
Ohne etwas zu erwidern, stand Eve auf, stapfte um ihren Schreibtisch herum und schnappte sich den Ausdruck, mit dem er bei ihr erschienen war. Dann nahm sie die Blätter, vorgeblich, um sich einen frischen Kaffee zu besorgen, mit hinüber in die Küche, und er nahm vor ihrem Computer Platz.
Sie wollte verdammt sein, wenn sie tatsächlich noch mit ansah, wie problemlos er die bürokratischen Hürden überwand.
Sie stand vor dem AutoChef, griff nach ihrem Becher und ging die Liste durch. Er hatte ganze Arbeit geleistet, stellte sie wohlwollend fest, und sämtliche Barverkäufe an einem bestimmten Tag im Februar markiert.
Es passt tatsächlich haargenau, dachte sie. Wieder einmal hatte Yost einen ausgedehnten Einkaufsbummel gemacht. Neue Aktentasche, sechs Paar neue Schuhe, neue Brieftasche, vier Ledergürtel, mehrere Paar Socken aus Seide oder Kaschmir. Außerdem hatte er in dem eleganten Laden, den Roarke bereits auf der Talbot’schen Diskette hatte identifizieren können, zwei maßgeschneiderte Oberhemden bestellt.
In nur zwei Geschäften – zwei! – hatte er über dreißigtausend Euro auf den Tisch gelegt.
Die Informationen des Londoner Cousins des Juweliers hatte Roarke ebenfalls hinzugefügt. Wie ihnen der kooperative Vetter ihres New Yorker Schmuckverkäufers bestätigt hatte, hatte Yost zwei Silberdrähte mit einer Länge von jeweils sechzig Zentimetern bei ihm gekauft und bar bezahlt.
Er hatte also kein Reservewerkzeug eingeplant, ging es ihr durch den Kopf. Dies war ein eindeutiges Zeichen seiner Arroganz. Er war sich völlig sicher, dass ihm bei seiner Arbeit kein Fehler unterlief.
Der geschätzten Todeszeit des Cornwall’schen Schmugglerpaars zufolge hatte er seinen Einkaufsbummel gerade einmal zwei, allerhöchstens drei Tage vor der Fahrt nach Süden und der Ermordung zweier Menschen getätigt.
Irgendwie hatte er nach Süden kommen müssen. Hatte er in London einen Wagen? Oder gar ein Haus? Oder hatte er in irgendeinem teuren Hotel genächtigt, ein Transportmittel gemietet oder die Reise mit der Bahn oder dem Flugzeug absolviert?
Da so gut wie auszuschließen war, dass er sich zu Fuß an seinen Einsatzort begeben hatte, würde es ihr ja vielleicht gelingen, rauszufinden, auf welche Weise er unterwegs gewesen war.
»Eine Frage«, sagte sie, als sie wieder ihr Arbeitszimmer betrat. »Hast du ein Haus in London?«
»Ja, aber ich benutze es so gut wie nie. Im Allgemeinen nehme ich lieber meine Suite im New Savoy. Der Service bei denen ist exzellent.«
»Hast du dort auch einen Wagen?«
»Zwei. Allerdings stehen sie meistens in der Garage.«
»Wie lange fährt man bis nach Cornwall?«
»Keine Ahnung. Ich bin noch nie mit dem Wagen dorthin gefahren.« Er wandte sich ihr zu. »Wenn ich so weit nach Süden wollte, würde ich wahrscheinlich meinen Hubschrauber benutzen, weil das schneller geht. Außer, ich wäre gerade in der Stimmung, mir die Landschaft anzusehen.«
»Und wenn du vermeiden wolltest aufzufallen?«
»Dann würde ich einen diskreten, komfortablen Wagen mieten.«
»Ich glaube, das hat er gemacht, denn wenn er mit dem Zug gefahren oder geflogen wäre, hätte er nach seiner Ankunft am Bahnhof oder Flughafen ein zusätzliches Transportmittel gebraucht. Das hätte die Sache unnötig verkompliziert. Und das New Savoy ist eine der besten Londoner Adressen?«
»Das will ich doch wohl hoffen.«
»Weil es dir gehört?«
»Mmm. Willst du sehen, was ich rausgefunden habe?«
»Werden wir jetzt verhaftet und mit einer Geldstrafe belegt?«
»Wir können darauf bestehen, dass man uns in nebeneinander liegenden Zellen unterbringt.«
»Haha, echt witzig.« Sie trat an den Schreibtisch, beugte sich über seine Schulter und spähte auf den Bildschirm. »Das hier bestätigt lediglich, dass er an einem Herzinfarkt gestorben ist. Wenn die Info der beiden FBI-LER richtig war, kann das noch nicht alles sein.«
»Um das herauszufinden, müssten wir die Akten des Krankenhauses einsehen.« Er schnalzte mit der Zunge, drehte leicht den Kopf und nagte sanft an ihrem Kiefer. »Und ich bin mir sicher, dass das ebenfalls verboten ist.«
»Wenn die FBI-ler sich die Sachen ansehen konnten, können wir das auch. Also finde bitte möglichst alles über diesen Fall heraus.«
»Ich liebe es, wenn du das sagst.« Er drückte einen Knopf und schon tauchten die gewünschten Daten auf dem Bildschirm auf.
»Das hast du schon gemacht, bevor ich dich darum gebeten habe.«
»Ich weiß nicht, wovon du sprichst. Ich habe lediglich in meiner Funktion als ziviler Berater die Anweisungen der Ermittlungsleiterin befolgt. Wenn du natürlich das Gefühl hast, du müsstest mich dafür bestrafen …«
Sie beugte sich ein wenig tiefer und biss ihm kurz ins Ohr.
»Oh, danke, Lieutenant.«
Noch während sie ein Lachen unterdrückte, wandte sie sich abermals den Informationen auf dem Bildschirm zu. »Gebrochene Nase, gebrochener Kiefer, ein herausgerissenes Auge, vier gebrochene Rippen, zwei gebrochene Finger, subdurale Verletzungen hier, innere Blutungen dort. Dafür, dass er angeblich an einem normalen Herzinfarkt gestorben ist, war bei ihm ganz schön viel kaputt.«
»Außerdem ist er vergewaltigt worden.«
»Und hat dabei garantiert noch gelebt. Die Todesursache war nämlich eindeutig die Strangulation. Dann hatte Stowe also Recht. Wenn wir schon dabei sind, lass uns gucken, ob auch das Mädchen zur Untersuchung und Behandlung dort eingeliefert worden ist. Guck unter demselben Datum und derselben Uhrzeit nach einem Mädchen unter achtzehn. Wahrscheinlich wurde es auf sexuelle Misshandlungen, einen möglichen Schock, kleinere Abschürfungen, ein paar blaue Flecke und eventuell auf Drogen untersucht.«
Er drückte ein paar Knöpfe und schnappte sich ihren Kaffee. »Was bringt es uns, wenn wir sie finden? Wir wissen doch schon jetzt, wer Werner ermordet hat.«
»Sie hatte mit der Sache zu tun. Vielleicht hat sie Werner ja sogar für Yost in die Falle gelockt.«
»Da ist sie«, murmelte Roarke, als die entsprechende Krankenakte auf dem Monitor erschien. »Mollie Newman, weiblich, sechzehn Jahre alt. Du hattest mit allem, was du vermutet hattest, bis hin zu den Spuren von Exotica und Zoner, die in ihrem Blut gefunden wurden, Recht.«
»Sie ist die Einzige, von der wir wissen, dass sie Yost bei der Arbeit gesehen und dieses Treffen überlebt hat.«
Zoner, dachte sie. Das hatte ihr bestimmt nicht der Richter eingeflößt. Was für einen Spaß hätte er noch mit ihr gehabt, wenn sie halb betäubt gewesen wäre, während er sich an ihr verging? Der Zoner stammte eindeutig von Yost.
»Ich will diese Mollie finden. Irgendwo müssen doch ihre Eltern oder ein Vormund aufgelistet sein … Freda Newman, Mutter. Lass sie uns überprüfen und gucken, ob uns das weiterbringt.«
»Lieutenant? Deine FBI-Freunde haben alle diese Informationen und wissen höchstwahrscheinlich längst, wo sie zu finden ist. Sie haben dir die Geschichte von dem toten Richter wahrscheinlich einzig zu dem Zweck gesteckt, weil dich das von deinen eigentlichen Ermittlungen vorübergehend ablenkt.«
»Das ist mir bewusst. Aber trotzdem möchte ich der Sache nachgehen. Und ich möchte wissen, wo in East Washington er den Draht gekauft hat. Für gewöhnlich holt er sich sein Werkzeug in der Nähe des Tatorts. Lass uns also schauen …« Als das Link auf ihrem Schreibtisch blinkte, brach sie ab. »Ja, Dallas.«
»Lieutenant, ich glaube, wir haben etwas auf den Pornoseiten im Internet entdeckt.«
»Peabody, was zum Teufel haben Sie denn da bloß an?«
Ihre Assistentin wurde rot und lugte an ihrem wild geblümten, bodenlangen Gewand herab. Sie hatte es aus Gründen der Bequemlichkeit bereits vor ein paar Wochen in Ians Kleiderschrank gehängt. »Hm, das ist eine Art Hausmantel.«
»Der Ihnen ausgezeichnet steht«, mischte sich Roarke in das Gespräch.
Peabody fing an zu strahlen, nestelte jedoch gleichzeitig verlegen an den leuchtend pinkfarbenen Aufschlägen herum. »Oh, tja, vielen Dank. Es ist einfach unheimlich bequem. Ich …«
»Ersparen Sie mir weitere Erklärungen«, schnauzte Eve. »Was haben Sie herausgefunden?«
»Ich bin unzählige Seiten durchgegangen und habe mir so viele Decknamen von Kunden angesehen, dass mir am Ende fast die Augen aus dem Kopf gekullert sind. Sie können sich nicht vorstellen, was für blöde Namen sich diese Kerle geben. Aber wie dem auch sei, Yosts Persönlichkeitsprofil zufolge ging ich davon aus, dass er irgendeinen klassischeren Namen wählen würde. Also habe ich schließlich Sterling eingegeben. Sie wissen schon, wie bei Sterling …«
»… Silber. Klar. Und, haben Sie ihn auf diese Art entdeckt?«
»Nun, wir …«
MacNab schob sie ein wenig unsanft an die Seite und baute sich selber vor dem Bildschirm auf. Er trug keinen Hausmantel, stellte Eve stirnrunzelnd fest, dafür lediglich ein Hemd.
»Das war der Moment, in dem es wirklich aufregend geworden ist. Ein paar dieser perversen Typen, vor allem diejenigen mit Familien oder in hohen Positionen, versuchen, ihre Identität zu verschleiern, damit niemand mitbekommt, dass ihnen einer abgeht, wenn sie sich irgendwelche Sexfilmchen reinziehen. Allerdings genügt es ihnen, einen falschen Namen anzugeben, damit ihnen niemand auf die Schliche kommt. Mehr Mühe machen sich die Besucher, vor allem der legalen Websites, für gewöhnlich nicht. Als wir jedoch Sterling eingegeben haben, spielte meine Kiste plötzlich verrückt. Der Kerl hat sich von Hongkong über Prag, von Prag über Chicago, von Chigaco über Vegas II und von dort noch über unzählige andere Orte in die Seiten eingeklinkt.«
»Und was soll das heißen?«
»Dass ich, vor allem mit meinem eigenen Computer hier zu Hause, unmöglich herausfinden kann, wo er tatsächlich sitzt. Also fahre ich gleich rüber aufs Revier. Die Geräte dort sind deutlich besser. Vielleicht komme ich von dort aus besser an ihn heran. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie lange das dauern wird, aber ich fange sofort mit der Suche an.«
»Nein, Sie haben bereits fünfzehn, sechzehn Stunden Arbeit hinter sich.« Auch wenn sie ziemlich sicher war, dass ein Teil seiner Betätigung nicht beruflicher Natur gewesen war. »Ich suche ihn von hier aus.«
»Äh, ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, Lieutenant, aber man muss ziemlich viel Ahnung von diesen Dingen haben, um auch nur den ersten Schutzwall zu durchdringen, geschweige denn weiterzukommen. Da muss man fast ein Magier auf dem Gebiet der Computertechnik sein.«
Roarke trat vor den Monitor des Links und meldete sich sanft: »McNab.«
»Oh. Tja, wenn Sie sich dieser Sache annehmen, super. Ich schicke Ihnen rüber, was wir bisher haben. Wie gesagt, nach allem, was wir bisher wissen, hat dieser Sterling ausschließlich erlaubte Webseiten besucht. Ein paar von ihnen sind hart an der Grenze, aber trotzdem legal. Mit den wirklich widerlichen Sachen scheint er nichts zu tun zu haben, aber wer weiß, was wir noch alles finden. Schließlich haben wir bisher gerade mal ein wenig an der Oberfläche gekratzt.«
»Das war gute Arbeit. Und jetzt machen Sie eine Pause.«
»Die haben wir bereits gemacht.« Unweigerlich verzog er das Gesicht zu einem Grinsen. »Und sind deshalb wieder voller Energie.«
»Danke für die Mitteilung«, antwortete Eve ihm trocken. »Schicken Sie die Daten an Roarkes Computer hier.«
Damit brach sie die Übertragung ab und wanderte, um ihre Gedanken zu sortieren, langsam hin und her.
»Die Suche nach dem Standort des Computers, von dem aus er die Seiten besucht hat, überlasse ich wohl besser dir. Morgen früh können dann Feeney und McNab wieder übernehmen, egal, wie weit du bis dahin gekommen bist. Ich weiß, dass du dich nebenher schließlich um jede Menge anderer Dinge kümmern musst.«
»Das werde ich schon schaffen.«
»Ich hätte dir vielleicht schon eher sagen sollen, dass für morgen Nachmittag eine Pressekonferenz wegen dieser Fälle anberaumt worden ist. Vielleicht willst du ja vorher selbst noch mit den Journalisten sprechen?«
»Ich habe bereits einen Termin mit ihnen vereinbart. Mach dir keine Sorgen um mich, Eve.«
»Wer sagt denn, dass ich das tue?« Durch die Tür seines Büros drang ein Piepsen an ihr Ohr. »Da kommen die Daten von McNab.«
Sie suchte nach dem Draht. Da sie inzwischen wusste, wo und wie sie dabei vorgehen musste, war es erstaunlich leicht. Einen Tag vor Werners ›Herzinfarkt‹ hatte Yost ein Stück Silberdraht von sechzig Zentimeter Länge gegen Barzahlung bei Silverworks, einem kleinen Laden mit einer Adresse in Georgetown, gekauft. Sie waren, so jubelte ihre Website, bereits seit fünfundsiebzig Jahren im Geschäft.
Sicher fände sie heraus, dass Yost an jenem Tag auch noch in ein paar anderen Geschäften gewesen war.
Dann rief sie die fünf besten Hotels in East Washington und Autoverleiher, die Fahrzeuge der Luxusklasse anzubieten hatten, auf ihrem Bildschirm auf, um zu prüfen, ob vielleicht der Name eines Gastes eines der Hotels dem eines Kunden eines Autoverleihers entsprach.
Während der Computer sich an die Arbeit machte, holte sie sich noch einen Kaffee und kam zu dem Ergebnis, dass ihre erschöpften Augen dringend eine kurze Ruhepause brauchten. Sie verstand beim besten Willen nicht, wie die Leute in der Abteilung für elektronische Ermittlungen es schafften, täglich stundenlang auf den Monitor zu starren, ohne jemals etwas anderes zu tun. Sie klappte die Lehne ihres Schlafsessels nach hinten, schloss die Augen und ging im Geiste die Arbeiten des nächsten Morgens durch.
Sie müsste die Juweliere, die Hotels und die Mietwagenfirmen in East Washington und London kontaktieren. Müsste eine Genehmigung beantragen, Freda und Mollie Newman ausfindig zu machen. Die sie nicht bekäme, aber darum bitten müsste sie auf jeden Fall. Müsste überlegen, was sie auf der verdammten Pressekonferenz enthüllen durfte. Dr. Mira fragen, wie weit sie mit dem Persönlichkeitsprofil gekommen war, und Feeney ansprechen wegen dem Draht.
Dann müsste sie rausfinden, wo Yost möglicherweise ein Haus gekauft oder gemietet hatte. Doch diese Suche überließe sie besser Roarke.
Außerdem müsste sie dringend ins Labor, um Dickie noch mal einzuheizen, und im Leichenschauhaus fragen, wann mit der Freigabe von Jonah Talbots Leichnam zu rechnen war.
Am besten ginge sie kurz zu Roarke, ob er bei der Suche nach Yosts Rechner weiterkam. Sie ginge gleich zu ihm hinüber, dachte sie, allerdings war sie, bevor sie sich erheben konnte, bereits eingeschlafen.
Um sie herum wurde es dunkel.
Zitternd lag sie da. Wie eine dünne Eisschicht lag die Furcht auf ihrem kleinen Körper und ließ ihre dünnen Knochen derart heftig klappern, dass das hohle, hilflose Geräusch beinahe zu hören war. Es gab nirgends ein Versteck. Es gab niemals ein Versteck. Nicht vor ihm.
Er kam. Sie hörte seine bedrohlich schweren Schritte vor der Tür. Sie blickte zum Fenster und überlegte, wie es wäre, spränge sie einfach aus dem Bett, stürzte sich durchs Glas und ließe sich fallen.
Freiheit durch den Tod.
Doch hatte sie dazu nicht den Mut. Trotz des Monsters, das in der nächsten Sekunde ins Zimmer kommen würde, hatte sie dazu nicht den Mut.
Sie war ein achtjähriges Kind.
Albtraum innerhalb eines Albtraums. Die Tür wurde jetzt geöffnet, sein dunkler Schatten hob sich von der Dunkelheit des Korridors kaum ab. Sie sah nur seine Umrisse, nicht aber sein Gesicht.
Daddy ist wieder da. Und er sieht dich, kleines Mädchen.
Bitte nicht. Bitte nicht.
Das Flehen hallte laut in ihrem Kopf, doch sie blieb stumm. Ihr Flehen hielte ihn nicht auf, sondern machte alles nur noch schlimmer. Falls das möglich war.
Jetzt krochen seine Hände unter der dünnen Decke über ihre kalte Haut. Es war noch schlimmer, noch viel grässlicher und schlimmer, wenn er sich die Zeit nahm, sie vorher zu berühren …
Sie kniff die Augen zu und versuchte, im Geiste zu entfliehen. An irgendeinen anderen Ort. Doch das ließ er nicht zu. Sie zu missbrauchen, war ihm nicht genug.
Also tat er ihr weh. Kniff ihr in die Arme und die Beine und wühlte seine Finger so tief in sie hinein, bis sie anfing zu schluchzen. Und als sie schluchzte, fing er an zu keuchen, und seine stinkende Erregung füllte die Luft im Zimmer an.
Was bist du für ein ungezogenes kleines Ding.
Sie versuchte verzweifelt, ihn von sich fortzuschieben und sich so klein zu machen, dass er keinen Platz in ihrem Innern fand. Jetzt fing sie an zu flehen, zu verängstigt und panisch, um es zu unterdrücken. Und stieß, als er sich in sie schob und mit aller Kraft in sie hineinrammte, einen langen, gebrochenen Schrei des Schmerzes und der Todesangst aus.
Ihre tränenverquollenen Augen flogen auf. Sie konnte nichts dagegen tun. Und, vor Entsetzen starr, musste sie mit ansehen, wie sich das Gesicht ihres Vaters veränderte, wie seine Züge schmolzen und sich neu zusammensetzten.
Bis es Yost war, der sie vergewaltigte, Yost, der einen dünnen Silberdraht um ihren Hals schlang und langsam daran zog, bis sie kaum noch Luft bekam. Obwohl sie jetzt kein Kind mehr war, sondern eine erwachsene Frau, eine Polizistin, konnte sie nichts dagegen tun.
Keine Luft. Kein Sauerstoff. Dort, wo der hell glänzende Draht in ihr zartes Fleisch schnitt, rann ihr kaltes Blut über die Haut. In ihrem Kopf erklang ein wildes Rauschen, ein dunkles, dumpfes Tosen, als schrie um sie herum die ganze Welt.
Sie fuchtelte mit ihren Armen, benutzte ihre Fäuste, ihre Nägel, ihre Zähne, doch sein Gewicht hielt sie an ihrem Platz.
»Eve, komm zurück. Eve.«
Jetzt war es Roarke, der sie in seinen Armen hielt, doch war sie noch gefangen in dem grauenhaften Traum. Das zeigten ihre gehetzten, blinden Augen, das wilde Pochen ihres Herzens und ihre erschreckend kalte Haut.
Ein ums andere Mal rief er sie bei ihrem Namen und zog sie, um ihrem Körper neue Wärme einzuhauchen, eng an seine Brust. Ihre Panik schnürte ihm die Kehle zu, und genau wie sie bekam auch er nur noch mit größter Mühe Luft.
Keuchend, als müsste sie ertrinken, versuchte sie ihn abzuschütteln, und verzweifelt, wie um sie wiederzubeleben, presste er seine Lippen auf ihren halb offenen Mund.
Endlich wurde ihr Körper schlaff.
»Es ist alles gut, du bist in Sicherheit.« Er wiegte sie sanft in seinen Armen und tröstete dadurch auch gleichzeitig sich selbst. »Du bist zu Hause, Baby, und du bist eiskalt.« Aber wenn er eine Decke holen wollte, müsste er sie kurz verlassen, und das war ihm unmöglich. »Halt dich an mir fest.«
»Ich bin okay. Es ist alles in Ordnung.« Was ganz und gar nicht stimmte.
»Halt dich trotzdem an mir fest. Ich brauche deine Nähe.«
Unsicher schlang sie ihm ihre Arme um den Hals und schmiegte ihren Kopf an seine Schulter. »Ich habe dich gerochen, und dann habe ich dich gehört. Aber ich konnte dich nicht finden.«
»Ich bin hier bei dir.« Jedes Mal, wenn sie in ihren Träumen dem Grauen ihrer Kindheit ausgeliefert war, zerriss es ihm beinahe das Herz. »Ich bin ganz nah«, murmelte er und presste seine Lippen auf ihr Haar. »Das muss ein ganz besonders schlimmer Traum gewesen sein.«
»Ja, entsetzlich. Aber jetzt ist er vorbei.« Sie beugte sich, soweit er es gestattete, zurück und betrachtete sein Gesicht. Seine dunklen Augen zeigten deutlich, wie erschüttert er war. »Auch für dich scheint es besonders schlimm gewesen zu sein.«
»Entsetzlich. Eve.« Er zog sie erneut an seine Brust und blieb, Herz an Herz, reglos mit ihr sitzen, bis das schlimmste Grauen halbwegs abgeebbt war. »Ich werde dir einen Schluck Wasser holen.«
»Danke.«
Als er in die Küche ging, vergrub sie ihren Kopf zwischen den Händen. Sie würde es überstehen, ermahnte sie sich. Sie würde es wie üblich überstehen. Sie würde den bitteren Geschmack der Angst hinunterschlucken, mit ihrer Arbeit fortfahren und sich daran erinnern, dass sie sich verwandelt hatte und kein Opfer mehr war.
Arbeit. Sie hob den Kopf und atmete tief durch. Dort hatte sie alles unter Kontrolle. Dort hatte sie Macht.
Als er mit dem Wasser zurückkam und sich zu ihren Füßen auf den Boden hockte, hatte sie sich weit genug beruhigt, um trotz der Dankbarkeit, die sie empfand, argwöhnisch zu fragen: »Hast du etwa ein Beruhigungsmittel in das Wasser getan?«
»Trink.«
»Verdammt, Roarke.«
»Verdammt, Eve«, antwortete er milde und trank selbst die Hälfte des mitgebrachten Wassers aus. »Trink wenigstens den Rest.«
Stirnrunzelnd hob sie das Glas an ihren Mund und blickte ihn über den Rand hinweg forschend an. Er sah erschöpft aus, was bei ihm höchst selten war.
Er brauchte keine Arbeit, sondern Ruhe, wurde ihr bewusst. Aber selbst wenn sie die Arbeit bis zum nächsten Morgen liegen lassen würde, würde er sich keine Ruhe gönnen, sondern warten, bis sie eingeschlafen wäre, und nähme dann erneut vor dem Computer Platz.
Doch war er nicht der Einzige, der wusste, welche Knöpfe er drücken musste, und so stellte sie das leere Glas entschieden fort. »Bist du jetzt zufrieden?«
»Mehr oder weniger. Du solltest bis morgen Pause machen und ein paar Stunden schlafen.«
Perfekt, dachte sie, nickte jedoch möglichst widerstrebend mit dem Kopf. »Ich schätze, du hast Recht. Ich kann mich sowieso nicht mehr konzentrieren, aber …«
»Aber was?«
»Würdest du vielleicht noch etwas bei mir bleiben?« Sie griff nach seiner Hand. »Ich weiß, es ist dämlich, aber …«
»Nein, das ist es nicht.« Er schob sich zu ihr auf den Sessel und strich ihr, während sie die Arme um seinen Körper schlang, sanft über das Haar. »Und jetzt schaltest du ein paar Stunden ab.«
»Ja.« Und damit auch er Gelegenheit zum Abschalten bekäme, ließe sie ihn bis zum nächsten Morgen nicht mehr los. »Geh nicht weg, nein?«
»Nein.«
Und in der beruhigenden Gewissheit, dass er sie nicht verlassen und auf diese Weise ebenfalls ein wenig Ruhe finden würde, schloss sie ihre Augen und versank in einem erholsamen, traumlosen Schlaf.
Als die Dunkelheit allmählich weicher wurde, schlug sie, die Arme nach wie vor um seinen Leib geschlungen, die Augen wieder auf, blieb jedoch still liegen, um die seltene Gelegenheit zu nutzen, Roarke beim Schlafen zu beobachten.
Wie so häufig wogte ohne Vorwarnung glühende Liebe in ihr auf. Nicht das inzwischen gewohnte, ruhige, gleichmäßige Gefühl, sondern eine Mischung wilder, überbordender Empfindungen, die so eng miteinander verwoben waren, dass es keine Trennung mehr zwischen ihnen gab.
Freude, Verwirrung, Besitzerstolz, Lust und eine gewisse Selbstzufriedenheit kämpften mit der Verwunderung darüber, dass sie die Frau und die Geliebte eines solchen Mannes war.
Er war so wunderschön, dass sie niemals ganz begreifen würde, wie es zu einer derart innigen Beziehung zwischen ihnen gekommen war.
Er hatte sie gewollt. Von allen Frauen auf der Welt hatte er sie gewollt. Und nicht nur gewollt, dachte sie mit einem breiten Grinsen. Verfolgt, gefordert und genommen. Selbst wenn es für sie kein Problem war zuzugeben, wie aufregend all das bereits für sie gewesen war, hatte er auch noch den nächsten Schritt gemacht.
Hatte sie mit beiden Händen festgehalten, damit sie nie mehr ging.
Sie hatte nicht geglaubt, dass jemals irgendjemand dazu willens oder in der Lage wäre. Hatte nie geglaubt, dass sie genügend in sich barg, um alle diese Dinge zu erwidern.
Und jetzt lagen sie beide, die Polizistin und der Milliardär, wie zwei überarbeitete kleine Angestellte zusammengequetscht auf dem Liegesessel in einem Büro.
Es war schlichtweg fantastisch.
Sie grinste immer noch bis über beide Ohren, als er seine wunderbaren Augen aufschlug, sie mit einem leuchtend blauen, wachen, leicht amüsierten Blick bedachte und freundlich sagte: »Guten Morgen, Lieutenant.«
»Ich werde nie begreifen, wie du gleich nach dem Wachwerden, ohne auch nur eine Tasse Kaffee getrunken zu haben, so munter wirken kannst.«
»Wirklich ärgerlich, nicht wahr?«
»Allerdings.« Er war warm, er war wunderschön, und er gehörte ihr. Am liebsten hätte sie ihn wie einen Teller süßer Sahne abgeschleckt. Und warum eigentlich nicht?, ging es ihr durch den Kopf. Warum nicht?
»Aber da du jetzt wach bist …« Sie glitt mit einer Hand an seinem Leib hinunter und merkte, dass er nicht nur hart, sondern offenbar mehr als bereit für dieses kleine Spielchen war. »… und zwar absolut wach, habe ich eine kleine Aufgabe für dich.«
»Und die wäre?« Ihr Mund bahnte sich bereits einen Weg durch sein Gesicht, und zu seiner Überraschung – und vor allem Freude – nahmen ihre Finger gleichzeitig voller Eifer ihre Arbeit auf. Während sie an seiner Kehle leckte, umfasste sie seine Männlichkeit alles andere als spielerisch mit ihrer rechten Hand.
»Tja, dann«, stieß er heiser aus. »Was tut man nicht alles für die Polizei. Meine Güte!« Er hatte das Gefühl, als quollen ihm die Augen aus dem Kopf. »Bin ich schon wieder im Dienst?«
Einige Zeit später kam sie locker und geschmeidig mit zwei Bechern Kaffee aus der Küche und sah verblüfft, dass Roarke immer noch im Halbdunkel des anbrechenden Morgens auf der Liege lungerte. Er hatte Galahad im Schoß und strich ihm mit einem versonnenen Lächeln über das seidige Fell.
»Ich glaube, dass du für einen zivilen Polizeiberater inzwischen lange genug gefaulenzt hast.«
»Mmm-hmm.« Er nahm den ihm angebotenen Becher dankend an. »Früh schlafen, morgendlicher Sex, und jetzt noch Kaffee. Du benimmst dich fast so fürsorglich wie eine richtige Ehefrau. Willst du mich etwa verhätscheln?«
»He, wenn du keinen Kaffee willst, trinke ich deinen Becher auch noch. Wäre es so schlimm, wenn ich dich verhätscheln würde? Aber die Bemerkung von der Fürsorglichkeit hättest du dir auf alle Fälle sparen können. Du weißt, dass sie mich auf die Palme bringt.«
»Ich nehme den Kaffee sogar gerne, vielen Dank. Es rührt mich, und ich bin dir wirklich dankbar, weil du mich verhätschelst. Und dich ein bisschen zu ärgern macht mir manchmal einfach Spaß.«
»Na super. Aber nun, da das alles geklärt ist, schwing endlich deinen Hintern, damit wir uns allmählich wieder an die Arbeit machen können«, erwiderte sie schnaubend und bedachte ihn mit einem, wie sie hoffte, äußerst herablassenden Blick.