Eve war freudig überrascht, als die Kiste sie ohne zu mucken zu ihrem ersten Ziel fuhr.
Sie war bereits im Paradise gewesen, bei den Ermittlungen zu einem anderen Mordfall. Einem Fall, in den Roarke ebenfalls involviert gewesen war. Dem Fall, der sie zusammengeführt hatte, ging es ihr durch den Kopf.
Es war über ein Jahr her, seit sie zum letzten Mal in dem Salon gewesen war, doch er wirkte noch genauso opulent. Die sanfte, beruhigende Musik, die im Hintergrund erklang, mischte sich harmonisch mit dem Plätschern kleiner Wasserfälle, und große Sträuße langstieliger frischer Blumen erfüllten die Luft mit einem süßen Duft.
Die Kundinnen und Kunden saßen in dem prachtvoll-eleganten Wartebereich, tranken echten Kaffee aus winzig kleinen Tässchen oder hielten frühlingsgrüne Gläser mit frisch gepresstem Fruchtsaft oder Wasser in der Hand. Hinter dem Empfangstisch saß dieselbe vollbusige Frau in demselben hautengen, kurzen, leuchtend roten Kleid, von der Eve auch damals abgefertigt worden war.
Ihre Haare waren anders, registrierte Eve. Statt wie damals rabenschwarz waren sie jetzt ostereierrosa und quollen dicht gelockt aus einem hohen Kegel, der genau in der Mitte ihres Kopfes saß.
Statt freudiges Erkennen drückte ihr Gesicht beim Anblick von Eves abgetragener Jacke, den verkratzten Stiefeln und dem wild zerzausten Haar Enttäuschung, wenn nicht sogar leichten Ärger aus.
»Tut mir Leid, aber ohne vorherige Terminabsprache können wir im Paradise niemanden bedienen, und wie ich fürchte, sind all unsere Berater in den nächsten acht Monaten zur Gänze ausgebucht. Dürfte ich Ihnen also vorschlagen, es woanders zu versuchen?«
Eve lehnte sich lässig gegen den hohen Tresen, stellte einen Stiefel vor den anderen und meinte: »Wissen Sie etwa nicht mehr, wer ich bin, Denise? Oh, das tut mir weh. Warten Sie! Ich wette, daran können Sie sich erinnern.« Heiter lächelnd zog Eve ihren Dienstausweis hervor und hielt ihn unter die teuer geformte Nase der arroganten jungen Frau.
»Oh. Oh. Nicht schon wieder.« Doch noch während sie dies sagte, fiel ihr ein, mit wem ihr Gegenüber inzwischen verheiratet war. »Ich meine, ich bitte um Verzeihung, Miss, ich -«
»Miss Lieutenant, wenn ich bitten darf.«
»Natürlich.« Denise stieß ein perlendes Lachen aus. »Ich fürchte, ich war kurzfristig abgelenkt. Wir haben heute alle Hände voll zu tun. Aber natürlich nicht so viel, als dass wir Sie nicht dazwischennehmen könnten. Was können wir für Sie tun?«
»Wo ist Ihre Verkaufsabteilung?«
»Ich führe Sie gerne hin. Geht es Ihnen um etwas Bestimmtes oder möchten Sie nur etwas stöbern? Unsere Berater werden Ihnen dabei gerne -«
»Zeigen Sie mir einfach, wo es langgeht, Denise, und schicken Sie den Verkaufsleiter zu mir!«
»Sofort. Wenn Sie mir bitte folgen würden. Kann ich Ihnen und Ihrer Begleiterin eine Erfrischung bringen?«
Da sie wusste, dass Eve das Angebot mal wieder ablehnen würde, antwortete Peabody mit der gebotenen Eile: »Ich hätte gerne einen von diesen sprudeligen pinkfarbenen Drinks«, fügte jedoch, als sie die gefurchte Miene ihrer Vorgesetzten sah, pflichtbewusst hinzu: »Bitte ohne Alkohol.«
»Ich werde Ihnen sofort ein Glas bringen lassen«, flötete Denise.
Die Verkaufsabteilung lag eine Etage höher hinter einer Oase mit einem kleinen, palmengesäumten, leuchtend blauen Teich.
Als die Frauen von dem silbrig schimmernden Gleitband stiegen, glitten mit einem leisen Klingeln die breiten Glastüren zur Seite, hinter der fächerförmig eine Unzahl jeweils einer bestimmten Produktreihe vorbehaltener, langer Tische und Regale angeordnet war.
Die Angestellten trugen in diesem Bereich weich fließende rote Mäntel über weißen Catsuits, in denen die Perfektion ihrer Figuren vorteilhaft zur Geltung kam. Auf jedem Tresen stand ein kleiner Bildschirm, auf dem man simultane Demonstrationen von Hautpflege, Körperstraffung, Entspannungstechniken und Frisuren für den Notfall geboten bekam.
Wobei natürlich allein die vor Ort angebotenen Produkte zur Anwendung gelangten.
»Bitte, sehen Sie sich um, während ich Martin hole. Er leitet die Verkaufsabteilung unseres Salons.«
»Mann, gucken Sie sich bloß all diese tollen Sachen an.« Peabody näherte sich vorsichtig einem Tisch mit Hauptpflegeprodukten, auf dem eine ganze Sammlung gläserner Flakons, goldener Tuben und mit roten Deckeln versehener Tiegel angeordnet war. »Ich bin sicher, dass man in einem Luxussalon wie diesem jede Menge Gratisproben kriegt.«
»Behalten Sie die Hände in den Taschen und konzentrieren Sie sich auf die Arbeit.«
»Aber wenn es doch nichts kostet -«
»Gleichzeitig wird man Sie überreden, das Gehalt der kommenden sechs Monate für irgendwelchen Schnickschnack auszugeben.« Hier riecht es wie in einem Dschungel, war alles, was Eve denken konnte. Heiß, viel zu süß und geradezu gespenstisch sinnlich. »Das ist doch die älteste Masche der Welt.«
»Ich werde bestimmt nichts kaufen.« Peabody entdeckte einen Tisch mit Schminke in allen erdenklichen Farben und dachte voller Sehnsucht: Mit so was haben Mädchen schon immer gern gespielt.
All die Farben, all die Düfte, all die Eleganz waren jedoch nichts im Vergleich zu Martin.
Mit laut klappernden, leuchtend roten Zehn-Zentimeter-Absätzen eilte Denise rückwärts – ähnlich einer Magd vor einem König. Zwar machte sie keinen Knicks, dachte aber hundertprozentig darüber nach, ehe sie wieder durch die Glastüren in ihr eigenes Reich entschwand.
In einem bodenlangen, saphirgrünen Umhang kam der große Meister angeschwebt. Er hatte einen langen, durchtrainierten Körper, und seine Brustmuskulatur, die Armmuskeln und sein Gemächt traten deutlich unter seinem metallicfarbenen Einteiler hervor.
Sein Haar, so silbern wie der Anzug, hing ihm in kompliziert geflochtenen Zöpfen auf den Rücken, wo ein saphirgrünes Band die Pracht zusammenhielt.
Er verzog sein scharfkantiges Gesicht zu einem warmen Lächeln und reichte Eve eine dicht beringte Hand.
»Lieutenant Dallas.« Er hatte einen verführerischen französischen Akzent, und ehe sie ihn daran hindern konnte, hob er ihre Hand an seinen Mund und küsste einen Zentimeter über ihren Knöcheln elegant die Luft. »Es ist uns eine Ehre, Sie im Paradise willkommen heißen zu dürfen. Wie können wir Ihnen dienen?«
»Ich bin auf der Suche nach einem Mann.«
»Cherie, sind wir das nicht alle?«
»Haha. Einem ganz bestimmten Mann«, erklärte sie, gegen ihren Willen amüsiert, zog ein Bild von Yost aus ihrer Aktentasche und hielt es Martin hin.
»Nun.« Martin betrachtete das Foto. »Attraktiv auf eine etwas brutale Art. Meiner Meinung nach passt der ›Ehrenwerte Gentleman‹ weder zu seinen Gesichtszügen noch zu seinem Stil. Man hätte ihn vorsichtig von dem Kauf abbringen sollen.«
»Dann erkennen Sie die Perücke also?«
»Die Haaralternative«, verbesserte er mit sanft leuchtenden Augen. »Ja. Aufgrund der grauen Farbe nicht gerade eins der beliebtesten Modelle, weil die meisten Menschen, die eine Alternative suchen, vermeiden möchten, älter auszusehen als unbedingt erforderlich. Darf ich fragen, weshalb Sie davon ausgehen, dass der Mann möglicherweise einer von unseren Klienten ist?«
»Er hat die Haaralternative zusammen mit einer ganzen Reihe anderer Produkte hier gekauft. Am dritten Mai. Hat alles bar bezahlt. Ich würde gern mit demoder derjenigen sprechen, der oder die für den Verkauf zuständig gewesen ist.«
»Hmmmm, haben Sie eine Liste der gekauften Produkte dabei?«
Eve zog sie aus der Tasche und drückte sie ihm in die Hand.
»Ziemlich viel für einen Barverkauf. Aber der ›Tolle Hengst‹ passt wesentlich besser zu seinem Erscheinungsbild, finden Sie nicht ebenfalls? Eine Sekunde.«
Er ritt davon und zeigte Bild und Liste einer brünetten, jungen Frau, die hinter dem Tisch mit den Hauptpflegeprodukten stand. Sie runzelte die Stirn, sah sich beides an, nickte und setzte sich dann rasch in Bewegung.
»Wir glauben, dass wir vielleicht wissen, wer sich um diesen Klienten gekümmert hat. Hätten Sie für das Gespräch gern einen separaten Raum?«
»Nein, es genügt, wenn ich mich hier kurz mit der Person unterhalten kann. Und Sie selbst haben ihn nicht wiedererkannt?«
»Nein, aber ich habe nur dann direkt Kontakt zu unseren Klienten, wenn es irgendein Problem gibt. Oder wenn es, wie Sie selbst, besonders wichtige Klienten sind. Ah, da kommt Letta ja schon. Letta, mon cœur, ich hoffe, Sie werden Lieutenant Dallas helfen.«
»Sicher.« In ihrer Stimme schwang gerade genug Mittlerer Westen, als dass Martin bei ihrem Klang schmerzlich berührt zusammenfuhr.
»Sie haben also den Mann auf diesem Bild bedient?«, fragte Eve und klopfte mit dem Zeigefinger auf das Foto, das das junge Mädchen in den Händen hielt.
»Ja. Ich bin mir so gut wie sicher. Auf dem Bild sehen die Augen und der Mund ein bisschen anders aus, aber die grundlegende Struktur seines Gesichts ist unverändert. Und die Produktliste stimmt auch.«
»Haben Sie ihn vor dem Tag, an dem er diese Einkäufe getätigt hat, schon öfter hier gesehen?«
»Tja … ich glaube, er war vorher schon mal hier. Nur hatte er damals eine andere Perücke – Haaralternative auf«, verbesserte sie sich und streifte Martin mit einem entschuldigenden Blick. »Sein Teint und seine Augenfarbe waren damals ebenfalls anders. Er hat anscheinend Spaß an wechselnden Looks. Das haben viele unserer Kunden – Klienten«, korrigierte sie und schüttelte über sich selbst den Kopf. »Dafür sind wir hier bei Paradise ja schließlich da. Durch die Veränderung des Aussehens ändert man ebenso seine Stimmung und -«
»Ersparen Sie uns ein Verkaufsgespräch, Letta, und erzählen Sie mir lieber von dem Tag, an dem er die Sachen von der Liste bei Ihnen gekauft hat.«
»Okay. Ich meine, gerne, Madam. Ich glaube, es war früher Nachmittag, weil da noch einige der Leute rumspazierten, die normalerweise ihre Mittagspause dazu nutzen. Ich hatte eine Menge Zeit mit einer Frau verbracht, die sich alles angesehen hat, was wir in Blond auf Lager haben. Ich meine, wirklich alles. Und am Ende hat sie dann mit dem tollen Satz, sie müsste es sich noch mal überlegen, ohne etwas zu kaufen den Abgang gemacht.«
Sie rollte mit ihren purpurroten Augen, begegnete dabei Martins Blick, zuckte schuldbewusst zusammen und entspannte sich erst wieder, als sie ihn mitfühlend lächeln sah. »Als also dieser Klient an meinen Tresen kam und darum bat, sich den ›Ehrenwerten Gentleman‹ ansehen zu dürfen, und zwar in schwarz-grau meliert, war ich regelrecht erleichtert. Er wusste genau, was er wollte, auch wenn es meiner Meinung nach nicht ganz das Richtige für ihn war.«
»Und warum nicht?«
»Er war ein großer, grobknochiger Typ – Herr, wollte ich sagen – mit einem ziemlich kantigen Kopf. Bereits beim ersten Blick auf ihn habe ich gedacht, dass er irgendwas mit seinen Händen macht, Sie wissen schon, Handwerker oder vielleicht Künstler oder so. Der ›Ehrenwerte Gentleman‹ war für ihn einfach viel zu elegant. Aber er war total auf das Modell fixiert. Hat es selber aufgesetzt und schien genau zu wissen, wie man so was macht.«
»Was für Haare hatte er? Ich meine, wie sah er ohne Perücke aus?«
»Oh, er war völlig kahl … Er hatte einen so genannten natürlichen Skalp. Und er sah sehr gesund aus. Hatte eine schöne Farbe und wirkte wie frisch poliert. Ich habe echt keine Ahnung, weshalb er den verdecken wollte. Dann hat er den ›Tollen Hengst‹ im Schaukasten gesehen und gefragt, ob er auch den mal ausprobieren kann. Der passte schon viel besser. Ich fand, dass er damit aussah wie ein General, und als ich ihm das sagte, sah er sehr zufrieden aus. Er hat sogar gelächelt, und sein Lächeln wirkte warm und nett. Außerdem war er sehr höflich. Er hat Fräulein Letta und bitte und danke zu mir gesagt. Das hat man nicht oft.«
Sie machte eine kurze Pause, während derer sie stirnrunzelnd unter die Decke sah. »Dann hat er gesagt, dass er ein bisschen ›Jugend‹ kaufen wollte. Dabei hat er gelacht, weil es einfach witzig klingt, wenn jemand sagt, dass er Jugend kaufen will. Ich habe ein bisschen mitgelacht, bevor ich mit ihm an den Tisch mit den Hautpflegeprodukten gegangen bin. Wir sind darin ausgebildet, den Klienten bei der Auswahl sämtlicher Produkte behilflich zu sein, damit sie während ihres Aufenthalts bei uns nicht ständig die Verkäufer wechseln müssen. Wobei er mir genau erklärt hat, was er wollte, und, wieder durchaus höflich, jeden Vorschlag abgelehnt hat, der dazu von mir gekommen ist. Am Ende sind wir bei den Diätsachen gelandet, und ich habe gemeint, dass er so etwas doch ganz bestimmt nicht braucht. Aber er hat mir erklärt, dass er leider viel zu gerne isst. Als er alles hatte, hat er mir erklärt, er würde seine Einkäufe gleich mitnehmen, statt sie sich gratis von uns heimbringen zu lassen. Also habe ich ihm alles eingepackt. Dann hat er mir diesen Riesenstapel Bargeld auf den Tisch geblättert, wobei mir fast die Augen aus dem Kopf gequollen sind.«
»Dann ist es also nicht normal, dass ein Klient bei Ihnen bar bezahlt?«
»Oh, doch. Aber ich hatte bis dahin nie mehr als zweitausend Dollar Bargeld eingenommen, und das, was er bezahlt hat, war fast viermal so viel. Ich schätze, ihm ist aufgefallen, wie mir die Augen übergegangen sind, denn er hat noch einmal gelächelt und gesagt, ihm wäre es einfach lieber, wenn er, was er kauft, auch gleich bezahlt.«
»Dann haben Sie anscheinend ziemlich lange mit ihm zugebracht.«
»Über eine Stunde.«
»Erzählen Sie mir, wie er gesprochen hat. Hatte er einen Akzent?«
»Einen leichten. Allerdings hätte ich nicht sagen können, was für ein Akzent es war. Außerdem hatte er eine überraschend hohe Stimme. Fast wie die einer Frau. Aber durchaus nett, sanft und, tja, ich schätze, kultiviert. Jetzt, wo ich darüber nachdenke, finde ich, dass seine Stimme besser zu dem ›Ehrenwerten Gentleman‹ gepasst hat als sein Aussehen, wenn Sie wissen, was ich damit meine.«
»Hat er gesagt, wie er heißt, wo er lebt oder vielleicht, wo er arbeitet?«
»Nein. Ganz zu Anfang habe ich versucht, ihm seinen Namen zu entlocken, indem ich etwas in der Art gesagt habe wie ›Ich zeige Ihnen auch gerne noch andere Stilrichtungen, Mr …‹, aber er hat nur gelächelt und den Kopf geschüttelt, und so habe ich die ganze Zeit nichts anderes als ›Sir‹ zu ihm gesagt. Ich dachte, dass er aus New York ist, weil er die Sachen mitgenommen hat, statt sie sich irgendwohin schicken zu lassen.«
»Sie haben gesagt, Sie glauben, Sie hätten ihn vorher schon mal im Paradise gesehen.«
»Ich bin mir ziemlich sicher. Und zwar nicht allzu lange, nachdem ich hier angefangen hatte, als die Leute ihre ersten Weihnachtseinkäufe erledigt haben, Ende Oktober, vielleicht Anfang November. Auch am Tresen mit den Hauptpflegeprodukten. Er trug einen Hut und einen langen Mantel, aber ich glaube, dass es derselbe Mann gewesen ist.«
»Haben Sie ihn damals ebenfalls bedient?«
»Nein, das war Nina. Aber ich kann mich deshalb daran erinnern, sicher, ich kann mich deshalb daran erinnern, weil wir beide, als wir irgendwelche Produkte für unsere jeweiligen Klienten holen wollten, hinter dem Tisch zusammengestoßen sind und sie mir dabei erzählt hat, dass der Typ, den sie gerade bedienen würde, die gesamte Artistry-Hautpflegeserie – die Serie, zu der auch die ›Jugend‹-Produkte gehören – komplett kauft! Das sind ein paar tausend Dollar, also ein wirklich gutes Geschäft. Deshalb habe ich ihn mir kurz angeguckt und mir gewünscht, nicht Nina, sondern ich hätte ihn erwischt.«
»Aber ansonsten haben Sie ihn weder vorher noch nachher hier gesehen.«
»Nein, Ma’am.«
Eve stellte ihr noch ein paar Fragen und bat dann darum, sich noch mit Nina unterhalten zu dürfen, deren Erinnerungsvermögen leider nicht so ausgeprägt wie das von Letta war.
Als Eve jedoch auch noch die anderen Verkäufer und Verkäuferinnen fragte, fand sie dabei genug heraus, um sicher sein zu können, dass Yost jährlich ein-, zweimal im Paradise erschien.
»Ich wette, er hat noch weitere Salons in anderen Städten«, sagte sie zu Peabody, als sie mit ihr zurück zu ihrem Wagen lief. »Und bestimmt alle gleichermaßen exklusiv. Mit etwas Geringerem gibt er sich nicht zufrieden. Er zahlt immer bar, und er weiß offensichtlich sehr genau, was er haben will. Also achtet er eventuell auf Werbung und macht sich mit den Produkten, noch bevor er sie ersteht, auf irgendeine Art vertraut.«
»Dann sieht er möglicherweise viel fern.«
»Wahrscheinlich, aber ich denke, dass sich der Kerl zudem im Computer schlau macht. Sicher will er wissen, was alles in den Produkten drin ist, ob sie sich gut verkaufen, ob die Kunden mit dem Zeug zufrieden sind. Mal schauen, ob die Abteilung für elektronische Ermittlungen herausfinden kann, was letzten Oktober, als er die gesamte Serie gekauft hat, darüber im Internet zu finden war. Er hat einen regelrechten Großeinkauf gemacht, also hat er eventuell eine Anzeige gesehen, sich im Internet nach den Sachen erkundigt und sich dann erst zum Kauf entschlossen. Artistry hat bestimmt eine eigene Webseite, auf der das Unternehmen seine Kunden über seine Produkte informiert und wo man Fragen darüber stellen kann.«
Als Nächstes steuerten sie das Lederwarengeschäft an. Niemand konnte sich daran erinnern, dass am dritten Mai ein Mann mit dem Aussehen von Yost dort einen schwarzen Rollkoffer erstanden hatte. Doch sie schienen auf eine regelrechte Goldader zu stoßen, als sie auf der Suche nach dem Silberdraht den Laden des Großhändlers betraten.
Der Angestellte hatte ein hervorragendes visuelles Gedächtnis. Das wurde Eve bereits bewusst, als sie vor den Verkaufstisch trat, unter dessen Glasplatte ein wildes Durcheinander aus losen Steinen, Drahtrollen und leeren Fassungen zu sehen war. Die Augen des Verkäufers wurden groß wie Untertassen, seine Lippen fingen an zu zittern, er atmete geräuschvoll ein, und sie hatte bereits die Befürchtung, dass er womöglich gerade einen Herzinfarkt bekam, als er mit erstickter Stimme kreischte: »Mrs Roarke! Sie sind Mrs Roarke!«
Er hatte einen vermutlich ostindischen Akzent, doch sie war zu beschäftigt damit, sich ihr Entsetzen nicht allzu deutlich anmerken zu lassen, um die Frage nach der Herkunft ihres Gegenübers weiter zu verfolgen.
»Dallas.« Sie klatschte ihren Dienstausweis vor ihm auf den Tisch. »Lieutenant Dallas.«
»Es ist uns eine Ehre. Dies ist ein bescheidenes, unwürdiges Etablissement.« Er schrie einem seiner Mitarbeiter etwas Unverständliches zu. »Bitte, bitte. Wählen Sie aus, was Ihnen gefällt. Als Geschenk. Sie mögen Ketten? Armreife? Oder vielleicht Ohrringe?«
»Informationen. Nur Informationen.«
»Wir machen ein Foto. Ja? Wir haben Sie so oft im Fernsehen gesehen und auf den Tag gehofft, an dem Sie unserem unwürdigen Laden die Ehre eines Besuchs erweisen würden.« Wieder rief er dem jungen Mann, der hastig mit einer winzigen Kamera durch das Geschäft gestolpert kam, etwas zu, was weder Eve noch Peabody verstanden.
»Halt. Stopp. Warten Sie!«
»Ihr berühmter Gatte ist heute nicht dabei? Sie kaufen ein, ja, mit Ihrer Freundin. Ihre Freundin bekommt natürlich ebenfalls ein Geschenk.«
»Ja?« Eifrig schob sich Peabody dichter an den Verkaufstresen heran.
»Halten Sie die Klappe, Peabody. Nein, ich kaufe nicht ein. Ich bin dienstlich hier. Ich bin von der Polizei.«
»Wir haben die Polizei nicht gerufen.« Er wandte sich an den jüngeren Mann, der eifrig eine ganze Reihe Schnappschüsse von beiden Frauen machte, und stieß eine Reihe schriller Quietscher aus. Die Antwort kam sofort und wurde von wildem Kopfschütteln begleitet.
»Nein, wir haben die Polizei nicht gerufen. Wir haben hier keine Probleme. Sie hätten sicher gerne diese Kette. « Er zog ein Schmuckstück aus einer langen, flachen Schublade unter dem Tisch. »Unser Geschenk für Sie. Von uns selbst entworfen, von uns selbst gemacht. Es wird uns eine Ehre sein, wenn Sie sie tragen.«
Unter anderen Umständen wäre Eve versucht gewesen, ihm schlicht einen Fausthieb zu verpassen, damit er endlich seine Klappe hielt. Doch in seinen dunklen Augen strahlte eine solche Hoffnung, und sein Lächeln war so niedlich wie das eines Cockerspaniels, weshalb sie sich damit begnügte zu erklären: »Das ist wirklich nett von Ihnen, aber es ist mir nicht gestattet, irgendwelche Geschenke anzunehmen. Ich bin dienstlich hier. Wenn ich Ihr Geschenk annehmen würde, gäbe das nur Schwierigkeiten.«
»Schwierigkeiten für Sie? Nein, nein, wir wollen Ihnen keine Schwierigkeiten machen, sondern einfach ein Geschenk.«
»Danke. Ein andermal vielleicht. Aber Sie könnten mir helfen, indem Sie sich dieses Bild ansehen. Erkennen Sie den Mann eventuell wieder?«
Vor lauter Verwirrung und Enttäuschung wäre er beinahe in Tränen ausgebrochen, und ohne die Kette aus der Hand zu legen, betrachtete er das Foto. »Ja, das ist Mr John Smith.«
»John Smith?«
»Ja, Mr Smith – er ist ein Hobby – hat ein Hobby«, verbesserte er sich. »Er macht gerne Schmuck. Aber er kauft niemals Steine, immer nur den Silberdraht. Sechzig Zentimeter lang. Darin ist er sehr genau.«
»Wie oft kauft er diesen Draht?«
»Oh, er war zweimal hier. Beim ersten Mal war es draußen noch kalt. Vor Weihnachten. Und dann kam er letzte Woche wieder. Aber er hatte keine Haare auf dem Kopf. Ich habe ihm erklärt, dass ich mich freue, dass er wiedergekommen ist, und ihn gefragt, ob er sich dieses Mal die Steine ansehen möchte, aber er wollte wieder nur den Draht.«
»Und er hat bar bezahlt?«
»Ja, beide Male bar.«
»Woher kennen Sie seinen Namen?«
»Ich habe ihn danach gefragt. Bitte nennen Sie mir Ihren Namen, Sir, und erzählen Sie mir, wer Ihnen unser bescheidenes Geschäft empfohlen hat.«
»Und was hat er gesagt?«
»Er heißt John Smith und hat unsere Adresse aus dem Internet. Hilft Ihnen das weiter, Mrs Lieutenant Dallas Roarke?«
»Einfach Lieutenant reicht. Und ja, das hilft mir weiter. Was können Sie mir sonst über ihn erzählen? Hat er von seinem Hobby gesprochen?«
»Er hat nicht gern geredet. Er hat nicht lange …« Auf der Suche nach dem passenden Ausdruck schloss er kurz die Augen. »… verweilt«, erklärte er und strahlte. »Ich habe zu meinem jüngeren Bruder gesagt, dass ich mich frage, wie Mr Smith Erfolg mit seinem Hobby haben kann, wenn er kein Interesse an Steinen, Glas und anderen Metallen als ständig nur Silber hat. Er hatte nicht einmal Interesse an den vielen Entwürfen in unseren Schaukästen. Und er hat nicht gern über seine Arbeit gesprochen. Er war sehr … geschäftsmäßig. Ja, geschäftsmäßig, ist das das richtige Wort?«
»Ja.«
»Aber er war sehr höflich. Einmal hat sein Handy in seiner Tasche geklingelt, aber da wir noch nicht fertig waren, hat er es nicht herausgeholt. Ich habe ihn gefragt, ob er mit dem Draht, den er vor Weihnachten gekauft hat, zufrieden war. Er hat nur ja gesagt und dabei gelächelt. Ich hoffe, er ist nicht Ihr Freund, denn sein Lächeln hat mir nicht gefallen. Ich habe ihm den Draht verkauft und war froh, als er gegangen ist. Jetzt habe ich Sie beleidigt.«
»Nein. Das, was Sie erzählt haben, war äußerst interessant. Peabody, haben Sie zufällig meine Karte eingesteckt?«
»Ja, Madam.« Peabody zog eine von Eves Karten aus der Tasche ihrer Jacke und drückte sie ihr in die Hand.
»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich bei mir melden würden, wenn er noch mal kommt. Aber ich möchte nicht, dass Sie ihn auf irgendeine Weise warnen oder ihm erzählen, dass jemand Erkundigungen über ihn eingezogen hat. Wenn er noch mal auftaucht, sollten Sie oder Ihr Bruder ins Hinterzimmer gehen, möglichst weit von ihm entfernt, und mich kontaktieren.«
Der Verkäufer nickte. »Ist er ein böser Mensch?«
»Sehr böse sogar.«
»Das habe ich mir schon gedacht, als er gelächelt hat. Ich habe meinem Cousin davon erzählt und er hat gesagt, das denkt er auch.«
Eve schaute zu dem jungen Mann, der nach wie vor die Kamera in seinen Händen hielt. »Ich dachte, er wäre Ihr Bruder.«
»Ja, ja. Ich meine meinen Cousin in London, wo wir einen weiteren bescheidenen, kleinen Laden haben. Wir haben festgestellt, dass Mr Smith auch bei ihm gewesen ist.«
»In London?« Eve legte eine Hand auf seinen Arm. »Und woher wusste Ihr Cousin, dass es derselbe Mann gewesen ist?«
»Er hat da auch Silberdraht gekauft, drei Stück zu je sechzig Zentimeter. Dort hat jedoch Mr Smith Haare in der Farbe wie Sand auf dem Kopf gehabt, ebenso wie über der Lippe. Aber trotzdem haben wir gedacht, dass es derselbe Mann gewesen ist.«
Eve zog ihren Notizblock aus der Tasche. »Geben Sie mir den Namen und die Adresse des Geschäfts in London. Und den Namen Ihres Cousins.« Sie schrieb sich alles auf. »Haben Sie sonst noch irgendwo irgendwelche bescheidenen, kleinen Läden?«
»Insgesamt zehn.«
»Ich muss Sie um einen Gefallen bitten.«
Seine Augen fingen an zu funkeln wie Juwelen. »Es wäre mir eine außerordentlich große Ehre.«
»Ich brauche die Adressen aller dieser Läden, und ich würde es zu schätzen wissen, wenn Sie Ihre Verwandten in allen diesen Läden kontaktieren und sie fragen würden, ob dort ebenfalls Silberdraht mit einer Länge von sechzig Zentimetern verkauft worden ist. Ich werde jedem dieser Läden ein Foto dieses Mannes schicken und möchte es sofort erfahren, falls er einen der Läden betritt.«
»Das kann ich arrangieren, Mrs Lieutenant Dallas Roarke.« Er wechselte eilig ein paar Worte mit dem anderen Mann. »Mein Bruder wird Ihnen die Informationen geben und ich rufe persönlich meine Vettern an.«
»Sagen Sie ihnen, dass entweder ich oder meine Assistentin sich mit ihnen in Verbindung setzen wird.«
»Sie werden außer sich sein vor Freude, dass sie Ihnen helfen können.« Er nahm die Diskette, mit der sein Bruder aus dem Hinterzimmer eilte, und überreichte sie feierlich Eve. »Würden Sie außerdem wohl bitte unsere Visitenkarte Ihrem berühmten Gatten mitnehmen? Vielleicht besucht er uns dann ja einmal in unserem bescheidenen Etablissement.«
»Sicher. Danke für die Hilfe.«
Er brachte sie zur Tür, öffnete ihr, machte eine Verbeugung und winkte ihr, als sie über die Straße zu ihrem Wagen ging, mit leuchtenden Augen hinterher.
»Rufen Sie Feeney an«, befahl Eve ihrer Assistentin, sobald sie hinter dem Steuer ihres Fahrzeugs saß. »Er soll prüfen, ob es in oder um London herum irgendwelche ähnliche Verbrechen gab.«
»Wäre mir eine Ehre, Mrs Lieutenant Dallas Roarke.« Als Eve sie schnaubend musterte, grinste Peabody breit. »Verzeihung. Aber einmal musste ich das einfach aussprechen. Nun ist es wieder gut.« Sie gluckste.
»Wenn wir beide fertig sind mit lachen, sagen Sie Feeney, dass er sich, falls er keine ähnlichen Verbrechen findet, nach vermissten Personen erkundigen soll. Ich glaube nicht, dass bisher alle Opfer von Yost gefunden worden sind. Er macht seine Arbeit«, murmelte sie, während Peabody bei der Abteilung für elektronische Ermittlungen anrief, nachdenklich vor sich hin. »Wenn sein Auftraggeber will, dass jemand dauerhaft verschwindet, tut er das. Aber bei dem Mord selbst weicht er sicher nicht von seinem Muster ab. Er ist ein Gewohnheitsmensch, und dem Muster, dem er bei seiner Arbeit folgt, folgen jetzt auch wir.«
»Feeney weiß Bescheid«, meldete Peabody. »Und was machen wir?«
»Sie werden sich mit sämtlichen Cousins dieses Verkäufers in Verbindung setzen, und ich versuche, Dr. Mira zu erreichen. Ich möchte, dass sie ein Profil von diesem Yost für uns erstellt. Schließlich sind die FBI-ler nicht die Einzigen, die zu so was in der Lage sind.«
»Sie haben ja die meiste Arbeit schon gemacht.«
Dr. Mira schob ihren Computermonitor zur Seite und wandte sich zu Eve, die, die Hände in den Gesäßtaschen ihrer Jeans, mit dem Rücken zu ihr am Fenster stand. »Sie scheinen diesen Mann trotz der kurzen Bekanntschaft bereits wirklich gut zu kennen. Und von den Profilern des FBI kann ich Ihnen versichern, dass sie äußerst gründlich sind.«
»Sie können mir bestimmt trotzdem noch was geben, was bisher übersehen worden ist.«
»Es schmeichelt mir, dass Sie das denken.« Dr. Mira erhob sich von ihrem Platz hinter dem Schreibtisch, programmierte ihren AutoChef auf Tee und wanderte dann nachdenklich durch ihr Büro. Ihr schlichtes, rauchblaues Kostüm war elegant geschnitten, ihr volles, braunes Haar fiel in sanften Wellen um ihr weiches, hübsches Gesicht, und ihre Finger spielten mit der langen Goldkette, die sie neben ihrem Ehering als einziges Schmuckstück trug.
»Er ist ein Soziopath und wahrscheinlich intelligent und reflektiert genug, um sich dessen bewusst zu sein. Vielleicht ist es eine Frage des Stolzes. Stolz scheint auf jeden Fall ein Antriebsmotor für ihn zu sein. Er sieht sich als Geschäftsmann, als einen der besten in der von ihm gewählten Branche. Und er hat diese Branche ganz eindeutig freiwillig und vorsätzlich gewählt. Er hat Spaß an schönen Dingen. Eventuell ist er sich dessen nicht bewusst, aber die Vergewaltigung seiner Opfer steigert die Befriedigung, die er durch seine Arbeit erfährt. Für ihn ist es eine zusätzliche Möglichkeit, das Opfer auszulöschen. Ob Mann oder Frau, spielt dabei keine Rolle. Es geht dabei natürlich nicht um Sex, sondern um Erniedrigung.«
Dr. Mira warf einen kurzen Blick auf ihre Uhr, dann auf ihr Link und dann ins Leere. »Effizienter wäre es, die Opfer einfach zu erdrosseln, aber er schlägt und vergewaltigt vorher noch. Das gehört für ihn einfach dazu. So, als ob ein Mensch, bevor er einen guten Wein trinkt, erst die Farbe und das Bouquet genießt.«
»Er hat also Spaß an seiner Arbeit.«
»Oh, ja«, bestätigte die Psychologin Eve. »Sogar großen. Aber seiner Meinung nach ist es trotzdem Arbeit. Es ist unwahrscheinlich, dass er jemals wahllos oder aus persönlichen Motiven einen Mord begeht. Er ist ein Profi und erwartet, dass man ihn für seine Arbeit gut bezahlt. Der Silberdraht ist seine Visitenkarte. Wenn Sie so wollen, wirbt er damit neue potenzielle Kunden an.«
»Er versucht nichts zu verbergen. Weder den Draht noch sein Gesicht noch seine DNA. Trotzdem tritt er regelmäßig leicht verkleidet auf.«
»Ich glaube, dass er das nur deshalb tut, weil es ihn amüsiert. Weil es die ganze Sache etwas abenteuerlicher macht. Und zum Teil vielleicht aus Eitelkeit.« Untypisch rastlos lief sie weiter im Zimmer auf und ab.
»Es macht ihm wahrscheinlich Spaß, sich herzurichten und das Ergebnis seiner Mühe zu betrachten, bevor er zu seiner Arbeit aufbricht. So wie ein normaler Mann, bevor er morgens ins Büro fährt, ein frisches Hemd auswählt. Sie, das Gesetz, machen ihm nicht die geringste Angst. Er weicht den Armen des Gesetzes bereits seit vielen Jahren erfolgreich aus. Ich nehme an, dass er eventuell sogar über die Polizei lacht.«
»Das Lachen wird ihm bald vergehen.«
Eve bemerkte, dass Dr. Mira stirnrunzelnd erneut einen Blick auf ihre Uhr warf. Selbst den Tee hatte sie vergessen, und so etwas hatte Eve in all den Jahren nie zuvor erlebt. »Alles in Ordnung?«, fragte sie deshalb.
»Hmmm. O ja, alles in Ordnung.«
»Sie wirken ein wenig abgelenkt.«
»Ja, das bin ich. Meine Schwiegertochter erwartet heute ihr erstes Kind, und ich warte sehnsüchtig auf einen Anruf meines Sohnes, dass alles gut verlaufen ist. Während wir alle ungeduldig darauf warten, lassen sich die Babys, bis sie sich endlich auf die Welt bequemen, leider häufig jede Menge Zeit.«
Da Dr. Mira einen erneuten sorgenvollen Blick auf das Link auf ihrem Schreibtisch warf, trat Eve an ihrer Stelle vor den AutoChef und zog die Teetassen darunter hervor.
»Danke. Dies ist das zweite Mal in einer Stunde, dass ich meinen Tee vergessen habe. Ich schreibe Ihnen Ihr Täterprofil, Eve. Das lenkt mich zumindest ab. Aber ich glaube, dass es Ihnen nicht viel Neues sagen wird.«
»Warum Roarke? Können Sie mir das sagen?«
Ihre eigenen Sorgen, merkte Dr. Mira, hatten sie für Eves persönliche Probleme mit dem Fall völlig blind gemacht. Jetzt nahm die Psychologin Platz und wartete darauf, dass Eve sich ebenfalls setzte. »Nicht mehr, als Sie bestimmt bereits vermuten. Er ist reich und mächtig und hat vermutlich jede Menge Feinde, oder besser gesagt professionelle und persönliche Rivalen. Sein offizieller Lebenslauf weist jede Menge Löcher auf, in denen sich möglicherweise Menschen verstecken, die ihm nicht besonders wohlgesinnt sind. Ich bin sicher, darüber haben Sie schon mit ihm gesprochen.«
»Ja, aber das hat mich nicht weitergebracht. Falls jemand versucht hätte, es so aussehen zu lassen, als hätte er den Mord begangen oder wäre zumindest direkt in dieser Sache involviert, dann würde ich es eventuell verstehen. Dann würde ich auf einen Rivalen aus der Geschäftswelt tippen, der sich eines Konkurrenten entledigen will. Oder ich würde jemanden suchen, mit dem es irgendwann irgendwelchen Ärger gegeben hat. Aber ein Zimmermädchen in einem seiner Hotels? Was, verdammt noch mal, macht das für einen Sinn?«
Dr. Mira ergriff Eves rechte Hand. »Sie beide machen sich deswegen Sorgen, die Sache geht Ihnen beiden nicht mehr aus dem Kopf. Vielleicht hat das dem Auftraggeber ja bereits genügt.«
»Aber dass man deshalb einen Menschen tötet? Yost, okay. Für ihn war die Ermordung von Darlene lediglich ein Job. Aber auch für seinen Auftraggeber muss sich diese Sache lohnen. Yost hat vier Mal sechzig Zentimeter Silberdraht gekauft. Das ist für einen Mord zu viel, Dr. Mira. Der Auftrag ist also eindeutig noch nicht vollständig erfüllt.«
»Ich werde mir die Daten noch genauer ansehen und sie eingehend analysieren. Ich wünschte, ich könnte mehr tun.«
Das Link auf ihrem Schreibtisch schrillte, und sie sprang eilig auf. »Entschuldigen Sie mich.«
Eve war überrascht, als sie die würdevolle Dr. Mira um den Schreibtisch stolpern sah.
»Ja? Oh, Anthony, ist -«
»Es ist ein Junge. Dreitausendachthundert Gramm schwer und perfekte einundfünfzig Zentimeter lang.«
»Oh. Oh.« Mit Tränen in den Augen sank Dr. Mira auf den glücklicherweise bereitstehenden Stuhl. »Und wie geht es Deborah?«
»Bestens. Prima. Die beiden sind einfach wunderschön. Hier, sieh sie dir an.«
Eve reckte den Kopf, so dass sie neben einer erschöpft, aber glücklich wirkenden jungen Frau einen dunkelhaarigen Mann mit einem zappelnden, krebsroten Neugeborenen in den Armen sah.
»Sag hallo zu Matthew James Mira, Oma.«
»Hallo, Matthew. Er hat deine Nase, Anthony. Er ist ein echter Prachtkerl. Ich komme bei euch vorbei, sobald ich kann. Ich kann es nicht erwarten, dass ich ihn endlich in den Armen halten darf. Hast du schon deinen Vater angerufen?«
»Er kommt als Nächster dran.«
»Wir besuchen euch heute Abend.« Sie strich mit einem Finger über den Monitor des Links, als könnte sie dadurch das Köpfchen ihres Enkelsohns tatsächlich berühren. »Sag Deborah, dass wir sie lieben. Wir sind furchtbar stolz auf sie.«
»He, und was ist mit mir?«
»Auf dich natürlich auch.« Sie küsste ihre Fingerspitzen und legte sie zärtlich auf den Bildschirm. »Wir sehen uns nachher.«
»Ich rufe jetzt erst mal Daddy an, damit du in aller Ruhe ein paar Freudentränen vergießen kannst.«
»Das werde ich ganz sicher tun.« Und noch ehe das Gespräch vollständig beendet war, zog sie bereits ein Taschentuch hervor. »Tut mir Leid. Ein neues Enkelkind.«
»Gratuliere, er wirkte …«, wie ein roter, runzeliger Fisch mit Gliedern, dachte Eve, nahm jedoch an, dass Leute so etwas in einem solchen Moment nicht hören wollten, und begnügte sich deshalb mit einem neutralen »… putzmunter und gesund.«
»Ja.« Seufzend tupfte Dr. Mira sich die Tränen fort. »Nichts erinnert uns so sehr daran, weshalb wir hier sind, wie die Geburt eines Kindes. Sie zeigt einem all die Hoffnungen und Möglichkeiten auf, die es im Leben gibt.«
Dreitausendachthundert Gramm, war alles, was Eve respektlos denken konnte. Wie ein Basketball mit Armen und mit Beinen. Sie stand entschieden auf. »Sicher wollen Sie so schnell es geht von hier verschwinden. Ich werde also nur noch -«
In dieser Sekunde piepste ihr Handy und sie meldete sich rasch. »Dallas.«
»Madam.« Auf dem kleinen Bildschirm erschien Peabodys ernstes Gesicht. »Wir haben einen neuen Mordfall. Die Vorgehensweise war die gleiche wie bei French. Dieses Mal in einem Privathaus in der Upper East Side.«
»Wir treffen uns in der Garage. Ich bin in zwei Minuten da.«
»Zu Befehl, Madam. Ich habe die Adresse überprüft. Das Haus gehört der Elite-Real-Estate-Immobiliengesellschaft, einem Unternehmen der Firmengruppe von Roarke.«