24. Kapitel

Eine schnelle Wendung des Schicksals

Blanche war sehr überrascht, als man ihr mitteilte, dass ihr Verlobter vorgesprochen hatte. Erst am Abend zuvor hatte sie ihn gesehen, als er ihr und ihrem Vater beim Abendessen Gesellschaft geleistet hatte. Ohne auch nur im Entferntesten zu ahnen, was Tyrell von ihr wollte, dankte sie dem Butler und begab sich in den Salon, wo er auf sie wartete. Er stand da und starrte ins Feuer, das im Kamin flackerte, doch als er sie hörte, drehte er sich zu ihr um.

Sie begrüßten einander, und Blanche bemerkte, dass Tyrell sehr ernst war. „Ich würde gern mit Ihnen unter vier Augen sprechen“, sagte er. „Können wir uns setzen?“

Blanche nickte, war aber zugleich sehr besorgt. Sie setzte sich auf ein großes goldfarbenes Sofa, das mit zahlreichen Kissen in einem etwas dunkleren Farbton bedeckt war, während er auf einem Stuhl gegenüber Platz nahm. „Ich hoffe, dass es Ihrer Familie gut geht“, sagte sie, nachdem sie zu dem Schluss gekommen war, dass wohl jemand erkrankt sein musste.

Tyrell betrachtete sie prüfend, so prüfend wie sie ihn. Noch immer hatte er nicht einmal angedeutet, was in ihm vorging und warum er überhaupt gekommen war. „Meiner Familie geht es gut, danke der Nachfrage. Und Ihr Vater? Gestern Abend wirkte er recht frisch. Glauben Sie noch immer, dass er sich schlecht fühlt?“

Sie zögerte.„Mein Vater leidet gelegentlich noch unter Anfällen von Erschöpfung.“ Plötzlich wurde sie ängstlich. „Sind Sie gekommen, um meine Rückkehr nach Harmon House zu erbitten? Ich bin fest davon überzeugt, dass meine Anwesenheit hier notwendig ist, damit ich mich um meinen Vater kümmere.“

„Nein, Blanche, ich bin nicht gekommen, um Sie zur Rückkehr in mein Haus aufzufordern.“ Er wandte den Blick ab und schien sich auf einmal sehr unbehaglich zu fühlen. Plötzlich dachte Blanche an seine frühere Mätresse Miss Fitzgerald. In der letzten Zeit hatte sie häufig über sie nachgedacht. Sie war so freundlich gewesen, so wohlerzogen. Blanche hatte eine betörende Kurtisane erwartet, aber Miss Fitzgerald war keine atemberaubende Schönheit gewesen. Hatte Tyrell vielleicht von ihrem höchst unpassenden Besuch bei seiner früheren Mätresse erfahren?

„Blanche, es gibt etwas, das ich Ihnen sagen muss, auch wenn es mir ungemein schwer fällt. Ich möchte Sie auf keinen Fall aufregen, aber ich fürchte, das könnte geschehen.“

Sie zupfte an einem der Kissen. „Hat es etwas mit Miss Fitzgerald zu tun?“

Überrascht sah er sie an. „Dann haben Sie also von ihr gehört?“

Sie nickte und musterte ihn gründlich. Es war ihr noch immer unmöglich, seine Gedanken zu lesen. „Vater erzählte mir von Ihrer … äh … früheren Beziehung.“ Sie lächelte ihm beruhigend zu. „Das ist in Ordnung, Tyrell, ich bin weder verletzt noch empört. Ich weiß, diese Affäre war im letzten Sommer, als wir noch nicht sehr lange verlobt waren.“

„Haben Sie noch niemals irgendwem irgendetwas Böses gewünscht?“

„Das liegt nicht in meiner Natur“, erwiderte sie wahrheitsgemäß und wünschte sich dabei, nur ein einziges Mal genug zu fühlen, um Hass oder Abscheu gegen jemanden zu empfinden. Sie seufzte. „Ich werde niemals wütend.“

Er stand auf. „Ich bezweifle nicht, dass Sie auf mich gleich ganz schrecklich wütend werden. Blanche, Sie sind eine großartige Frau. Sie wären eine wunderbare Countess und als meine Gemahlin eine wirkliche Bereicherung. Ich habe sehr gründlich über all das nachgedacht. Es liegt mir völlig fern, Sie verletzen zu wollen, aber ich sehe keine Möglichkeit, dies zu vermeiden. Ich kann Sie nicht heiraten.“

Erleichterung durchströmte sie, und dann erst bemerkte sie, dass sie sich erhoben hatte. „Sie können mich nicht heiraten?“, brachte sie schließlich heraus. Sie konnte kaum glauben, dass er genau wie sie dieser Angelegenheit ein Ende setzen wollte.

Ernst schüttelte er den Kopf. „Ich wiederhole es, es tut mir so leid. Es liegt nicht an Ihnen oder an etwas, das Sie vielleicht getan haben. Lange ehe wir einander begegnet sind, habe ich mein Herz einer anderen geschenkt. Ich habe beschlossen, sie zur Frau zu nehmen, ungeachtet des Vermögens, das ich dabei verlieren werde. Ich werde sehr genau wirtschaften müssen, um Adare zu sichern, vorausgesetzt natürlich, ich werde nicht enterbt.“

„Sie müssen Miss Fitzgerald sehr lieben“, rief Blanche aus. Sie war vollkommen fasziniert. Es war ihr klar, dass er wegen der Entscheidung, die er hier traf, enterbt werden würde. „Sie ziehen die Liebe der Pflicht vor!“

„Das tue ich“, erwiderte er ernst. „Sind meine Gefühle so offensichtlich?“

„An Ihnen ist nichts offensichtlich“, entgegnete Blanche und fragte sich, wie es wohl sein mochte, so sehr zu lieben. „Ich habe Miss Fitzgerald gestern getroffen, Tyrell“, sagte sie. „Sie ist eine außergewöhnlich liebenswerte und selbstlose Frau. Eigentlich hatte ich eine hinreißende Schönheit erwartet, doch sie wirkt eher unscheinbar. Es schien mir eindeutig, dass Ihr Verhältnis auf wahrer Liebe beruhte und nicht auf niederen Empfindungen. Und, Tyrell, es ist offensichtlich, dass sie Sie von Herzen liebt.“

Endlich sah sie in seinen Augen ein Gefühl, das sie zu deuten vermochte. Es war Hoffnung. „Das hat sie Ihnen gesagt?“

„Das war gar nicht nötig.“ Blanche dachte an das, was ihr Vater getan hatte. Es schien ihr sehr wichtig zu sein, dass Tyrell davon erfuhr. „Tyrell, mein Vater sagte mir, dass er sich in Ihr Verhältnis zu Miss Fitzgerald eingemischt hat. Allem Anschein nach hat er sie ermutigt, Sie zu verlassen. Außerdem erzählte er mir, sie hätte Ihnen vor ihrer Abreise einen Liebesbrief geschrieben. Er hat zugegeben, ihn vernichtet zu haben. Er hatte Angst vor dem, was Sie vielleicht tun könnten, wenn Sie ihn erst gelesen hätten.“

Er sah sie lange an, und sein Gesicht drückte eine Mischung aus Zorn und Überraschung aus. „Ich danke Ihnen, dass Sie mir das gesagt haben“, erwiderte er schließlich. Dann wurde seine Miene wieder freundlicher. „Und Sie, Blanche? Wie geht es Ihnen?“

„Mir geht es gut.“

Nachdenklich musterte er sie. „Jede andere Frau hätte inzwischen schon einen hysterischen Anfall erlitten. Zwar weiß ich, dass so etwas gegen Ihre Natur wäre, aber Sie wirken völlig unbeeindruckt von den Geschehnissen.“

„Ich bin nicht verzweifelt, weil Sie eine andere heiraten wollen und ich deswegen hier in Harrington Hall bleiben werde. Um ehrlich zu sein, ich bin erleichtert.“

Das schien ihn zu überraschen. „Es gelingt mir einfach nicht, Sie zu verstehen.“

Plötzlich glaubte sie zu wissen, was er möglicherweise dachte.„Ich wollte Sie damit auf keinen Fall kränken, Tyrell. So wie Sie eben sagten, dass Ihre Entscheidung nichts mit mir zu tun hat, so wurde meine Entscheidung durch keine Ihrer Handlungen beeinflusst.“

„Sie lieben einen anderen.“

Jetzt wirkte sie nicht mehr erleichtert, sonder vielmehr verzweifelt, und wandte sich ab. „Nein, ich fürchte, das ist nicht der Fall.“

Tyrell trat zu ihr und legte eine Hand auf ihren Arm. In den vier Monaten ihrer Bekanntschaft hatte er sie noch kein einziges Mal berührt, nicht einmal, um sie aus einem Zimmer zu begleiten. Abgesehen von den beiden Malen, an denen er sie geküsst und sie dabei kühl und teilnahmslos gelassen hatte. Seine Berührung gefiel ihr nicht, daher drehte sie sich zu ihm um. Er sah sie an.

„Sie verhalten sich mir gegenüber ausgesprochen großzügig. Sollte sich jemals die Gelegenheit dazu ergeben, so würde ich mich gern revanchieren. Warum sind Sie jetzt so bedrückt, wenn doch die Auflösung unserer Verlobung Ihnen nichts bedeutet?“

Blanche wandte den Blick ab und lächelte traurig. „Ich bin nicht fähig zu lieben, Tyrell. Haben Sie das noch nicht gemerkt?“

„Jeder Mensch ist fähig zu lieben.“

Sie fühlte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. „Ich bin glücklich, aber niemals begeistert. Ich bin traurig, aber niemals zu Tode betrübt. Mit meinem Herzen stimmt etwas nicht – es schlägt zwar, aber es weigert sich, mir mehr als nur eine Andeutung von Gefühlen zu schenken.“

Er war erschrocken. „Ich bin sicher, dass eines Tages der richtige Mann Sie von Ihrem Leid kurieren wird.“

„Es ist schon beinah mein ganzes Leben lang so“, sagte sie und schloss die Augen. Der Aufstand.Vage und verschwommen erinnerte sie sich an Bilder von Gewalt und unaussprechlichen Ereignissen, und sie wehrte sich dagegen. Nachdem die Dämonen sich hinter die Schleier verlorener Erinnerungen zurückgezogen hatten, öffnete sie die Augen und sah Tyrell an. „Wie fühlt es sich an, Tyrell? Wie fühlt es sich an, wenn man jemanden liebt?“

„Es fühlt sich an wie ein Wunder“, sagte er langsam und suchte nach den richtigen Worten. „Ein staunenswertes Wunder, dass es so viel Freude und eine so tiefe Verbindung geben kann zwischen zwei Menschen. Es ist ein Gefühl von Liebe und Hingabe, als wäre man endlich vollständig.“

Sie lächelte. „Ich freue mich sehr für Sie. Für Sie beide.“

„Und ich bin Ihnen zutiefst dankbar. Blanche, ich habe es ernst gemeint. Sollten Sie mich jemals brauchen, so werde ich für Sie da sein, egal, wie groß oder wie unbedeutend Ihre Bitte auch sein mag. Ich stehe tief in Ihrer Schuld.“

Sie nickte. „Das ist sehr freundlich von Ihnen.“

„Jetzt werde ich mit meinem Vater sprechen und danach mit Ihrem.“

„Wegen Vater müssen Sie sich keine Sorgen machen. Zuerst wird er sehr wütend sein, aber er hat mich noch nie gezwungen, etwas gegen meinen Willen zu tun. Wenn es Ihr Wunsch ist, so werde ich zuerst mit ihm sprechen.“

„Auf gar keinen Fall. Es ist meine Pflicht, mich darum zu kümmern, und das werde ich auch tun.“

Blanche neigte den Kopf. Sie hatte verstanden.

Tyrell hatte seinen Vater um eine Audienz gebeten. Der Earl saß in der Bibliothek an seinem Schreibtisch und war in die London Times vertieft. Daneben lag eine Ausgabe der Dublin Times. Tyrell zögerte kurz, ehe er den Raum betrat.

Blanches Zustimmung hatte ihn überrascht, aber im Augenblick war sie die geringste seiner Sorgen. Er war nicht sicher, ob es ihm gelingen würde, Elizabeth zu einer Heirat mit ihm zu überreden, nach allem, was bisher geschehen war, aber er war fest dazu entschlossen. Er würde sie umwerben, wie lange es auch dauern mochte. Jetzt allerdings hatte er einen anderen Kampf zu bestehen. Er war fest davon überzeugt, dass man ihn enterben würde.

Adare bedeutete ihm alles – doch Elizabeth war ihm noch wichtiger. Wenn es nicht anders ging, dann würde er auf sein Erbe verzichten, sollte das die Voraussetzung sein, Elizabeth zu bekommen. Wie Blanche es gesagt hatte: Er hatte sich für die Liebe entschieden. Aber er war bereit zu kämpfen. Sosehr er Elizabeth liebte, Adare wollte er nur ungern aufgeben. Er war bereit, sich der Auseinandersetzung mit seinem Vater zu stellen, um beides zu erlangen. Dass er gleich jetzt einen Sieg erringen würde, daran glaubte er nicht – tatsächlich rechnete er damit, dass es mehrere Monate dauern würde. Gewiss würde er die Countess und seine Geschwister um Hilfe bitten müssen, wenn er seinen Vater auf seine Seite ziehen wollte.

Sollte es ihm tatsächlich gelingen zu gewinnen, dann musste er sich um seine Zukunft kümmern. Aber er hatte ausführlich über die Familienfinanzen nachgedacht, und auch wenn es nicht leicht sein würde, so hatte er doch mehr als nur einen Plan entwickelt.

„Tyrell?“

Als er die Stimme seines Vaters hörte, drehte Tyrell sich um. Quer durch den Raum sahen sie einander in die Augen. Langsam, als ahne er etwas von der Auseinandersetzung, die ihm bevorstand, erhob sich der Earl. „Du wolltest mich sprechen?“, fragte er.

„Ja.“ Tyrell trat an den Schreibtisch, der jetzt zwischen ihnen stand. „Wie bist du in all den Jahren zurechtgekommen als Earl of Adare?“, fragte er ruhig. Er hatte diese Frage schon seit Langem stellen wollen.

Der Earl wirkte keineswegs überrascht. „Als ich in deinem Alter war, lebten wir noch in einer ganz anderen Welt. Die Gesellschaft war noch nicht in demselben Maße von Handel und Maschinen geprägt. Mein Augenmerk habe ich damals vor allem auf Irland gerichtet. Gekämpft habe ich in erster Linie mit den Briten, und in jenen Tagen war das ein schwerer Kampf. Ich war fest entschlossen, meine Pächter zu schützen und ihnen ihre wenigen Rechte zu bewahren, während ich gleichzeitig die Briten unter Kontrolle hielt.“

„Aber das war eine große Last, oder?“ Mit der Geschichte Irlands kannte Tyrell sich gut aus.

„Es gab Zeiten“, gestand Edward ein, „da fühlte ich mich viel zu klein und zu unbedeutend für eine so große Verantwortung. Anders als du hatte ich keine Brüder, und meine einzige Schwester hatte einen Engländer geheiratet. Aber dann begegnete ich deiner Stiefmutter und heiratete sie. Marys Liebe gab mir die Kraft, die Last zu tragen, die Adare zuweilen bedeutet.“

Tyrell sah seinen Vater an. „Ich liebe Miss Fitzgerald von ganzem Herzen, und ich hoffe sehr, dass ihre Liebe und ihre Stärke mir ebenfalls die Kraft verleihen werden, die Last zu tragen, die Adare zuweilen bedeutet.“

Der Earl erwiderte seinen Blick. Dann sagte er schließlich. „Mary hat mir vorausgesagt, dass es dazu kommen würde.“

„Früher hätte ich mir niemals träumen lassen, dass es einen Tag geben würde, an dem ich dich enttäuschen muss“, erklärte Tyrell leidenschaftlich. „Es gibt niemanden auf der ganzen Welt, den ich mehr bewundere als dich, Vater. Aber ich kann Adare beschützen und seine Zukunft sichern, wenn ich Elizabeth an meiner Seite weiß, als meine Gemahlin.“

Ein Schatten legte sich auf das Gesicht des Earls, und er setzte sich. „Nie zuvor habe ich dich so bedrückt und nachdenklich erlebt wie in den letzten Monaten, seit der Sommer endete. Seit sie fortging.“

Tyrell stützte sich auf den Tisch. „Ich habe dir etwas zu sagen.“

Der Earl hob den Kopf.

„Elizabeth ist nicht Neds leibliche Mutter.“

Offensichtlich war der Earl überrascht. „Was sagst du da?“

„Elizabeth hat meinen Sohn an Kindes statt angenommen und ihren Namen, ihren Ruf, ihr ganzes Leben geopfert, um ihm ein Heim geben zu können. Und als sie mich auf Wicklow zurückließ, besaß sie noch einmal den Mut, alles zu opfern, um das zu tun, was für Ned am besten war. Dafür hat es ihr das Herz gebrochen. Sie besitzt die Fähigkeit, selbstlos zu handeln, und sie hat sehr viel Mut.“

Langsam stand Edward auf. „Das wusste ich nicht, Tyrell. Und ich beginne zu ahnen, worauf du hinauswillst. Allerdings überraschen mich weder ihr Mut noch ihre Opferbereitschaft. Wie sollte es auch? Sie ist bekannt für ihre guten Taten.“

„Sie wird eine großartige Countess sein“, sagte Tyrell entschieden. „Oder willst du das bestreiten?“

„Nein, das will ich nicht.“ Edward musterte seinen Sohn. „Ich bin überzeugt, dass du dich darauf eingestellt hast, alles für sie zu opfern.“

„Vater, ich will mit dir nicht wegen des Titels kämpfen“, sagte Tyrell. „Aber ich würde es tun. Mit einem einzigen Federstrich könntest du alles ändern, aber ich weiß, dass du niemals so überstürzt handeln wirst. Ich glaube, wenn wir uns alle zusammentun, meine Mutter, meine Brüder und ich, dann können wir dich überreden. Damit versuche ich nicht, die Familie gegen dich aufzubringen, aber ich bin am besten dafür geeignet, den Titel und den Familienbesitz zu bewahren. Dazu bin ich erzogen worden. Auch ohne Blanches Vermögen können wir überleben. Genau genommen habe ich beschlossen, als erste geschäftliche Handlung Wicklow zu verkaufen, denn das ist inzwischen eine Extravaganz, die keinem bestimmten Nutzen mehr dient.“

Dem Earl stiegen Tränen in die Augen. „Niemals könnte ich gegen dich antreten, Tyrell. Du bist mein Stolz und meine Freude. Ich verstehe dich. Ich verstehe, dass du deine große Liebe gefunden hast, eine Liebe, wie ich sie auch für Mary empfinde. Ich verstehe, dass dir diese Entscheidung nicht leichtgefallen ist, und abgesehen von der Vermögensfrage, halte ich Miss Fitzgerald als neue Countess für wesentlich besser geeignet als Lady Blanche.“

Tyrell war erstaunt. „Vater! Was sagst du da? Willst du mir gerade erklären, hier und jetzt, dass du einer Verbindung mit Elizabeth zustimmen wirst?“

Er nickte. „Es würde deine Mutter sehr glücklich machen, und um ehrlich zu sein, ich war noch niemals so besorgt wie in den letzten Monaten, als ich dich so bekümmert und ohne jede Lebensfreude sehen musste.“

Schockiert setzte Tyrell sich hin.

„Ich glaube, ich habe immer gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Ich habe mich nur geweigert, es mir einzugestehen. Ich kann ein sehr eigensinniger alter Mann sein“, fügte er lächelnd hinzu.

Tyrell schüttelte den Kopf. „Eigensinnig? Niemand ist offener als du. Vielen Dank, Vater, vielen, vielen Dank.“ Er stand auf und umarmte seinen Vater.

„Du hast meinen Segen, Tyrell. Und ich werde sofort mit Harrington sprechen.“

Tyrell brachte kein Wort heraus. Er hatte mit einem Kampf gerechnet oder doch zumindest mit einer Auseinandersetzung, stattdessen hatte sein Vater der wichtigsten Entscheidung seines Lebens zugestimmt. „Du wirst es nicht bedauern“, versicherte er.

Lizzie lag im Bett. Es war Mitternacht, doch sie konnte nicht schlafen. Wohl hundert Mal war sie ihren Besuch in Harmon House an jenem Tag im Geiste durchgegangen. Neds Lachen, Tyrells Blicke, jedes Wort. Dieser schreckliche Schmerz erinnerte sie an die Vergangenheit, die sie gemeinsam erlebt hatten. Freunde sehnten sich nicht danach, einander in die Arme zu nehmen, und eine Freundschaft mit Tyrell könnte sich als unmögliche Aufgabe erweisen. Und in Wahrheit ersehnte ihr Herz viel mehr als nur das. Doch Lizzies Entschluss stand fest. Sie wollte eine Freundschaft, und sie würde alles tun, was nötig war, um diese Freundschaft entstehen zu lassen.

Zuerst würde sie die schreckliche körperliche Erregung ignorieren, die nur Tyrell in ihr erwecken konnte. Lizzie holte tief Luft und starrte die Decke an. Wahre Freunde hielten zusammen, sorgten für einander und waren ehrlich miteinander. Vielleicht waren sie verdammt, was immer sie auch tun würde. Zwischen ihnen stand eine Lüge. Die Lüge, die Neds Mutter betraf.

Lizzie drehte sich auf die andere Seite. Sie hasste es, an diese Lüge zu denken, die so lange zurücklag. Sie hatte Anna versprochen, ihr Geheimnis mit ins Grab zu nehmen, doch jetzt schien es ein Hindernis auf dem Weg zu einer Freundschaft mit Tyrell zu sein. Auch wenn es sein Leben im Augenblick nicht beeinflusste, so beeinflusste es vielleicht doch seine Gefühle für sie. Sollte er jemals die Wahrheit erfahren, so würde es ihm nicht gefallen, dass sie ihn so belogen hatte.

Lizzie sprang aus dem Bett. Aus alldem konnte nur ein einziger Schluss gezogen werden. Wenn es überhaupt die Hoffnung gab, dass sie Freunde werden konnten, dann musste sie die Wahrheit sagen.

Sollte es Seagram überrascht haben, sie am nächsten Morgen um halb sieben in der Früh vor der Tür von Harmon House zu sehen, so ließ er sich jedenfalls nichts davon anmerken. „Lord de Warenne nimmt das Frühstück in der Bibliothek ein, Miss Fitzgerald. Ich werde ihm sagen, dass Sie hier sind.“

Lizzie lächelte ihn so herzlich an, wie es ihr nur möglich war. „Ich werde Lord de Warenne in der Bibliothek aufsuchen, Seagram.“

Tyrell saß, nur in Hemdsärmeln, an seinem Schreibtisch. Bei ihrem Anblick erhob er sich sofort und durchquerte das Zimmer. „Elizabeth!“

Sie knickste. „Guten Morgen. Ich weiß, es ist etwas seltsam, aber …“

Er nahm ihre Hand. „Was ist passiert?“ Besorgt sah er sie an.

„Es ist alles in Ordnung. Aber ich muss mit dir sprechen. Ich weiß, es ist eine ungewöhnliche Stunde, aber ich konnte nicht schlafen.“

Er sah sie von der Seite her an, ließ aber ihre Hand nicht los. Plötzlich wurde sich Elizabeth seiner starken, warmen Hand bewusst, und ihr war, als würde ihr Herz stillstehen. Aber sie war zu müde, um ihm ihre Hand zu entziehen, und sie wollte es auch gar nicht.

„Würden Sie bitte Tee bringen, Seagram?“, sagte er.

Lizzie zog an seiner Hand. „Wir müssen unter vier Augen sprechen.“

Tyrell folgte dem Butler zur Tür und schloss sie sorgfältig hinter ihm. Dann kam er zurück zu Lizzie, die auf und ab lief. Sie war sehr angespannt.

„So schlimm wird es schon nicht sein“, sagte er.

Lizzie schüttelte den Kopf. „Ich glaube, das kommt auf dich an.“

Erstaunt sah Tyrell sie an. „Hast du die Absicht, mir zu sagen, dass du mich nicht mehr sehen willst?“

Lizzie erschrak. „Nein! Natürlich nicht. Was ich dir sagte, war ernst gemeint. Ich wünsche mir so sehr, mit dir befreundet zu sein!“

Sein Gesicht entspannte sich. „Ist das der Grund, warum du gekommen bist?“

Zitternd nickte sie. „Ich muss dir eine Geschichte erzählen.“ Sie hatte sich sehr genau überlegt, wie sie anfangen wollte.

Tyrell schien etwas verwundert zu sein, doch er schenkte ihr jetzt seine volle Aufmerksamkeit. „Na schön. Sollen wir uns setzen?“

„Nein.“ Sie verschränkte die Hände. „Meine Schwester Anna, die inzwischen verheiratet ist, war immer sehr ungestüm. Ungestüm und wunderschön.“ Sie versuchte zu lächeln, doch es gelang ihr nicht. „Du kennst sie. Du musst sie kennen. Sie war mehrmals auf den Maskenbällen auf Adare.“

Jetzt war Tyrell komplett verwirrt. „Warum reden wir über deine Schwester?“

Lizzie holte tief Luft. „Sie ist nicht böse. Aber sie ist eitel. Als Kind hat man sie immer sehr verwöhnt.“ Lizzie sprach immer schneller. „Mama hat sie verhätschelt und Papa auch. Daher kommt es wohl, glaube ich, dass sie auch als Erwachsene niemals nachdachte, ehe sie etwas nahm, um sich ihre Wünsche zu erfüllen.“

Tyrell sah ihr in die Augen. „Worum geht es hier, Elizabeth?“

Lizzie biss sich auf die Lippen, und Tränen stiegen ihr in die Augen. „In dem Brief, den ich auf Wicklow für dich zurückließ, schrieb ich dir, dass ich nicht Neds leibliche Mutter bin. Es gibt einen Grund“, flüsterte sie, „dass ich ein Jahr später nach Raven Hall zurückkehrte, mit deinem Sohn auf dem Arm, den ich als meinen ausgab.“

Tyrell war ehrlich verwirrt. Dann sah Lizzie, dass er begann, die Wahrheit zu erahnen. „Elizabeth, diesen Brief habe ich nie erhalten. Allerdings habe ich schon seit einiger Zeit vermutet, dass Ned an Allerheiligen empfangen wurde, und zwar von der Frau, die dein Kostüm trug.“

Lizzie nickte. Sie zitterte jetzt ganz schrecklich. „Diese Frau war Anna.“

Tyrell erbleichte so sehr, wie Lizzie es nie zuvor gesehen hatte.

Dann verschränkte sie die Arme. „In jener Nacht wollte ich dich treffen, Tyrell, aber Anna hatte ihr Kostüm ruiniert, und Mama bestand darauf, dass sie nach Hause ging. Sie bat mich um mein Kostüm, und dumm wie ich war, gab ich es ihr.“

Jetzt starrte er sie vollkommen ungläubig an.

Lizzie wusste, dass das Ausmaß dieses Betruges ihn empören musste. Aber war er auch mit ihr böse? „Bitte, bitte, versuch doch zu verstehen. Ich habe Anna geschworen, ihr Geheimnis niemals jemandem zu enthüllen. Obwohl ich wusste, dass es falsch war, obwohl ich wusste, dass du ein Recht darauf hattest, die Wahrheit zu erfahren. Doch an dem Tag, als Ned geboren wurde, flehte sie mich um Hilfe an. Ursprünglich hatten wir vorgehabt, Ned in gute Hände abzugeben, aber als ich ihn in den Armen hielt, da verliebte ich mich in ihn, und ich wusste, ich könnte ihn niemals hergeben! Ich beschloss, dass er von nun an mein Kind sein sollte, und wie du weißt, habe ich ihn seither geliebt, als wäre er mein leiblicher Sohn.“

Tyrell atmete schwer. „Elizabeth! Ich habe ja nicht geahnt, dass diese Frau deine Schwester war! Du warst es, auf die ich gewartet habe, und ich war sehr ärgerlich, als ich sie stattdessen traf. Gütiger Gott!“ In seinem Bemühen, das alles zu verstehen, raufte er sich das Haar. „Als ich erkannte, dass eine fremde Frau mich im Garten erwartete, war es meine Absicht zu gehen. Aber sie war sehr dreist. Sie deutete an, dass sie meinen Appetit nur zu bereitwillig stillen würde, und zornig wie ich war, nahm ich ihre Einladung an.“

„Ich weiß. Anna hat es mir gesagt“, rief Lizzie aus. „Ich weiß, dass du nicht ihr erster Liebhaber warst!“

„Nein, das war ich nicht!“, erklärte er und errötete. „Wie abscheulich das alles ist. Aber bei Gott, es erklärt so vieles. Ich habe mich immer gefragt, wen du wohl beschützen wolltest.“

Endlich setzte Lizzie sich hin, aber sie wandte den Blick nicht von ihm. Ihr war, als hätte man eine zentnerschwere Last von ihren Schultern genommen, und sie fühlte sich unsagbar erleichtert. „Ich hoffe nur, dass du nicht böse mit mir bist. Aber Tyrell, niemand darf davon erfahren. Anna ist glücklich verheiratet und erwartet ein Kind. Ihren guten Namen müssen wir schützen.“

Tyrells Miene entspannte sich. „Ja, das müssen wir natürlich. Nicht wahr, du würdest alles tun, wirklich alles, um Anna oder Ned oder all jene zu schützen, die du liebst?“

Dem konnte Lizzie nicht widersprechen. „Das bedeutet Liebe nun einmal.“

„Das bedeutet eine große Opferbereitschaft – und es bedeutet sehr viel Mut.“ Er lächelte. „Glaubst du nicht, dass ich oft darüber nachgedacht habe, wie du Ned als dein Kind ausgegeben und selbstlos deinen Ruf und dein Leben für ihn geopfert hast?“

„Da gab es nichts zu opfern“, erklärte sie und stellte erstaunt fest, dass Tyrell ihr nicht böse war.

„Ich weiß.Wie sehr du ihn liebst, das erkannte ich in der ersten Nacht, die wir miteinander verbrachten.“ Damit setzte er sich neben sie und nahm ihre Hände in seine.

Lizzie errötete. Über diese ganz besondere Schwindelei wollte sie lieber nicht sprechen. „Ich verstehe nicht.“ Doch an diesem Morgen gab es noch mehr sehr persönliche Geständnisse.

Tyrell sah sie liebevoll an. „Elizabeth, du musst mich für einen Narren halten.“

„Niemals!“ Sie spürte seine Hände und dass er nicht die Absicht hatte, sie loszulassen.

„Als wir uns das erste Mal liebten, warst du noch Jungfrau. Seit jenem Zeitpunkt weiß ich, dass Ned nicht dein leibliches Kind ist, dass du ihn liebst wie deinen eigenen Sohn und dass du versuchst, irgendjemanden zu schützen. Aber nie hätte ich geahnt, dass es deine Schwester ist.“

Überrascht starrte sie ihn an. „Aber du hast kein Wort gesagt!“

„Ich dachte, irgendwann würdest du mir die Wahrheit erzählen“, sagte er langsam und öffnete seine Arme. „Ich habe dir niemals dafür gedankt, dass du Ned als dein Kind angenommen, ihn so sehr geliebt und für ihn gesorgt hast, als er niemanden auf der Welt hatte. Du hättest ihn in ein Waisenhaus geben können, aber das hast du nicht getan. Für meinen Sohn hast du deinen Ruf und dein Leben geopfert. Elizabeth, das ist etwas, das ich seit unserer ersten gemeinsamen Nacht gewusst habe. Das ist etwas, das ich niemals vergessen habe – und auch niemals vergessen werde.“

Weder vermochte Lizzie, sich zu bewegen, noch vermochte sie zu atmen. Seine Dankbarkeit rührte sie, aber Dankbarkeit bedeutete noch nicht Liebe.

„Ich bewundere dich sehr. Es gibt niemanden, den ich mehr bewundere“, sagte er heiser und legte ihr die Hände auf die Schultern.

Es wäre so einfach, sich jetzt an ihn zu lehnen, aber sie wusste, dann würden sie innerhalb weniger Augenblicke miteinander im Bett liegen.

Daher befreite sie sich aus seiner Umarmung und stand auf. „Ich fühle mich sehr geschmeichelt, aber ich war sicher, das Richtige zu tun, Tyrell“, sagte sie.

Auch er stand auf, und sie sahen sich in die Augen. „Ned liebt dich“, sagte er.

Lizzie fühlte sich wie verzaubert. Irgendwie geschah es, dass er sie in die Arme schloss und sie ihre Hände an seine Brust legte.

„Ned liebt dich“, wiederholte er. „Genau wie ich.“

Er umfasste ihr Gesicht mit beiden Händen, und Lizzie sah in seine glühenden Augen. Er weckte Verlangen in ihr, und sie fühlte sich müde und schwach. „Ich möchte, dass du unser Leben mit uns teilst, jetzt und für immer. Ich liebe dich, Elizabeth.“

Ihr Herz schlug so heftig, dass Lizzie befürchtete, es würde zerspringen. Gerade eben hatte Tyrell ihr gesagt, dass er sie liebte, und sie liebte ihn ebenfalls. Aber sie durften ihr illegitimes Verhältnis nicht wieder aufnehmen. „Tu das nicht“, flüsterte sie.

Aber es war zu spät. Als hätte er sie nicht gehört, küsste er sie.

Es ist so lange her.

Lizzie vergaß alles um sich herum, abgesehen von dem starken Mann, der vor ihr stand. Sie vergaß alles außer ihrer Liebe und dem Verlangen, das er in ihr weckte. Tyrell presste sie an sich und küsste sie heftig und voller Leidenschaft. Einen Augenblick lang klammerte Lizzie sich an seinen starken Leib und erwiderte seinen Kuss.

Und es gab nichts, das sie sich mehr wünschte, als eins mit ihm zu werden. Aber sie durfte nicht dorthin zurückkehren, wo sie einst ein Liebespaar gewesen waren. Es würde zu sehr wehtun.

Tyrell stöhnte auf und löste sich von ihr. „Ich weiß, dass du viel mehr verdienst, Elizabeth. Ich habe es schon immer gewusst.“

Noch immer zitterte sie unter dem Eindruck seines Kusses. Plötzlich kniete er vor ihr nieder. „Was tust du da?“, fragte sie ehrlich verwundert.

„Ich bitte dich, meine Gemahlin zu werden“, sagte er. Seine Miene war ernst, und er sah sie aufmerksam an, während er ihr einen Ring entgegenstreckte. Vollkommen geschockt blickte Lizzie auf den großen Rubin, der von Diamanten umgeben war.

Und dann begann sie zu begreifen.

„Dieser Ring hat meiner Mutter gehört. Niemand sonst hat ihn jemals getragen“, sagte er. „Wirst du mich heiraten, Elizabeth?“

„Tyrell? Was tust du da? Du bist mit Blanche verlobt.“

„Ich habe mit Blanche gebrochen.“

Lizzie fühlte, wir ihr die Knie weich wurden, doch irgendwie gelang es ihr, stehen zu bleiben. „Du hast deine Verlobung mit Blanche gelöst?“, fragte sie fassungslos.

„Nicht nur das. Vater hat uns seinen Segen gegeben.“ Er lächelte sie an, doch in seinen Augen las sie auch ein wenig Angst. „Ich weiß, dass ich dir wehgetan habe. Ich schwöre auf die Bibel, Elizabeth, auf die Gräber all meiner Vorfahren, dass ich dir nie wieder wehtun werde. Ich werde dich lieben und ehren, dich beschützen und bewahren. Willst du mich heiraten?“

Er will mich heiraten. Er hat seine Verlobung mit Blanche gelöst, und der Earl hat seine Zustimmung gegeben!

Weder konnte Lizzie sich rühren, noch vermochte sie zu sprechen. Gerade gingen ihre kühnsten Träume in Erfüllung! Ihr ganzer Körper zitterte vor Erregung, und Hoffnung keimte in ihr auf. Würde sie wirklich und wahrhaftig seine Frau werden?

Lizzie stieß einen kleinen Schrei aus.

„Heißt das ja?“, fragte Tyrell und lächelte leise.

Lizzie kniete nieder und schlang ihre Arme um ihn, presste ihn fest an sich. „Ja! Ja! Ja!“

Tyrell küsste sie leidenschaftlich, dann nahm er ihre Hand. Durch den Schleier von Tränen konnte Lizzie kaum etwas erkennen, aber sie sah, wie er ihr den Ring aus dem Familienbesitz über den Finger schob. „Kann das wirklich wahr sein?“, fragte sie und wagte es endlich, den Rubinring zu bewundern. „Ich habe Angst, dass ich aufwache und in meinem Bett liege, allein und ungeliebt.“

Er lachte. „Es ist kein Traum. Und ich glaube, ich weiß auch, wie ich dich davon überzeugen kann. Natürlich wirst du in einem Bett aufwachen – in meinem!“

Seine Stimme klang heiser vor Verlangen, sein Blick war voller Sehnsucht. In ihr loderte heiß das Feuer.

Langsam und sehr verführerisch lächelte er ihr zu. „Ich hätte gern noch einen Sohn.“

Lizzie holte tief Luft, denn es gab keine Worte, mit denen er sie mehr hätte rühren können. Es war so lange her – sie wollte ihn in sich spüren, und zwar nicht irgendwann, sondern jetzt. „Dann will ich dir noch einen Sohn schenken, Tyrell“, brachte sie heraus.

Sie sahen einander an, lange und ganz offen. Und dann lag sie in seinen Armen, während er ihren Rücken streichelte, ihre Hüften und sie noch fester an sich presste. „Heute Morgen kann ich nicht warten“, flüsterte er.

„Ich weiß“, sagte sie und streckte die Hand nach seinem schönen Gesicht aus. „Tyrell“, flüsterte sie, und es klang wie ein Flehen.

Und das war es auch, er hatte es schon oft gehört und hätte es jederzeit wiedererkannt. Seine Augen glühten, als er sie erregt an sich zog und sie küsste. Als er sie zum Sofa trug, hatte er schon eine Hand unter ihre Röcke geschoben.

Bald schon würde sie mehr sein als eine Geliebte, sie würde seine Gemahlin sein. Lizzie stöhnte auf, als er ihre Schenkel berührte. Bereits so erregt, dass sie glaubte, es nicht länger ertragen zu können, begann sie zu weinen. „Ich kann nicht mehr warten“, schluchzte sie und küsste ihn.

„Ich ebenso wenig“, flüsterte er und griff nach seiner Hose. Lizzie sah ihm in die Augen und glaubte, ein ganzes Universum darin zu entdecken. Er lächelte und drängte sich an sie, doch dann hielt er plötzlich inne. „Ich liebe dich, Elizabeth. Ich liebe dich, meine Gemahlin.“

Lizzie konnte sich nicht länger zurückhalten. Seine Worte genügten, um sie zum Höhepunkt zu führen, und sie glaubte zu explodieren, glühend vor Hitze und vor Verlangen, während er in sie hineinstieß, heftig und leidenschaftlich, und gleich darauf schrie er auf.

Lizzie streichelte seinen Rücken. Sie fühlte, wie er sich entspannte und sich zur Seite drehte, sie in die Arme nahm, sodass sie einander anschauen konnten. Das Sofa war viel zu schmal für sie beide, und sie brachen in Gelächter aus.

„Ich fürchte, ich bin ein schlechter Liebhaber geworden“, sagte er. „Oder bevorzugst du inzwischen ein schnelles Zwischenspiel?“

Lizzie lächelte. „Ja, irgendetwas ist anders geworden, oder?“ Doch dann lachte sie, denn er war immer noch erregt, und es war ihr egal, wie lange oder wie kurz ihr Liebesspiel gewesen war.

Plötzlich wurde er ernst, beugte sich über sie und küsste ihre Schläfen. „Ich werde es wiedergutmachen“, sagte er. „Wann immer du willst.“

„Ich weiß. Das ist nicht zu übersehen.“ Sie reckte sich, um ihn auf den Mund zu küssen.

Er schob eine Hand in ihr Haar. „Bist du glücklich, Elizabeth? Denn das ist alles, was ich will. Niemand verdient seinen Seelenfrieden so sehr wie du.“

„Noch niemals zuvor bin ich glücklicher gewesen, Tyrell“, sagte sie und spürte, dass er über irgendetwas reden wollte. „Und du? Bist du glücklich?“

„Ja, mehr als glücklich, Elizabeth.“ Er lächelte ein wenig. „Ich weiß, du glaubst, ich würde mich nicht daran erinnern, aber ich weiß es sehr wohl noch.“

Sie war verwirrt. „Wovon redest du?“

„Von dem Tag, als ich dein Leben rettete, als du ein kleines, rundliches Kind warst, das lieber in einem Buch las, als Pirat zu spielen.“

Lizzie saß völlig reglos da. Ihr Puls hämmerte. „Du erinnerst dich daran, dass ich in den Fluss fiel?“

Noch einmal gab er ihr einen raschen Kuss. „Wie könnte ich das je vergessen? Und es war der See, mein Liebling, nicht der Fluss. Wärst du in den Fluss gefallen, hätte nicht einmal ich dich retten können, denn dazu ist die Strömung viel zu gefährlich.“

Lizzie war verblüfft. Wie kam es, dass auch er sich an jenen Tag vor so langer Zeit erinnerte?

„Ich war mit meinen Brüdern und Stiefbrüdern um die Wette geritten, denn ich hatte einen neuen Hengst, den ich vorführen wollte. Wir waren eine ziemlich wilde Truppe“, fügte er lächelnd hinzu. „Und weil wir verschwitzt und schmutzig waren, beschlossen wir, am See eine Pause einzulegen, um zu schwimmen. Dort fand gerade ein Picknick statt, und das erste, was ich sah, war dieses niedliche Mädchen, das seine Nase in ein Buch vergraben hatte – in ein Buch, das mehr als halb so groß war wie das Mädchen selbst.“

Lizzie wagte kaum zu atmen, stattdessen kniff sie sich, um sicherzugehen, dass sie noch wach war. „Irgendein Junge nahm es mir weg.“

„Ja, so ein Grobian nahm es, und du bist ihm nachgelaufen, und ich hätte ihn am liebsten verprügelt. Aber dann warf er das Buch in den See. Du wolltest es herausholen – und bist kopfüber hineingefallen.“

„Warum erinnerst du dich daran?“, flüsterte sie, zutiefst erschüttert.

Er zuckte die Achseln. „Ich habe es nie vergessen. Ich bin hinabgetaucht, habe dich herausgeholt, und du hast mir tief in die Augen gesehen und mich gefragt, ob ich ein Prinz bin.“

Bist du ein Prinz?

Nein, Kleines, das bin ich nicht.

„An jenem Tag habe ich mich in dich verliebt. Ich weiß, ich war erst zehn und du schon so viel älter, aber in meinen Augen warst du ein Prinz … mein Prinz.“

Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Niemals habe ich diesen Tag vergessen, Elizabeth. Und jedes Mal, wenn ich dich in der Stadt sah – meistens mit einem Buch – oder auf unserer Gartenparty am St. Patrick’s Day, fühlte ich das dringende Verlangen, dich zu beschützen – für den Fall, dass sich dir wieder ein Grobian nähern sollte.“

„Du … du wusstest, wer ich war?“, rief sie verblüfft.

Jetzt lächelte er nicht. „Als ich auf der High Street die Kutsche sah, von der du unweigerlich überfahren worden wärst, da empfand ich eine Furcht wie nie zuvor in meinem Leben – und wie danach nur auf Wicklow, als Harrington ankam und ich wusste, dass du mich verlassen würdest.“

„An jenem Tag, als diese Rüpel mich überfahren wollten – da wusstest du, wer ich war?“

„Ja, und als ich dich aus der Gefahrenzone zog, da wurde mir bewusst, dass dieses Kind nicht länger existierte. In meinen Armen hielt ich eine Frau, eine sehr betörende Frau.“

Es fiel Lizzie sehr schwer zu sprechen. „Was versuchst du, mir zu sagen?“

„Ich sah zu, wie du von einem Kind zur Frau wurdest. Seit jenem Tag am See war ich entschlossen, dich zu beschützen. Auf der High Street verliebte ich mich in dich. Seither habe ich dich immer geliebt.“

Er hatte zugesehen, wie sie heranwuchs. Seit Jahren schon hatte er sie geliebt. Noch immer ganz fassungslos begab Lizzie sich in seine Arme. Jahrelang hatten sie einander aus der Ferne geliebt. Sie fragte sich, was wohl geschehen wäre, wenn sie ihn zu einem Stelldichein am Abend von Allerheiligen getroffen hätte. Doch das war nicht Gottes Plan gewesen. Sein Plan hatte Ned eingeschlossen.

„Du weinst“, flüsterte Tyrell.

„Es sind einfach nur Tränen unermesslicher Freude“, erwiderte Lizzie. Es war beinah zu viel Freude, um sie ertragen zu können.

„Es gefällt mir sehr, dass ich dir nach all der langen Zeit Tränen der Freude entlocken kann!“, sagte er. „Wann möchtest du heiraten?“

Lizzie blinzelte. „Heute.“

Er lachte. „Und abgesehen davon?“

„Sobald wie möglich.“ Nie zuvor hatte sie etwas ernster gemeint.

Er nahm ihre Hand und zog sie an die Lippen, seine Augen waren so ernst wie ihre. „Ich würde dich gern auf Adare heiraten, Elizabeth.“

„Oh ja!“, rief sie. „Wann können wir abreisen? Wann können wir nach Hause zurückkehren?“

„Ich könnte heute aufbrechen, falls das nicht zu früh ist für dich“, sagte er lächelnd.

Sie dachte zurück an jenen Tag am See, als ein schöner Märchenprinz sie vor dem Ertrinken gerettet hatte. Sie dachte an ihren ersten Ball und an einen dunklen, gefährlichen Piraten, der sie zu einem Stelldichein aufgefordert hatte. Und sie dachte an Gottes größtes Geschenk, den Tag von Neds Geburt, und wie sie ihren Sohn zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte. Sie dachte daran, wie sie in Schande von ihren Eltern nach Adare geführt worden war, wo sie darauf wartete, dass Tyrell sie als Flittchen und Lügnerin hinstellte, und an die wundervollen Monate, die sie als Familie auf Wicklow verbracht hatten. Jetzt dachte sie nicht an den Schmerz der Trennung. Stattdessen malte sie sich die Hochzeit aus, die bald stattfinden würde, dort in der großen Halle, im Haus seiner Vorfahren. Irgendwann würden ihre Kinder die Zimmer und Gänge mit Leben erfüllen, und dort würden sie in die Fußstapfen von Generationen der de Warennes treten, die ihnen vorausgegangen waren. Männer und Frauen, die gelebt und geliebt hatten, die gestorben waren im Kampf für Ehre, Pflicht und Familie.

„So gern würde ich nach Hause zurückkehren“, flüsterte Lizzie. „Ich kann es kaum noch erwarten.“