10. Kapitel

Eine ausweglose Lage

Zum Mittagessen war die ganze Familie im Speisezimmer versammelt. Eleanor hatte sich erhoben, in der Hand ein Weinglas, gegen das sie jetzt mit einem Teelöffel schlug. Alle drehten sich zu ihr um. „Ich habe etwas zu sagen“, verkündete sie.

Lizzie hatte sich ganz in ihrem Kummer vergraben und konnte an nichts anderes denken als an Tyrell und seinen skandalösen Vorschlag. Sie hatte geglaubt, ihn gut zu kennen, aber nie war ihr klar gewesen, wie bestimmend er sein konnte. Und warum wollte er ausgerechnet sie zu seiner Geliebten machen? Warum wählte er dazu nicht eine Frau, die schön war, verführerisch und erfahren?

Benommen sah sie ihre Tante an. Sie ahnte nicht im Mindesten, worüber Eleanor sprechen wollte, aber vielleicht lenkte sie das von dem Lügengewebe ab, in dem sie sich verfangen hatte.

„Ich muss nach Merrion Sqare zurückkehren, um mich um meine Angelegenheiten zu Hause zu kümmern“, sagte Eleanor.

In diesem Augenblick erkannte Lizzie, wie sehr sie sich an ihre Tante gewöhnt hatte und wie sehr sie sich in den vergangenen anderthalb Jahren auf sie verlassen hatte. Sie war selbstsüchtig genug, um nicht zu wollen, dass Eleanor fortging. Aber ihre Tante hatte viel für sie und Ned geopfert, und es war an der Zeit, dass sie wieder an sich dachte.

Und dann sah Eleanor sie direkt an. „Es tut mir leid, Elizabeth, aber die Angelegenheit ist uns völlig aus den Händen geglitten“, erklärte sie mit ernster Miene.

Lizzie richtete sich kerzengerade auf. Was meinte Eleanor damit?

„Vielleicht wirst du mir eines Tages dankbar sein, vielleicht auch nicht. Aber ich muss das tun, was ich für Ned, für seinen Vater und, wie ich hoffe, auch für dich für das Beste halte.“ Es war, als spräche sie allein zu Lizzie.

Zitternd sprang Lizzie auf. „Eleanor, nein, bitte tu es nicht!“

„Es tut mir leid, mein Kind. Aber ich muss jetzt auf mein Gewissen hören.“ Sie wandte sich an Mama und Papa. „Tyrell de Warenne ist Neds Vater“, sagte sie.

Mama schrie auf, und Papa erbleichte.

„Wie kannst du mir das antun?“, fragte Lizzie, außer sich vor Entsetzen. „Du hast es mir versprochen!“

Eleanor wirkte sehr traurig. „Ich habe versprochen, Tyrell nichts davon zu sagen, dass er der Vater ist, und das habe ich auch nicht getan. Du wusstest, dass irgendwann die Wahrheit ans Licht kommen würde.“

„Ach, wie du dich jetzt herausredest aus deinem Versprechen! Und … nein, ich habe das nicht gewusst. Diesen Verrat werde ich dir niemals verzeihen!“, rief Lizzie voller Zorn. „Niemals!“ In diesem Augenblick erkannte sie, dass ihr Leben nie mehr so sein würde wie bisher. Und auf einmal hatte sie Angst.

Georgie nahm ihre Hand. „Lizzie, ich glaube auch, dass es so am besten ist!“

Wie konnte es so am besten sein? Jetzt war das Geheimnis heraus, und früher oder später würde Tyrell entdecken, dass er Neds Vater war. Wenn dieser Tag gekommen war, würde Lizzie ihren schlimmsten Albtraum erleben – man würde ihr Ned wegnehmen. „Wie kannst du dich jetzt auch noch gegen mich wenden?“ Lizzie schüttelte Georgies Hand ab.

Mama sprang auf. „Das kann nicht wahr sein! Ist das ein Scherz? Ein schrecklicher und grausamer Scherz?“

„Es ist kein Scherz, Lydia“, sagte Eleanor und setzte sich wieder. Lizzie vermied es, zu ihr hinzusehen.

Mama sah Lizzie mit großen Augen an.

„Das kannst du nicht machen, Mama. Du kannst es Tyrell nicht sagen. Verstehst du das? Sobald er weiß, dass Ned sein Sohn ist, wird er ihn mir wegnehmen!“ Lizzie war außer sich vor Entsetzen. Sie musste Mama und Papa davon überzeugen, zu diesem Thema Stillschweigen zu bewahren. Lizzie konnte sich nicht einmal andeutungsweise vorstellen, was geschehen würde, wenn über Ned gesprochen wurde. Schließlich wusste Tyrell, dass sie niemals zusammen gewesen waren. Wenn sie sich ihm gegenüber rechtfertigen müsste, dann müsste sie auch erklären, dass sie nicht Neds Mutter war. Annas Geheimnis wäre verraten, und sie wäre ruiniert.

Aber wenn ich darauf beharre, Neds Mutter zu sein, dann wird Tyrell lediglich leugnen, dass er der Vater ist. Tyrell wird nur einen Blick auf mich werfen und mich dann auslachen.

Als Mama sich jetzt an Papa wandte, war sie ganz außer sich. „Papa! Kannst du das glauben? Tyrell de Warenne ist der Vater von Lizzies Kind!“

Papa hatte sich ebenfalls erhoben. Er war sprachlos.

„Papa! Komm zu dir!“, rief Mama aufgeregt. „Der Earl und die Countess sind hier. Wie ich hörte, ist Lord Harrington mit seiner Tochter eingetroffen, und die Verlobung soll am Wochenende bei einem Ball verkündet werden. Wir müssen sofort um ein Gespräch ersuchen. Vielleicht sogar noch heute!“

Lizzie ließ sich auf ihren Stuhl sinken. Konnte sie es wagen, weiterhin zu behaupten, Neds Mutter zu sein? Konnte sie es wagen, Tyrell mit dieser Behauptung gegenüberzutreten? Aber verdiente Anna nicht ihr Glück? Es reichte doch, wenn Ned später die Wahrheit erfuhr, oder etwa nicht? Nur vage spürte sie, wie Georgie ihre Schulter umfasste, um sie ein wenig zu trösten. Lizzie konnte sich nicht vorstellen, dass man ihr jetzt Ned fortnehmen sollte.

Papa sagte: „Nein, Mama, morgen Mittag werden wir nach Adare gehen. Hab keine Angst. Der Earl wird mit mir sprechen, und sein Sohn wird sich unserer Tochter gegenüber richtig verhalten.“

Alles wurde mit jeder Minute nur noch schlimmer. Lizzie sprang auf. „Meinst du, dass …“

„Eine Heirat“, erklärte Papa entschieden. „Ich meine eine Heirat, Lizzie. Er hat mit dir ein Kind gezeugt, und er wird dich jetzt heiraten!“

Lizzie schüttelte den Kopf. Allein die Vorstellung, in Adare als Mutter von Tyrells Kind präsentiert zu werden, entsetzte sie. „Niemals wird er einverstanden sein, mich zu heiraten. Du hast selbst gesagt, dass seine Verlobung mit einer englischen Erbin bevorsteht. Es ist völlig sinnlos, Tyrell zur Rede zu stellen. Niemals wird er zugeben, dass Ned sein Kind ist“, erklärte sie und fügte bestimmt hinzu: „Er wird es leugnen.“

„Du bist eine Nachfahrin der Keltenkönige“, rief Papa und hob seine Faust. „Dein Urahn, Gerald Fitzgerald, war der Earl of Desmond – zu seiner Zeit herrschte er über den ganzen Süden Irlands!“

„Und wurde deswegen geköpft“, murmelte Georgie, aber niemand außer Lizzie hörte ihre Bemerkung.

„Durch deine Adern fließt blaueres Blut als das der de Warennes“, rief Papa mit hochrotem Kopf. „Sie sind nicht einmal Iren. Du wirst königliches Blut in ihre Linie bringen.“

Nie zuvor hatte Lizzie ihren Vater so aufgeregt erlebt, und fassungslos starrte sie ihn an. Ganz offensichtlich glaubte er, was er da sagte. Hatte er den Verstand verloren? „Er wird mich niemals heiraten“, wiederholte Lizzie verzweifelt. „Papa, du musst mir zuhören. Tyrell wird nicht zugeben, dass Ned sein Sohn ist. Es hat keinen Sinn, ihn jetzt unter Druck zu setzen, und es hat keinen Sinn, es ihm zu erzählen. Wir können Ned allein aufziehen. Bitte versuch es gar nicht erst.“

„Seinen eigenen Sohn wird er nicht verleugnen! Nein, Lizzie, er wird dich heiraten, oder ich will nicht mehr Fitzgerald heißen!“, erklärte Papa entschlossen.

Leise betrat Georgie das Schlafzimmer. Lizzie wusste, auch ohne aufzusehen, dass sie es war. Sie lag im Bett, auf die Seite gerollt, den schlafenden Ned im Arm, und Tränen liefen ihr über die Wangen. Sie schämte sich für ihre Eltern, sie hatte Angst, dass Neds zukünftige Ansprüche gefährdet sein könnten – und sie fürchtete sich vor Tyrell.

Jetzt schien er sie zu begehren, aber ganz bestimmt würden seine Gefühle sich ändern, wenn sie zu ihm geführt wurde und behauptete, die Mutter seines Kindes zu sein. Der Schmerz überwältigte sie, und sie schloss die Augen. Wenn er ihre Behauptung nicht bestätigte, würden ihre Eltern ihn für einen gewissenlosen Kerl halten.

Georgie setzte sich ans Fußende ihres Bettes. „Können wir reden?“, fragte sie und berührte ihren Fuß.

Lizzie unterdrückte ein Schluchzen. Jetzt hatte sie nicht einmal mehr ihre Tante als Vertraute, obwohl sie sie doch so sehr brauchte. „Ja.“

„Eleanor liebt dich sehr, Lizzie“, sagte Georgie und streckte den Arm aus, um ihr übers Haar zu streichen. „Sie hat nur getan, was sie für richtig hielt.“

Vorsichtig, um ihren Sohn nicht zu wecken, setzte Lizzie sich auf. Sie wischte sich mit dem Handrücken übers Gesicht und sah Georgie an. „Sie hat versprochen, das Geheimnis zu wahren. Nie wieder sollst du ihren Namen erwähnen! Außerdem wird Tyrell niemals zugeben, Neds Vater zu sein.“

Georgie zögerte. „Warum bist du dir dessen so sicher? Er ist nicht dumm. Er muss Ned nur ansehen, und schon wird er die Ähnlichkeit erkennen.“

Lizzie erschauerte. Bestimmt täuschte sich Georgie, es musste einfach so sein! „Er wird niemals glauben, dass ich seinen Sohn geboren habe.“

„Ich verstehe nicht, warum nicht. Ach Lizzie, vielleicht wird er dich heiraten. Er ist ganz hingerissen von dir“, rief Georgie aus.

Lizzie sah ihre Schwester an. Sie musste ihr alles gestehen – sie hatte sonst niemanden mehr. „Er will mich nicht heiraten, Georgie. Ich begreife gar nicht, dass du so etwas glaubst, sonst bist du doch immer so vernünftig. Er hat mich gebeten, seine Mätresse zu werden.“

Georgie schrie auf.

„Du siehst also, er beabsichtigt, eine passende Ehefrau zu wählen.“ Seltsamerweise empfand sie Schmerz dabei. „Wie er es sollte“, fügte sie entschlossen hinzu. An eine Heirat hatte sie nicht einmal in ihren kühnsten Träumen gedacht.

„So ein Lump!“, rief Georgie aus. „Er schwängert dich, lässt dich beinah zwei Jahre allein, und dann erwartet er, dass du in sein Bett zurückkehrst, während er die schöne Lady Blanche ehelicht!“

Das Ausmaß von Georgies Zorn erstaunte Lizzie, bis sie den Grund dafür erkannte. Auch Georgie hatte ihre Probleme. Und in diesem Augenblick begriff sie, wie selbstsüchtig sie gewesen war. Barfuß stieg sie aus dem Bett, ging zu ihrer Schwester und umarmte sie. „Es tut mir leid. Was war mit Mr. Harold?“

Georgie hielt sich sehr aufrecht, aber in ihren Augen glänzten Tränen. „Er liebt mich trotz der sehr unglücklichen familiären Umstände“, erklärte sie bitter. „Und wegen meiner Verwandten würde er mich niemals verlassen. Ich glaube, in der Hochzeitsnacht werde ich sterben“, sagte sie und wurde sehr rot im Gesicht. „Und wie dein Freund Mr. McBane das alles genossen hat!“

Lizzie sah sie überrascht an. „Ich glaube kaum, dass Rory sich an dem Unglück einer Frau weidet“, meinte sie dann.

„Oh, da irrst du dich! Er sah mich äußerst unfreundlich an, als Mr. Harold meinen Arm tätschelte. Warum schließt du mit so einem Dandy Freundschaft?“

Lizzie erschrak. „Rory war immer sehr freundlich zu mir. Außerdem ist er klug und amüsant. Für die Dublin Times fertigt er witzige Zeichnungen. Warum bezeichnest du ihn als Dandy? Hast du nicht die Ellenbogen seiner Jacke gesehen? Sie sind ganz fadenscheinig.“

„Dann ist er eben der armselige Abklatsch eines Dandys.“ Georgie zuckte die Achseln. „Wenn seine Zeichnungen in der Dublin Times erscheinen, dann habe ich sie bestimmt schon gesehen.“

„Ich bin sicher, dass du schon viele gesehen hast.“ Lizzie wünschte, Georgie würde Rory ebenso sehr mögen, wie sie es tat.

Georgie schnaubte verächtlich. „Auf mich macht er keinen besonders klugen Eindruck.“

Lizzie seufzte und umfasste ihre Schultern. Immerzu musste sie an das schreckliche Gespräch denken, das ihr für den nächsten Tag bevorstand. Georgie täuschte sich. Tyrell wusste, er hatte nicht das Bett mit Lizzie geteilt, deswegen würde sie mit Ned aus dem Haus geworfen werden – aber das war doch genau das, was sie wollte, oder etwa nicht?

„Lizzie? Was ist los? Ich weiß genau, dass dich noch etwas beschäftigt.“

Lizzie biss sich auf die Lippe. „Du hast ja so recht. Ich bin nicht ganz ehrlich zu dir gewesen – aber ich habe etwas versprochen, das ich halten muss.“

Verwirrt sah Georgie sie an. „Wenn dieses Versprechen dich vor Schwierigkeiten stellt, dann solltest du vielleicht noch einmal darüber nachdenken.“

Lizzie setzte sich auf einen Stuhl. Seit sie Anna das Versprechen gegeben hatte, befand sie sich schon in Schwierigkeiten, aber damals war es ihr nicht aufgefallen. „Georgie, ich habe einem sehr lieben Menschen versprochen, über ein bestimmtes Thema Stillschweigen zu bewahren. Aber meine Verschwiegenheit bringt mich in eine unmögliche Situation, eine Situation, von der ich nie geglaubt hätte, dass sie eintreten könnte. Schlimmer noch, vielleicht kann das Geheimnis nicht länger gewahrt bleiben.“

Georgie sah sie mit großen Augen an. „Ich kann nur vermuten, dass du damit auf Anna anspielst“, meinte sie schließlich. „Aber was könntest du ihr versprochen haben?“

Lizzie verzog das Gesicht.

„Anna hat alles, wovon sie jemals geträumt hat. Wird ihr dieses Geheimnis genauso schaden, wie es jetzt dir schadet?“

„Nur wenn es öffentlich gemacht wird“, sagte Lizzie vorsichtig.

„Wenn du es mir sagen musst, um von mir einen Rat zu bekommen, dann kann ich dir versprechen, dass ich es für mich behalten werde“, erwiderte Georgie.

Lizzie nickte. Sie fühlte sich entsetzlich dabei, aber sie hatte sonst niemanden mehr. „Anna ist Neds Mutter“, sagte sie.

Georgie musste sich am Bettpfosten festhalten, um nicht umzufallen. „Was hast du da gesagt?“

Lizzie nickte. „Ich habe nie mit Tyrell das Bett geteilt, und das weiß er natürlich. Wenn Mama und Papa nach Adare gehen und behaupten, dass ich die Mutter seines Kindes bin, dann wird er zweifellos meine Lüge offenlegen. Deshalb habe ich immer behauptet, Tyrell werde leugnen, Neds Vater zu sein. Und Rory! Rory hat mich mehrmals gesehen, als ich angeblich schwanger war. Wenn er hört, dass ich einen Sohn habe, wird er wissen, dass das vollkommen unmöglich ist!“, rief Lizzie.

Georgie holte tief Luft. „Wie selbstsüchtig von Anna.“

Lizzie holte tief Luft.

„Oh, ich weiß, das ist nicht fair von mir. Aber sieh doch nur, was du alles erdulden musst, damit sie mit Thomas glücklich sein kann! Das ist nicht richtig! Sie hat immer alles und jedes bekommen, nach dem sie sich gesehnt hat. Keinen einzigen Tag in ihrem Leben musste sie leiden. Ein Lächeln von ihr genügte, und jeder Herzenswunsch wurde ihr erfüllt. Und jetzt belastet sie dich mit ihrem Kind?“

„Ich liebe Ned, als wäre er mein Sohn, Georgie. Ich wollte ihn zu mir nehmen – es war meine Idee, nicht ihre. Eleanor versuchte, es mir auszureden, aber ich verliebte mich in ihn in dem Augenblick, als ich ihn auf den Arm nahm.“

„Dein ganzes Leben lang hast du Tyrell geliebt, und Anna ist zu ihm ins Bett gestiegen, obwohl sie das wusste“, rief Georgie aus.

Lizzie schloss die Augen. Derselbe Schmerz durchfuhr sie, den sie schon beim ersten Mal empfunden hatte, als sie von Annas Betrug gehört hatte. Jetzt, da Georgie so aufgebracht war, schien es ihr, als wäre das alles erst gestern gewesen.

„Moral ist nie ihre Stärke gewesen! Und jetzt haben wir den Beweis dafür!“, rief Georgie.

Lizzie schüttelte den Kopf. „Wir sollten Anna nicht tadeln. Ganz bestimmt bereut sie, was sie getan hat. Und es geschah nur ein einziges Mal, in jener Nacht von Allerheiligen, als wir die Kostüme tauschten.“ Lizzie beabsichtigte nicht, ihrer Schwester zu erzählen, dass Anna vor Tyrell auch schon andere Liebhaber gehabt hatte.

Georgie sah Lizzie ungläubig an. „Sie war immer ein wenig wild, oder? Und jahrelang haben wir uns bemüht, ihre kokette Art und ihre Leichtfertigkeit zu verteidigen. Vielleicht hätten wir uns dabei nicht so anstrengen sollen“, meinte sie voller Bitterkeit.

„Sie ist unsere Schwester“, erinnerte Lizzie. „Auch ich war ihr böse, aber wir müssen zu ihr halten.“

„Du bist zu nachgiebig, Lizzie“, sagte Georgie finster. „Und ich bin nicht sicher, dass ich genauso leicht verzeihen könnte, wenn ich an deiner Stelle wäre.“

„Was soll ich nun tun?“, fragte Lizzie verzweifelt und dachte an die peinliche Situation, die ihr am nächsten Morgen bevorstand. „Mama und Papa werden nach Adare gehen und dem Earl und der Countess erklären, ich sei die Mutter von Tyrells Sohn. Es gibt keine Möglichkeit, sie daran zu hindern. Ich werde in eine absolut peinliche Lage geraten. Aber wir können nicht Annas Leben zerstören. Was soll ich nun tun?“, wiederholte sie.

Georgie setzte sich. „Wie kompliziert das alles ist. Du hast recht. Natürlich müssen wir Anna schützen. Und weder Mama noch Papa werden sich aufhalten lassen. Da habe ich wenig Hoffnung.“ Sie sah Lizzie an. „Du Arme! Tyrell wird dich für eine schreckliche Lügnerin halten.“

Lizzie nickte. „Und schon jetzt hat er keine sehr hohe Meinung von mir.“

„Das alles ist so unfair“, meinte Georgie.

„Ich glaube nicht, dass es eine andere Lösung gibt“, sagte Lizzie.

„Nicht wenn wir Annas Leben nicht ruinieren wollen.“

Die Schwestern sahen einander an. Georgie erhob sich. „Du bist einfach zu gut für diese Welt, Lizzie“, sagte sie. „Vielleicht wird Tyrell das eines Tages erkennen.“

Das bezweifelte Lizzie.

Die ganze Nacht über hatte sie keinen Schlaf gefunden. Jetzt saß sie mit ihren Eltern in einem üppig ausgestatteten Salon, die Hände im Schoß, und wartete auf den Earl und die Countess von Adare. Etwas abseits saß Ned mit Rosie auf einem Stuhl. Bei ihrer Ankunft hatte Papa dem Butler seine Karte gegeben und gesagt, er müsse mit dem Earl sprechen.

Lizzie wusste sehr gut, dass der Earl den Butler mit irgendeiner Ausrede zurückschicken konnte, wenn er sie nicht empfangen wollte. Aber Adare war bekannt dafür, großzügig und mitfühlend zu sein, ein echter Ehrenmann. Zwar verkehrte Papa kaum in denselben Kreisen, aber Mama behauptete, es gäbe eine entfernte Verwandtschaft zu einem der Stiefsöhne des Earls, Devlin O’Neill. Allem Anschein nach konnten sie ihre Abstammung auf Gerald Fitzgerald zurückführen, den berüchtigten Earl of Desmond, nach dem Papa benannt worden war. Diese Verbindung und der Umstand, dass sie Nachbarn waren, brachten Lizzie zu der Überzeugung, dass man sie empfangen würde.

Schritte erklangen, offensichtlich die einer Frau. Lizzie erschrak, als die beiden großen Eichentüren geöffnet wurden. Zusammen mit dem Butler erschien die Countess.

Lizzie fühlte sich, als würde ihr das Herz stehen bleiben. Sie stand auf und knickste, genau wie Mama, während Papa sich verbeugte. Die Countess war an der Tür stehen geblieben, ein Lächeln auf dem schönen Gesicht. Sie hatte dunkelblondes Haar, aber eine sehr helle Haut, und die blauen Topase, die sie trug, passten genau zur Farbe ihrer Augen.

Papa räusperte sich, und Lizzie erkannte, dass er nervös war. „Mylady“, sagte er, „eigentlich hatte ich gehofft, den Earl sprechen zu dürfen.“

Die Countess nickte ihm zu und sah dann ein wenig verwirrt zu Rosie und Ned. „Mein lieber Mr. Fitzgerald, wie geht es Ihnen? Wie schön, dass Sie uns einen Besuch abstatten. Gern unterhalte ich mich mit Ihnen, aber ich bedaure, dass mein Gemahl im Augenblick unabkömmlich ist. Sicher haben Sie gehört, dass wir sehr viele Gäste im Haus haben.“

„Ja, natürlich habe ich das gehört“, entgegnete Papa förmlich. „Mylady, bedauerlicherweise muss ich mit dem Earl sprechen. Dies ist leider kein Höflichkeitsbesuch. Ein großes Unrecht ist geschehen, das nur er richten kann.“

Die Countess hob die Brauen. Sie schien nicht sehr beunruhigt zu sein, vielleicht glaubte sie, Papa neige zu Übertreibungen, so wie sein berüchtigter Vorfahre. Oder vielleicht lag es auch einfach in ihrer Natur, ruhig und gelassen zu wirken. Gegen ihren Willen war Lizzie beeindruckt von der großartigen Haltung und der Würde der Lady. „Ein Unrecht? Ich verstehe nicht ganz, wovon Sie sprechen. Es tut mir sehr leid, aber ich kann meinen Gemahl im Augenblick nicht stören. Würde es Ihnen etwas ausmachen, ein andermal wiederzukommen?“ Sie schenkte Papa ein reizendes Lächeln.

„Dann werde ich, so fürchte ich, Sie mit den schockierenden Neuigkeiten belasten müssen.“

Jetzt wirkte die Countess ein wenig verwundert. Dennoch lächelte sie, als sie sagte: „Sollte ich mich setzen?“

„Ich denke, das sollten Sie“, meinte Papa ernst und rückte ihr einen Stuhl zurecht.

Das Lächeln verschwand, als die Countess sich setzte. Sie warf einen flüchtigen Blick auf Lizzie, die errötete. Als spüre sie Lizzies Unruhe, lächelte sie ihr freundlich zu. „Sprechen Sie weiter, Sir“, sagte sie dann.

Papa blickte zu Lizzie hinüber. „Tritt vor, Elizabeth“, sagte er.

Lizzie wappnete sich für den schrecklichen Moment der Enthüllung. Gehorsam stellte sie sich neben Papa. Jetzt vermied sie es, der Countess in die Augen zu sehen, die sie mit unverhüllter Neugier betrachtete.

„Meine Tochter Elizabeth Anne Fitzgerald“, sagte Papa.

Lizzie knickste so tief, dass sie den Boden mit ihren Fingerspitzen berührte, um sich abzustützen.

„Erhebe dich, Kind“, sagte die Countess, und Lizzie fühlte eine Berührung an ihrer Schulter. Sie gehorchte, und als sie aufblickte, erkannte sie, wie freundlich diese Frau war.

„Meine Tochter ist fast zwei Jahre von ihrem Zuhause fort gewesen“, begann Papa. „Sie hatte uns nicht erzählt, warum sie zu ihrer Tante nach Dublin gehen wollte, und ließ uns in dem Glauben, dass Eleanor sie gerufen habe. Aber das war nicht der Fall. Sie ging fort, um in aller Heimlichkeit ihr Kind zur Welt zu bringen. Ihr Kind … und damit Ihren Enkelsohn.“

Die Countess sah ihn mit großen Augen an. „Wie bitte?“

„Rosie, bringen Sie Ned zu mir“, befahl Papa. Sein Gesicht war dunkelrot geworden.

Lizzie drehte sich um, und als Ned bei ihr war, nahm sie ihn hoch. Mit Ned auf dem Arm zitterte sie heftig, und sie hielt ihn ganz fest. In diesem Augenblick hatte sie Angst, man könnte sie hinauswerfen, während Ned bleiben durfte.

„Tyrell, Ihr Stiefsohn, hat dieses Kind gezeugt“, sagte Papa.

Lizzie schloss die Augen und flüsterte der Countess zu: „Es tut mir leid.“

„Das glaube ich nicht“, erklärte die Countess. „Ich muss Ihre Tochter nicht noch einmal ansehen, um zu erkennen, dass sie von vornehmer Gesinnung ist. Tyrell ist kein Schurke. Niemals würde er sich so ehrlos verhalten.“

„Er muss sich zu meiner Tochter und ihrem Sohn bekennen“, verlangte Papa.

Lizzie wagte es, die Countess anzusehen, doch als sich ihre Blicke begegneten, wandte sie sich ab. Sie belog die Countess, und sie fühlte sich keineswegs wohl dabei.

„Stellen Sie das Kind hin“, verlangte die Countess.

Obwohl sie leise sprach, waren ihre Worte unverkennbar als Befehl gemeint. Lizzie ließ Ned zu Boden gleiten, und er strahlte sie an. „Mama, gehen? Gehen!“

„Später“, flüsterte Lizzie.

Die Countess betrachtete Ned ungläubig. „Miss Fitzgerald!“

Lizzie sah auf.

„Tyrell ist der Vater Ihres Sohnes?“

Lizzie holte tief Luft. Sie müsste es nur leugnen, aber seltsamerweise war ihr das nicht möglich. Also nickte sie. „Jawohl, Mylady.“

Die Countess sah Ned an, der ihr zulächelte und verlangte: „Gehen! Gehen!“ Mit der Faust schlug er gegen die Stuhllehne, dann lächelte er wieder zufrieden.

Die Countess schien erschüttert. „Ich werde den Earl rufen lassen“, sagte sie.

„Warten Sie.“ Mama trat vor. In ihren Augen schimmerten Tränen. „Darf ich bitte etwas sagen?“

Die Countess nickte.

Mama zog ein Taschentuch aus ihrem Ärmel und wischte sich über die Augen. „Unsere Lizzie ist ein gutes Mädchen“, sagte sie schließlich. „Als sie nach Dublin ging, um Lady de Barry zu besuchen, ahnten wir nichts davon, dass sie ein Kind erwartete. Wissen Sie, Mylady, von meinen Töchtern ist Lizzie die schüchternste. Sie war immer das Mauerblümchen. Alles an ihr ist grundanständig.“

Die Countess musterte Lizzie, und Lizzie ahnte, was sie dachte: Wenn sie außerhalb des Ehebettes ein Kind empfangen hatte, dann konnte sie unmöglich so anständig sein.

Mama sagte: „Ich wage kaum, mir vorzustellen, wie eine solche Verführung vor sich gegangen sein könnte.“

„Mama, nein!“, rief Lizzie. „Es war allein meine Schuld!“

Die Countess schien verwundert, sowohl über Mamas Anschuldigung als auch über Lizzies Ausbruch. „Ich kenne Tyrell ebenso gut wie meine eigenen Söhne“, sagte sie, „und er ist ein Gentleman. Niemals würde er ein unschuldiges Mädchen verführen.“

„Sehen Sie denn nicht, wie schüchtern und bescheiden Lizzie ist?“, rief Mama. „Sie ist nicht kokett, und sie ist kein Flittchen. Aber er hat sie dazu gemacht. Irgendwie hat er sie dazu gebracht, ihre Erziehung zu vergessen. Und jetzt muss ihr Gerechtigkeit widerfahren!“

„Oh Mama, bitte hör auf!“, flehte Lizzie sie an.

„Ja, Sie sollten aufhören“, bat auch die Countess mit warnendem Unterton.

Und selbst Papa verstand, denn er nahm Mamas Arm. Aber Mama rief. „Jeder kennt Lizzies Ruf. Man kann jederman über unsere jüngste Tochter befragen.“

„Ich werde den Earl holen“, wiederholte die Countess.

Aber Lizzie ertrug diesen Streit nicht länger. Sie lief hinüber zur Countess, um mit ihr zu sprechen, obwohl sie das eigentlich gar nicht vorgehabt hatte. „Bitte, darf ich etwas sagen? Nur einen Moment? Und Sie werden sehen, wenn ich fertig bin, ist es nicht mehr nötig, den Earl oder Tyrell zu holen.“

Die Countess sah sie hilflos an. Dann nickte sie.

„Es war alles meine Schuld“, sagte Lizzie und sah der großen Dame, die ihr gegenüberstand, fest in die Augen. „Tyrell ist nichts vorzuwerfen. Ich war verkleidet. Und ich habe ihn mein Leben lang geliebt. Er flirtete ein wenig mit mir – und ich habe ihn verführt. Er hatte keine Ahnung, wer ich war, und ich bin sicher, dass er mich wegen meines Verhaltens für eine erfahrene Kurtisane hielt.“

„Lizzie!“, rief Papa wütend aus.

„Lizzie!“, wiederholte Mama entsetzt.

„Sie wollen damit sagen, dass mein Sohn einem Irrtum aufgesessen ist?“, fragte die Countess.

„Ja, Mylady. Ich nehme die Schuld auf mich. Es ist nicht nötig, Ihren Gemahl oder Ihren Stiefsohn zu stören. Geben Sie Tyrell nicht die Schuld an dem, was geschehen ist. Geben Sie mir die Schuld – nehmen Sie meine Entschuldigung an. Und lassen Sie mich mit meinem Sohn nach Hause gehen. Ich wollte heute nicht hierherkommen.“ Sie ergriff die Hand der Countess. „Lassen Sie uns nach Hause gehen! Ich liebe Ned – ich bin ihm eine gute Mutter –, verschonen Sie Tyrell und Ihren Gemahl damit.“

Mama sank auf einen Stuhl und begann zu weinen.

Die Countess sah Lizzie überrascht an. „Aber Sie kamen in mein Haus, um eine Heirat zu erbitten.“

„Nein“, flüsterte Lizzie. „Ich bin nicht dumm. Ich weiß, dass Tyrell mich niemals heiraten würde. Das ist der Wunsch meiner Eltern, nicht meiner.“

„Sie wollen meinen Sohn nicht heiraten?“

Lizzie zögerte, und es zerriss ihr beinah das Herz. „Nein!“

Die Countess sah sie prüfend an.

Lizzie errötete. „Nehmen Sie mir Ned nicht weg“, sagte sie. „Bitte. Sie sind so freundlich. Ich habe es gehört, und ich sehe es jetzt selbst. Ich wollte heute nicht hierherkommen. Bitte. Lassen Sie uns gehen. Lassen Sie mich meinen Sohn nach Hause bringen.“

Die Countess ließ ihre Hand los. „Bleiben Sie noch einen Augenblick hier.“

Lizzie befürchtete das Schlimmste.

„Ich bin gleich wieder da“, sagte die Countess. „Ich werde meinen Mann rufen – und meinen Sohn.“