Am nächsten Vormittag saß Eve an ihrem Schreibtisch auf der Wache und ging die ihr von Feeney am Vorabend geschickten Informationen durch. Sie hatte ein paar Stunden geschlafen, und die dritte Tasse Kaffee, die sie sich an diesem Vormittag genehmigte, vertrieb die letzte Müdigkeit, als sie vor ihrem geistigen Auge das Bild eines gewissen Sylvester Yost entstehen ließ.
Er hatte bereits früh die Verbrecherlaufbahn eingeschlagen und war der Sohn eines kleinen Waffenschmugglers, der während der Innerstädtischen Revolten verschwunden und wahrscheinlich gestorben war. Die Mutter war eine geistesgestörte Autodiebin gewesen, die regelmäßig mit einem Messer auf die unglücklichen Besitzer der von ihr begehrten Gefährte losgegangen und, kaum hatte ihr Sohn das dreizehnte Lebensjahr erreicht, im Gefängnis an einer Überdosis Drogen gestorben war.
Seither führte Sly die Familientradition auf seine eigene Art und Weise fort.
Die Strafakte aus seinen Anfangsjahren lag vor Eve auf dem Tisch. Er hatte damals gern mit Messern gespielt, bereits zwei Wochen, nachdem er im ersten Heim gelandet war, dem für ihn zuständigen Sozialarbeiter das Ohr abgeschnitten und eins der dort lebenden Mädchen angegriffen, zusammengeschlagen und missbraucht.
Seine wahre Berufung jedoch war eindeutig das Strangulieren. Wie man das am besten machte, hatte er, bevor er auf die Menschen losgegangen war, an kleinen Hunden und an großen Katzen, die er auf der Straße aufgelesen hatte, geübt.
Mit fünfzehn war er aus dem Heim geflüchtet.
Jetzt war er sechsundfünfzig und stand in dem Verdacht, während der letzten einundvierzig Jahre dreiundvierzig Morde begangen zu haben, hatte jedoch nur ein einziges Mal Bekanntschaft mit dem Inneren eines Gefängnisses gemacht.
Obwohl das FBI, Interpol, das IRCCA und die zentrale Aufklärungsstelle für interplanetarische Verbrechen ihn in ihren Dateien hatten, gab es kaum Informationen über ihn.
Er wurde verdächtigt, ein Berufskiller zu sein, ohne lebende Verwandte, Freunde oder Bekannte, und ohne bekannten Wohnsitz. Seine bevorzugte Waffe war ein dünner Silberdraht, doch hatte er auch Menschen mit ihren eigenen Seidentüchern oder mit einer Goldkordel erwürgt.
In seiner Anfangszeit, dachte Eve, als sie die Berichte las. Damals hatte er noch keinen unverkennbar eigenen Stil gehabt.
Seine Opfer waren sowohl Männer als auch Frauen. Sie gehörten allen Altersgruppen, allen Rassen und allen sozialen Schichten an. Oft hatte er körperliche Gewalt, einschließlich Vergewaltigung und Folter, vor ihrer Tötung angewandt.
»Du machst deine Arbeit wirklich gut und gründlich, nicht wahr, Sly? Ich wette, dass du nicht gerade billig bist.« Sie lehnte sich zurück und studierte abermals die Aufnahme von Yost beim Einchecken in Roarkes Hotel. »Wer zum Teufel hat dich angeheuert, um ein junges Zimmermädchen zu ermorden, das völlig unspektakulär bei seiner Mutter und Schwester in Hoboken lebte?«
Sie stand auf und stapfte in der Enge ihres Zimmers auf und ab. Vielleicht hatte er sich bei der Auswahl seines Opfers ja geirrt, was Eve allerdings für höchst unwahrscheinlich hielt.
Man hatte in diesem Metier nicht über vierzig Jahre lang Erfolg, wenn man die falsche Zielperson ins Jenseits schickte.
Es war also anzunehmen, dass Yost genau den Mord begangen hatte, für den er angeheuert worden war.
Wer also war Darlene French gewesen und was für Verbindungen hatte die junge Frau gehabt?
Zweifellos zu Roarke. Doch neben der Tatsache, dass ihr Tod ihn persönlich traurig machte und beruflich ein paar Unannehmlichkeiten für ihn mit sich brachte, schlug er insgesamt gesehen doch keine allzu großen Wellen im Ozean seines Firmenimperiums.
Also zurück zum Opfer. Hatte Darlene möglicherweise irgendwas gehört oder gesehen, ohne dass ihr das bewusst gewesen war? Hotels waren belebte Orte, dort wurden öfter irgendwelche Geschäfte gemacht.
Aber falls die junge Frau auf irgendwas gestoßen war: Weshalb hatte man sie dann auf eine derart offensichtliche und vor allem dramatische Art und Weise umgebracht? Es wäre doch weitaus sinnvoller gewesen, sie möglichst diskret aus dem Verkehr zu ziehen.
Vielleicht durch einen Unfall oder einen missglückten Überfall. Das hätte natürlich ebenfalls schockiert, die Polizei jedoch hätte nach einer kurzen Überprüfung ihr Beileid ausgesprochen und sich danach für nicht zuständig erklärt.
Viel brächte es ihr sicher nicht, überlegte Eve, doch sie müsste noch einmal ins Hotel zurück, um dort die Gästelisten der vergangenen Wochen zu prüfen. Vielleicht fiel ihr dabei ja der Name eines Gastes auf, der in der letzten Zeit in einer von Darlene betreuten Suite genächtigt hatte.
Vor ihrem winzigen Fenster blieb sie stehen und schaute auf den morgendlichen Berufsverkehr hinaus. Sowohl in der Luft als auch auf den Straßen herrschte totales Chaos. Ein Airbus rumpelte vorbei, voll gestopft mit Pendlern, die nicht das Glück hatten, ihre Arbeit einfach von daheim aus erledigen zu können. Ein mit einem Mann besetzter Hubschrauber hielt sich in der Luft mit surrenden Rotoren nicht weit von ihrem Fenster auf einem Fleck und nahm das morgendliche Treiben für die Verkehrsmeldungen auf.
Die Medien brauchten mal wieder irgendetwas, um die Sendezeit zu füllen, nahm sie an. Sie hatte bereits über ein halbes Dutzend Anrufe von Reportern, die hofften, dass es einen Kommentar oder sogar einen Durchbruch zu beziehungsweise in dem jüngsten Mordfall gäbe, beflissen ignoriert. Solange ihr Commander sie nicht zwang, eine Erklärung abzugeben, überließ sie diese Dinge lieber ihrem Mann.
Niemand konnte besser mit den Medien umgehen als Roarke.
Sie hörte das unverkennbare Geräusch von harten Polizistenschuhen auf dem ausgetretenen Linoleum, starrte jedoch weiter reglos auf das Verkehrschaos hinaus.
»Madam?«
»In dem Flieger da drüben sitzt eine Frau, die den Schoß voll mit frischen Blumen hat. Was in aller Welt kann sie damit vorhaben?«
»Bald ist Muttertag, Lieutenant. Vielleicht hat sie sich lediglich ein bisschen früher zu dem Pflichtbesuch im Altersheim aufgemacht.«
»Hmmm. Ich möchte den Freund ein bisschen genauer unter die Lupe nehmen, Peabody. Diesen Barry Collins. Falls es ein Auftragsmord gewesen ist, hat irgendwer dafür bezahlt. Selbst wenn ich nicht glaube, dass ein kleiner Page sich jemanden wie Yost jemals leisten könnte, hat er ja vielleicht Beziehungen zu irgendjemand anderem, der ihn sich leisten kann.«
»Yost?«
»Oh, tut mir Leid. Sie sind ja noch gar nicht auf dem Laufenden.« Während sie nach wie vor aus dem Fenster blickte, klärte sie ihre Assistentin auf.
»Captain Feeney ist also an den Ermittlungen beteiligt? Und wie steht es mit McNab?«
Eve warf einen Blick über ihre Schulter. Auch wenn sich Peabody die größte Mühe gab, möglichst gleichmütig zu gucken, war ihr kantiges, ernstes Gesicht zum Bluffen einfach nicht geeignet. »Es ist noch gar nicht lange her, da hätten Sie bei dem Gedanken, dass McNab an unseren Ermittlungen beteiligt werden könnte, lauthals gezetert.«
»Nein, Madam. Ich hätte zetern wollen, doch ihr drohender Blick hätte meinen Ärger nur noch im Geiste stattfinden lassen.« Sie grinste breit. »Aber die Zeiten haben sich geändert. McNab und ich kommen, seit wir miteinander schlafen, viel besser miteinander klar. Bloß, dass …«
»Oh, bitte nicht. Ich will nichts davon hören.«
»Ich wollte nur sagen, dass er sich zurzeit etwas eigenartig benimmt.«
»Falls Sie unter McNab im Wörterbuch nachsehen, ist eigenartig die Definition, die für ihn an erster Stelle steht.«
»Anders eigenartig als sonst«, erklärte ihre Assistentin, speicherte diesen hübschen Satz jedoch, um ihn bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit selber anbringen zu können. »Er ist … nett. Wirklich nett. Aufmerksam und richtiggehend süß. Erst vor kurzem hat er mir Blumen mitgebracht. Ich glaube, dass er sie im Park geklaut hat, aber trotzdem … Und vor ein paar Tagen hat er mich ins Kino eingeladen. In einen tollen Liebesfilm, von dem ich ihm erzählt hatte, dass ich ihn gerne sehen würde. Er fand ihn entsetzlich und hat dafür gesorgt, dass mir das ja nicht verborgen bleibt. Aber er hat die Eintrittskarten, das Popcorn und alles andere bezahlt.«
»Oh, Mann.«
»Und deshalb glaube ich -« Peabody brach ab und fing, als ihre normalerweise so gelassene und couragierte Chefin vor Entsetzen kreischte und sich die Finger in die Ohren stopfte, prustend an zu lachen.
»Ich kann Sie nicht hören. Ich will Sie nicht hören. Ich werde Sie nicht hören. Überprüfen Sie diesen Barry Collins. Und zwar auf der Stelle. Das ist ein Befehl.«
Peabody bewegte lautlos ihre Lippen.
»Was?«
»Ich habe ›Zu Befehl, Madam‹ gesagt«, erklärte sie, als Eve die Finger aus den Ohren nahm, wandte sich zum Gehen, fügte an der Tür stehend hinzu: »Ich glaube, er hat irgendetwas mit mir vor«, und stürzte hastig in den Korridor hinaus.
»Das habe ich auch«, murmelte Eve, während sie sich kraftlos in ihren Schreibtischsessel sinken ließ. »Und zwar mit euch beiden. Wenn das so weitergeht, kriegt ihr einen harten Tritt in den Allerwertesten von mir verpasst.« Und da sie gerade in der Stimmung war, sich mit jemandem zu streiten, wählte sie die Nummer des Labors und trieb den Laborchef hinsichtlich des DNA-Vergleichs zu noch größerer Eile an.
Bis Feeney ihr Büro betrat, wusste sie mit Bestimmtheit, dass die DNA des Mannes, der Darlene French vergewaltigt und ermordet hatte, mit der von Sylvester Yost identisch war.
Als sie ihm das erzählte, nahm er nickend auf der Kante ihres Schreibtischs Platz, zog die obligatorische Tüte mit den kandierten Nüssen aus der verbeulten Tasche seines Anzugs und schob sich eine Mandel in den Mund. »Daran habe ich keine Sekunde gezweifelt. Ich habe geprüft, ob in der letzten Zeit irgendwo ein ähnliches Verbrechen stattgefunden hat. In den letzten sieben, acht Monaten war Ruhe. Scheint, als hätte er in der Zeit Ferien gemacht.«
»Oder als hätte irgendjemand nicht gewollt, dass man die Leichen findet. Gibt es irgendwelche Anzeichen dafür, dass er vielleicht gelegentlich auf eigene Rechnung arbeitet? Dass es für ein paar der Morde persönliche Motive gibt?«
»Nein.« Feeney kaute nachdenklich auf einer Nuss. »Er mordet immer nur gegen Bezahlung. McNab geht momentan die interplanetarischen und extraterrestrischen Verbrechenskarteien durch. Eventuell findet er ja dort was.«
»Du hast McNab auf diese Sache angesetzt?«
Beim Klang ihrer Stimme zog er überrascht die Brauen hoch. »Ja. Hast du damit ein Problem?«
»Nein, nein. Er leistet gute Arbeit.« Gleichzeitig jedoch trommelte sie mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Es ist nur wegen dieser Sache zwischen ihm und Peabody.«
Feeney tat, als würde er erschaudern. »Darüber denke ich lieber erst gar nicht nach.«
»Ich auch nicht.« Aber wenn sie leiden musste, konnte er das genauso. »Er hat sie ins Kino eingeladen. Und zwar in einen Liebesfilm.«
»Was?« Feeney wurde bleich, und um ein Haar wäre ihm die Nuss, auf der er gerade kaute, aus dem vor Staunen aufgerissenen Mund herausgekullert. »Er hat sie ins Kino eingeladen? In einen Liebesfilm?«
»Exakt das habe ich gesagt.«
»Meine Güte.« Er stand auf und stapfte auf seinen kurzen Beinen durch den Raum. »Das ist das Ende. Das ist eindeutig das Ende. Ich hätte nie gedacht, dass der Junge so tief sinken kann. Als Nächstes steht er noch mit Blumen bei ihr vor der Tür.«
»Das ist bereits passiert.«
»Mit so was macht man keine Witze, Dallas.« Er wandte sich ihr wieder zu und flehte sie nahezu aus seinen traurigen Hundeaugen an. »Bitte sag, dass das ein Witz gewesen ist. Ist es nicht schon schlimm genug zu wissen, was die beiden miteinander, na, du weißt schon, tun?«
»Allen anderen ist das offenbar egal.« Froh, endlich einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, nickte sie begeistert. »Und Roarke findet es sogar süß.«
»Er muss schließlich nicht mit ihnen zusammenarbeiten, oder?« Feeney geriet in Fahrt. »Er muss nicht mit ihnen arbeiten, während sie einander zuzwinkern, hinter seinem Rücken Händchen halten und was weiß ich noch alles tun. Ich dachte, sie hätte es auf diesen Schleimer Monroe abgesehen.«
»Sie jongliert zwischen den beiden hin und her.«
Mit gebleckten Zähnen nahm Feeney wieder Platz und hielt seiner Kollegin die Tüte mit den Nüssen hin. »Frauen.«
»Du sagst es.« Da sie sich erheblich besser fühlte, schob sie sich eine ganze Hand voll Nüsse in den Mund und wandte sich erneut ihrer Arbeit zu. »Ich habe Peabody auf den Freund der Toten angesetzt. Ich glaube nicht, dass das was bringt, aber wenn wir erst mal seine Daten haben, führe ich trotzdem eine kurze Befragung mit ihm durch. Die Medien überlasse ich vorläufig Roarke. Ich fahre noch mal ins Hotel und sehe mich dort ein bisschen genauer um. Der toxikologische Bericht zu French wird mir noch heute Vormittag geschickt. Ich gehe davon aus, dass sie nichts finden werden, aber man kann nie wissen …«
»Vor allem nicht bei Frauen«, murmelte er nach wie vor verdrossen.
»Genau. Frenchs Eltern wurden vor zirka acht Jahren geschieden. Der Vater, ein gewisser Harry D. French, lebt mit seiner zweiten Frau in der Bronx. Hast du Zeit, um dich ein bisschen genauer mit ihm zu befassen? Falls es ein Auftragsmord gewesen ist, hat sich dadurch ja eventuell irgendwer an irgendwem gerächt.«
»Wird sofort erledigt. Und wie sieht es mit der Mutter aus?«
»Sherry Tides French. Ich habe sie gestern Abend noch überprüft. Besitzt ein Süßwarengeschäft im Transportzentrum von Newark und hat, soweit ich sehen konnte, eine blütenreine Weste. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie hinter diesem Verbrechen steckt.«
Sie warf ihm die Tüte mit den Nüssen wieder zu, stand auf und nahm ihre Jacke vom Haken an der Tür. »Wie wäre es, wenn du McNab, da er ja nun einmal mit von der Partie ist, auf den Silberdraht ansetzt? Vielleicht findet er ja raus, woher er stammt. Die Ergebnisse der Laboranalyse kommen wahrscheinlich noch heute Morgen rein.«
»Dann ist er wenigstens beschäftigt und denkt hoffentlich nicht mehr über sein Liebesleben nach.«
»Genau so sehe ich das auch.« Eve zog ihre Jacke an und wandte sich zum Gehen.
Nach ihrer Ankunft im Hotel bat Eve den Hotelchef um Kopien der Gästelisten, die Personalakten sowie um Auskunft über Angestellte, denen im Verlauf des letzten Jahres gekündigt worden war.
Ehe sie erläutern konnte, dass der Mann verpflichtet war, der Polizei im Rahmen der Ermittlungen zu einem Mordfall Auskunft zu erteilen, drückte er ihr bereits ein paar versiegelte Disketten mit sämtlichen Daten in die Hand.
Er erklärte ihr, dass Roarke sämtliche Angestellten angewiesen hatte, nach Kräften mit ihr zu kooperieren und ihr alle Informationen zu geben, um die sie bat.
»Das war mal einfach«, meinte Peabody zufrieden, als sie mit dem Fahrstuhl in die sechsundvierzigste Etage fuhren.
»Ja, er hat wirklich an alles gedacht.« Eve drückte ihrer Assistentin die Disketten in die Hand, löste das offizielle Siegel an der Tür der Suite 4602 und trat ein.
»Wie verbringt man ein paar Stunden in einem Hotel, während man darauf wartet, dass jemand hereinkommt, den man ermorden will? Man genießt die Aussicht, sieht ein bisschen fern, macht sich was zu essen. Er hat weder das Link noch das Faxgerät noch den Computer seiner Suite benutzt. Vielleicht hatte er ein eigenes Handy mit«, überlegte sie, während sie das Wohnzimmer durchquerte. »Hat eingecheckt und dann seinem Auftraggeber gemeldet, dass er eingetroffen ist.«
Sie betrat die Küche und warf einen flüchtigen Blick auf die mit dem Staub der Spurensicherung bedeckte Arbeitsplatte sowie auf das in der Spüle gestapelte Geschirr.
»Um sechs bestellt er etwas aus dem AutoChef. Es ist noch viel Zeit, bis das Zimmermädchen erscheint. Mindestens eine Stunde. Wahrscheinlich kennt er die Routine und weiß, dass dieser Raum meistens gegen acht an die Reihe kommt. Wahrscheinlich hat er auch den Veranstaltungskalender des Hotels studiert, weshalb er weiß, dass an diesem Abend eine große Party und ein Kongress stattfinden, und dass am nächsten Tag ein weiterer Kongress beginnt. Das Hotel ist beinahe ausgebucht, weshalb das Zimmermädchen ganz bestimmt nicht früher als erwartet auftauchen wird. Also genehmigt er sich erst einmal ein Steak.«
Sie trat dichter vor die Spüle. »Wahrscheinlich hat er vor dem Fernseher gegessen, auf dem Sofa oder sogar am Tisch. Wenn man eine so tolle Suite wie diese hier bewohnt, nimmt man seine Mahlzeit ganz bestimmt nicht stehend in der Küche ein. Dann genehmigt er sich einen Nachtisch und eine Tasse Kaffee, klopft sich zufrieden auf den Bauch, trägt die Teller und die Tasse zurück in die Küche und stapelt sie sorgfältig übereinander in der Spüle auf. Er ist es gewohnt, sich selber zu versorgen, er hält sicher sein Zuhause ebenfalls selbst in Schuss. Und es gefällt ihm nicht, wenn schmutziges Geschirr auf dem Tisch herumsteht. Er ist ein ordentlicher Mensch.«
Sie betrachtete die kleine Pyramide aus Ess- und Kuchenteller, Untertasse, Kaffeetasse und das ordentlich daneben liegende Besteck.
»Wahrscheinlich lebt er alleine. Vielleicht hat er nicht mal einen Droiden, der ihm den Haushalt führt. Er lebt nicht immer im Hotel. Wenn man ständig Personal hat, das einen bedient, räumt man nicht selbst die Teller weg.«
Peabody nickte. »Gestern Abend fiel mir etwas auf. Nur habe ich vergessen, es sofort zu erwähnen.«
»Was?«
»Hotels haben doch regelmäßig irgendwelche netten Kleinigkeiten für die Gäste, vor allem im Bad. Sie wissen schon, hübsche kleine Seifenstückchen, kleine Shampoofläschchen, Cremeproben und Badeschaum. All das hat er mitgenommen.« Sie lächelte, als sie Eves nachdenkliche Miene sah. »Die meisten Leute nehmen diese Sachen mit, aber die wenigsten warten in einem Hotelzimmer darauf, jemanden umbringen zu können, oder haben dort gerade jemanden umgebracht.«
»Gut beobachtet. Dann ist er also entweder sehr sparsam oder er hat einfach Spaß an kleinen Souvenirs. Wie steht es mit den Handtüchern, Bademänteln oder den hoteleigenen Hausschuhen?«
»Hausschuhe? Ich habe noch nie in einem Hotel gewohnt, in dem es so was gibt …« Peabody riss sich zusammen und fuhr gewissenhaft fort: »Die Bademäntel sind noch alle da. Zwei Stück, nicht benutzt, sie hängen im Schrank. Ich weiß nicht, wie viele Handtücher man in einem Hotel wie diesem hier stapelt, aber im Bad hängen genug für eine sechsköpfige Familie. Und genau wie die Bademäntel sind sie alle unbenutzt.«
»Wahrscheinlich hat er ein paar Handtücher benutzt, bevor das Zimmermädchen kam. Sicher hat er nach der Anreise erst einmal geduscht.« Sie verließ die Küche und ging zum Schlafzimmer. »Und ein braver Junge, der nach dem Essen ordentlich den Tisch abräumt, wäscht sich, nachdem er Pipi gemacht hat, sicher die Hände. Wenn er über fünf Stunden hier gewesen ist, war er bestimmt mal auf dem Klo.«
Sie trat an die Tür des zweiten Badezimmers, das mit seiner blauen Glasdusche, schneeweißen Handtüchern und einer diskret hinter einer blauen Glastür verborgenen blitzblanken Toilette eine etwas kleinere Version des ersten Bades war. »Auch hier gibt es keine Seife, kein Shampoo und keine anderen Sachen mehr.«
»Das ist mir gestern nicht aufgefallen. Dann hat er also alles sauber ausgeräumt.«
»Weshalb sollte man auch Geld für Seife und für Shampoo aus dem Fenster werfen, wenn man diese Dinge umsonst kriegen kann? Vor allem, wenn es solche Luxusmarken sind.« Eve betrat das Schlafzimmer und ging weiter in das dort angrenzende Bad.
Außer mit einer Dusche (mit sechs verschiedenen, höhenverstellbaren Düsen) war der Raum mit einer riesengroßen Wanne und einer Trockenkabine bestückt. Da Eve bereits in etlichen Hotels ihres Mannes zu Gast gewesen war, wusste sie, dass der Tresen mit unzähligen hübschen Cremetöpfchen bestückt gewesen war. Jetzt war er völlig leer.
Stirnrunzelnd trat sie vor den Messingständer und betrachtete die drei dicken, mit einem Monogramm versehenen kleinen Handtücher genauer. »Das hier hat er benutzt.«
»Woher wissen Sie das?«
»Anders als bei den beiden anderen Handtüchern hängt das Monogramm nicht genau in der Mitte. Er hat es also benutzt. Hat sich, als er mit ihr fertig war, die Hände gewaschen, abgetrocknet und als ordentlicher Mensch das Handtuch zurück an seinen Platz gehängt. Wahrscheinlich ist sie direkt, nachdem sie die Suite betreten hat, hier in das Bad gekommen und hat die benutzten Hand- und Badetücher gegen frische ausgetauscht. Er sieht ihr irgendwo versteckt dabei zu.«
»Vielleicht im Kleiderschrank«, schlug Peabody vor. »Sie kehrt in das Schlafzimmer zurück, hat die benutzten Handtücher im Arm, wirft sie eventuell einfach auf den Boden und schlägt die Bettdecke zurück, damit für den Gast alles perfekt gerichtet ist. Und dann ist er plötzlich da. Schnappt sich ihren Piepser, bevor sie Hilfe holen kann, und wirft ihn dorthin, wo er von uns gefunden worden ist.«
Und das Weitere passiert auf dem Bett.
»Er hat ihr keine Zeit gelassen, um zu flüchten. Nirgends in der Suite gibt es Spuren eines Kampfes, aber gegen einen Kerl von seiner Größe hätte sie sowieso nicht den Hauch einer Chance gehabt«, überlegte Eve. »Abgesehen von dem zerwühlten, blutbefleckten Laken ist alles völlig aufgeräumt. Er hat sie also hier erwischt, geschlagen, vergewaltigt und erwürgt. Und das alles zu lauter Musik.«
»Das ist das Unheimliche daran«, sagte ihre Assistentin. »Alles andere ist widerlich und grässlich, aber es ist geradezu gespenstisch, dass er dazu noch eine Oper dröhnen lässt.«
»Als er mit ihr fertig ist, guckt er auf die Uhr. He, hat gar nicht so lange gedauert. Er wäscht sich die Hände, schnalzt, als er die kleinen Kratzer sieht, die sie ihm noch hat verpassen können, missbilligend mit der Zunge, zieht sich frische Kleider an, packt sein Zeug und sammelt dann die Seife, das Shampoo und die Cremedöschen ein. Schließlich hebt der Hurensohn noch die Handtücher vom Boden auf, die sie hat fallen lassen, und trägt sie ordentlich zu ihrem Wagen. Natürlich ordnet er nicht zusätzlich noch das Bett, aber er will nicht mehr Unordnung als nötig hinterlassen, wenn er wieder geht.«
»Das ist menschenverachtend und eiskalt.«
»Sie sagen es. Für ihn war es nichts anderes als ein leichter Job. Er hat ein paar Stunden in einem Luxushotel verbracht, dort gut gegessen, eine ganze Ladung teurer Körperpflegeprodukte und obendrein noch einen fetten Lohn für seine Arbeit eingeheimst. Ich kann mir vorstellen, was für ein Typ er ist. Ihn kann ich mir vorstellen, nur begreife ich ganz einfach nicht, von wem oder warum er diesen Mordauftrag erteilt bekommen hat.«
Eine Minute lang stand sie schweigend an der Tür des Badezimmers und rief sich das Bild von Darlene French ins Gedächtnis.
Auf einmal drang das Geräusch der Flurtür an ihr Ohr.
Sie legte eine Hand an ihre Waffe und machte Peabody ein Zeichen, dass sie zur Seite treten sollte, schlich lautlos in den Flur, sprang mit gezücktem Stunner um die Ecke – und schüttelte genervt den Kopf.
»Verdammt, Roarke! Verdammt!« Erbost steckte sie die Waffe wieder ein. »Was machst du hier?«
»Ich habe dich gesucht.«
»Hier darf niemand herein. Dies ist ein Tatort und er ist offiziell versiegelt.«
Wahrscheinlich hatten seine flinken Finger für das Brechen dieses Siegels nicht mal so lange gebraucht wie sie mit ihrem Schlüssel, grinste sie innerlich.
»Weshalb ich, als man mich über dein Erscheinen informiert hat, sofort zu dir geeilt bin. Hallo, Peabody.«
»Was willst du?«, schnauzte Eve, ehe ihre Assistentin den Gruß erwidern konnte. »Ich bin bei der Arbeit.«
»Das ist mir bewusst. Ich könnte mir vorstellen, dass du noch ein paar der Angestellten des Hotels vernehmen willst. Barry Collins ist zwar nach wie vor zu Hause, aber sein Chef und ein anderes Zimmermädchen, Sheila Walker, stehen dir zur Verfügung. Sie war mit dem Opfer eng befreundet und ist heute Morgen hier, weil sie Darlenes Spind leer machen soll.«
»Der ist noch nicht freigegeben -«
»Das habe ich ihr schon erklärt. Außerdem habe ich sie gebeten zu warten, damit du mit ihr sprechen kannst.«
Aus ihrem Zorn machte sie kein Hehl. Aufgebracht fauchte sie: »Ich könnte dir erklären, dass ich keine Hilfe brauche, wenn ich jemanden vernehmen will.«
»Das könntest du tun«, stimmte er ihr derart unbekümmert zu, dass sie nicht mehr wusste, ob sie schnauben oder doch besser lachen sollte, und so fügte sie etwas versöhnlicher hinzu: »Aber du hast mir dadurch Zeit erspart, also vielen Dank. Trotzdem will ich nicht, dass du oder irgendjemand anders noch mal diesen Raum betritt, solange er nicht offiziell von mir freigegeben worden ist.«
»Verstanden. Wenn du hier oben fertig bist, kannst du mich über jedes Link unter der Null-Null-Eins erreichen.«
»Wir sind fürs Erste fertig. Also fangen wir am besten mit Sheila Walker an.«
»Ich habe ein Büro für dich im Konferenzbereich einrichten lassen, das du jederzeit benutzen kannst.«
»Nein, ich spreche mit den beiden besser auf ihrem eigenen Terrain. Dort fühlen sie sich sicher wohler, denn eine Unterhaltung dort wirkt weniger formell.«
»Wie du willst. Sie ist im Moment im Pausenraum. Ich bringe dich hin.«
»Gut. Meinetwegen kannst du während des Gesprächs dabei sein.« Eve trat durch die Tür, die er ihr höflich aufhielt. »Dann fühlt sie sich bestimmt beschützt.«
Weniger als drei Minuten nach Beginn der Unterhaltung wusste Eve, dass die Vermutung richtig gewesen war. Sheila war ein hoch gewachsenes, dünnes, schwarzes Mädchen mit riesengroßen Augen, aus denen sie alle paar Sekunden trost- und hilfesuchend in Roarkes Richtung sah.
Sie hatte eine herrlich melodiöse, jedoch derart tränenerstickte Stimme, dass Eve davon bereits nach kurzer Zeit Kopfschmerzen bekam.
»Sie war so süß. Sie war ein so bezauberndes Mädchen. Nie hätte sie schlecht von jemand anderem gesprochen. Hatte so ein sonniges Gemüt! Wenn die Gäste sie beim Saubermachen sahen oder eventuell sogar ein paar Worte mit ihr wechselten, haben sie ihr meistens ein gutes Trinkgeld in die Hand gedrückt. Weil sie halt so unglaublich freundlich war. Und jetzt werde ich sie niemals wiedersehen.« Sheila schluchzte.
»Ich weiß, dass es hart ist, Sheila, wenn man eine Freundin verliert. Könnten Sie mir sagen, ob sie irgendwelche Sorgen hatte, ob irgendetwas sie belastet hat?«
»Oh, nein, sie war rundum glücklich. In zwei Tagen hätten wir beide freigehabt und wollten zusammen Schuhe kaufen gehen. Sie hat gern Schuhe gekauft. Es war ihre Leidenschaft. Bevor wir mit der Arbeit angefangen haben, haben wir noch darüber gesprochen, dass wir möglichst früh aufbrechen und uns am Kosmetiktresen in der Sky Mall kostenlos schminken lassen würden.«
Sie verzog unglücklich ihr schmales, exotisches Gesicht. »Oh, Mr Roarke, Sir!«
Als sie erneut anfing zu schluchzen, ergriff er wortlos ihre Hand.
Eve bemühte sich noch eine halbe Stunde, irgendetwas von Bedeutung zu erfahren. Sie erhielt das Bild einer fröhlichen, sorglosen jungen Frau, die gern Einkaufsbummel machte, zum Tanzen ging und zum ersten Mal in ihrem Leben ernsthaft verliebt gewesen war.
Sie hatte sich allmorgendlich nach Ende ihrer Schicht mit ihrem Freund zum Frühstück im Pausenraum der Angestellten des Hotels getroffen, und den monatlichen Zahltag hatten sie in einem gemütlichen, kleinen Café gefeiert, das ein paar Blocks vom Hotel entfernt gelegen war. Für gewöhnlich hatte er sie anschließend noch fürsorglich zum Bus begleitet und ihr, wenn sie eingestiegen war, hinterhergewinkt.
Gleichzeitig hatten sie behutsam überlegt, sich gemeinsam eine Wohnung zu nehmen, vielleicht im nächsten Herbst.
Wie Sheila Eve versicherte, hatte Darlene der besten Freundin mit keinem Wort etwas davon erzählt, dass ihr irgendetwas Ungewöhnliches bei ihrer Arbeit aufgefallen oder dass sie wegen etwas in Sorge gewesen war. Und an ihrem letzten Abend hatte sie, als sie mit ihrem Wagen aufgebrochen war, ein Lächeln im Gesicht gehabt.
Genau wie Sheila für die Freundin fand auch Barrys Chef, mit dem sich Eve im Pausenraum der Pagen unterhielt, nur positive Worte. Ein netter junger Mann. Eifrig, stets gut gelaunt und bis über beide Ohren verliebt in ein dunkelhaariges Zimmermädchen namens Darlene.
Er hatte erst im letzten Monat eine Gehaltserhöhung bekommen und ihnen stolz allen die Kette mit dem kleinen goldenen Herz gezeigt, die er für sein Mädchen erstanden hatte zur Feier ihres sechsmonatigen Zusammenseins.
Eve konnte sich daran erinnern, dass Darlene genau so eine Kette um den Hals getragen hatte, als sie mit ihrem Wagen vor Suite 4602 vorgefahren war.
»Peabody, ich habe eine Frauenfrage«, wandte sie sich deshalb, als sie mit Peabody und Roarke durch das Foyer marschierte, ihrer Assistentin zu.
»Da sind Sie bei mir goldrichtig.«
»Das dachte ich mir schon. Wenn Sie einen Streit mit Ihrem Freund haben oder gerade überlegen, ob Sie sich nicht besser von ihm trennen – irgendetwas in der Art -, tragen Sie dann noch eine Kette um den Hals, die er Ihnen geschenkt hat?«
»Nie im Leben. Wenn der Streit gravierend ist, werfe ich sie ihm theatralisch vor die Füße. Wenn ich überlege, ob ich ihn verlasse, vergieße ich womöglich noch ein paar Tränen und lasse die Kette in einer Schublade verschwinden, bis ich sicher weiß, wie’s weitergeht. Wenn es nur ein kleiner Streit ist, lege ich sie weg, bis wir uns vertragen haben. Ich trage nur dann etwas von ihm, wenn ich ihm und allen anderen zeigen möchte, dass ich glücklich mit ihm bin.«
»Wie schaffen Sie es nur, sich bei all diesen Optionen nicht zu verzetteln? Es ist total verwirrend. Aber so was Ähnliches hatte ich mir zusammengereimt. He.«
Sie schlug Roarke auf die Hand, als er nach der unter ihrem Hemd versteckten Kette mit dem tränenförmigen Diamanten, die sie einmal von ihm geschenkt bekommen hatte, griff.
»Ich wollte nur mal kurz prüfen. Sieht so aus, als ob du noch glücklich mit mir bist.«
»Sie ist versteckt«, erklärte sie zufrieden.
»Aber sie ist da.«
Als sie das Blitzen seiner Augen sah, funkelte sie ihn giftig an. »Wenn du versuchst mich hier zu küssen, schlage ich dich k.o. Lassen Sie uns trotzdem noch mit Barry sprechen, Peabody«, wandte sie sich abermals an ihre Assistentin und stopfte den Anhänger sorgfältig zurück unter ihr Hemd. »Damit wir ganz sichergehen können, dass er an der Sache nicht beteiligt ist. Mit dir«, sie piekste ihrem Mann mit einem Finger in die Brust, »muss ich nachher noch darüber reden, wie du die Geschichte am besten an die Medien verkaufst.«
»Ich stehe dir jederzeit zur Verfügung. Nichts lieber als das.«
Plötzlich schwand sein Lächeln, und sein Gesicht verspannte sich, als eine sanft gesprochene, alte irische Ballade an seine Ohren drang.
Ehe er sich umdrehen konnte, schlang ihm bereits jemand einen Arm um seinen Hals.
Er verlagerte schon sein Gewicht, um sich gegen diesen Überfall zu wehren, als er mit einem Mal ein leises Lachen hörte und sich im Geiste in einer der stinkenden Dubliner Gassen aus seiner Jugend wiederfand.
Dann stand er mit dem Rücken an der Wand und schielte in das lachende Gesicht eines Gespenstes.
»Offenbar bist du nicht mehr ganz so schnell, wie du mal warst.«
»Mag sein.« Blitzschnell hatte Eve ihre Waffe in der Hand und drückte sie dem Fremden an den Hals. »Aber dafür hat er jetzt mich. Lass ihn los, du Arschloch, oder du bist ein toter Mann.«
»Zu spät«, röchelte Roarke. »Das ist er nämlich längst. Mick Connelly, warum schmorst du nicht in der Hölle und hältst mir dort ein Plätzchen frei?«
Ohne auf den Laser an seinem Hals zu achten, brach Mick in wieherndes Gelächter aus. »Ah, den Teufel kann man erst umbringen, wenn er dazu bereit ist. Du siehst wirklich gut aus, du elendiger Bastard, wirklich gut.«
Völlig verblüfft musste Eve mit ansehen, wie ihr eigener Mann das Gesicht zu einem dämlichen Grinsen verzog.
»Immer mit der Ruhe, Liebling.« Er hob eine Hand und schob damit den Stunner, mit dem Eve nach wie vor auf den Fremden zielte, etwas an die Seite. »Dieser hässliche Hurensohn ist ein uralter Freund.«
»Allerdings, das bin ich. Und ist es nicht mal wieder typisch, dass du eine Frau als Leibwächterin hast?«
»Obendrein noch eine Polizistin.« Roarkes Grinsen wurde noch breiter als zuvor.
»Meine Güte.« Mick tätschelte Roarke spielerisch die Wange und trat lachend einen Schritt zurück. »Früher hast du keinen derart guten Draht zu den Ordnungshütern gehabt.«
»Zu dieser Ordnungshüterin bestimmt. Sie ist nämlich meine Frau.«
Mick fasste sich ans Herz. »Sie hätte gar nicht ihre Waffe zücken müssen, jetzt sterbe ich nämlich vor Schreck. Ich hatte es bereits gehört – man hört schließlich jede Menge Dinge von dem berühmten Roarke. Aber ich habe es keine Sekunde geglaubt.«
Als Eve ihren Stunner wieder in das Halfter steckte, machte er eine charmante Verbeugung und küsste ihr, bevor sie es verhindern konnte, elegant die Hand. »Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Missus, freut mich ungemein. Mein Name ist Michael Connelly, aber alle meine Freunde, zu denen Sie hoffentlich bald zählen werden, nennen mich einfach Mick. Ihr Mann hier und ich haben uns schon gekannt, als wir noch kleine Jungen waren. Ziemlich schlimme Jungs, wenn ich das sagen darf.«
»Dallas. Lieutenant Dallas.« Trotzdem taute sie allmählich etwas auf, denn seine leuchtend grünen Augen blitzten sie warm und freundlich an. »Eve.«
»Ich hoffe, Sie verzeihen die etwas überschwängliche Begrüßung meines alten Kumpels. Ich war halt mächtig aufgeregt.«
»Schließlich war es sein Hals. Ich muss gehen«, sagte sie schulterzuckend zu Roarke und streckte seinem Freund auf eine Art den Arm entgegen, die ihm deutlich machen sollte, dass ihr eher an einem kräftigen Händeschütteln als an einem neuerlich gehauchten Handkuss gelegen war. »Hat mich gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«
»Das kann ich nur erwidern. Ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.«
»Sicher. Bis später«, wandte sie sich erneut an ihren Mann und winkte ihre Assistentin, die mit großen Augen ein wenig abseits stand, mit sich in Richtung Tür.
Mick sah ihr hinterher. »Sie weiß nicht, was sie von mir halten soll, nicht wahr? Weshalb sollte sie das auch. Meine Güte, Roarke, es tut echt gut, dich endlich wieder mal zu sehen.«
»Ich freue mich genauso. Was machst du in New York und zusätzlich in meinem Hotel?«
»Geschäfte. Wie üblich. Man sollte stets darauf achten, irgendwas am Laufen zu haben.« Er zwinkerte Roarke zu. »In der Tat hatte ich gehofft, dass ich dich auftreiben würde, um mit dir darüber zu sprechen. Hättest du also ein wenig Zeit für einen alten Freund?«